Deutsche Warenkunde- und Technologie-Tage - DGWT
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GEBRAUCHSTAUGLICHKEIT<br />
Massenprodukten im engeren Sinn kann also nicht gesprochen werden. Zudem erwiesen sie sich – wie auch<br />
andere Elemente moderner Wohnkultur – nicht unbedingt als kompatibel mit dem Massengeschmack. Stahlrohrmöbel<br />
für den Wohnbereich waren neue Konsumgüter, die in erster Linie aufgeschlossene, fortschrittlich<br />
eingestellte Zeitgenossen ansprachen, die bereit waren, auch in ihrem persönlichen Lebensbereich mit alten<br />
Traditionen zu brechen <strong>und</strong> neue Formen <strong>und</strong> Materialien zu erproben. Insofern erforderten die neuen Möbel<br />
bis zu einem gewissen Grad tatsächlich neue Menschen als Nutzer. Für die breite Masse gewannen Stahlrohrmöbel<br />
erst nach dem Zweiten Weltkrieg Bedeutung, wobei der Höhepunkt in den 1960er <strong>und</strong> 1970er Jahren<br />
erreicht wurde.<br />
Wie wurde nun dieses Angebot an „sehr interessanten, allerdings ultramodernen“ 19 Möbeln von den<br />
Konsumenten angenommen? Wie wurden diese ehemals als „unwohnlich“ klassifizierten Produkte der rationalisierten<br />
Industrie in die Wohnkultur integriert? Eine Möglichkeit, solchen Fragen nachzugehen, besteht in<br />
der Analyse zeitgenössischer Wohn- <strong>und</strong> Haushaltsratgeber sowie einschlägiger Zeitschriften. Nach dem<br />
Ersten Weltkrieg boomte Ratgeberliteratur zu den unterschiedlichsten Lebensbereichen, da der Zusammenbruch<br />
des alten politischen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Systems ein hohes Maß an Orientierungsbedarf nach sich<br />
zog. Die Ratgeberliteratur kann darüber hinaus als Warenlehre für die Konsumenten <strong>und</strong> vor allem für die<br />
Konsumentinnen verstanden werden. Haushalts- <strong>und</strong> Wohnratgeber, Frauenzeitschriften etc. lieferten nicht nur<br />
Anweisungen <strong>und</strong> Hilfestellungen für alltagspraktisches Handeln, sondern auch Wissen über Konsumgüter.<br />
Dabei war deren Auswahl, Qualität, Gebrauchstauglichkeit, praktische Anwendung, Pflege etc. ebenso ein<br />
Thema wie deren kulturelle <strong>und</strong> gesellschaftliche Bedeutung. Die Ratgeberliteratur dokumentiert zwar nicht<br />
den realen historischen Wohnalltag. Indem sie Leitbilder des Wohnens vermittelte <strong>und</strong> popularisierte <strong>und</strong> auf<br />
alltägliche Bedürfnisse <strong>und</strong> Problemlagen einging, befand sie sich jedoch relativ nahe am Alltag der (potentiellen)<br />
Konsumenten <strong>und</strong> Nutzer von Stahlrohrmöbeln.<br />
Stahlrohrmöbel waren in den späten 1920er <strong>und</strong> in den 1930er Jahren in vielen, aber durchaus nicht in allen<br />
Ratgebern <strong>und</strong> Zeitschriften zu den Bereichen Haushalt <strong>und</strong> Wohnen ein Thema. Sie wurden generell als Symbole<br />
der Modernisierung, als Element der neuen, sachlichen Wohnkultur, als „modernster Widerpart antiker<br />
Möbel“ 20 betrachtet. Die Bewertung war ambivalent <strong>und</strong> hing nicht zuletzt mit der gr<strong>und</strong>sätzlichen Ausrichtung<br />
der jeweiligen Publikation zusammen. Eine derart euphorische Bewertung der Stahlrohrmöbel wie im<br />
Umfeld der Architektur- <strong>und</strong> Designavantgarde findet sich kaum. Der Rezeptionsbogen spannt sich vor allem<br />
zwischen einer gemäßigt modernisierungsfre<strong>und</strong>lichen <strong>und</strong> einer insbesondere ästhetisch-atmosphärisch, auch<br />
ideologisch motivierten modernisierungskritischen Haltung. Die Aussagen über die Stahlrohrmöbel sind in der<br />
Regel eingebettet in die prinzipielle Haltung gegenüber der modernen, an Versachlichung <strong>und</strong> Rationalisierung<br />
orientierten Architektur <strong>und</strong> Wohnkultur; <strong>und</strong> sie bewegen sich entlang einiger zentraler Argumentationslinien,<br />
welche sich auf Ästhetik <strong>und</strong> Atmosphäre einerseits, auf praktische Fragen wie Arbeitserleichterung <strong>und</strong><br />
Hygiene andererseits beziehen.<br />
Die weit verbreitete zeitgenössische Haltung gegen monumentale, massige, den Raum anfüllende Möbel <strong>und</strong><br />
für leichte, bewegliche, flexibel einsetzbare Möbel findet sich mehr oder weniger stark ausgeprägt auch in der<br />
Haushalts- <strong>und</strong> Wohnratgeberliteratur der 1920er <strong>und</strong> 1930er Jahre: teilweise als Ausdruck moderner Wohnkonzepte<br />
formuliert, teilweise als pragmatische Reaktion auf reduzierte Wohnflächen in Neubauten <strong>und</strong> als<br />
Folge der Wirtschaftskrise (letztere zwang auch bürgerliche Schichten vielfach zu einer bescheideneren<br />
Lebensführung als vor dem Ersten Weltkrieg). Stahlrohrmöbel spielten in diesem Zusammenhang eine Rolle,<br />
wenn auch nicht die einzige. Die leichte Bewegbarkeit von Stahlrohrmöbeln aufgr<strong>und</strong> ihres geringen Gewichts<br />
war immer wieder ein Thema, weswegen sie besonders für den flexiblen Einsatz in Kleinwohnungen empfohlen<br />
wurden. Der Leichtigkeit wegen galten sie speziell auch als für Kinderzimmer geeignet. 21 Da die<br />
verschiedenen Sitzmöbeltypen unterschiedliche Sitzhaltungen ermöglichen, wurden Polstersessel für Ruhe <strong>und</strong><br />
Entspannung empfohlen, Stahlrohrmöbel hingegen für Unterhaltungen <strong>und</strong> Diskussionen, da sie zum Sprechen<br />
anspornen würden. 22 Die Leichtigkeit von Möbeln spielte nicht nur in praktischer, sondern auch in ästhetischer<br />
<strong>und</strong> atmosphärischer Hinsicht eine wichtige Rolle: „Alles um uns wird nun heller, heiterer, lichtdurchfluteter.<br />
Die schweren Tapezierermöbel verschwinden. Das Mobiliar wird leichter, lichter, niedriger. […] Klarheit,<br />
Übersichtlichkeit, spiegelnde Sauberkeit, kristallhelle Durchsichtigkeit drücken der neuen Wohnung ihre<br />
Merkmale auf.“ 23 Als großer Vorteil der Stahlrohrmöbel wurde ins Feld geführt, dass sie optisch fast gar keinen<br />
Raum wegnehmen 24 <strong>und</strong> kleine Zimmer größer machen.<br />
19 <strong>Deutsche</strong> wirtschaftliche Vereinigung für neuzeitliche Lebensk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> rationelle Haushaltführung (Hg.), Lexikon<br />
des Lebens. Ein Nachschlagewerk für sämtliche Erfordernisse des Alltags, Wien o. J. [1931], S. 31.<br />
20 Wie Anm. 19.<br />
21 Vgl. Otto R. Hellwig, Behagliche Wohnung <strong>und</strong> praktischer Haushalt, Wien 1934, S. 54.<br />
22 Vgl. Therese Guglmayr, Im Reich der Frau. Ein Ratgeber für Frau, Haus, Heim <strong>und</strong> Familie, Wels 1934, S. 435f.<br />
23 Maria Mathilde Mandl (Hg.), Das Heim von heute, Wien/ Leipzig 1928, S. 9.<br />
24 Vgl. <strong>Deutsche</strong> wirtschaftliche Vereinigung für neuzeitliche Lebensk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> rationelle Haushaltführung, wie Anm. 19.<br />
FORUM WARE 36 (2008) NR. 1 - 4<br />
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