Fortbildungen / Formations continues 2012 - IUMSP
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Der König aller Krankheiten<br />
Siddharta Mukherjee<br />
Dumont-Buchverlag, Köln <strong>2012</strong>, 670 Seiten<br />
Das Buch, das<br />
jetzt auf Deutsch<br />
erscheint, war in den<br />
USA ein durchschlagender<br />
Erfolg:<br />
«The Emperor of<br />
All Maladies» erhielt<br />
2011 sogar<br />
den Pulitzer-Preis<br />
für Non-Fiction.<br />
Unterdessen ist es<br />
in fast alle wichtigenWeltsprachen<br />
übersetzt<br />
worden. Ich habe<br />
das Buch vor etwa<br />
6 Monaten zu lesen<br />
begonnen, war<br />
aber ein bisschen<br />
enttäuscht und habe es beiseite gelegt. Letzthin habe ich<br />
es wieder in Angriff genommen und diesmal bis zu Ende<br />
gelesen, mit einem besseren Gefühl. Wahrscheinlich beruhte<br />
meine anfängliche Enttäuschung darauf, dass mir das<br />
Buch zu «Amerikanisch» vorkam. Sehr viel Pathos, viele<br />
Entdeckungen werden zu einer Romangeschichte, wenn<br />
nicht sogar zu einem Thriller ausgebaut (z.B. die Rolle von<br />
Tabak bei Lungenkrebs), häu�g werden Ärzte und Forscher<br />
zu Helden hochstilisiert, die unter widrigsten Verhältnissen<br />
und auch wenn niemand daran glaubte, etwas Überraschendes<br />
und Unglaubliches fertigbringen. Viele der Patientengeschichten,<br />
die Kollege Mukherjee beschreibt, sind<br />
sentimental sehr stark geladen und führen häu�g zu neuen<br />
Erkenntnissen. Wenn der Autor selbst auf neue Ideen<br />
kommt oder brillante Schlussfolgerungen zieht, geschieht<br />
das fast immer irgendwann in der Nacht oder am frühen<br />
Morgen, wenn er für einen hoffnungslosen Fall ins Spital<br />
gerufen wird oder wenn er wegen einer spannenden Versuchsanordnung<br />
im Labor übernachtet. Vielleicht (ich gebe<br />
es zu) habe ich mich auch so daran gestossen, weil mein<br />
eigenes Buch, das jetzt auch auf Deutsch erschienen ist<br />
(F. Cavalli, Krebs: Die grosse Herausforderung, Rotpunktverlag)<br />
auf weiten Strecken genau die gleichen Themen<br />
behandelt wie diejenige von Siddharta Mukherjee, aber<br />
in einem sachlichen, vielleicht kann man sogar sagen, mit<br />
einem «langweiligeren» Ton. Es ist nicht immer leicht,<br />
über den eigenen Schatten zu springen. Als ich das Buch<br />
das zweite Mal in die Hand nahm, ging es deutlich besser.<br />
Es kann durchaus zum Lesen empfohlen werden, nicht nur<br />
BÜCHER<br />
weil es gut geschrieben ist, sondern auch weil es einzigartig<br />
ist. Meistens sind solche Bücher sehr einseitig: Entweder<br />
berichten sie nur über Patientenschicksale oder sie bringen<br />
gute, wissenschaftliche Informationen für den Laien oder<br />
sie sind für die eine oder für die andere mögliche Erklärung<br />
der Krankheit.<br />
Wie Peter Haffner im Tagi-Magazin Nr. 9/<strong>2012</strong> in seiner<br />
langen Rezension schreibt, befasst sich dagegen der Krebsforscher<br />
und praktizierende Onkologe Siddharta Mukherjee<br />
in seinem Buch mit Wissenschaft, Geschichte, Kultur,<br />
Philosophie und einem Frontbericht, bestehend aus Theo-<br />
rie und Praxis. 4000 Tausend Jahre zum Teil spannende<br />
Krebsbiographie und Krebsgeschichte werden zusammengefasst<br />
und liefern eine Fülle von interessanten Informationen.<br />
Die letzten 130 Jahre (von Halstedt bis Brian Druker)<br />
werden dann sehr umfassend behandelt, wobei häu�g Patientengeschichten<br />
oder Auseinandersetzungen in den verschiedenen<br />
wissenschaftlichen Akademien im Zentrum der<br />
Erzählung stehen. Der Autor versucht auch relativ häu�g,<br />
einen Bogen zwischen der wissenschaftlichen Entwicklung<br />
und dem dominierenden Zeitgeist zu spannen, so z.B. zwischen<br />
positivistischem Geist und Haltung von Halstedt<br />
und anderen Chirurgen, die für Jahrzehnte nach dem Motto<br />
«Je mehr, desto besser» handelten. Anschaulich ist auch die<br />
Kriegserklärung von Nixon (War on Cancer, 1971) gegen<br />
die Krankheit, die viele Wissenschaftler in ihrem Eindruck<br />
verstärkte, in wenigen Jahren werde man den Endsieg erreichen.<br />
Heutzutage dagegen, in einer Zeit, wo überall relativ<br />
viele schlecht de�nierte Ängste zu dominieren scheinen,<br />
kommt die listige Krebskrankheit häu�g fast wie ein al-<br />
Qaida-Terrorist daher, der plötzlich über uns herfällt. Es<br />
ist wahrscheinlich diese etwas mythenhafte Stimmung und<br />
die mit romantischer Spannung geladene Erzählungsweise<br />
des Autors, die den eklatanten Erfolg dieses Buches erklärt.<br />
Es hat aber auch klare Schwächen, vor allem, dass gewisse<br />
Fakten einfach vergessen oder heruntergespielt werden, was<br />
wiederum typisch amerikanisch ist. So liest man fast nichts<br />
über die unglaubliche Asbesttragödie und die Schuld eines<br />
gewissen Wirtschaftsestablishments. Man unterschlägt,<br />
dass die erste Anti-Tabakkampagne durch Hitler gestartet<br />
wurde und man relativiert auch zu stark die Gefahr von<br />
Alkohol als Kanzerogen. Noch schlimmer: man verliert<br />
kein Wort über das heutige Hauptproblem: die Zunahme<br />
von Krebsfällen und vor allem von Krebstoten in den Entwicklungsländern.<br />
Das sind die wichtigsten vier Beispiele,<br />
die mir jetzt einfallen. Andererseits werden aber auch die<br />
schwierigsten zellbiologischen Veränderungen, die für die<br />
Entstehung einer gewissen Krebsart verantwortlich sind,<br />
fachlich und äusserst verständlich dargestellt. Schon deswegen<br />
bleibt das Buch recht lesbar und kann jedem Publikum<br />
als Lektüre empfohlen werden. Schliesslich schauen wir uns<br />
auch nicht nur europäische oder iranische Filme an, sondern<br />
auch Hollywood-Streifen.<br />
Franco Cavalli<br />
Schweizer Krebsbulletin � Nr. 2/<strong>2012</strong> 175