Das Stadtgespräch Ausgabe Juli 2023 auf Mein Rheda-Wiedenbrück
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Buchtis<br />
Anne Müller »Wer braucht schon Wunder?«<br />
Immer wenn ich an der Ostsee bin, und das ist jedes Jahr mindestens ein<br />
Mal, fallen mir die vielen GT-Nummernschilder <strong>auf</strong>. Da bin ich wohl nicht<br />
der einzige Fan von Schleswig-Holstein. Die positive Einstellung zu der besonderen<br />
Landschaft im Hohen Norden und den entsprechend besonderen<br />
Menschen ist schon mal eine gute Voraussetzung, um Fan von Anne Müller<br />
zu werden. Und zu denen zähle ich mich, seit ich ihren Roman »Sommer<br />
in Super 8« gelesen habe. Und auch von »Zwei Wochen im Juni« und »<strong>Das</strong><br />
Lied des Himmels und der Meere« war ich wirklich angetan.<br />
Dabei ist es keineswegs nur das Lokalkolorit, das mich an ihren Romanen<br />
überzeugt. Vielmehr durchzieht stets so etwas wie heitere Melancholie<br />
ihre Bücher. Aus dem Blickwinkel verschiedener Lebensphasen schildert sie<br />
Situationen und Szenen, die eher alltäglich als sensationell sind und daher<br />
auch für uns Leser nachvollziehbar sind.<br />
Ihr neuester Roman »Wer braucht schon<br />
Wunder?« spielt 1983. Lika hat in Kappeln an<br />
der Schlei gerade ihr Abitur gebaut. Bevor sie<br />
nach dem Sommer ihren Vater und kleinen<br />
Bruder verlassen und in ein neues Leben<br />
eintauchen wird, jobbt sie als Bedienung bei<br />
Fränki im Kakadu, der lokalen Kneipe mit<br />
Café und Restaurant. Kellnerin Biggi ist hier<br />
die gute Seele, auch wenn es privat alles andere<br />
als rund läuft bei ihr. Durch die Arbeit<br />
im Kakadu findet Lika eine Art Ersatzfamilie.<br />
Und dann ist da ja auch noch Antoine, der französische Koch, der sie anders<br />
als die Jungs, die sie sonst so kennt, als Frau behandelt und sie mit seinem<br />
Charme und seinen Kochkünsten umwirbt. Ob während des Picknicks beim<br />
Segelausflug oder dem nächtlichen Schwimmen, durch Antoine entdeckt<br />
Lika in den Wochen zwischen ihrem alten und neuen Leben ganz neue<br />
Facetten der Liebe. Aber das Ende der Kindheit bedeutet auch, dass sie den<br />
Schonraum verlässt, der sie vor schmerzlichen Wahrheiten abgeschirmt hat.<br />
Likas verstorbene Mutter, die sie immer idealisiert hat, war dann wohl doch<br />
nicht die Heilige, für die sie das Kind Lika gehalten hat. Erschienen ist »Wer<br />
braucht schon Wunder?« bei C.Bertelsmann, 239 Seiten, Hardcover, 22 Euro.<br />
Abdulrazak Gurnah »Die Abtrünnigen«<br />
Vielleicht sagt Ihnen der Name Abdulrazak Gurnah nichts. <strong>Das</strong> wäre schade,<br />
denn der Literatur-Nobelpreisträger von 2021 ist tatsächlich sehr lesenswert,<br />
was ja nicht notwendiger Weise bei allen Preisträgern der Fall ist.<br />
Aber Gurnah spricht nicht nur Themen an, die es wert sind, erläutert<br />
zu werden. Figuren und Schauplätze sind,<br />
zumindest wohl für ein deutschsprachiges es<br />
Publikum, eher ungewöhnlich. Vor allem aber<br />
ist er ein geradezu orientalischer Geschichte-enerzähler.<br />
Sein Roman »Die Abtrünnigen«, der<br />
erstmals <strong>auf</strong> Deutsch erschienen ist, spielt in<br />
Sansibar und der gegenüberliegenden ostafrikanischen<br />
Küste. Im ersten Teil des Romans<br />
erzählt Gurnah die Geschichte des britischen<br />
Orientalisten Pearce zur Jahrhundertwende<br />
zum 20. Jahrhundert, als Sansibar noch Sultanat<br />
war. Skandalöser Weise verliebt sich<br />
Pearce in die Einheimische Rehana, was sowohl von Seiten der britischen<br />
Kolonialherren als auch von den muslimischen Dorfbewohnern missbilligt<br />
wird. Der zweite Teil des Romans thematisiert ebenfalls eine Romanze,<br />
wenn auch ein halbes Jahrhundert später. Zu Beginn der 1950er Jahre lösen<br />
sich die ehemaligen Kolonien vom Joch der Briten. So auch das spätere<br />
Tansania. Erst 1963 wird die Unabhängigkeit erreicht sein. Allerdings läuft<br />
dieser Prozess alles andere als reibungslos ab. Trotz der politischen und<br />
gesellschaftlichen Umwälzungen oder teilweise gerade wegen dieser sieht<br />
die Familie von Amin, dem mittleren von drei Geschwistern, dessen Liebe<br />
zu Jamila als Katastrophe an. Denn es gibt Gerüchte über deren Lebenswandel.<br />
Und auch in ihrer Vergangenheit soll nicht alles so sein, wie die<br />
traditionelle Familie dies wünscht. Noch dazu ist Jamila Witwe und lebt<br />
allein im Untergeschoss des mehrstöckigen Hauses ihrer Familie. Außerdem<br />
ist sie noch älter als Amin. Allein seinen Bruder Rashid scheint das<br />
alles nicht zu betreffen, denn der studiert in England. Doch ihm stellt sich<br />
ein anderes Problem, denn er kann »die abfälligen Worte oder den gereizten<br />
Ton bei alltäglichen kleinen Begegnungen nicht überhören, die unter-<br />
drückte Feindseligkeit in flüchtigen Blicken nicht übersehen«. Nach wie<br />
vor fühlen sich die ehemaligen Kolonialherren als die ehrlichsten, fairsten<br />
und tüchtigsten Herrscher aller Zeiten, sind sie ihrer <strong>Mein</strong>ung nach doch<br />
ehrlich, intelligent und tüchtig. Die Einheimischen hingegen gelten ihnen<br />
als rückständig, korrupt und kindisch. <strong>Das</strong> koloniale Erbe lässt sich ebenso<br />
wenig abschütteln wie die rückständigen Moralvorstellungen, mit denen<br />
die Liebenden konfrontiert sind.<br />
Abdulrazak Gurnah ist Jahrgang 1948, also am Ende des Sultanats San-<br />
sibar geboren. Er ist Professor emeritus für englische und postkoloniale<br />
Literatur an der University of Kent. Er lebt heute in Canterbury. Noch sind<br />
nicht alle<br />
seine Werke ins Deutsche übersetzt. Umso erfreulicher ist, dass<br />
»Die<br />
Abtrünnigen« nunmehr in unserer Sprache vorliegt. Erscheinen bei<br />
Penguin, Hardcover, 395 Seiten, 26 Euro.<br />
Sebastian Fitzek »Elternabend – Kein Thriller«<br />
Eigentlich war ich nicht in Versuchung, einen neuen Fitzek-Roman zu lesen.<br />
Es waren mir einfach zu viele super-intelligente und dabei völlig Durchgeknallte,<br />
die das Fitzek-Universum bevölkern und so die Thriller ins Absurde<br />
treiben. Doch Fitzeks neuestes Werk heißt »Elternabend«. Eltern und Lehrer<br />
könnten jetzt einen Horror-Roman vermuten, wenn Sie wissen, was ich<br />
meine. Doch auch das ist er nicht, wie schon die Zeile unter dem Titel verrät:<br />
»Auch wenn der Titel nach Horror klingt«.<br />
Vielmehr ist »Elternabend« eine meiner<br />
<strong>Mein</strong>ung nach gelungene Komödie, die wie<br />
alle guten Komödien durchaus Ernstes berührt.<br />
Und Fitzek wäre nicht Fitzek, wenn<br />
nicht doch ein Element Absurdes mitschwingt,<br />
versteht sich. Da ist schon mal<br />
die Ausgangssituation: Sascha, ein recht<br />
unbeholfener Kleinkrimineller, versucht, ei-<br />
nen fetten, neuen SUV zu stehlen. Warum,<br />
das wird erst später klar. Doch er hat Pech,<br />
denn just in diesem Moment taucht eine<br />
Gruppe wütender Klimaaktivisten <strong>auf</strong>, deren Zorn sich offenbar auch <strong>auf</strong><br />
das brandneue spritvernichtende Gefährt richtet. Besonders aktiv ist je-<br />
doch eine Mitdreißigerin, die mit Hilfe eines Baseballschlägers versucht,<br />
das Luxusgefährt vollständig zu demolieren. Der nicht wenig überraschte<br />
Sascha lässt natürlich alsbald von seinem Vorhaben ab, als dann auch noch<br />
die Polizei <strong>auf</strong>taucht. Sascha und die wütende Frau, die er für sich Wilma<br />
get<strong>auf</strong>t hat, weil sie wie eine von den Feuersteins die Keule schwingt, ergrei-<br />
fen die Flucht vor der Ordnungsmacht. Dabei geraten sie in einen Ausflug,<br />
der sich als Elternabend mit Übernachtung <strong>auf</strong> einer unbewohnten Insel<br />
außerhalb Berlins entpuppt. Die Klassenlehrerin geht davon aus, dass es<br />
sich bei dem abgehetzten Paar um Christin und Lutz Schmolke handelt,<br />
48 <strong>Das</strong> <strong>Stadtgespräch</strong>