John MacArthur Der verlorene Sohn <strong>Die</strong> Wahrheit über die Errettung 14 | <strong>Die</strong> <strong>Kraft</strong> <strong>des</strong> <strong>Evangeliums</strong> 3/<strong>2023</strong>
<strong>Die</strong> Schriftgelehrten und Pharisäer – die religiösen Führer in der Erdenzeit Jesu – erwarteten sicher, dass der Vater <strong>des</strong> verlorenen Sohnes den Hammer über dem missratenen Jugendlichen hart niederschlagen würde. Darüber waren sie sich einig: Es konnte keine unverzügliche Vergebung geben. Der verlorene Sohn war wahrscheinlich auch überhaupt nicht der vollständigen Versöhnung mit seinem Vater würdig. Gewiss musste er seine Medizin in voller Dosierung einnehmen. In jener Ehrenkultur, insbesondere in einer Situation wie dieser, wäre es nicht außergewöhnlich gewesen, wenn der Vater sich einfach geweigert hätte, dem Jungen persönlich zu begegnen. Tatsächlich wäre es ziemlich charakteristisch gewesen, dass der Vater – auch wenn er geneigt gewesen wäre, ihm eine Audienz zu gewähren – den reumütigen Sohn zuerst damit bestraft hätte, dass er aus seiner Schande ein öffentliches Spektakel gemacht hätte. Zum Beispiel hätte er den Sohn für mehrere Tage außerhalb <strong>des</strong> Tores dem öffentlichen Anblick aussetzen können, um ihn einiges von der Unehre spüren zu lassen, die er über seine eigene Familie gebracht hatte. Der Junge wäre den Wetterbedingungen völlig ausgesetzt gewesen – und schlimmer noch, dem Gespött der ganzen Umgebung. Wenn der Vater sich nach einigen Tagen solcher Demütigung entschlossen hätte, ihm eine Audienz zu gewähren, und wenn er willig gewesen wäre, ein Maß an Erbarmen anzubieten, dann hätte der Sohn sich tief verbeugen und die Füße <strong>des</strong> Vaters küssen müssen. Keine Umarmung. Es wäre nicht einmal angemessen gewesen, wenn der Sohn stehen geblieben wäre, während er die Hand seines Vaters geküsst hätte. Höchstwahrscheinlich ist dies genau die Art von Behandlung, die der verlorene Sohn erwartete. Aber das Gleichnis Jesu nahm unvermittelt eine andere, dramatische und unvorhergesehene Wendung. »Als er aber noch fern war, sah ihn sein Vater und hatte Erbarmen; und er lief, fiel ihm um den Hals und küsste ihn« (Lk. 15,20). Offensichtlich hatte der Vater damals täglich nach seinem Sohn Ausschau gehalten – mit gebrochenem Herzen, dennoch hoffnungsvoll, während er insgeheim den unaussprechlichen Schmerz der leidenden Liebe um seinen Sohn mit sich herumtrug. Er hatte sicherlich gewusst, dass die Art <strong>des</strong> Lebens, wegen welcher sich der Sohn auf den Weg gemacht hatte, schließlich auf diese Weise enden würde, wie sie es tat. Er hoffte verzweifelt, der Junge würde überleben und nach Hause zurückkommen. <strong>Die</strong> Bildsymbolik, wie der Vater auf den verlorenen Sohn zuläuft, füllt die Details <strong>des</strong> Gesamtbil<strong>des</strong> noch mehr aus. Im Rahmen jener Kultur wurde die Handlung <strong>des</strong> Vaters, zu dem Jungen zu laufen und ihn zu umarmen, noch bevor dieser überhaupt den ganzen Heimweg zurückgelegt hatte, als ein schändlicher Verstoß gegen die guten Sitten angesehen. Zuerst einmal rannte ein angesehener Mann nicht. Zu rennen war etwas für kleine Jungen und <strong>Die</strong>ner. Erwachsene Männer von Rang gingen majestätisch einher, in langsamer Gangart und bedachtsamen Schritten. Aber der Vater raffte sein Gewand zusammen und machte sich auf würdeloseste Weise auf den Weg. Als der Vater den missratenen Sohn erreichte, konnte er seine Zuneigung nicht in Grenzen halten, und er zögerte nicht, ihm Vergebung zu gewähren. Sofort umarmte er den verlorenen Sohn. Jesus sagte, dass der Vater ihm um den Hals fiel und ihn küsste. Das Verb, das an dieser Stelle im griechischen Grundtext steht, deutet an, dass er ihn mehrmals küsste. Er brach über dem Jungen in einer massiven Umarmung zusammen, vergrub seinen Kopf im Nacken seines Sohnes – stinkend und schmutzig und nicht gesellschaftsfähig, wie er war – und begrüßte ihn mit einer Offenbarung ungebremster Emotionen. Der verlorene Sohn war in der Bereitschaft gekommen, die Füße <strong>des</strong> Vaters zu küssen. Statt<strong>des</strong>sen küsste der Vater den nach Schweinen voiceofhope.de | 15