BLATTWERK AUSGABE No.16 – September bis Dezember 2022
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Clemens Berger
Liebe Amalia,
als du geboren wurdest, stand der Amazonas in
Flammen. Während wir im Krankenhaus waren,
verbrannte ein gigantisches Stück grüne Lunge
dieses Planeten. Selbst vom Weltall aus war
der Rauch zu beobachten. Wir sahen Bilder der
Apokalypse, andere erlebten die Apokalypse
hautnah: Tiere, Pflanzen und jene Menschen,
die Jahrhunderte auf diesem und von diesem
Land gelebt hatten, ehe man es ihnen wegnahm,
um es in Eigentum zu verwandeln und
dieses zum Zweck der Verwertung auszubeuten.
Als ich geboren wurde, vierzig Jahre vor dir, warnte ein Bericht die Regierung
der Vereinigten Staaten, die weitere Verbrennung fossiler Stoffe
könnte innerhalb zweier oder dreier Jahrzehnte die globale Atmosphäre
bedrohlich verändern. Die Warnung fand allmählich Verbreitung. Und die
großen Industrien, die für den größten Teil der globalen Emissionen verantwortlich
sind, investierten ungeheure Summen an Geld – aber nicht in
die Entwicklung erneuerbarer Energien, sondern in eine Desinformationskampagne
unheimlichen Ausmaßes, um Zweifel am menschengemachten
Klimawandel zu streuen und Politiker zu kaufen. In den drei Jahrzehnten
seit dem Fall der Berliner Mauer wurde mehr CO 2
in die Atmosphäre gepumpt
als in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor.
Der einzige Grund dafür ist die Vermehrung eines Reichtums, der unter
sehr wenigen Menschen aufgeteilt wird. Natürlich sollte man diese vor
ein globales Gericht stellen. Vor diesem muss aber in erster Linie das
Wirtschaftssystem stehen. Wäre es nicht auf Profite ausgerichtet, hätten
Berichte über den Grund der Zerstörung unserer Atmosphäre ganz andere
Entscheidungen bewirkt. Jetzt darauf zu hoffen, dass diese Industrien die
grüne Revolution ausriefen, wäre absurd: Dann profitierten jene, die die
Krise verursacht und irrsinnig daran verdient haben, vom Versuch, sie zu
beheben. Die weltzerstörenden Industrien müssen in die Kontrolle der
Gesellschaften überführt werden, damit alle gemeinsam darüber beratschlagen
können, wie diese Welt gerettet werden kann: die Menschen in
der Wissenschaft, die Menschen, die am stärksten unter der Klimakrise
leiden und leiden werden, in erster Linie die Armen und Armgemachten,
und die Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen, um an der Zerstörung
des Planeten mitzuwirken.
Auf deiner ersten Demonstration warst du etwas über einen Monat alt.
Beim Earth Strike! war es laut, wir hielten uns am Rand auf. Auf dem Burgtor
rollten Aktivisten ein Banner mit der Aufschrift CAPITALISM KILLS OUR
FUTURE aus. Kurz darauf tauchten Polizisten einer Sondereinheit auf dem
Tor auf, um das Banner zu entfernen.
Zu Silvester feiern die Menschen in der Hoffnung, im nächsten Jahr werde
alles besser. Ein paar Tage vor dem Jahreswechsel fiel mir in der Sauna
ein, dass ich zum ersten Mal seit Langem nicht dachte, es sei gut, wenn
endlich ein neues Jahr anbreche. Das vergangene war schön gewesen, ich
freute mich aufs neue. Weil ich mich jeden Abend freue, wenn ich dich
vorm Schlafengehen ansehe. Weil ich mich jeden Morgen freue, wenn ich
dir in die Augen blicke. Und weil wir uns selbst in der Nacht freuen, wenn
auf einmal La Le Lu erklingt, weil du an deiner Spieluhr gezogen hast. Zuerst
wollten wir dich damit in den Schlaf bringen; jetzt willst du uns damit
offenbar weiterschlafen lassen. Wenn wir wach sind, wünschen wir uns,
dass du in einer Welt leben kannst, in der man leben kann und leben will.
Als dein erstes Neujahr anbrach, brannte Australien. In einem einzigen
Bundesstaat soll bislang eine halbe Milliarde Tiere verbrannt sein.
Dein Papa
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