Kurier 2023
62. Jahrgang | Kurier der Prinzengarde der Stadt Krefeld 1914 e.V.
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Weltgeschichte und Prinzengarden-Geschichten
WELTGESCHICHTE UND PRINZENGARDEN-GESCHICHTEN
Szenen aus Berlin vor 33 Jahren
aus der Erinnerung von Jürgen Holzapfel – aufgezeichnet von Karl Müller
Im Nebel- und Narrenmonat November des
Jahres 1989 wird in Berlin Geschichte geschrieben,
und es werden Geschichten erlebt,
die es wert sind, sich nach 33 Jahren
daran zu erinnern.
Das Ausflugsziel am Nachmittag war das Brandenburger
Tor. Hier herrscht eine unbeschreibliche,
volksfestliche Atmosphäre. Menschen
aus Ost und West drängten sich hier zu Tausenden.
züglich“ in Kraft trete. Es dauert nur wenige
Minuten bis die Neuigkeit über die Ticker läuft.
Die Eilmeldung der Nachrichtenagentur AP
trägt die Überschrift: „DDR öffnet Grenzen“.
Am sowjetischen Ehrenmal an der Straße des
17. Juni wurden die gestrengen russischen
Wachsoldaten von Eugenius mit der Standarte
des Artillerie-Corps umrundet. Die Russen
gaben sich nicht die Blöße, eine Mine zu verziehen.
Demokratiebewegung und Ausreisestrom
drängten die DDR-Führung im Herbst 89 in die
Defensive. Ab Mitte Oktober überschlugen sich
die Ereignisse. Die „Macht der Straße“ setzte
sich durch - ohne Gewalt. Diese Herbstnacht
des 9. November 1989 besiegelt das Ende des
Eisernen Vorhangs und des Kalten Kriegs.
Im Sommer 1989 luden die „Fidelen Rixdorfer“
die Krefelder Prinzengarde zur Rathaus-Erstürmung
am 18. November ein.
Das Artillerie-Corps wurde entsandt und
verband damit kurzerhand die jährlich
Corps-Tour. Als die Einladung kam, ahnte
niemand, welches historisches Ereignis in
diesen Novembertagen die Welt verändern
würde.
Am 17. November startete der Bus um 0:11
Uhr vom Standquartier der Artillierie – „Stadtschänke
Charly Bongartz“ – in Richtung Berlin.
Mit von der Partie war der Regiments-Fahnenträger
Eugenius Dufeu, Jürgen Holzapfel,
„Juppa“ Klasmeier, der spätere Prinz Manfred
Rundholz und der Kommandeur Charly Bongartz.
In dieser Stimmung blieb es nicht aus, dass
hier und da ein Stück Mauer den „Mauerspechten“
der Artillerie zum Opfer fiel.
Zum Fall der Mauer trug allerdings auch eine
geschichtsträchtige Pressekonferenz am
Abend des 9. November 1989 bei. Doch die
Ereignisse am Abend des 9. November verlaufen
nicht nach Plan. Um 18 Uhr beginnt Schabowski
mit seiner Pressekonferenz. Es dauert
etwa eine Stunde bis er die neue Reiseregelung
anspricht.
Vor laufenden Kameras liest er das Exemplar
des Ministerratsbeschlusses vor, das
Krenz ihm im Vorbeigehen ausgehändigt
hat.
Auf Nachfrage erklärt Schabowski, dass die
Regelung nach seiner Kenntnis „sofort, unver-
Die am folgenden Samstag mit mehreren angereisten
Gruppen geplante Erstürmung des
Neuköllner Rathauses musste verlegt werden,
da Mitbürger aus der DDR den Karnevalisten
zuvorgekommen waren. Stattdessen wurde
zum Sturm auf die Kindl-Brauerei geblasen.
Nach Ordens-Vesper, Ehrungen und Ansprachen,
entschloss sich die Artillerie,
gemeinsam mit einem österreichischen
Schalmeien-Orchester, zum Aufmarsch am
Brandenburger Tor.
Eine durch Musik und Tanz animierte riesige
Menschmenge sang und schunkelte vor der
historischen Kulisse. Auf dem abgebröckelten
Mauerrand patrouillierten die DDR-Grenzer
und beobachteten mit argwöhnischen Blicken
die Szenen voller rheinisch/österreichischer Lebensfreude.
Daraufhin eilen Tausende Berliner aus Ost und
West zu den Grenzübergängen. In Berlin stehen
zwei Minuten nach Mitternacht alle Grenzübergänge
zwischen den beiden Stadthälften
offen. Aber auch vor den Übergängen an der
innerdeutschen Grenze stauen sich inzwischen
Trabbi-Kolonnen, um die Grenzen zu passieren.
Zu diesem Zeitpunkt lassen sich viele
Berliner auch nicht mehr davon abbringen, die
Mauer am Brandenburger Tor zu besteigen.
Sektkorken knallen, es wird gejubelt. In der
Nacht vom 9. auf den 10. November spazieren
Berliner aus Ost und West schließlich wieder
durch das Brandenburger Tor.
Dort wird zeitweise sogar getanzt. Das
Symbol für die Teilung der Stadt wird zum
Symbol des Zusammenwachsens.
Der Abend war dem karnevalistischen Brauchtum
gewidmet. In dem Berliner-Kindl-Saal
kam es zu einer Uraufführung: die Artilleristen
tanzten gemeinsam mit den Regiments-Töchtern
den „Kanonier-Tanz“. Als der Bus auf der
Heimfahrt in Richtung Krefeld rollte, war man
sich einig: „Jetzt, ohne die Mauer, ist Berlin erst
recht eine Reise wert!“
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