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Brot und Spiele - Münchner Feuilleton

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STADTBILD<br />

SEITE 08 · JANUAR · MÜNCHNER FEUILLETON<br />

Gürtel von Hercz Alexander, nach der Befreiung im KZ Dachau<br />

mitgenommen | Sammlung Esther Alexander-Ihme<br />

LEA HAMPEL<br />

Ein Blick in die<br />

gepackten Koffer<br />

»Rutka Grünberg. Auschwitz, Bergen-Belsen, Flossenbürg.<br />

59521«. Das ist alles. Es steht auf drei mal acht Zentimetern<br />

Papier. Die Konzentrationslager, in denen sie war, ihre Häftlingsnummer,<br />

das war es, was Rutka Grünberg im Jahr 1946<br />

auszumachen schien. Aus heutiger Sicht scheint es absurd,<br />

beinahe befremdlich, diese Informationen auf einer Visitenkarte<br />

zu verewigen. Für Rutka Grünberg war es vermutlich ein<br />

wichtiger Schritt in einen Zustand, der der Normalität zumindest<br />

äußerlich ähnelte, <strong>und</strong> ein Hilfsmittel auf der Suche nach<br />

Resten ihres alten Lebens. Denn durch die Verbreitung des<br />

Aufenthaltsortes war die Chance für überlebende KZ-Häftlinge<br />

am größten, in den Nachkriegswirren doch noch ein Mitglied<br />

der Familie zu fi nden.<br />

Die Visitenkarte ist mit vier anderen Karten ähnlicher<br />

Machart derzeit im Jüdischen Museum in München zu sehen.<br />

Dort befasst sich seit Dezember, unter dem Titel »Juden 4590<br />

– Von da <strong>und</strong> dort. Überlebende aus Osteuropa«, der erste Teil<br />

einer Doppelausstellung mit der Geschichte der Menschen, die<br />

Auschwitz, Bergen-Belsen <strong>und</strong> andere Lager überlebt haben<br />

<strong>und</strong>, zumindest zeitweise, in Deutschland lebten – einem<br />

Kapitel deutsch-jüdischer Geschichte, das in der öffentlichen<br />

Betrachtung häufi g untergeht angesichts der sechs Millionen<br />

Toten.<br />

In ihren Heimatorten im Osten Europas waren die überlebenden<br />

Juden nicht erwünscht, ihre Häuser zerstört oder von<br />

anderen bewohnt, ihre Familien nur Erinnerung, <strong>und</strong> ihr<br />

Besitz war das, was sie am Leibe trugen. Gleichzeitig hatten sie<br />

nicht mehr als eine Vision, wo sie hin sollten <strong>und</strong> wollten. Sie<br />

waren Gestrandete, die seit 1943 mit dem Terminus »Displaced<br />

Person« bezeichnet wurden: »DP«. Besonders viele kamen<br />

nach Bayern <strong>und</strong> München, 130.000 DPs befanden sich im<br />

Herbst 1947 in der amerikanischen Zone, die als sicherer Ausgangsort<br />

für die Emigration nach Palästina <strong>und</strong> in die Vereinigten<br />

Staaten galt. Weil die Gelegenheit dazu auf sich warten<br />

ließ, wurde in München der Zentralkommission der befreiten<br />

Juden in der amerikanischen Besatzungszone 1945 die einstige<br />

Arbeitersiedlung Föhrenwald nahe Wolfratshausen zugewiesen,<br />

einer von mehreren Orten in Deutschland, wo jüdische<br />

Überlebende selbstverwaltet leben konnten <strong>und</strong> der bis 1957<br />

am längsten von allen existierte. Schon 1946 hatte Föhrenwald<br />

5000 Einwohner, für die hier das begann, was als »Leben auf<br />

gepackten Koffern« bezeichnet wird. Sie waren, wo sie nicht<br />

sein wollten, <strong>und</strong> taten, was ihnen zuvor verweigert war: leben,<br />

stets in der Hoffnung, bald eine richtige Heimat zu haben.<br />

Diesen Weg zurück ins Leben zeigt die Ausstellung in<br />

neun Stationen. Das erste, noch aus Häftlingskleidung<br />

Eine Ausstellung im Jüdischen<br />

Museum stellt das Leben Überlebender<br />

im Lager München-Föhrenwald<br />

nach dem Holocaust dar. Anhand von<br />

Alltagsgegenständen erzählen die<br />

Kuratorinnen ein ebenso wichtiges<br />

wie vernachlässigtes Kapitel deutschjüdischer<br />

Nachkriegsgeschichte.<br />

JUDEN 45/90. VON DA UND DORT –<br />

ÜBERLEBENDE AUS OSTEUROPA<br />

Jüdisches Museum München<br />

| St.-Jakobs-Platz 16 bis 17. Juni Dienstag–Sonntag 10–18 Uhr |<br />

Eintritt 6 Euro<br />

Katalog 14,90 Euro | www.juedisches-museum-muenchen.de.<br />

geschneiderte Kleid <strong>und</strong> provisorische Chanukka-Leuchter<br />

gehören ebenso dazu wie die einstige Geldschatulle des KZ-<br />

Aufsehers, die ein Überlebender als Box für seine Rasierutensilien<br />

verwendete, oder eben jene Visitenkarten. Wie groß der<br />

Hunger nach Ausbildung, Familie, Alltag, Religion, Eigenständigkeit,<br />

Zukunft war, ist jedem Objekt anzusehen, sei es der<br />

einstige Gürtel aus dem KZ, der immer mehr Löcher brauchte,<br />

um die Kleidung am Leib seines schmaler werdenden Besitzers<br />

zu halten, seien es Aschenbecher mit dem Symbol der<br />

»She’erit Hapleta«, des »geretteten Rests«, oder die erste in<br />

Föhrenwald entstandene Zeitung.<br />

Verpackt in Klarsichthüllen oder hinter Plexiglas werden<br />

Überreste des Lebens im Lager nach dem Lager gezeigt. Die<br />

Verpackung schafft Distanz <strong>und</strong> unterstreicht den vorübergehenden<br />

Charakter, die Geschichten dazu schaffen Nähe. Es ist<br />

eine Abstraktion des Einzelschicksals <strong>und</strong> doch scheint jeder<br />

Gegenstand zu rufen: »Ich bin nur einer von vielen!« Davon,<br />

dass es eine Art zeitweiliges Ankommen gab, zeugt das obere<br />

Stockwerk. Hier sind Bilder aus dem heutigen Waldram, dem<br />

einstigen Föhrenwald, zu sehen. Hier tauchen berühmte<br />

<strong>Münchner</strong> Familiennamen <strong>und</strong> -geschichten wie die der Familie<br />

Salamander auf. Hier wird das Leben im Föhrenwald der<br />

späten vierziger Jahre – mit eigener Synagoge, eigenem Thea-

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