Kurier 2023
62. Jahrgang | Kurier der Prinzengarde der Stadt Krefeld 1914 e.V.
62. Jahrgang | Kurier der Prinzengarde der Stadt Krefeld 1914 e.V.
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Stadtgeschichte
Stück „Klabberdans“ (Kabeljau) essen konnte
und wer beim „Stangenklettern“ von einem hohen,
im Saal errichteten Baum Brezeln, Wurst
und Schinken abzupflücken vermochte.
Ein Blick auf das 20. Jahrhundert
Das Ende des ersten Weltkrieges bedeutete
einen Einschnitt in das gesellschaftliche und
politische Gefüge Krefelds. Zwar wurde die
Stadt, anders als im 2. Weltkrieg, nicht von
Kriegshandlungen in Mitleidenschaft gezogen.
Doch von den damals 129.000 Einwohnern fielen
2.344 männliche an der Front, entfernt der
Heimatstadt.
Im Unterschied zu vielen anderen Gemeinden
und Städten Preußens, wie etwa Köln und
Düsseldorf, vermochte die nationalliberale Partei
in Krefeld ihre politische Mehrheit bis zum
Ende des Kaiserreichs zu halten.
Sie wurde angeführt von protestantischen Seidenfabrikanten
und seit dem ausgehenden 19.
Jahrhundert auch von Angehörigen der freien
Berufe und von höheren Beamten. Den Nationalliberalen
gelang dies aufgrund eines nach
Höhe der Steuerleistung gestaffelten kommunalen
Wahlsystems, das allerdings nur den
männlichen Gemeindeangehörigen offenstand.
Das Zentrum, das die zahlenmäßig weitaus
meisten Wähler vertrat, nämlich die katholische
bürgerliche Mittelschicht und neben der SPD
auch weite Teile der katholischen Arbeiterschaft,
konnte sich in der Samt- und Seidenstadt
bis 1919 nicht durchsetzen.
Das war erst mit Beginn der Weimarer Republik
und ihrem allgemeinen und gleichen Wahlrecht
der Fall, das nun auch Frauen die politische
Beteiligung ermöglichte (7 der 66 Stadtverordneten,
die am 30. Dezember 1919 zu ihrer
ersten Sitzung im Theatersaal der Stadthalle
zusammenkamen, waren weiblich).
Das Zentrum behauptete seine politische
Mehrheit bis 1933.
Die zwölf Jahre der nationalsozialistischen
Herrschaft stellen zweifellos den schwerwiegendsten
Bruch der bisherigen städtischen
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Entwicklung dar: 1941 begannen die Deportationen
der Einwohner jüdischen Glaubens, deren
Gemeinde damals rund 1.500 Angehörige
zählte und bis 1944 bis auf 10 Personen, sogenannte
privilegierte Juden und „Mischlinge ersten
Grades“, durch Vertreibung und vor allem
Ermordung ausgelöscht worden ist.
Zwischen 1942 und 1944 war Krefeld rund 150
Mal das Ziel von Luftangegriffen, darunter fünf
schwere Bombardierungen, insbesondere am
21./22. Juni 1943.
Bei Kriegsende kam es wegen des Rheinübergangs
in Uerdingen noch zu massiven
Kampfhandlungen, bei denen u.a. die
Rheinbrücke zerstört worden ist.
Im Krieg sind bei Luftangriffen 2.048 Einwohner
umgekommen und außerhalb der Stadt 4.511
Krefelder Männer gefallen. Viele Menschen flohen
in diesen Jahren auf das Land. 27% der
Wohn- und 72% der Industriegebäude wurden
zerstört, vor allem in der Innenstadt und den
nördlichen Stadtteilen. Die alte, teils ins Mittelalter
und überwiegend bis in das 18. Jahrhundert
zurückreichende Bausubstanz innerhalb
der Wälle ging weitgehend verloren; die Reste
wurden vielfach während der Wiederaufbauphase
aufgegeben.
Die sozialen Verhältnisse der ersten Nachkriegsjahre
waren durchweg prekär: Beispielsweise
wuchs jedes vierte Schulkind
ohne Vater auf.
Von 100 Kindern hatten um 1948/52 fast die
Hälfte kein eigenes Bett, gar ein Fünftel lebte
nicht in einer eigenen Wohnung, sondern in
Notbehelfen wie auf Speichern oder in Bunkern.
Im Jahr 1950 war wiederum die Einwohnerzahl
von 1939 erreicht. Fünf Jahre später wurde der
Zuzug von rd. 25.200 Heimatvertriebenen und
gut 13.200 Zugewanderte gezählt, was knapp
20% der Bevölkerung entspricht. 1961 hatte
Krefeld rund 213.000 Einwohner und konnte
in der Nachkriegszeit seine Stellung als moderne
Industrie- und Großstadt behaupten. Diese
Zuzüge, seit den 1960er Jahren auch von türkisch-,
italienisch- und griechischstämmigen
Migranten, führten zur Erschließung neuer
Stadtteile, so 1961/64 dem Wohn- und Gewerbegebiet
Gartenstadt auf dem ehemaligen
Flugplatz Bockum, seit 1966 der Elfrather Siedlung
und zuletzt 2003 dem Stadtteil Schicksbaum.
Die Zuwanderung von Protestanten aus
mitteldeutschen und ostdeutschen Gebieten
zog eine starke Verschiebung der konfessionellen
Verhältnisse nach sich.
War die Bevölkerung Krefelds vor dem 2. Weltkrieg
noch zu ¾ katholisch, so gehörten um
1955 nur noch 2/3 diesem Bekenntnis an.
Eine neue jüdische Gemeinde entwickelte sich
nach 1945 langsam wieder, vor allem durch
Zuzug aus Osteuropa. 1964/81 wurden provisorische
Beträume eingerichtet und 2008 eine
neue Synagoge gebaut.
Die städtebauliche Entwicklung wurde 1955
in einem Leitplan für die beiden Stadtkerne
Krefeld und Uerdingen festgeschrieben. An
vielen Stellen ersetzte Wohnbebauung seither
Fabrik- und Gewerbeflächen. 1970 begann
die Erneuerung der Krefelder Innenstadt als
Flächensanierung (Schwanenmarktcenter
1976, Hansazentrum 1985), bei der architekturgeschichtlich
verschiedene Bauten in
der Tradition des „Bauhauses“ (1953/56 das
VERSEIDAG-Verwaltungsgebäude auf der Girmesgath,
heute Stadthaus) und das 2001/02
errichtete Behnisch-Haus hervorzuheben sind.
Der wirtschaftliche Strukturwandel setzte sich
nach 1945 fort. Die verarbeitende Industrie,
Handel, Verkehr und Dienstleistungen expandierten,
was zu vielen Neuansiedlungen führte.
1972 erhielt die Stadt einen Anschluss an
die Autobahn 57 und 1976/90 an die Autobahn
44.
Seit den 1970er Jahren kam es vermehrt zur
Aufgabe mittelständischer Familienunternehmen,
die teils in auswärtigen größeren Firmen
aufgingen. Eine ähnliche Entwicklung ist im Einzelhandel
zu beobachten. Zwischen 1970 und
dem Ende des Jahrhunderts ging die Samtund
Seidenindustrie, die einst in aller Welt den
Namen der Stadt begründete (einschließlich
der Hülser Produktion) auf drei Seiden- und
zwei Paramentenwebereien zurück. Die Textilindustrie
besaß 1987 nur noch einen Anteil von
2,4% an der städtischen Wirtschaftsleistung.
Die Entwicklung des Hafens stellte sich hingegen
günstig dar: 2009 war er der viertgrößte
Binnenhafen in NRW. Zu den heutigen Leitsektoren
zählen Chemie- (1997 bereits knapp
40% des Gesamtumsatzes der Krefelder Wirtschaft),
gefolgt von der Metallindustrie und
dem Maschinenbau sowie der Nahrungs- und
Futtermittelherstellung.
Städtische Planer, 1970. Stadtarchiv Krefeld, Bestand 40/92 Gayk, Jan. 1970.
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