BLATTWERK AUSGABE No.16 – September bis Dezember 2022
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VON VERTEUFELTEN
BÜCHERN UND JENEN,
DIE SIE SCHREIBEN
Katharina Tiwald
Der 15. November ist der Gedenktag für Schriftstellerinnen
und Schriftsteller, die ihrer Werke wegen inhaftiert
sind. Manche sitzen zwar nicht hinter Gittern, sind aber
auf andere Weise „gefangen“, stehen unter Polizeischutz
oder werden Opfer von Mordanschlägen, wie im August
dieses Jahres Salman Rushdie.
Am 12. August stürmte ein junger Mann eine Bühne im US-Bundesstaat
New York. Mehrere Male stach er zu: in den Hals, in den
Bauch, in die Beine. Sein Opfer, das schwer verletzt überlebt hat,
ist Salman Rushdie, indischstämmiger Autor des Romans „Die
satanischen Verse“.
Dieser Roman und sein Autor haben ihren weltweiten Ruhm leider
nicht nur der unbestritten hohen literarischen Qualität zu
verdanken, sondern der Tatsache, dass der iranische Revolutionsführer
Ayatollah Khomeini 1989 eine Fatwa erließ. Eine Fatwa ist
eigentlich eine Rechtsmeinung; diese konkrete forderte Muslime
weltweit auf, Rushdie (und alle, die an der Publikation des Buches
beteiligt waren) zu töten. Warum? Er habe, so Khomeini, „den
heiligen Glauben des Islam beleidigt“.
Schlägt man das inkriminierte Buch auf, findet man sich in einer
Geschichte wieder, die in ihrer Machart an Bücher wie „100 Jahre
Einsamkeit“ von Gabriel García Marquez oder „Das Geisterhaus“
von Isabel Allende erinnern: Magischer Realismus ist der Überbegriff
für diese literarische Richtung. Hier schwappt das Wunderbare
ins Reale über, bei Rushdie sind es gleich zu Beginn zwei
Figuren, die einen Flugzeugabsturz überleben.
Es handelt sich – wie übrigens bei Rushdie selbst – um zwei Inder,
einer ein Bollywoodstar, der andere ein Schauspieler, der, höchst
assimiliert und trotzdem diskriminiert, seine Karriere in England
verfolgt. Nach ihrer Landung an der Küste Englands bemerken sie
wundersame Transformationen an sich: Der Bollywoodstar, Gibreel,
entwickelt einen Heiligenschein, der andere, Saladin, Hörner
und Hufe. Gut versus
Böse – aber so
einfach ist die Sache
nicht.
Gibreel beginnt zu träumen, träumt Geschichten von Pilgern, die
von einer Wolke aus Schmetterlingen begleitet werden, von einem
radikalen Imam, der in London mit Bodyguards unterwegs
ist – oder von einem Propheten, der auf einem Berg die Botschaft
Gottes erhält, vermittelt durch den Erzengel Gabriel, der auf Arabisch
eben Gibreel heißt.
Rushdie gelingt es in fabelhaften Volten, dieses Geschehen der
Prophezeiung in poetischer Dichte zu schildern, wenn der Träumende
gleichzeitig Engel und Prophet ist und die beiden ineinander
zu verschmelzen scheinen – eine wohl treffende Beschreibung
mystischer Erfahrung. Aber da gibt es auch eine andere Seite:
nämlich das historische Setting. In einem der Traumsequenzen
beobachtet Gibreel die gealterten Anhänger des Propheten. Einer
davon hat aufgemuckt und äußert sein Unbehagen darin, wie
wirtschaftlich und regelhaft die göttlichen Botschaften lauten –
und wie sehr ihn das daran erinnere, dass der Prophet selbst ein
Händler gewesen sei. Wie passgenau der Engel sich äußere bei
jedem Disput – und zwar nach dessen Ausbruch.
Es dürften diese historisierenden Passagen gewesen sein – wie
auch jene über den Imam –, die Khomeinis Zorn geweckt haben.
Leider sind Fundamentalisten unfähig, Mehrdeutigkeit zu ertragen;
in der Literatur ist gerade sie ein Merkmal davon, dass jemand sein
Handwerk versteht. Auch die Historisierung der Offenbarung ist in
diesem Milieu blasphemisch. Der deutsche islamische Theologe
Mahound Khorchide, der seit 2012, nach der Publikation seines Buches
„Islam ist Barmherzigkeit“ Morddrohungen erhält, erinnert an
den sudanesischen Gelehrten Mahmoud Mohammed Taha. Wegen
Tahas Aufforderung, den Koran historisch-kritisch zu lesen, wurde
er zum „Apostaten“ erklärt, also zum Abtrünnigen vom Glauben.
Vor dreitausend Zuschauern wurde er gehängt – das war 1985.
Historisch belegt sind auch Erzählungen, die in den ältesten Biografien
des Propheten Mohammed, also im 9. Jahrhundert, fest-
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