2022/14 | Unternehmen | Dezember 2022 | Ausgabe 85
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unternehmen [!] MACHEN 43<br />
Viele Profis<br />
machen den<br />
Job nur ein paar<br />
Jahre lang und<br />
wechseln dann.<br />
Florian Stier<br />
Reinigungsunternehmen Stier<br />
führt. Die wichtigste Frage vor<br />
jedem Einsatz: Hatte der Verstorbene<br />
ansteckende Krankheiten?<br />
Nach dem Tod können sich<br />
außerdem gefährliche Gase und<br />
Gifte freisetzen. Angerückt wird<br />
mit FFP3-Masken, Gummistiefeln,<br />
Schutzanzügen, dreifachen<br />
Einweghandschuhen und Spezial-Reinigungsmitteln.<br />
Etwa<br />
ein- bis zweimal im Monat wird<br />
er mit einer Leichenfundortreinigung<br />
beauftragt.<br />
Der Bedarf steigt und wird es<br />
Stiers Meinung nach auch in Zukunft<br />
weiter tun. Er macht zunehmende<br />
Vereinsamung und<br />
Entfremdung verantwortlich. In<br />
einem Fall lag eine Leiche sechs<br />
Monate unentdeckt in ihrer<br />
Wohnung. In einem anderen Fall<br />
lag ein Mann tagelang tot im<br />
Zimmer seiner WG – die Mitbewohner<br />
hatten nichts bemerkt.<br />
125 Euro pro Stunde verlangt er<br />
für seine Dienste. Die Dauer variiert<br />
von 30 Minuten bis zu<br />
zwei Tagen im Zwei-Mann-<br />
Team.<br />
Hohe emotionale Belastung<br />
Neben unangenehmen Überresten<br />
sind es vor allem die Gerüche,<br />
die den Leichenfundort beherrschen.<br />
„An den Geruch gewöhnt<br />
man sich aber“, sagt Stier.<br />
Vergammelte Lebensmittel fände<br />
er persönlich schlimmer auszuhalten.<br />
Manchmal versuchen sich die<br />
Hinterbliebenen zunächst selbst<br />
an der Reinigung. Davon rät der<br />
Experte grundsätzlich ab. Nicht<br />
nur wegen des fehlenden Fachwissens,<br />
sondern auch wegen<br />
der emotionalen Komponente.<br />
Trotzdem: „Viele Profis machen<br />
den Job ein paar Jahre und<br />
wechseln dann“, sagt Stier. „Es<br />
ist psychisch sehr anspruchsvoll.“<br />
Immer sind es Schicksalsschläge,<br />
die hinter einem Auftrag<br />
stecken.<br />
Vor Ort lässt sich für die Experten<br />
an den Spuren oft das<br />
schreckliche Geschehen exakt<br />
nachvollziehen. „Mit nach Hause<br />
nehmen darf man das nicht“,<br />
sagt Stier. Abgrenzung sei wichtig.<br />
So ist die größte Herausforderung<br />
für ihn der Umgang mit<br />
den Angehörigen. Manche weinen<br />
am Telefon. Manche sind<br />
verzweifelt, andere eiskalt und<br />
unberührt. „Oft fällt es mir<br />
schwer, die richtigen Worte zu<br />
finden“, gibt der Fachmann zu,<br />
der seit 2013 die Reiniung von<br />
Leichenfundorten anbietet. „Ich<br />
In zweiter Generation<br />
Die Mitarbeiter sind meist im Team unterwegs.<br />
Den Betrieb gründeten<br />
1991 Florian<br />
Stiers Eltern Peter<br />
und Barbara Stier.<br />
Heute sind 270<br />
Mitarbeiter mit 39<br />
Nationalitäten im<br />
Betrieb tätig. Geschäftsbereiche<br />
sind die Unterhaltreinigung<br />
im gewerblichen<br />
und industriellen<br />
Bereich,<br />
Grund- und Sonderreinigung<br />
im<br />
privaten wie gewerblichen<br />
Bereich<br />
sowie Hausmeister-Service.<br />
Nach<br />
einem Brand 2020<br />
befindet sich der<br />
Firmensitz in Oberzell<br />
bei Ravensburg.<br />
Der Umsatz liegt im<br />
mittleren einstelligen<br />
Millionenbereich.<br />
FOTO: STIER GEBÄUDEREINIGUNG<br />
versuche dann mit Professionalität<br />
zu antworten.“<br />
Für Leichenfundortreiniger<br />
gibt es in Deutschland keine einheitliche<br />
Ausbildung. Stier<br />
selbst kam im Rahmen seiner<br />
Weiterbildung zum Desinfektor<br />
erstmals damit in Berührung.<br />
Zurück in Ravensburg fand er<br />
heraus, dass es sich um eine<br />
Marktlücke in der Region handelte.<br />
Tatortreinigung darf theoretisch<br />
jeder anbieten. Das ärgert<br />
ihn, weil seiner Meinung<br />
nach in diesem heiklen Bereich<br />
nur ausgebildetes Fachpersonal<br />
am Werk sein sollte. Schon allein,<br />
um Ansteckungen und<br />
Kontaminationen zu verhindern.<br />
Wichtig ist auch die Diskretion.<br />
Sein Team rückt nicht in<br />
Spezialfahrzeugen an, sondern<br />
in den üblichen Autos der Reinigungsfirma.<br />
Die Schutzkleidung<br />
wird soweit möglich erst<br />
im Gebäude angezogen – um die<br />
Auftraggeber vor Neugierigen<br />
zu schützen. „Sie werden auch<br />
nicht erleben, dass ich ‚Tatortreinigung‘<br />
auf unsere Fahrzeuge<br />
schreibe“, sagt Stier. Gesonderte<br />
Werbung für diesen Geschäftsbereich<br />
zu machen,<br />
möchte Stier, der sich die Geschäftsführung<br />
mit Claudia Eisele<br />
teilt, ebenfalls nicht. Die<br />
Kundinnen und Kunden fänden<br />
ihren Weg trotzdem zum <strong>Unternehmen</strong><br />
Stier. Zu 90 Prozent seien<br />
das Privatpersonen.<br />
Zu wenig Wertschätzung<br />
„Gebäudereiniger ist mein<br />
Traumjob“, sagt Florian Stier<br />
mit Begeisterung in der Stimme.<br />
Vielseitig sei er, abwechslungsreich<br />
und innovativ. „Leider machen<br />
das viel zu wenige und es<br />
wird viel zu wenig wertgeschätzt.“<br />
Die Leichenfundortreinigung<br />
sei zwar nur ein kleiner<br />
Teil seines Tagesgeschäfts, doch<br />
sie hat ihm einiges bewusst gemacht:<br />
„Wir haben nur das eine<br />
Leben und müssen versuchen,<br />
das Beste daraus zu machen.“<br />
[!] Julia Rizzolo