Christkatholisch_2023-15
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<strong>Christkatholisch</strong> <strong>15</strong>/<strong>2023</strong> Thema<br />
5<br />
cherung entstand in den 1880er-Jahren.<br />
Damit setzte Bismarck bis heute gültige<br />
Massstäbe beim Aufbau eines staatlichen<br />
Sozialsystems. Unfall-, Krankenund<br />
Altersversicherung sollten nicht nur<br />
die Not lindern. Sie zielten auch darauf<br />
ab, Arbeiter von der SPD (Sozialdemokratische<br />
Partei Deutschlands) abzubringen<br />
und für die Monarchie zu gewinnen.<br />
Mit den Sozialgesetzen wurde<br />
ein Modell geschaffen, das von vielen<br />
Ländern übernommen wurde, auch von<br />
der Schweiz. Das neue Versicherungsprinzip<br />
hiess, dass Leistungen nicht<br />
mehr vom Bedarf abhängig sind, sondern<br />
automatisch, per Rechtsanspruch<br />
garantiert, gewährt werden. Es markierte<br />
den Übergang von einer auf Fürsorge<br />
und punktuelle Schadensbehebung bedachten<br />
Sozialpolitik zu einer ausbaufähigen<br />
Daseinsvorsorge durch eine Sozialversicherung.<br />
Die Risiken des Erwerbslebens<br />
werden dabei abgedeckt<br />
und sie beruhen auf einem individuellen<br />
Rechtsanspruch.<br />
Warum sprechen Politiker so<br />
oft von Solidarität?<br />
Auf der politischen Bühne erscheint der<br />
Solidaritätsbegriff Anfang des 19. Jahrhunderts.<br />
Er ersetzt die im Nachklang<br />
der Französischen Revolution berühmt<br />
gewordene Losung der Brüderlichkeit<br />
(fraternité). Doch diese klammerte natürlich<br />
den Zusammenhalt unter Frauen<br />
aus. Heute fordern Politiker und Parteiprogramme<br />
«Solidarität» aus verschiedenen<br />
Gründen – meist, um die Menschen<br />
auf zukünftige Belastungen vorzubereiten.<br />
Was hat die Solidarität mit der<br />
Wende in Polen zu tun?<br />
Happige Preiserhöhungen, Versorgungsengpässe<br />
und staatliche Willkür – so sah<br />
der Alltag im Polen der Siebzigerjahre<br />
aus. Das wollten sich die Arbeiter 1980<br />
nicht mehr bieten lassen: Sie streikten.<br />
Aus dieser Bewegung entstand die «Solidarnosc»<br />
(deutsch: Solidarität) und damit<br />
erhielt dieser Begriff eine neue Dynamik.<br />
Die Gewerkschaft und ihr Vorsitzender<br />
Lech Walesa gewannen schnell<br />
an Popularität. Zehn Millionen Anhänger<br />
hatte «Solidarnosc» damals. Zu viel<br />
für die kommunistische Regierung: 1982<br />
wurde «Solidarnosc» verboten. Als Untergrundbewegung<br />
war sie aber weiter<br />
aktiv und wirkte massgeblich an der politischen<br />
Wende 1989 mit. Ihr Vorsitzender<br />
Lech Walesa wurde 1990 zum Staatspräsidenten<br />
Polens gewählt. Heute spielt<br />
«Solidarnosc» in der Politik keine Rolle<br />
mehr. Als Gewerkschaft ist sie weiter<br />
aktiv, hat aber an Glanz verloren: Unter<br />
den 38 Millionen Polen finden sich nur<br />
noch etwa 800 000 «Solidarnosc» – Mitglieder.<br />
Friedensnobelpreisträger Lech<br />
Walesa trat 2005 aus.<br />
Solidarität ist der Puls der<br />
Demokartie<br />
An unserer «Solidarität» lässt sich der<br />
Puls der Demokratie messen, und das<br />
geht über jede emotionale Verbundenheit<br />
hinaus, so die Philosophin Ina<br />
Schmidt. «Solidarität» verhält sich nicht<br />
wie die Werte Treue, Freundschaft oder<br />
Loyalität. Durch «Solidarität» ist man<br />
nicht unbedingt mit anderen Menschen<br />
emotional verbunden – oft kennen wir<br />
diejenigen gar nicht, mit denen wir solidarisch<br />
sind. Keine äusseren Strukturen<br />
sind es, mit denen wir uns konform zeigen.<br />
Es ist die Verbundenheit zu dem,<br />
was wir wollen und was uns wertvoll,<br />
existenziell und wesentlich erscheint.<br />
Damit kann eine menschliche Gemeinschaft<br />
gelingen, in der alle zählen. Ina<br />
Schmidt sagt, dass «Solidarität» nicht<br />
fragt: «Was habe ich davon?», sondern<br />
«Was kann ich aus gutem Grund zum<br />
Gelingen des Ganzen beitragen?»<br />
«Solidarität» ist nicht einfach eine Parole<br />
oder ein Festhalten an Traditionen, sie ist<br />
auch mehr als das Mitgefühl mit Einzelnen,<br />
die in problematischen Situationen<br />
Position stecken, mehr als die Grundlage<br />
für unsere verschiedenen Versicherungssysteme,<br />
in dem eine Generation<br />
für die andere sorgt. «Solidarität» ist das,<br />
was unsere Gemeinschaft zusammenhält,<br />
es ist ein Prinzip der Verbundenheit,<br />
in dem sich jedes gesellschaftliche<br />
Miteinander in der Demokratie zu entfalten<br />
beginnt und das im Handeln sichtbar<br />
wird.<br />
Es ist nicht selbstverständlich, dass das<br />
solidarische Miteinander in einer Gesellschaft<br />
gelebt wird. Hungersnöte, Kriege<br />
und wirtschaftliches Gewinnstreben<br />
lassen uns oft eine Kehrseite der menschlichen<br />
Möglichkeiten erleben und wir<br />
sehen, wie etwas auseinanderfallen und<br />
zersplittern kann, das einmal eine zusammenhaltende<br />
Gemeinschaft war.<br />
Diese Wahrnehmung wird dem, was<br />
heute stattfindet, nicht überall gerecht.<br />
Neben all den alarmierenden und besorgniserregenden<br />
Entwicklungen unserer<br />
Zeit, gibt es grosse und kleine Solidaritätsbekundungen,<br />
wenn etwa nach<br />
Unwettern um Hilfe nachgefragt wird<br />
oder wenn nach Todesfällen oder Katastrophen<br />
viele Menschen alles stehen und<br />
liegen lassen, um zu helfen. Bei allen<br />
Problemen, Differenzen und Konflikten<br />
geht es um eine «Solidarität», die die Gegenwart<br />
im Blick hat und die für die Zukunft<br />
offen ist! Wer der «Solidarität» in<br />
ihrer religiösen Bindung nachgeht, wird<br />
«Solidarität» getragen wissen von der<br />
Liebe Gottes.<br />
Kurt Bayertz und<br />
Niklas Raggenbass<br />
Wir fragten bei Professor Dr. Kurt Bayertz<br />
nach und danken ihm für die Recherchetipps,<br />
die uns «fluter – Magazin<br />
der Bundeszentrale für politische Bildung<br />
(Bonn)» zur Verfügung stellte.<br />
Professor Bayertz lehrt seit 1993 praktische<br />
Philosophie an der Universität<br />
Münster in Deutschland. Zu seinen Forschungsschwerpunkten<br />
gehören die<br />
Ethik, Angewandte Ethik und Anthropologie.<br />
Kurt Bayertz<br />
Warum überhaupt moralisch sein?<br />
2014 | 2. Auflage<br />
295 Seiten<br />
Verlag C.H.Beck<br />
ISBN 978-3-406-67002-2