28.12.2012 Aufrufe

Brot und Spiele - Münchner Feuilleton

Brot und Spiele - Münchner Feuilleton

Brot und Spiele - Münchner Feuilleton

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Franz-Josef Czernin 2011 | Foto privat, Copyright Carl Hanser Verlag<br />

zungenenglisch<br />

Dichten als Denken <strong>und</strong> Denken<br />

als Dichten – kaum einer<br />

nimmt es dabei so genau mit<br />

den Wendungen <strong>und</strong> Übergängen<br />

wie Franz Josef Czernin, der im<br />

Januar Geburtstag hat <strong>und</strong> im<br />

Lyrik Kabinett die Poesie feiert.<br />

THOMAS BETZ<br />

Es handelt sich wohl nicht um ein Spezialidiom der heutigen<br />

Weltsprache, englisch wird hier von Engelszungen gesprochen.<br />

Franz Josef Czernin sagt über sein Projekt »zungenenglisch«,<br />

das er im Lyrik Kabinett vorstellt: »Für Johann Georg Hamann<br />

beispielsweise ist Reden Übersetzen – aus einer Engelsprache in<br />

eine Menschensprache.« Wer den Königsberger Philosophen<br />

<strong>und</strong> Schriftsteller nicht kennt, sollte Czernin lesen. Denn der<br />

österreichische Dichter <strong>und</strong> Essayist wurde 2011 mit dem<br />

Magus-Preis ausgezeichnet für seinen Beitrag zur Frage: inwiefern<br />

könne »poetische Sprache heute Instrument <strong>und</strong>/oder<br />

Medium eine Denkens <strong>und</strong> Fühlens sein, das ohne sie weder<br />

möglich noch mitteilbar wäre«. Antworten auf diese Frage nämlich<br />

sucht der 1952 geborene Czernin seit Ende der 70er-Jahre<br />

in Gedichtbüchern <strong>und</strong> Essays – »Dichtung als Erkenntnis« ist<br />

sein Lebensthema als Lesender, Denkender, Schreibender.<br />

Dabei treibt ihn eine Lust am Umformen.<br />

Czernin wurde mit manch einschlägiger Auszeichnung<br />

bedacht (zuletzt 2007 mit dem Georg-Trakl-Preis <strong>und</strong> dem<br />

Österreichischen Staatspreis für Literaturkritik). Ein Adabei im<br />

Literatur- <strong>und</strong> Lyrikzirkus ist er nicht, aber eine verlässliche kritische<br />

Stimme. Er gilt, wie sein <strong>Münchner</strong> Verlag, Hanser, formuliert,<br />

»als einer der ungewöhnlichsten Dichter unserer Zeit«.<br />

Der Schriftsteller Martin Mosebach, der bei Czernins Geburtstagsnachfeier<br />

in München mit von der Partie ist, charakterisiert<br />

im Nachwort zum Sammelband »staub.gefäße« (Hanser, 2008)<br />

dessen Poesie der letzten Jahre so: »Dieses Werk wirkt vor allem<br />

deshalb exzentrisch, irritierend oder gar verstörend, weil es sich<br />

so weit außerhalb des als gegenwärtige Literatur Kanonisierten<br />

<strong>und</strong> Erwarteten befi ndet; weil diese Gedichte sich aus Sphären<br />

nähren, die heute nicht oder nur in Form von Surrogaten erlebbar<br />

scheinen. Ich spreche von der mythischen, der kultischrituellen<br />

<strong>und</strong> schließlich der sakralen <strong>und</strong> religiösen oder mystischen<br />

Sphäre.« Um eine Annäherung an Hamanns<br />

Engelssprache zu erreichen, diese »mythische Sprache, die vielleicht<br />

jeder Poesie aufgegeben ist«, wie Czernin schreibt, muss<br />

das Gedicht das Dickicht der alltäglichen Rede durchforschen,<br />

alles in neue Wendungen <strong>und</strong> Verbindungen bringen.<br />

Das kann auch, von uns Lesern selbst, im Alltag probiert<br />

werden. Czernin, der ein großer Kombinatoriker ist <strong>und</strong> Ende<br />

der 80er-Jahre ein Computerprogramm zur Analyse <strong>und</strong> Synthese<br />

von poetischen Texten entwickelt hat, ist in vielen Haushalten<br />

mit den Magnettafeln seiner »Kühlschrankpoesie« vertreten.<br />

Wer es selbst noch nicht ist, kann also mit Czernin zum<br />

Dichter werden. Aktuell mit seinem neuen Kombinatorikspiel<br />

»Metamorphosen. Die kleine Kosmologie«, das bei seinem Wiener<br />

Verlag, Droschl, erscheint. Verszeilen, die sich unendlich<br />

kombinieren lassen plus Gebrauchsanweisung ergeben eine<br />

kleine Poetik, die neugierig macht auf Czernins enzyklopädisches<br />

Projekt einer »Kunst des Dichtens«, die auf das Ganze<br />

zielt. ||<br />

ZUNGENENGLISCH. VISIONEN UND VARIANTEN<br />

Franz Josef Czernin | Einführung: Martin Mosebach<br />

18. Januar | 20.00 Uhr<br />

Lyrik Kabinett | Amalienstraße 83 Rgb | Karten: 089 346299<br />

Nora Gomringer auf der Göteburger Buchmesse 2011 | Foto: Arild Vågen<br />

Die Nation<br />

<strong>und</strong> ihr<br />

M<strong>und</strong>werk<br />

Nora Gomringer ist eine der<br />

erfolgreichsten Lyrikerinnen derzeit –<br />

ein Ende ist nicht in Sicht.<br />

CHRISTINE AUERBACH<br />

Ihre Gedichte kann man lesen. Aber eigentlich muss man sie<br />

hören – am besten von ihr selbst. Denn wenn Nora Gomringer<br />

ihre Poesie liest, dann kaut sie die Verse, zerteilt die Silben,<br />

schiebt mit dem Zwerchfell nach <strong>und</strong> wuchtet sie dem<br />

Hörer in die Ohren. Dort stecken dann wahlweise sprachliche<br />

Sahnetorten oder Henkersmahlzeiten, Samtkissen oder<br />

Rasiermesser – je nachdem, in welche Richtung die Lyrikerin<br />

die Sprache gedehnt <strong>und</strong> gewendet hat.<br />

Dass die 31-Jährige eine der virtuosesten Lyrikerinnen<br />

dieser Zeit ist, hat letztes Jahr auch die Jury des Jacob-<br />

Grimm-Preises bemerkt. Der mit 30.000 Euro dotierte Preis<br />

dient dem Erhalt <strong>und</strong> der kreativen Entwicklung der deutschen<br />

Sprache <strong>und</strong> dass ausgerechnet sie ihn bekommen<br />

hat, hält Nora Gomringer für einen »schmeichelhaften Irrtum«.<br />

Entwickeln ja, das stimmt, erhalten – kommt darauf<br />

an, wie: Statt die Sprache in den abgeschotteten Literaten-<br />

Elfenbeinturm zu packen, holt sie Nora Gomringer lieber auf<br />

die Straße. Sie dreht Youtube-Videos, in denen sie vor einem<br />

Möbelhaus lyrisch mit dem Exfre<strong>und</strong> abrechnet, der gerade<br />

mit einem Tisch für sich <strong>und</strong> die neue Fre<strong>und</strong>in vorbeiläuft:<br />

»An mir vorbei baust du einen Tisch, unter dem ich jedem<br />

auf die Füße trete. Ein Tisch, an dem ich gar kein Gespräch<br />

mehr bin.«<br />

Ihren Gedichtbänden liegen CDs bei, auf denen sie selbst<br />

ihre Werke liest. Mit Lesungen im herkömmlichen Sinn, mit<br />

Tisch <strong>und</strong> Wasserglas, haben ihre Auftritte allerdings wenig<br />

zu tun, denn Nora Gomringers Schule war jahrelang der Poetry<br />

Slam – was man auch immer noch merkt. Der Slam darf<br />

seinen Namen übrigens ruhig behalten <strong>und</strong> braucht kein<br />

deutsches Pendant, im Gegenteil: Nora Gomringer fi ndet es<br />

geradezu notwendig, dass sich andere Sprachen mit ins<br />

Deutsche mischen, denn »wo eine Nation steht, sieht man an<br />

ihrem M<strong>und</strong>werk«. Ins Deutsche könnte sich da ihrer Meinung<br />

nach noch viel mehr mischen.<br />

So mancher hat sich gew<strong>und</strong>ert, als sie im April 2010 die<br />

Leitung des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia<br />

in Bamberg übernommen hat <strong>und</strong> zur Herbergsmutter für<br />

zwölf Stipendiaten wurde, die jeweils ein Jahr in der Villa<br />

wohnen <strong>und</strong> arbeiten dürfen. Als Spoken-Word-Poetin ausgerechnet<br />

an eine solch altgediegene Institution ... Aber »bieder<br />

is, who bieder does«, sagt Gomringer <strong>und</strong> arbeitet seither<br />

für zwei, um neben der Villa auch noch ihr Schreiben zu<br />

organisieren. Für sie war der Schritt von der Subkultur in die<br />

Villa gar nicht so groß, denn sie kennt die verschiedenen<br />

Welten: Im Elternhaus gab es eher Hochkultur – ihr Vater ist<br />

Eugen Gomringer, der als Mitbegründer der konkreten Poesie<br />

gilt.<br />

»Ich war kein cooles Kind, Jugendkultur war mir immer<br />

irgendwie fremd«, sagt Gomringer. »Ich war eher ein Danebensteher,<br />

der beobachtet <strong>und</strong> durch die verschiedenen Welten<br />

wandelt«. Sie ist gegen zu viel Häppchenkultur in der<br />

Kunst – schließlich könne man sich schon mal 100 Minuten<br />

zusammenreißen, <strong>und</strong> dann erst Pipi machen gehen. Auch<br />

bei ihren Texten setzt sie nicht auf die einfachen Lacher, sondern<br />

verschwindet lieber in unwegsames Gelände. Das Publikum<br />

folgt ihr, denn was Nora Gomringer mit der Sprache<br />

macht, ist spannend, ihre »Gedichte sind Gefechte / Auf weißen<br />

Seiten / Oder Tierhäuten / Ausgetragen«. ||<br />

LITERATUR<br />

MÜNCHNER FEUILLETON · JANUAR · SEITE 27<br />

ll<br />

LYRIK<br />

ein Schneider saß am Fluss<br />

<strong>und</strong> nähte ihm Arme aus dem Schilf<br />

das Wasser rann<br />

in dünnen Fäden<br />

durch seine Hände<br />

er strich es glatt<br />

mit Geduld <strong>und</strong> Obacht<br />

am Ufer lachten sie<br />

über den Schneider<br />

aus dem fernen Land<br />

sichtlich ahnungslos<br />

in hiesiger Wetterk<strong>und</strong>e<br />

in den Nächten aber<br />

an denen er am Fluss saß<br />

schimmerte das Wasser<br />

wie in noch keiner<br />

Mondnacht gesehen<br />

nie war der Fluss empfänglicher<br />

der gewaltige Wille<br />

der an jeder Grenze<br />

störrisch hinzugewann<br />

ruhte nun ohne Widerstand<br />

ein Körper nächtens vollendet<br />

ll<br />

wuchs in sein lichtes Kleid<br />

Zafer Şenocak<br />

GETEILTE MÜNDUNG. GEDICHTE<br />

Zafer Şenocak<br />

Babel Verlag, Bülent Tulay, 2011 | mit fre<strong>und</strong>licher<br />

Genehmigung des Verlags<br />

Zafer Şenocak wurde 1961 in Ankara geboren,<br />

wuchs in Istanbul <strong>und</strong> München auf <strong>und</strong> lebt<br />

seit 1989 in Berlin. Er war 1984 Literaturstipendiat<br />

der Stadt München <strong>und</strong> erhielt 1988 den<br />

Förderpreis zum Adelbert-von-Chamisso-Preis.<br />

Neben zahlreichen Gedichtbänden hat er<br />

mehrere Romane <strong>und</strong> Essaybände geschrieben.<br />

Zuletzt erschien »Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift«<br />

in der Edition Körber-Stiftung,<br />

Hamburg 2011. Derzeit ist Şenocak Stipendiat<br />

der Feldafinger Villa Waldberta.<br />

Anzeige<br />

Gerade war sie wieder auf Tour, am 12. Januar im <strong>Münchner</strong><br />

Volkstheater, man wird sie wieder sehen <strong>und</strong> hören, am 15. beim<br />

Erlanger Poetry Slam Jubiläum etwa, im Februar in Stuttgart <strong>und</strong><br />

Würzburg, im März in Isny ... Und ihre ersten vier Gedichtbände<br />

seit 2000 hat sie in einem Band gesammelt.<br />

MEIN GEDICHT FRAGT NICHT LANGE<br />

Nora Gomringer<br />

Voland & Quist, 2011 | 332 Seiten mit Audio-CD | 24,90 Euro

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!