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114 DAS MITTELALTER - Universität Bern

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UNI PRESS<br />

F O R S C H U N G U N D W I S S E N S C H A F T A N D E R U N I V E R S I T Ä T B E R N<br />

OKTOBER 2002<br />

<strong>114</strong><br />

<strong>DAS</strong> <strong>MITTELALTER</strong>


UNI<br />

UNIPRESS<strong>114</strong><br />

PRESS<br />

O K T O B E R 2 0 0 2<br />

Philosophen und Kleriker Seite 5<br />

Das Verhältnis zwischen Philosophie und<br />

Theologie ist schwierig. Andreas Graeser<br />

legt dar, dass der Streit zwischen Philosophen<br />

und Theologen indessen mehrere<br />

Facetten hat.<br />

Wacht auf, wacht auf, es taget! Seite 8<br />

Der Nürnberger Meistersinger Hans Sachs war ab 1523 ein Anhänger<br />

der Reformation. André Schnyder schildert, wie Sachs versuchte,<br />

die Anliegen Martin Luthers dem Volke näher zu bringen.<br />

Slavisches Geistesleben im Mittelalter Seite 12<br />

Zwei Brüder aus Thessaloniki, Kyrill und Method, haben als erste<br />

christliche Schriften aus dem Griechischen ins Slavische übersetzt.<br />

Noch heute verdanken das Russische und das Bulgarische<br />

einen ansehnlichen Teil ihres Wortschatzes dem Wirken solcher<br />

mittelalterlicher Übersetzer, wie Yannis Kakridis aufzeigt.<br />

Was alte Gebeine verraten Seite 14<br />

Skelettfunde verraten, an welchen Krankheiten die Menschen im<br />

Mittelalter litten, in welchem Alter sie starben und wie ihre Nahrung<br />

mehrheitlich beschaffen war. Susi Ulrich-Bochsler zeigt den<br />

Stand der Forschung auf.<br />

Räuber, Gauner und Betrüger im<br />

Spätmittelalter Seite 18<br />

Verbrechen und Gesetzesbrecher üben auf<br />

die meisten Menschen eine hohe Faszination<br />

aus. Oliver Landolt schildert, wie<br />

sich diese Faszination auch in früheren<br />

Zeiten feststellen lässt.<br />

Mit den Stadtläufern<br />

des Spätmittelalters unterwegs Seite 22<br />

Die Anfänge des bernischen Botenwesens reichen bis ins 13. Jahrhundert.<br />

Karin Hübner berichtet, über die wachsende politische<br />

Bedeutung des Stadtstaates und seiner Boten.<br />

Haben Andersgläubige<br />

keine Geschichte? Seite 26<br />

In vielen Kreuzzügen haben christliche Heere versucht, den „Ungläubigen“<br />

das Heilige Land oder Teile Spaniens wieder zu ent-<br />

reissen. Obwohl die Muslime eine hohe Kultur besassen, gibt es<br />

aus jener Zeit kaum christliche Darstellungen ihrer Geschichte.<br />

Rainer Schwinges stellt zwei Ausnahmen vor .<br />

Pax Mongolica Seite 32<br />

Karénina Kollmar-Paulenz beschreibt,<br />

wie das mongolische Weltreich im 13.<br />

und 14. Jahrhundert Europa und Asien<br />

miteinander verband. Die mongolischen<br />

Herrscher ermöglichten kulturellen Austausch<br />

und Handelsbeziehungen.<br />

The principal navigations ... Seite 35<br />

Unter Elisabeth I. stieg England zur grössten Seemacht auf. Eine<br />

erfolgreiche Kolonialpolitik begann, das nationale Selbstbewusstsein<br />

wuchs. Margaret Bridges schildert, wie Gelehrte versuchten,<br />

die Überlegenheit britischen Denkens und Handelns zu begründen.<br />

Thesaurus proverbiorum medii aevi Seite 37<br />

Der Thesaurus Singer, ein Lexikon der Sprichwörter des Mittelalters,<br />

ist ein Unikum, meint Ricarda Liver.<br />

Höfische Liebeskunst als<br />

Gesellschaftsspiel Seite 40<br />

Das waren Kenner, – so meint Hubert Herkommer – die den Vorträgen<br />

der Minnesänger lauschten. Wenn der Kreuzzug den Abschied<br />

von der verehrten Dame forderte, litt der Minneritter Qualen.<br />

Der König als Priester Seite 44<br />

Nicht ganz selbstlos wollte Karl der Grosse<br />

dem Papst eine Prachthandschrift der<br />

Psalmen aus dem Alten Testament schenken.<br />

Adrian Mettauer erklärt die Absicht<br />

dahinter.<br />

Die Basler Galluspforte Seite 47<br />

Die Galluspforte des Basler Münsters ist eines der berühmtesten<br />

romanischen Skulpturwerke der Schweiz. Norberto Grammacini,<br />

Sibylle Walther und Hans-Rudolf Meyer untersuchen, ob<br />

die Pforte ein aus älteren Portalen zusammengestückeltes Flickwerk<br />

ist oder ob sie ein streng theologisch begründetes Kunstwerk<br />

ist.


Finsteres Mittelalter?<br />

4 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

Barbarisch und finster nannten<br />

die Geschichtsschreiber<br />

der Renaissance die tausend<br />

Jahre zwischen dem Niedergang<br />

des klassischen Altertums<br />

und ihrer Zeit, die<br />

eine Wiedergeburt der antiken<br />

Kultur mit sich bringen<br />

sollte.<br />

Das 19. Jahrhundert sah diese Epoche mit anderen Augen. Romantische<br />

Vorstellungen von tapferen Rittern und ihren Tournieren,<br />

von höfischem Leben und Minnesang wurden mit dem Mittelalter<br />

verbunden.<br />

Bis in unsere Zeit wirken solche Klischees nach. Bei Mittelalter<br />

denken wir an Pest und den Hundertjährigen Krieg, an<br />

Hungerkatastrophen, welche die Bevölkerung ganzer Landstriche<br />

ausrotteten. Wir bringen das Mittelalter in Zusammenhang<br />

mit rückständiger Frömmigkeit, welche den Blick der Menschen<br />

einschränkte, sind aber beeindruckt von allem, was sich<br />

mit dem mittelalterlichen Rittertum verbindet.<br />

War das Mittelalter barbarisch und rückständig, war es heldenhaft<br />

und romantisch – oder war es vielleicht all dies und noch<br />

manches dazu?<br />

Das Bild, das wir noch oft vermittelt erhalten, stimmt mit den<br />

Erkenntnissen der heutigen Mittelalterforschung kaum überein.<br />

Die moderne Mediävistik bemüht sich um ein differenzierteres<br />

und wissenschaftlich fundiertes Bild der Epoche. In diese Arbeit<br />

einbezogen sind nicht allein die Historiker. Sie betrifft ebenso<br />

Sprach- und Literaturwissenschafter, Theologen, Musikologen,<br />

Kunsthistoriker, Theaterwissenschafter und Philosophen.<br />

Um dieser Vielfalt der Forschung Rechnung zu tragen, sie transdisziplinär<br />

zu verbinden und aus den sich daraus ergebenden Synergien<br />

Nutzen zu ziehen für Lehre, Forschung und Öffentlichkeit,<br />

wurde 1996 das <strong>Bern</strong>er Mittelalterzentrum gegründet. Rund<br />

20 Dozierende aus 13 Instituten gehören dem Forum an, das sich<br />

zum Ziel gesetzt hat, Forschung und Lehre auf dem Gesamtgebiet<br />

der mittelalterlichen Geschichte und Kultur zu fördern und zu koordinieren.<br />

Gemeinsame Lehrveranstaltungen, Forschungsprojekte,<br />

Publikationen, Sprachkurse, Tagungen und Exkursionen<br />

sind Bestandteile der Tätigkeiten des Zentrums. Gastvorträge<br />

von in- und ausländischen Gelehrten ergänzen das Programm.<br />

Einer breiteren Öffentlichkeit ist das <strong>Bern</strong>er Mittelalterzentrum<br />

vor allem durch seine Ringvorlesungen bekannt, die in den vergangenen<br />

Jahren so faszinierende Bereiche wie «Fest und Spiel<br />

im Mittelalter», «Männer, Frauen und die Liebe», «Der Schwarze<br />

Tod» oder «Engel, Teufel und Dämonen» aufgriff und die im Wintersemester<br />

2002/2003 dem Thema «Europa und der Orient» gewidmet<br />

ist (Vgl. Seite 52)<br />

Der Geschäftsführer des Zentrums, Prof. Rainer Schwinges, war<br />

es denn auch, der uns bei der Suche nach Autoren zum vorliegenden<br />

Heft zur Seite stand, so dass wir unseren Lesern und Leserinnen<br />

ein recht buntes Bild des Mittelalters aus verschiedenen<br />

Perspektiven vor Augen führen können.<br />

Bunt sind für einmal auch die Illustrationen. Leider lassen es<br />

unsere finanziellen Möglichkeiten nicht zu, UNI PRESS generell<br />

als vierfarbige Publikation herauszugeben. Mit diesem Heft machen<br />

wir indessen eine Ausnahme, denn eine ganze Anzahl von<br />

Abbildungen war farblich so schön, dass wir es nicht übers Herz<br />

brachten, sie in Graustufen umzuwandeln.<br />

Unsere Leser erwartet damit nicht nur Wissenswertes zu vergangenen<br />

Zeiten, sondern auch manche Augenweide.<br />

Annemarie Etter<br />

UNIPRESS <strong>114</strong>/Oktober 2002<br />

Verantwortliche<br />

Herausgeberin<br />

Stelle für Öffentlichkeitsarbeit<br />

der <strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong><br />

Prof. Dr. Annemarie Etter<br />

Dr. Beatrice Michel<br />

Fred Geiselmann<br />

Redaktionsadresse<br />

Schlösslistrasse 5, 3008 <strong>Bern</strong><br />

Tel. 031 631 80 44<br />

Fax 031 631 45 62<br />

E-mail: press@press.unibe.ch<br />

http://publicrelations.<br />

unibe.ch/<br />

Layout<br />

Patricia Maragno<br />

Titelbild<br />

Christine Blaser<br />

Erscheinungsweise<br />

4mal jährlich; nächste Nummer<br />

Dezember 2002<br />

Druck und Inserate<br />

Stämpfli AG<br />

Hallerstrasse 7<br />

3012 <strong>Bern</strong><br />

Tel. 031 300 66 66<br />

Tel. 031 300 63 82 (Inserate)<br />

Adressänderungen<br />

Bitte direkt unserer<br />

Vertriebsstelle melden:<br />

«DER BUND»<br />

Vertrieb UNIPRESS<br />

Bubenbergplatz 8<br />

3001 <strong>Bern</strong><br />

Auflage<br />

15 000 Exemplare


Philosophie und Theologie: Ein schwieriges Verhältnis<br />

Philosophen und Kleriker<br />

Attacken auf die Philosophie gehören zum Lateinischen<br />

Mittelalter wie das Salz in der Suppe. Sie gelten gemeinhin<br />

als Symptom einer wissenschaftsfeindlichen Haltung auf<br />

Seiten des Klerus. In der Tat scheinen Exponenten der<br />

Theologie den Einbruch heidnischen Wissens mit<br />

Argusaugen beobachtet zu haben. Doch ist das wohl<br />

nur ein Aspekt. Denn der sprichwörtliche Streit zwischen<br />

Philosophen und Theologen hat mehrere Facetten.<br />

Dabei scheint der Versuch der Philosophen<br />

– hier handelt es sich um die Sachwalter<br />

der aus dem spätantiken Schulsystem<br />

übernommenen ‹Sieben freien Künste›<br />

(artes liberales) – sich aus den Klauen der<br />

Bevormundung durch die theologische Fakultät<br />

zu befreien, nur die Oberfläche anzugehen.<br />

Tiefer und mehr zum Kern der<br />

Sache weist nämlich ein anderes Phänomen;<br />

und dieses zeichnet sich interessanterweise<br />

innerhalb der Theologie ab. Es<br />

betrifft den Umstand, dass die Theologen<br />

(viele von ihnen waren zugleich auch die<br />

führenden Leute in der Philosophie) als<br />

Theologen auf die Sprache der Philosophie<br />

zurückgriffen und hier bald auf gewisse<br />

Grenzen stiessen.<br />

Lange vor den <strong>Universität</strong>sgründungen<br />

im frühen 13. Jahrhundert entbrannten<br />

unter den Theologen Kontroversen über<br />

die Möglichkeiten und Grenzen eines<br />

begrifflichen Verständnisses von Glaubensinhalten.<br />

Diese Kontroversen waren<br />

unausweichlich. Denn in dem Masse, in<br />

dem Glaubensinhalte in der traditionellen<br />

(letztlich von Aristoteles her geprägten)<br />

Begrifflichkeit von Substanz/Attribut bzw.<br />

Akzidens (etwa Ding/Eigenschaft) artikuliert<br />

und kommentiert wurden, machten<br />

sich Spannungen zwischen den verwendeten<br />

Begriffen einerseits und den gemeinten<br />

Sachverhalten andererseits bemerkbar.<br />

Am Anfang<br />

war die Sprachlogik<br />

Diese Spannungen scheinen schon früh auf<br />

und begleiten die mittelalterliche Philosophie<br />

von Anfang an. So hat um 800 Fredegisius<br />

von Tours in seinem Brief Über<br />

das Nichts und die Finsternis an Karl den<br />

Grossen zu bedenken gegeben, dass die<br />

Rede von der Schöpfung aus dem Nichts<br />

korrekterweise dahingehend verstanden<br />

werden müsse, dass sich die Schöpfung<br />

aus etwas vollzogen habe. Als Grund für<br />

dieses Verständnis macht Fredegisius geltend,<br />

dass der Ausdruck ‹Nichts› (nihil)<br />

ein Name sei und mithin für etwas stehe.<br />

Diese Auffassung ist für heutige Begriffe<br />

falsch. Denn ‹nihil› ist sicher keine Name.<br />

Logisch betrachtet dient der Ausdruck<br />

zur Negierung bestimmter Sätze wie ‹Etwas<br />

ist vor der Tür›. Offensichtlich hat<br />

sich Fredegisius wie viele Denker nach<br />

ihm von der Überzeugung täuschen lassen,<br />

dass bedeutungshafte Zeichen ipso<br />

facto für etwas stehen, von dem sie ihre<br />

Bedeutung her beziehen. Dieses vielleicht<br />

früheste Dokument aufkeimenden Denkens<br />

in Karolingischer Zeit zeigt zugleich,<br />

Abb. 1: Die sieben Artes Liberales<br />

(durch Frauen dargestellt)<br />

ziehen bzw. schieben einen Wagen,<br />

auf dem die Sacra Theologia<br />

sitzt (in den Händen das<br />

Haupt Christi); die Frauen werden<br />

von einem geisselschwingenden<br />

Mann angetrieben, der<br />

als Magister Sentenciarum Magister<br />

Petrus Lombardus ausgewiesen<br />

ist. (Kolorierte<br />

Federzeichnung aus dem 15. Jahrhundert,<br />

Unibibliothek Salzburg, M III 36)<br />

dass die Philosophie als Reflexion auf die<br />

sprachlichen Bedingungen unserer Aussagen<br />

Gestalt gewinnt. Sieht man von dem<br />

Iren Scotus Eriugena ab, dem ein wirklich<br />

spekulatives Werk zu verdanken ist,<br />

so scheinen sich die philosophischen Bestrebungen<br />

auf den Versuch begrifflicher<br />

Klärungen beschränkt zu haben.<br />

Ein anderes Beispiel für diesen sozusagen<br />

sprachlogischen Ursprung der mittelalterlichen<br />

Philosophie führt uns in die Zeit<br />

um 1090. Damals hat Roscelin, der Lehrer<br />

des brillanten Dialektikers Abaelard,<br />

in die Diskussion um die Trinität eingegriffen<br />

und geltend gemacht, Vater, Sohn<br />

und Heiliger Geist seien drei von einander<br />

unabhängige (ab invicem separatas)<br />

Personen bzw. Gebilde (Substanzen). Zu<br />

dieser Auffassung gelangte er wohl auf<br />

Grund der Überlegung, dass die gegenteilige<br />

Position problematisch sei: Hätten<br />

wir es mit einer Sache (una res) und mithin<br />

einer Substanz zu tun, so wäre Jesus<br />

Christus als Eigenschaft eben dieser Sache<br />

zu begreifen. Diese Annahme würde aber<br />

die Menschwerdung Gottes unbegreiflich<br />

machen. Denn in diesem Fall müsste<br />

die Eigenschaft einer Sache getrennt von<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

5


der Sache vorkommen, deren Eigenschaft<br />

sie ist. Und dies scheint unmöglich. Also<br />

kann dies auch nicht der Sinn der Trinität<br />

sein. – Natürlich machte man auf Seiten<br />

argwöhnischer Theologen geltend, dass<br />

das Wort ‹Substanz› im Falle seiner Anwendung<br />

auf Gott anders verstanden werden<br />

müsse. Aber genau das wäre für philosophisch<br />

inspirierte Theologen natürlich<br />

keine Antwort auf die Frage. Aber warum<br />

rekurrierte man hier auf den Begriff der<br />

Substanz? Vielleicht aus keinem anderen<br />

Grunde als dass man ihn in der Tradition<br />

vorfand und Boethius den Person-Begriff<br />

u. a. durch solche Merkmale wie ‹rationale<br />

Substanz› expliziert hatte.<br />

Das Aristoteles-Verbot<br />

von 1277<br />

Nun ist es wichtig zu sehen, dass die Anwendung<br />

logischer Betrachtungen auf<br />

Glaubensinhalte keineswegs, wie namentlich<br />

spätere Autoren behaupteten, als<br />

Ausdruck unfrommer Gesinnung anzusehen<br />

ist. Ein solcher Vorwurf wurde namentlich<br />

auch Berengar von Tours gegenüber<br />

erhoben. Dieser hatte irgendwann vor<br />

1088 in einer übrigens erst 1770 von Les-<br />

6 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

sing aufgefundenen und von Vischer 1834<br />

edierten Schrift Über das Mal des Herrn<br />

die Auffassung vertreten, dass die Umwandlung<br />

«nur» in den Seelen der Gläubigen<br />

vor sich gehe. Zur Begründung dieser<br />

These stellt er auf den Gedanken ab,<br />

dass die sichtbaren Eigenschaften des Brotes<br />

auch nach der Umwandlung erhalten<br />

bleiben. Da aber Eigenschaften nicht unabhängig<br />

vom ihrem Träger existieren können,<br />

habe die Umwandlung nicht wirklich<br />

stattgefunden!<br />

Halten wir diesen Gedanken im Auge, so<br />

verstehen wir auch den Unmut jener Theologen,<br />

die ihre Sache bedroht glaubten. Besonders<br />

massiv wirkte sich dieser Unmut<br />

wieder 1277 aus, als der Pariser Bischof<br />

Tempier 219 Thesen verurteilte. Unter den<br />

in Rede stehenden Thesen finden sich einige<br />

Harmlosigkeiten wie die Behauptung<br />

«Es gibt keine Frage, die vernunftgemäss<br />

zu erörtern ist, die der Philosoph nicht erörtern<br />

und entscheiden dürfte [...]».<br />

Bei dieser These handelt es sich offenbar<br />

um eine kalkulierte Frechheit aus Kreisen<br />

von Phil.-hist. Dozenten, die vom auf-<br />

keimenden Selbstbewusstsein der «Hilfswissenschafter»<br />

zeugt. Doch finden wir<br />

mehrheitlich Thesen, die reichlich abstrakt<br />

anmuten und deren Relevanz vor der Hand<br />

kaum erkennbar sein dürfte. Dazu gehört<br />

eben auch «Zu bewirken, dass eine Eigenschaft<br />

[accidens] ohne Träger [subjectum]<br />

existiert, ist unmöglich, weil es einen Widerspruch<br />

einschliesst», – eine These also,<br />

die als Voraussetzung in den Argumenten<br />

Roscelins, Berengars und anderer philosophische<br />

Arbeit leistete und in der Sache die<br />

theologisch gemeinte Sache unterminierte.<br />

Die These selbst geht zwar auf Aristoteles<br />

zurück, der seinerzeit seinen Lehrer Platon<br />

konfrontierte. Doch ist hier wie übrigens<br />

auch an anderen Stellen Thomas von<br />

Aquin gemeint, der zu seiner Zeit durchaus<br />

als «Progressiver» in Erscheinung trat.<br />

Individualität als<br />

metaphysisches Problem<br />

Man möchte meinen, dass diese und andere<br />

Probleme vermeidbar seien. Sie konstituieren<br />

sich nämlich in und mit einem<br />

bestimmten Rahmen begrifflicher Art.<br />

Tatsächlich ist es nun einmal so, dass wir<br />

in unserer Sprache auf Unterscheidungen<br />

Abb. 2: Das Gemälde zeigt eine Diskussionsrunde über das Mysterium der Dreifaltigkeit, das sich in der Eucharistie manifestiert.<br />

(Raffael: Disputà del Sacramento (1509), päpstliche Gemächer des Vatikans)


wie die zwischen Dingen und ihren Eigenschaften<br />

festgelegt sind. So lässt sich geltend<br />

machen, dass Einzeldinge in unserem<br />

Begriffssystem fundamental sind. Einige<br />

Autoren vertreten näherhin die Auffassung,<br />

dass auch Vorfälle (events) usw. nur<br />

mit Bezug auf jene Einzeldinge identifizierbar<br />

und reidentifizierbar seien, an denen<br />

sie sich vollziehen. Doch besagt das<br />

vielleicht nichts für die ‹wahre› Natur der<br />

Wirklichkeit. Nur war diese skeptische Erwägung<br />

für das Tun der Theologen nicht<br />

attraktiv.<br />

Eine andere Unterscheidung, die innerhalb<br />

des theologischen Diskurses eine grosse<br />

Rolle spielt und buchstäblich massive Arbeit<br />

schultert, ist die zwischen ‹Form› und<br />

‹Materie›. Dieses Begriffspaar wurde seinerzeit<br />

von Aristoteles geprägt und hatte<br />

in seinem Schrifftum (so namentlich in der<br />

Metaphysik-Schrift) die Funktion, Dinge<br />

von der Art geschaffener Substanzen als<br />

komplexe Gebilde begreiflich zu machen.<br />

Zwar blieb unklar, wie das Verhältnis von<br />

Form und Stoff genauer zu denken sei.<br />

Doch handelt es sich bei dieser Orientierung<br />

um eine Betrachtungsweise, die den<br />

mittelalterlichen Denkern grosse Dienste<br />

zu leisten schien. Dies geht vor allem aus<br />

den Texten hervor, in denen immanente<br />

Formen sich als Ausdruck transzendenter<br />

Muster der Schöpfung im göttlichen<br />

Intellekt manifestieren und so die christlich<br />

interpretierte raum-zeitliche Welt ein<br />

Stück weit rational durchschaubar machen.<br />

Insofern schien die Begrifflichkeit<br />

von Form und Materie für die Theologen<br />

unverzichtbar. Nur sie machte es offenbar<br />

möglich, das Wesen der Welt von Grunde<br />

auf zu verstehen.<br />

Näherhin lässt sich mithin auch an jene<br />

Diskussion denken, die sich um die Frage<br />

rankt, was individuelle Dinge eigentlich<br />

zu Individuen macht. Auch diese Frage hat<br />

zwar eine gewisse Tradition. Doch gewinnt<br />

sie im Horizont christlichen Denkens besondere<br />

Relevanz. Denn hier geht es ja um<br />

einen persönlichen Schöpfer-Gott.<br />

Eine Lösungsstrategie – es ist die des Thomas<br />

von Aquin – besagt, dass das, was ein<br />

Individuum ausmacht (principium individuationis),<br />

im stofflichen Bereich anzusiedeln<br />

sei. Hier geht es also um die Vorstellung,<br />

dass etwas von der Art einer<br />

allgemeinen Form von bzw. durch eine<br />

Abb. 3: Gelehrtendisputation.<br />

(Holzschnitt Augsburg, um 1480)<br />

besondere Materie individuiert werde. Die<br />

gegenteilige Strategie verfocht Duns Scotus.<br />

Dieser sprach von einer besonderen,<br />

individuellen Form (‹Diesheit›, haeccitas).<br />

Für heutige Betrachter ist diese Situation<br />

recht aufschlussreich. Denn sie wirft<br />

Licht auf die jeweils leitenden Gottesvorstellungen.<br />

Im einen Fall scheint die Individualität<br />

kreatürlichen Seins mit recht<br />

weltlichen Faktoren verwoben zu sein,<br />

im anderen hingegen scheint es um ideelle<br />

Faktoren zu gehen; und dieser Unterschied<br />

scheint theologisch relevant.<br />

Befund<br />

Doch mag man sich fragen, ob wir hier<br />

nicht mit einer unakzeptablen Alternative<br />

konfrontiert werden. Aus heutiger Sicht<br />

mag das so aussehen. Doch waren die Optionen<br />

der mittelalterlichen Denker hier<br />

vorerst ebenso beschränkt wie die eines<br />

Descartes, der im Spektrum seiner Zwei-<br />

Substanzen-Lehre mit der Alternative von<br />

Denkung (res cogitans) und Ausdehnung<br />

(res extensa) befangen war und vor diesem<br />

Hintergrund z. B. Tiere kaum anders denn<br />

als Automaten verstehen konnte. In dem<br />

Moment, da diese Alternative hinfällig<br />

wurde, eröffneten sich auch neue Möglichkeiten<br />

der Betrachtung. Ähnlich verhalten<br />

sich die Dinge im Falle einer Orientierung,<br />

die an die Begriffe von Form und Materie<br />

gebunden ist. Nur ist letztlich nicht das<br />

Faktum der Bindung interessant, sondern<br />

die Art ihrer Fundierung. Liessen sich die<br />

Autoren der sog. Scholastischen Synthese<br />

im 13. Jahrhundert noch von der Vorstellung<br />

leiten, dass der göttliche Intellekt ein<br />

gutes Stück weit rational verständlich sei,<br />

so haben William von Ockham (1285 bis<br />

1349) und seine Nachfolger diesen Punkt<br />

massiv bestritten. Mit der These von der<br />

Priorität des Willens vor dem Intellekt entfällt<br />

auch die Annahme der Existenz von<br />

Ideen bzw. Universalien als ewigen Mustern<br />

der Schöpfung; und damit schwindet<br />

die Notwendigkeit einer Rückbindung unserer<br />

Begriffe an bestimmte Unterscheidungen<br />

metaphysischer Art, die die Belange<br />

des Glaubens eigentlich nur gefährden<br />

können. Dass heute, im Kontext analytischer<br />

Diskussionen des ontologischen<br />

Status von Kunstwerken einerseits und<br />

Personen andererseits, der Begriff der<br />

Form zumindest verstecktermassen wieder<br />

Interesse gewinnt – so besonders in<br />

Konstititutions- bzw. Verkörperungstheorien<br />

– sei hier nur am Rande erwähnt<br />

Prof. Dr. Andreas Graeser<br />

Institut für Philosophie<br />

Literatur:<br />

• G. R. Evans: Philosophy and Theology in the<br />

Middle Ages, London: Routledge 1993.<br />

• K. Flasch (Hrsg.): Geschichte der Philosophie in<br />

Text und Darstellung: Mittelalter, Stuttgart: Re-<br />

clam 1982.<br />

• Das philosophische Denken im Mittelalter, Stutt-<br />

gart: Reclam 2000.<br />

• Graeser, A.: Interpretationen. Hauptwerke der Phi-<br />

losophie. Antike, Stuttgart: Reclam 1992.<br />

• Positionen der Gegenwartsphilosophie. Vom Prag-<br />

matismus bis zur Postmoderne, München: C. H.<br />

Beck 2002.<br />

• Strawson, P. F. : Individuals. An Essay in Descrip-<br />

tive Metaphysics, London: Methuen 1959.<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

7


Glaubenskampf mit einem lyrischen Evergreen<br />

Wacht auf, wacht auf, es taget!<br />

Der Nürnberger Schuhmacher und Schriftsteller Hans Sachs<br />

verfolgt die ab 1517 in Gang kommende Reformation<br />

mit wacher Aufmerksamkeit. Etwa ab 1523 hat er sich entschieden;<br />

von da an steht er auf der Seite des neuen<br />

Glaubens, und er verficht dessen Anliegen in einer Reihe<br />

von Texten. Instinktsicher verwendet er für seine Botschaft<br />

gängige, damit wirkungsvolle literarische Muster; dazu<br />

gehört auch das Tagelied.<br />

Was ist ein Tagelied? Man kennt den Moment<br />

aus Shakespeares Romeo und Julia:<br />

das Paar steht am Ende seiner ersten und<br />

letzten Liebesnacht. Julia setzt mit einer<br />

Frage ein, die auf eine vorangegangene,<br />

aber nicht dargestellte Äusserung, vielleicht<br />

auch nur eine Geste Romeos antwortet:<br />

Willst du schon gehn? Der Tag ist ja noch<br />

fern.<br />

Es war die Nachtigall und nicht die Lerche,<br />

Die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang<br />

...<br />

Er widerspricht entschieden, nein es war<br />

die Lerche... Dann tragen die Liebenden<br />

den Meinungsunterschied mit verteilten<br />

Rollen erneut aus. Er erklärt, auf jede Gefahr<br />

hin bleiben zu wollen, denn so habe<br />

Julia es beschlossen. Und sie sieht nunmehr<br />

den Tag heraufdämmern, hört die<br />

Lerche statt der Nachtigall. Da kommt<br />

die ins Vertrauen gezogene Dienerin Julias<br />

herein.<br />

Die Tradition des Tageliedes<br />

Shakespeare hat sich hier eines damals bereits<br />

Jahrhunderte alten lyrischen Grundmusters,<br />

des Tageliedes, bedient. Beschränken<br />

wir uns nicht auf Europa, so<br />

finden wir fast überall auf dem Globus<br />

Beispiele für diese Art der lyrischen Inszenierung.<br />

Im mittelalterlichen Europa<br />

waren es freilich die provenzalischen<br />

Troubadours, die das Paar in erotischer<br />

Lust und in Angst vor dem Entdecktwerden<br />

sein nächtliches Liebesglück und den<br />

Trennungsschmerz bei Tageslicht als erste<br />

besangen; sehr oft gab es übrigens da noch<br />

einen Dritten, den Wächter. Er verkündete<br />

8 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

den Morgen, war damit Störenfried, aber<br />

oft auch hilfreicher Komplize (aus ihm ist<br />

bei Shakespeare die warnende Amme geworden).<br />

Die Provenzalen gaben dieser<br />

Liedart mit der Bezeichnung für die Morgenröte,<br />

Alba, einen eingängigen Namen.<br />

Um 1200 kommen die deutschen Minnesänger<br />

auf den Geschmack, und es entstehen<br />

die ersten tageliet. Diese erfreuen sich<br />

im Deutschen einer enormen Beliebtheit;<br />

allein aus dem 13. Jahrhundert sind uns<br />

mehr als 50 Lieder überliefert. Diese Erfolgsgeschichte<br />

geht auch im 14. und 15.<br />

Jahrhundert nach dem Ende des klassischen<br />

Minnesanges weiter, und sie findet<br />

Abb. 1: PostmoderneTageliedsituation<br />

...<br />

(©Gerd Bauer, Nürnberg)<br />

im populären Liedschaffen des 16. Jahrhunderts<br />

eine Fortsetzung. Dabei verstehen<br />

es die Liedermacher, aus dem simplen<br />

Grundmuster mit seiner Dreizahl von<br />

Personen, der klaren Lokalisierung (auf<br />

dem Turm des Wächters und im Schlafzimmer<br />

der Dame) und der beziehungsreichen<br />

Handlungszeit zwischen «Tag<br />

und Traum» das Äusserste herauszuholen.<br />

So konnte man eine Person – etwa<br />

die Dame in ihrem Liebesschmerz – in<br />

den Mittelpunkt rücken; man konnte im<br />

Dialog das Drängen des Wächters angesichts<br />

des rasch heraufkommenden Tages<br />

und das verzweifelte Nichtwahrhabenwollen<br />

der Frau gegeneinander prallen lassen;<br />

man konnte diskutieren, ob es nicht besser<br />

sei, sich einer Zofe statt dem Wächter<br />

anzuvertrauen – immerhin ging es ja<br />

um Tod und Leben; man konnte den Liebhaber<br />

auch tagsüber im Schlafzimmer der<br />

Dame belassen – in der erfreulichen Aussicht<br />

auf die kommende (zweite) Nacht<br />

und zugleich von Angst gepeinigt, ob<br />

er wohl unentdeckt bleiben würde; man<br />

konnte – erotisch vielleicht besonders pikant<br />

– den nächtlichen Liebestaumel nur


als Film im Kopf des einsam und unglücklich<br />

daliegenden Mannes ablaufen lassen;<br />

man konnte auch das Pathos des Liebesschmerzes<br />

parodistisch verkehren, so etwa,<br />

wenn der Mann ohne Dame, dafür in Gegenwart<br />

eines Schwarms von blutgierigen<br />

Flöhen, ungeduldig den Tag erwartet.<br />

Das geistliche Tagelied<br />

Auch hatten schon im späten 13. Jahrhundert<br />

fromm gestimmte Autoren entdeckt,<br />

welche Möglichkeiten diese gerade dank<br />

ihrer Beliebtheit zugkräftige Form für<br />

die Vermittlung religiöser Anliegen haben<br />

konnte. Damit war das geistliche Tagelied<br />

entstanden. Es wendete die verfängliche<br />

erotische Situation mittels der<br />

Allegorie in eine heilsame Lehre; die bekannten<br />

Figuren und Situationen standen<br />

so nicht mehr für sich, sondern bedeuteten<br />

religiöse Sachverhalte: Nicht mehr der<br />

zärtliche Ritter liebkoste seine attraktive<br />

Dame, sondern der heilsvergessene Sünder<br />

lag im Lotterbett der «Frau Welt», das<br />

Dämmern des Tages meinte den Anbruch<br />

des Jüngsten Tages; hinter dem warnenden<br />

Wächter erschien der geistliche Lehrer mit<br />

seinen Mahnungen, oder es war gar Christus<br />

selber, der die Seele zur rechtzeitigen<br />

Umkehr mahnte. In manchen Liedern wird<br />

auch das Paar weggelassen und die Liedsituation<br />

auf Tagesanbruch und Weckruf<br />

des Wächters reduziert: ein Wächterlied.<br />

Durch diese geistliche Umnutzung hatte<br />

sich – dies nebenbei gesagt – die religiöse<br />

Dichtung eigentlich nur das zurückgeholt,<br />

was ihr von vornherein am Tagelied<br />

schon gehörte. Es gibt nämlich gute<br />

Gründe anzunehmen, dass die frühesten<br />

Beispiele der provenzalischen Alba nicht<br />

ohne den Einfluss religiöser Hymnen und<br />

der Bibel denkbar sind.<br />

Hans Sachs hat 1518, als eben etablierter<br />

Meistersänger, noch ganz im alten Glauben<br />

sein erstes geistliches Tagelied gesungen;<br />

darin wollte er mit dieser altbewährten<br />

Formel dem frommen Christen eine<br />

Vermanung zur buß und einprägsame<br />

Warnung vor der Hölle erteilen.<br />

Die Wittenbergisch Nachtigall<br />

Es folgte 1523 das Meisterlied von der<br />

Nachtigall, die das Evangelium des neuen<br />

Glaubens verkündet. Die ganze erste Strophe<br />

entwickelt ein Bild; dieses wird dann<br />

vom Beginn der zweiten an, quasi mit dem<br />

didaktischen Zeigestock – «das Morgenrot<br />

Abb. 2: Die Illustration<br />

setzt den<br />

Text von Sachs in<br />

ein klares, vielleicht<br />

werten -<br />

des Links-Rechts-<br />

Schema um; ortet<br />

man dieses nämlich<br />

– wie etwa<br />

auch bei den<br />

Weltgerichtsdarstellungen<br />

üblich<br />

– nicht vom Betrachter<br />

her, sondern<br />

aus dem Bild<br />

heraus, dann liegt<br />

der neue Tag des<br />

Evangeliums in der<br />

«besseren», d. h.<br />

rechten Hälfte.<br />

(Titelholzschnitt zur Erst-<br />

ausgabe des Spruchge-<br />

dichts ‹Die Wittenbergisch<br />

Nachtigall› 1523)<br />

bedeutet ...» – Zug um Zug erklärt und ausgelegt:<br />

Die tagverkündende Nachtigall ist<br />

doctor Martinus von Wittenwerg, der Tag<br />

verweist auf das Evangelium, die Sonne<br />

ist Christus, der Mond steht dagegen für<br />

den Papst mit seinen selber gemachten<br />

Gesetzen und seinen Ablässen – ein Herrschaftsanspruch,<br />

der nun am Licht des Tages<br />

verblasst. Auf den Papst, namentlich<br />

auf den kurz zuvor verstorbenen Leo X.,<br />

weist auch der gegen die Nachtigall brüllende<br />

Löwe. Daneben erscheinen weitere<br />

Zeitgenossen aus dem katholischen Lager:<br />

Hieronymus Emser als Bock, Johannes<br />

Eck als Wildschwein, Thomas Murner<br />

als Katze und in Hundsgestalt schliesslich<br />

Jakob Lemp. Gleich am Anfang weckt<br />

Sachs mit der Nachtigall und mit dem Tagesanbruch<br />

den Gedanken an ein Tagelied,<br />

stört dann aber nach wenigen Versen diese<br />

Hörererwartung nachhaltig und lässt den<br />

Löwen und all das andere Viehzeug, das<br />

im Tagelied nichts verloren hat, aufmarschieren.<br />

Mehr als das: diese Tiere entfesseln<br />

nun einen Brüllkampf gegen die<br />

Nachtigall; so kommt das Lied als akustisches<br />

Ereignis zu seinem eigentlichen<br />

Recht. Anderseits ist es keine Frage, wem<br />

die Sympathien des Publikums gehören:<br />

der wohlklingenden Nachtigall, nicht ihren<br />

brüllenden, grunzenden, iahenden, bellenden,<br />

blökenden, zischenden Gegnern.<br />

Und der kleine Vogel setzt sich durch! Sie<br />

singet fröleich – ein Wunder, fast so gross<br />

wie jenes, dass dem Mönch aus Wittenberg<br />

mit Bann und Acht nicht beizukommen<br />

war. Nicht zur Fauna des Tagelieds<br />

gehören schliesslich die irrenden Schafe,<br />

die erwacht sint von dem schlaffe. Wer damit<br />

gemeint war, wusste aber jeder, der das<br />

Gleichnis vom guten Hirten kannte.<br />

Mit einem Meisterlied, das nach den Regeln<br />

der Meister nicht gedruckt und publiziert<br />

werden durfte, kann Sachs aber seine<br />

Sache nicht wirkungsvoll vertreten. So<br />

verfasst er einen Text in einfachen Sprechversen<br />

ohne Melodie; er erscheint mit vorangestellter<br />

Prosavorrede 1523. Durch die<br />

Änderung der Form umgeht Sachs nicht<br />

nur das Publikationsverbot, sondern er gewinnt<br />

auch mehr «Sendezeit» für seine Sache,<br />

war doch das Spruchgedicht im Umfang<br />

nicht begrenzt. Schliesslich sind die<br />

Knittelverse, anders als das Lied mit seiner<br />

anspruchsvollen Melodie, auch gut vor-<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

9


lesbar – in einer Zeit, da viele, weil sie selber<br />

nicht lesen können, sich vorlesen lassen<br />

müssen, ein weiterer Vorteil. Schliesslich<br />

bot der Druck die zusätzliche Möglichkeit,<br />

die sprachlichen, gleichsam «virtuellen»<br />

Bilder, mit denen das Lied arbeitete,<br />

in ein reales Bild umzusetzen: ein<br />

Holzschnitt eröffnet denn auch die Flugschrift,<br />

die für die «wittenbergisch Nachtigall»<br />

wirbt.<br />

Mit seiner zündenden Idee, das vertraute<br />

Muster des Wächterliedes für die religiöse<br />

Propaganda einzusetzen, hat Sachs Nachahmer<br />

gefunden. So erscheinen vor allem<br />

aus dem protestantischen Lager zahlreiche<br />

Lieder, die Martin Luther als warnenden<br />

Wächter auf dem Turm das Anbrechen des<br />

10 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

neuen Glaubenstages verkünden lassen;<br />

keines dieser Gebilde erreicht allerdings<br />

die Prägnanz und Originalität des Vorbildes.<br />

Ganz am Jahrhundertende greift<br />

dann der Pastor Philipp Nicolai neben<br />

Sachs vorbei auf das alte Muster des<br />

geistlichen Tageliedes mit seiner Vorstellung<br />

erotisch gefärbter Gottesnähe<br />

zurück und schafft fern jeder konfessionellen<br />

Kampfstimmung ein Zeugnis<br />

tiefster Glaubenszuversicht und Jenseitssehnsucht:<br />

«Wachet auf, ruft uns die<br />

Stimme» – ein Prachtsstück des evangelischen<br />

Kirchenliedes.<br />

Prof. Dr. André Schnyder<br />

Institut für Germanistik<br />

Das Walt got<br />

Jn der morgenweis Hans Sachsen<br />

Die nachtigal 3 lieder<br />

Wacht auf, wacht auf, es taget!<br />

Ein nachtigal, die waget<br />

ir stim mit suessem hal.<br />

ir thon durchclinget perg vnd thal.<br />

Die morgenrot her zicket.<br />

Der leo sich peclaget;<br />

Wie geren er verjaget<br />

die lieplich nachtigal.<br />

Der liechte man ist worden fal,<br />

Die helle sun her plicket.<br />

Das wilde schwein schreit «waffe»,<br />

Die Nachtigal zw straffe.<br />

Der poch hunt kacz mit im<br />

marren stet dar wider mit grim,<br />

Vnd das schlangen geczichte<br />

Wisplet vnd wider fichte,<br />

Die wolff hewlen al gleich,<br />

Wollen das die nachtigal weich,<br />

Furchten des tages lichte.<br />

Jdoch sie schweiget nichte<br />

Sunder singet fröleich!<br />

Der tag get auf gar frewdenreich.<br />

Secht: die irenden schaffe<br />

Erwacht sint von dem schlaffe<br />

Von der Nachtigal stim.<br />

Des manes schein sie achten nim<br />

Die besprochenen Texte von Sachs liegen käuflich<br />

vor in: Die wittenbergisch Nachtigall. Reforma-<br />

tionsdichtung. von G. H. Seufert, Stuttgart Reclam<br />

1984 u. ö. (RUB 9737); danach der unten orthogra-<br />

pisch vereinfachte Liedtext. Im Verlauf des nächsten<br />

Jahres erscheint vom Verfasser eine mit kommentier-<br />

ten Texten versehene Geschichte des geistlichen Ta-<br />

gelieds in Mittelalter und Neuzeit.<br />

Erwacht, erwacht, es tagt!<br />

Eine Nachtigall lässt<br />

mit süssem Klang ihre Stimme tönen.<br />

Ihr Laut klingt über Berg und Tal.<br />

Die Morgenröte zieht herauf.<br />

Der Löwe knurrt missmutig;<br />

wie gern möchte er<br />

die liebliche Nachtigall verscheuchen.<br />

Der helle Mond ist fahl geworden,<br />

die strahlende Sonne leuchtet herab.<br />

Die Wildsau grunzt: «Vorsicht»,<br />

um die Nachtigall zu massregeln.<br />

Bock, Hund, Katze brüllen mit ihr<br />

andauernd und grimmig,<br />

und das Schlangengezücht<br />

zischt und droht,<br />

die Wölfe heulen im Chor,<br />

sie wollen, dass die Nachtigall weicht,<br />

sie scheuen das Tageslicht.<br />

Aber sie schweigt nicht,<br />

sondern schmettert fröhlich!<br />

Glückverheissend geht der Tag auf.<br />

Schaut: die irrenden Schafe<br />

sind erwacht aus dem Schlaf<br />

durch die Stimme der Nachtigall.<br />

Nicht mehr beachten sie den Mondschein,


Der sie lang hat gedricket.<br />

Die morgenrot deut freye<br />

gesecz vnd propheczeye.<br />

Die sune ist Cristus,<br />

Der tag das Ewangeli sus,<br />

Die nach pedewt die sunde.<br />

Wer die nachtigal seye?<br />

Der vns den tag ausschreye<br />

Jst doctor Martinus<br />

Von wittenwerg Her lutherus!<br />

nun hört was er verkunde:<br />

Jn sunt sey wir geporen,<br />

Von natur kint des zoren<br />

nach inhalt des gesecz,<br />

pis das wort gottes vns zw letz<br />

Das Evangelisch liechte<br />

genad vnd frid versprichte.<br />

Cristus hab vns erlost<br />

Von sunt / dot / deuffel / hele rost.<br />

Solch verheyssung aufrichte<br />

Drawen vnd zwfersichte<br />

Auf Cristum vnsren drost.<br />

Dan wirt vns gottes geist genost,<br />

Dan sey wir awserkoren.<br />

Der man ist finster woren<br />

(Pedewt das pebstlich netz<br />

Seine gepot vnd applas schetz<br />

Jn der schrift vngegrunde).<br />

Von den vns luther seitte,<br />

Das sie zur selikkeitte<br />

Sint weder nutz noch not.<br />

nur der vertraw in Cristi dot<br />

Seliget vns alsamen.<br />

Der leb den Babst pedeitte,<br />

Der cristlich ler verpeitte<br />

pey verdamung: doch hot<br />

Kein mensch gewalt sunder nur got<br />

Den menschen zw ferdamen.<br />

Swein / pock / hunt / kacz: die thire<br />

pedewtten vns die vire:<br />

Eck, emser, lemp, murner.<br />

Kempfen wider die warheit ser.<br />

Das schlangen Zicht ser prande:<br />

pfaffen / munich im lande,<br />

Etlich hochschuel vnd stift,<br />

Das wolff hewllen die pischoff drift.<br />

Disses folck alles sande<br />

Den luther keczer nande,<br />

Wie wol sie in mit schrift<br />

Nie vberwunden han. hie prift<br />

Kein stuck, darin er irre.<br />

Des sint erwachet wire<br />

Durch Ewangelisch ler<br />

Von den menschen gepotten schwer.<br />

got sey mit vns. sprecht amen!<br />

gedicht zw Nurmberg im .1523. jar<br />

der sie lange bedrückt hat.<br />

Die Morgenröte bedeutet<br />

Gesetz und Prophetenverheissung.<br />

Die Sonne ist Christus,<br />

der Tag das Evangelium,<br />

die Nacht bedeutet die Sünde.<br />

Wer aber die Nachtigall sei?<br />

Wer uns den Tag verkündet,<br />

das ist Doktor Martinus<br />

aus Wittenberg, Herr Luther!<br />

Hört jetzt seine Botschaft:<br />

In Sünden sind wir geboren,<br />

von Natur Kinder des Zorns<br />

gemäss dem Gesetz,<br />

bis das Wort Gottes uns zuletzt,<br />

das Licht des Evangeliums,<br />

Gnade und Friede versprechen.<br />

Christus habe uns erlöst<br />

von Sünde, Tod, Teufel, Höllenrost.<br />

Eine solche Verheissung macht<br />

Vertrauen und Zuversicht<br />

auf Christus unseren Tröster.<br />

Dann kommt der Geist Gottes zu uns,<br />

dann sind wir auserwählt.<br />

Der Mond hat sich verdunkelt<br />

(er bedeutet das päpstliche Netz<br />

der Gebote und der Ablässe,<br />

die in der Schrift keinen Grund haben).<br />

Von denen lehrte uns Luther<br />

dass sie zur Seligkeit<br />

weder nützen noch nötig sind.<br />

Nur der Glauben an Christi Tod<br />

macht uns alle selig.<br />

Der Löwe bedeutet den Papst,<br />

der die Glaubenslehre<br />

mit Banndrohung verbreitete: doch hat<br />

kein Mensch, nur Gott Macht,<br />

den Menschen zu verdammen.<br />

Schwein, Bock, Hund, Katze: diese Tiere<br />

stehen uns für diese vier:<br />

Eck, Emser, Lemp und Murner.<br />

Sie bekämpfen heftig die Wahrheit.<br />

Das Schlangengezücht war entbrannt:<br />

die Pfaffen und Mönche im Land,<br />

auch etliche Hochschulen und Stifte,<br />

das Heulen der Wölfe meint die Bischöfe.<br />

Alle diese Leute insgesamt<br />

nannten den Luther einen Ketzer,<br />

obwohl sie ihn mit dem Bibelwort nie<br />

widerlegt hatten. Überzeugt euch hier!<br />

Nichts, worin er irrt.<br />

Darum sind wir erwacht<br />

durch die evangelische Lehre<br />

von den drückenden Geboten der Menschen.<br />

Gott sei mit uns. Sprecht: Amen!<br />

1523 in Nürnberg geschrieben<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

11


Zwischen Rom und Byzanz<br />

Slavisches Geistesleben<br />

im Mittelalter<br />

Im Jahr 862 kam eine fremde Gesandtschaft an den<br />

Kaiserhof von Konstantinopel: der mährische Fürst Rastislav<br />

bat, ihn bei der Verbreitung des christlichen Glaubens unter<br />

seinem neugetauften Volk zu unterstützen. Seine<br />

Gesandten sprachen mit demselben näselnden Akzent<br />

wie jene rotblonden Eindringlinge, die noch immer hie und<br />

da die byzantinischen Provinzen unsicher machten. Die<br />

Hofgelehrten wälzten umsonst ihre Bücher: ein solches<br />

Kauderwelsch hatte noch niemand zu schreiben versucht.<br />

Der kaiserliche Rat beschloss, Rastislavs Begehren stattzugeben.<br />

Eine neue Schrift entsteht<br />

Die schwierige Aufgabe, die byzantinische<br />

Mission nach Mähren zu leiten, fiel<br />

zwei Brüdern zu: Konstantin (der später<br />

als Mönch den Namen Kyrill annahm) und<br />

Method. «Denn – so sprach der Kaiser –<br />

ihr kommt beide aus Thessaloniki, und<br />

alle Einwohner dieser Stadt sprechen rein<br />

slavisch». Neben seinen Sprachkenntnissen<br />

brachte Kyrill diplomatische Erfahrungen<br />

und eine solide philologische Bildung<br />

mit. Sie ermöglichte ihm, binnen kürzester<br />

Zeit ein neues Alphabet zu entwerfen<br />

und die Bücher, die man für den christlichen<br />

Gottesdienst brauchte, aus dem Griechischen<br />

ins Slavische zu übersetzen. Den<br />

Zeitgenossen erschien dies als Wunder.<br />

Tatsächlich: bis zur Reformation hat kein<br />

anderes Ereignis das konfessionelle und<br />

kulturelle Antlitz Europas so tief geprägt<br />

wie die Mährenmission. Daran ändert<br />

auch die Tatsache nichts, dass Kyrill und<br />

Methods Wirken in Mähren nur eine kurze<br />

Zeitspanne beschieden war. Ihre Schüler<br />

fanden Zuflucht in Bulgarien, wo das slavische<br />

(oder, wie es meist auf Grund seines<br />

kirchlichen Charakters genannt wird:<br />

kirchenslavische) Schrifttum im 10. Jahrhundert<br />

heimisch wurde. Im kroatischen<br />

Küstenland, im Kiewer Reich, im serbischen<br />

Staat der Nemanjiden und sogar in<br />

den Donaufürstentümern entstanden in der<br />

Folgezeit zahlreiche Zentren, in denen das<br />

Erbe der beiden Brüder aus Thessaloniki<br />

in Tausenden und Abertausenden von<br />

Handschriften weiterlebte. Noch heute ist<br />

12 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

jeder Alphabetschütze zwischen Belgrad<br />

und Wladiwostok Schüler eines Schülers<br />

eines Schülers ... von Kyrill und Method.<br />

Arbeit an der Sprache<br />

Einen grossen Teil der kirchenslavischen<br />

Literatur machen Übersetzungen aus dem<br />

Griechischen aus. Dabei hat man sich von<br />

Anfang an nicht nur an die vergleichsweise<br />

einfache Sprache des Neuen Testaments,<br />

sondern auch an die Schriften der<br />

Kirchenväter herangewagt – Texte, die auf<br />

Grund ihrer abstrakten theologischen Begrifflichkeit<br />

und komplexen Syntax sehr<br />

hohe Anforderungen an den Übersetzer<br />

stellen. Übersetzen bedeutet in solchen<br />

Fällen immer zugleich: die Sprache, in<br />

die man übersetzt, schöpferisch weiterentwickeln.<br />

Oft merkt man den kirchenslavischen<br />

Übersetzungen des Mittelalters<br />

nur allzu sehr die Anstrengung an, die sie<br />

gekostet haben. Diese Mühe ist jedoch keineswegs<br />

umsonst gewesen. Viele Wörter,<br />

die damals zum ersten Mal geprägt wurden,<br />

leben in den slavischen Sprachen bis<br />

heute fort. So verdanken das Russische<br />

oder das Bulgarische einen nicht geringen<br />

Teil ihres abstrakten Wortschatzes<br />

der stillen Arbeit anonymer mittelalterlicher<br />

Übersetzer.<br />

Einen Höhepunkt dieser Übersetzungstätigkeit<br />

stellt das 14. Jahrhundert dar. Zu<br />

einer Zeit, in der die osmanische Eroberung<br />

bereits ihre Schatten vorauswirft,<br />

sammeln die südslavischen Völker noch<br />

einmal alle Kräfte, um ihre mittelalterliche<br />

Kultur zu einer letzten, verzweifel-<br />

ten Blüte hochzutreiben. Einige Monate<br />

nach der Schlacht an der Maritza, in<br />

der die Osmanen das serbische Heer vernichtend<br />

geschlagen hatten (1371), vollendete<br />

der Starze Isaija die Übersetzung<br />

Abb. 1: Kyrill und Method – Darstellung aus der Radziwill-Chronik (15. Jahrhundert).


Abb. 2: Eine Seite aus der<br />

Arbeitshandschrift der serbischen<br />

Übersetzer des<br />

14. Jahrhunderts. Man beachte<br />

die Rasur in der vorletzten<br />

Zeile.<br />

der Schriften jenes bedeutenden frühmittelalterlichen<br />

Mystikers, der sich hinter<br />

dem Namen des Apostelschülers Dionysius<br />

Areopagita verbirgt. «Dieses Buch<br />

des Heiligen Dionysius», schreibt Isaija in<br />

seinem Nachwort, «habe ich in guten Zeiten<br />

begonnen ... und in den schlechtesten<br />

aller schlechten Zeiten beendet».<br />

Von Italien nach Byzanz,<br />

von Byzanz nach Serbien<br />

In den Jahren vor der osmanischen Eroberung<br />

des Balkans entstand auch die Übersetzung,<br />

die von <strong>Bern</strong> aus in Zusammenarbeit<br />

mit der Serbischen Nationalbibliothek<br />

in Belgrad ediert wird. Das Original<br />

dieser Übersetzung stammt von<br />

Barlaam von Kalabrien, jenem griechischen<br />

Mönch, der in den 30er-Jahren des<br />

14. Jahrhunderts mit seinem undiplomatischen<br />

Auftreten in den Kreisen der byzantinischen<br />

Kirche für Aufruhr sorgte und<br />

schliesslich – als Ketzer verdammt – zurück<br />

in seine süditalienische Heimat fliehen<br />

musste. Ein Teil von Barlaams Werken<br />

wurde vernichtet, ein anderer ist in<br />

der griechischen Überlieferung nur in<br />

Bruchstücken erhalten. Ihre kirchenslavische<br />

Übersetzung besitzt deshalb nicht<br />

nur für die slavische, sondern auch für die<br />

griechische Geistesgeschichte des 14. Jahr-<br />

hunderts eine hohe dokumentarische Bedeutung.<br />

Hinzu kommt, dass die Arbeitshandschrift<br />

der Übersetzer durch einen<br />

schon fast ans Wunderbare grenzenden<br />

Zufall auf uns gekommen ist: Streichungen<br />

und Zusätze verraten die Schwierigkeiten,<br />

mit denen sie bei ihrer Aufgabe<br />

zu kämpfen hatten, Randbemerkungen<br />

zeugen von ihrem Bemühen, in die anspruchsvollen<br />

Gedankengänge Barlaams<br />

einzudringen. Gewisse Eigentümlichkeiten<br />

der Sprache zeigen schliesslich, dass<br />

die Übersetzung im serbischen Milieu entstanden<br />

sein muss.<br />

Dank seiner Herkunft aus Süditalien beherrschte<br />

Barlaam das Lateinische und<br />

war deshalb in der Lage, die Werke der<br />

scholastischen Theologie im Original zu<br />

studieren; in seinen Schriften polemisiert<br />

er oft mit Thomas von Aquin, den er<br />

auch mehrmals beim Namen nennt. Damit<br />

stiess er freilich in eine für seine serbischen<br />

Übersetzer vollkommen fremde<br />

Geisteswelt vor: «Thomas war zu dieser<br />

Zeit Papst oder irgendein grosser Philosoph»,<br />

kommentierte einer von ihnen die<br />

erste Stelle, an der der Name des grossen<br />

Scholastikers fällt. In manch anderer Hinsicht<br />

zeigen sich die Kommentatoren alledings<br />

sehr belesen – so waren ihnen nicht<br />

nur die logischen Schriften des Aristoteles,<br />

sondern auch die Sage von der lernäischen<br />

Schlange, die Herakles erlegte, und<br />

sogar Pindars Lyrik vertraut.<br />

Ein vergessenes Stück<br />

Mittelalter<br />

Die Übersetzung der Werke Barlaams von<br />

Kalabrien gehört sowohl der Thematik als<br />

auch der Sprache nach in einen Kreis theologischer<br />

Denkmäler, die alle im 14. Jahrhundert<br />

in die serbische Redaktion des<br />

Kirchenslavischen übertragen wurden.<br />

Manche dieser Übersetzungen sind bereits<br />

von der slavistischen Forschung<br />

ediert worden, von anderen ist die Edition<br />

in Vorbereitung, andere wiederum harren<br />

noch immer ihrer Entdeckung und Bearbeitung.<br />

Stück um Stück wird so ein Teil<br />

mittelalterlichen Geisteslebens, das durch<br />

die Wechselfälle der Geschichte Ost- und<br />

Südosteuropas lange Zeit verschüttet blieb,<br />

wieder ans Tageslicht gehoben.<br />

Prof. Dr. Yannis Kakridis<br />

Institut für Slavistik<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

13


Die Menschen des Mittelalters im Spiegel der Skelettfunde<br />

Was alte Gebeine verraten<br />

Im Kanton <strong>Bern</strong> wurden in den letzten 25 Jahren an über<br />

80 Fundorten mehrere tausend Gräber geborgen, von<br />

denen die Mehrheit aus dem Mittelalter stammt. Fachleute<br />

können aus dem Zustand der gefundenen Knochen schliessen,<br />

an welchen Krankheiten die Menschen damals litten,<br />

in welchem Alter sie starben und wie ihre Nahrung<br />

mehrheitlich beschaffen war. So nimmt man an, dass die<br />

Verringerung der Körperhöhe, die nach dem Frühmittelalter<br />

bei den damals Verstorbenen festzustellen ist, unter anderem<br />

auf Ernährungsänderungen zurückzuführen ist.<br />

Ein möglicher, aber allgemein weniger bekannter<br />

Weg, den Zugang zum Mittelalter<br />

zu öffnen, führt über die Untersuchung der<br />

knöchernen Überreste der Menschen. Die<br />

anthropologische Bearbeitung dieser biohistorischen<br />

Urkunden erlaubt manche<br />

Aussage, die von keiner anderen Disziplin<br />

erschlossen werden kann. Zu Beginn einer<br />

solchen Analyse gilt es, die Kennzeichen<br />

des einzelnen Menschen in seiner körperlichen<br />

Erscheinungsform, seinen Krankheiten<br />

und Gebresten zu erfassen und<br />

damit ein Guckloch in seine damalige Lebensrealität<br />

zu öffnen. Jede Einzelvita ist<br />

aber auch ein Baustein zur Geschichte der<br />

Bevölkerung, deren Rekonstruktion als<br />

zweiter Untersuchungsschritt folgt.<br />

Woher stammt das Fundgut?<br />

Im Kanton <strong>Bern</strong> besteht eine langjährige<br />

enge Zusammenarbeit zwischen dem<br />

Medizinhistorischen Institut der <strong>Universität</strong><br />

und dem Archäologischen Dienst.<br />

Gemeinsames Ziel ist es, den Menschen<br />

des Mittelalters (und natürlich auch anderer<br />

Zeitepochen) den ihnen zustehenden<br />

Platz zuzuweisen und dabei sowohl<br />

die hellen wie auch die finsteren Seiten<br />

dieser Jahrhunderte zu beleuchten. Bei<br />

den Ausgrabungen in den letzten 25 Jahren<br />

wurden an über 80 Fundorten mehrere<br />

tausend Gräber geborgen, von denen<br />

die Mehrheit aus dem Mittelalter stammt.<br />

Die Arbeit der Anthropologen und Anthropologinnen<br />

beginnt jeweils schon vor<br />

Ort, denn Beobachtungen zur Lage des<br />

Skeletts sind nur auf der Fundstelle möglich.<br />

Zudem bleiben nicht alle Skelette<br />

während ihrer jahrhundertelangen Liegezeit<br />

im Boden gut konserviert. Die Erhal-<br />

14 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

tung der Knochen hängt stark von der Bestattungsform<br />

und der Beschaffenheit des<br />

Bodens ab. Will man keine Informationen<br />

verlieren, müssen schlecht erhaltene Knochen<br />

möglichst schon auf der Ausgrabung<br />

untersucht werden.<br />

Ein Blick auf mittelalterliche<br />

Bestattungssitten<br />

Blickt ein Laie auf einen freigelegten mittelalterlichen<br />

Friedhofsteil, mag er die<br />

oft in mehreren Schichten übereinanderliegenden<br />

und sich auch gegenseitig störenden<br />

Skelette als verwirrend empfinden.<br />

Für den mittelalterlichen Menschen war<br />

eine geometrische Ordnung durch das Aneinanderreihen<br />

der Gräber in immer gleichen<br />

Abständen weniger wichtig als das<br />

Umsetzen von Glaubensvorstellungen. Da<br />

nicht jeder Grabplatz als gleich heilsfördernd<br />

galt, hing der Ort des Begräbnisses<br />

oft von Stand und Herkunft des Verstorbenen<br />

ab. Weit verbreitet – für Arme wie<br />

Reiche – war die Orientierung des Körpers<br />

nach Osten. Der verstorbene Christ ruht<br />

im Grab, den Kopf im Westen, den Blick<br />

nach Osten, wo am Jüngsten Tag der Herr<br />

erscheinen soll. Da sich Chor oder Altarhaus<br />

der Kirchen üblicherweise ebenfalls<br />

im Osten befinden, blicken die im Innenraum<br />

der Gotteshäuser begrabenen Gäubigen<br />

gleichzeitig auch zum Altar hin. Was<br />

aber, wenn die Kirche aus städtebaulichen<br />

Gründen nicht nach Osten ausgerichtet<br />

werden konnte wie im Beispiel der Pfarrkirche<br />

des Städtchens Unterseen? War es<br />

in diesem Fall wichtiger, die Gräber nach<br />

Osten oder aber zum Altar hin auszurichten?<br />

Offensichtlich bevorzugte man in einem<br />

früheren Belegungszeitraum die Ostung,<br />

machte aber später eine Wende um<br />

90 o in Richtung Altar. Dadurch entstand<br />

eine Schicht längsgerichteter über einer<br />

Schicht quergerichteter Gräber (Abb. 1).<br />

Kartiert man die Gräber geschlechterspezifisch,<br />

kommt man zu einem Befund, der<br />

einen Aspekt der kleinstädtischen Gesellschaftsstruktur<br />

widerspiegelt: Männer<br />

wurden nicht nur häufiger im privilegier-<br />

Abb. 1: Unterseen – Reformierte Kirche 1985. Gräberplan, auf dem nur die Erwachsenen<br />

eingezeichnet sind. Bei den Quergräbern in der «östlichen» Schiffshälfte wurden bevorzugt<br />

Männer begraben. Da der Herr einst im Osten erscheinen würde, glaubte man, dies<br />

sei die bessere Grablage. Auch bei den Längsgräbern hatten die Männer häufiger die<br />

besseren Grablagen im Nahbereich des Hochaltars. Zeichenerklärung: Schwarz: Mann,<br />

weiss: Frau, schwarz/weiss: geschlechtsunbestimmt. (Zeichnung: Archäologischer Dienst Kanton <strong>Bern</strong>)


ten Innenraum der Kirche begraben, sie<br />

erhielten auch häufiger die guten Grabplätze<br />

in Nähe des Altars (resp. in der östlichsten<br />

Reihe), eine Selektion, die indirekt<br />

die vorrangige Stellung des Mannes<br />

veranschaulicht.<br />

Neben solchen exemplarischen Beispielen<br />

bestehen in der Position der Skelette<br />

in mittelalterlichen Gräberfeldern immer<br />

wieder Abweichungen einzelner Gräber<br />

von der Norm. Manchmal sind sie auf<br />

die Sonderbehandlung bestimmter Menschen<br />

zurückzuführen, manchmal aber<br />

auch auf Unsorgfalt oder – gegenteilig –<br />

auf besondere Sorgfalt beim Bestatten.<br />

Zu den absonderlichen Funden gehören<br />

die hie und da vorkommenden Skelette in<br />

Bauchlage (Abb. 2). Betrifft dies Tote, die<br />

in rechteckigen Sargkisten bestattet wurden,<br />

so könnte man vermuten, der Totengräber<br />

habe oben und unten verwechselt.<br />

Von besonderer Zuwendung erzählt eine<br />

Steinkiste in Biel-Mett. Darin lagen die<br />

Skelette von drei alten Männern, zwei<br />

waren aufgrund ihrer morphologischen<br />

Übereinstimmungen im Skelettbau höchstwahrscheinlich<br />

Zwillinge. Der eine starb<br />

mehrere Jahre später als der andere, wurde<br />

aber trotzdem zu seinem Zwillingsbruder<br />

ins Grab gelegt. Mittelalterliche Friedhöfe<br />

sind äusserst individuell – wohl wie es die<br />

darin begrabenen Menschen auch waren.<br />

Individualschicksale<br />

In der Zeit zwischen dem ausgehenden<br />

Früh- und Hochmittelalter wurde im Gräberfeld<br />

von Oberbüren eine Frau begraben.<br />

Sie hatte ein Alter von 20 bis 25 Jahren<br />

erreicht und war invalidisiert: Wegen ihrer<br />

angeborenen beidseitigen Hüftgelenkverrenkung<br />

(Luxation, Abb. 3) konnte sie<br />

sich nur mit gebeugten Knien und unter<br />

seitlichem Hin- und Herverschieben des<br />

Körperschwerpunktes – sozusagen in seitlichem<br />

Watschelgang – fortbewegen. Ihr<br />

Leiden reflektiert sich sogar noch in der<br />

Skelettlage, denn sie musste mit angezogenen<br />

Knien in die Erde gelegt werden (Abbildung<br />

4). Ein paar Jahrhunderte später,<br />

zwischen der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts<br />

und der Reformation von 1528,<br />

trug man zwei totgeborene Kinder auf<br />

demselben Areal zu Grabe. Ihre Leichname<br />

wurde halb zur Seite gedreht und<br />

mit angezogenen Knien in sogenannter<br />

Embryonallage gleichzeitig der Erde übergeben<br />

(Abb. 5). Betrachtet man die beiden<br />

Abb. 2: Im Gräberfeld von Oberbüren liegt ein Mann atypisch auf dem Bauch. (Foto: HA)<br />

so unterschiedlichen Funde im Kontext der<br />

gesamten mittelalterlichen Bevölkerung,<br />

kommt man zum Schluss, dass sie beide<br />

charakteristische Kennzeichen der damaligen<br />

Sterbestrukturen und Lebensbedingungen<br />

aufweisen.<br />

Vom Individuum<br />

zur Bevölkerung<br />

Der Tod im jungen Erwachsenenalter<br />

traf zwar manchmal auch Männer, häufiger<br />

aber Frauen wie im obigen Beispiel.<br />

Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett<br />

waren kritische Lebensphasen, die<br />

bei bestehenden körperlichen Gebresten<br />

noch verstärkt einen unheilvollen Ausgang<br />

nehmen konnten. Geburt und die<br />

nachfolgenden Tage bargen für die Kinder<br />

ebenfalls ein hohes Sterberisiko. Das<br />

ganze Mittelalter und auch noch die Neuzeit<br />

waren überschattet von einer hohen<br />

Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit,<br />

die schätzungsweise nur jedem zweiten<br />

Lebendgeborenen die Chance liessen, das<br />

Erwachsenenalter zu erreichen. Starb ein<br />

Kind vor der Geburt ungetauft oder kam<br />

es schon tot zur Welt, war es als «Heide»<br />

nicht nur des Diesseits-, sondern zusätzlich<br />

auch eines seligen Jenseitsdaseins beraubt.<br />

Es sei denn, die Eltern pilgerten mit<br />

solchen Unglücklichen wie im Beispiel der<br />

beiden Oberbürener Kinder an einen Wallfahrtsort,<br />

wo sie nach angeblicher Wiederbelebung<br />

getauft werden konnten.<br />

Bei Kindern, die das erste kritische Lebensjahr<br />

überstanden hatten, blieb die<br />

Sterbewahrscheinlichkeit ebenfalls hoch.<br />

Viele starben zwischen dem dritten und<br />

sechsten Lebensjahr, häufig wohl an akut<br />

verlaufenden Infektionskrankheiten. Deren<br />

Spuren lassen sich am Knochen leider<br />

nicht ablesen. Bestimmte Mangelerkrankungen<br />

oder länger andauernde Krank-<br />

Abb. 3: Hüftgelenksluxation. Die ursprüngliche<br />

Hüftgelenkspfanne ist in seiner Form verändert<br />

(Hundeohrform), der Oberschenkelkopf<br />

ist nach oben gewandert (Markierung<br />

mit Pfeil). Unten im Bild ist der zugehörige<br />

Oberschenkel (links) im Vergleich mit einem<br />

normal ausgebildeten dargestellt. (Fotos: HA)<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

15


heitsprozesse können wir jedoch erfassen.<br />

Nach unseren Befunden – etwa zu Unterseen<br />

– hatte ein grosser Teil der Kinder,<br />

nicht selten mehrmals hintereinander, solche<br />

Stressphasen erfahren. Erst bei den<br />

über siebenjährigen Kindern sank die<br />

Sterblichkeit. Das Jugendalter war ebenfalls<br />

risikoärmer.<br />

Unterschiede im Lebensumfeld<br />

Zwischen den einzelnen Dorfbevölkerungen<br />

innerhalb des Kantons wie auch zwischen<br />

verschiedenen Sozialgruppen gibt<br />

es demographische Unterschiede, die das<br />

unterschiedliche Lebensumfeld beleuchten.<br />

Eine besondere Sterbestruktur wiesen<br />

beispielsweise die Cluniazensermönche<br />

auf, die im Mittelalter im Kloster<br />

auf der St. Petersinsel gelebt hatten. Einige<br />

starben zwar ebenfalls im jungen Erwachsenenalter;<br />

überdurchschnittlich viele<br />

Sterbefälle ereigneten sich jedoch bei den<br />

über Sechzigjährigen. Ein 20-jähriger<br />

Mönch durfte mit einer Lebenserwartung<br />

von noch 34 Jahren rechnen, die Lebenserwartung<br />

dieser Ordensleute lag mehrere<br />

Jahre über derjenigen der Normalbevölkerung.<br />

In welchem Umfang wirkten sich mangelhafte<br />

Ernährung und Krankheiten nicht<br />

nur auf die Lebensdauer, sondern auch auf<br />

die Lebensqualität einschränkend aus? Für<br />

Einzelschicksale meint man diese Frage<br />

aus heutiger Sicht abschätzen zu können;<br />

aber war dies auch die Sicht des Mittelaltermenschen?<br />

Die junge Frau von Oberbüren<br />

war schwer gehbehindert und hatte im<br />

ländlichen Alltag mit diversen Einschränkungen<br />

bei Arbeit und Mobilität zu leben.<br />

Wie sie dies selber empfand, können wir<br />

nicht beantworten. Ebenso schwierig ist<br />

es, das individuelle Schmerzempfinden<br />

abzuschätzen, selbst in Fällen, wo ausgedehnte<br />

pathologische Knochenveränderungen<br />

vorliegen.<br />

Zahlreiche Gebresten<br />

Neben einzelnen schweren Krankheitsbildern<br />

war der mittelalterliche Mensch von<br />

mancherlei alltäglichen Gebresten betroffen.<br />

Knochenbrüche konnten bei der<br />

normalen Haus-, Feld- oder Waldarbeit<br />

passieren. Besonders häufig kommen Unterarmfrakturen<br />

durch Sturz vor. Rippen,<br />

Schlüsselbein- und Unterschenkelbrüche<br />

sind ebenfalls nicht selten. Die im höheren<br />

Lebensalter eintretende Knochensub-<br />

16 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

stanzverminderung führten auch damals<br />

öfters zu Frakturen des Oberschenkels.<br />

Gelegentlich findet man ein Verletzungsmuster<br />

mit Brüchen an verschiedenen<br />

Skeletteilen, die auf schwerere Unfälle<br />

schliessen lassen.<br />

Zu den verbreitetsten Leiden des mittelalterlichen<br />

Menschen zählten die Zahnerkrankungen.<br />

Zahnfäulnis, in moderner<br />

Zeit und bis vor kurzem ein Volksleiden,<br />

trat zwar hauptsächlich infolge der weniger<br />

kariogenen Nahrung in geringeren<br />

Prozentsätzen auf. Da aber kaum Zahnpflege<br />

betrieben wurde, entstanden andere<br />

Probleme. Aus den Zahnsteinbelägen und<br />

der öfters starken Abkauung der Zahnkronen<br />

resultierten Zahnbettschwund, Cysten<br />

und Granulome oder «Eiterzähne». Erkrankungen<br />

im Mundbereich konnten bis<br />

zum Tode führen.<br />

Bei älteren Menschen litt fast jeder unter<br />

Schäden an der Wirbelsäule oder an den<br />

Gelenken, verursacht durch starke körperliche<br />

Belastung im Kindes- und Jugendalter<br />

und/oder durch Über- und Fehlbelastung<br />

im Erwachsenenalter. Im Mittelalter<br />

dürfte ein Grossteil der über 40-jährigen<br />

Männer und Frauen durch ihre chronisch<br />

gewordenen Gebresten zu beschränkter<br />

Tauglichkeit, oft zu Untauglichkeit für die<br />

angestammte Arbeit geführt haben, deren<br />

Konsequenz in einer Abhängigkeit von<br />

fremder Hilfe lag.<br />

Pest, Lepra und Syphilis<br />

Ein anderes Kapitel der Kranken im Mittelalter<br />

betrifft die «grossen» Seuchen.<br />

Laut Geschichtsquellen waren Pest, Lepra<br />

und im ausgehenden Mittelalter auch<br />

die Syphilis kennzeichnend für diese Zeitepoche.<br />

Anhand der Knochenfunde lässt<br />

sich aus verschiedenen Gründen noch<br />

keine historische Epidemiologie erstellen:<br />

Die Pest manifestiert sich makroskopisch<br />

nicht, kann aber seit kurzem molekularbiologisch<br />

erfasst werden. Lepra ist am<br />

Skelett im späteren Stadium gut erkennbar.<br />

Da die Leprösen jedoch aus der Gesellschaft<br />

ausgeschlossen und in den Siechenhäusern<br />

untergebracht und auch auf eigenen<br />

Bestattungsplätzen begraben wurden,<br />

finden wir sie – von ganz wenigen Ausnahmen<br />

abgesehen – auf den Dorffriedhöfen<br />

nicht. Syphilis äussert sich im tertiären<br />

Stadium ebenfalls mit ossären Folgen<br />

(Abb. 6). Für das Mittelalter und den Kan-<br />

Abb. 4: Wegen des angeborenen beidseitigen<br />

Hüftgelenksleidens konnte die junge<br />

Frau nur mit angezogenen Knien ins Grab<br />

gelegt werden. (Foto: HA)<br />

Abb. 5: Oberbüren Gräber Nr. 290 und<br />

297. Zwei neugeborene Kinder, die tot zur<br />

Welt gekommen waren und die man am<br />

Wallfahrtsort von Oberbüren wieder zum<br />

Leben zu erwecken versuchte, um sie taufen<br />

zu können. (Zeichnung: D. Rüttimann, HA)


ton <strong>Bern</strong> liegen erst wenige Funde von Syphiliskranken<br />

vor. Sie sind kleine Puzzlesteine<br />

zur Geschichte dieser Krankheit,<br />

über die nach wie vor eine Kontroverse<br />

herrscht zur Frage nach ihrer Verschleppung<br />

aus der Neuen Welt nach Europa<br />

durch die Seefahrer um Kolumbus.<br />

Unterschiede<br />

in der Körpergrösse<br />

Neben Krankheiten und demographischen<br />

Strukturen kann aus alten Knochen auch<br />

auf den Körperbau des mittelalterlichen<br />

Menschen geschlossen werden. Turnier-<br />

und Kriegsrüstungen, wie wir sie heute in<br />

Sammlungen und Museen bestaunen (und<br />

vermessen) können, lassen das Bild von<br />

schmächtigen Männern entstehen. Waren<br />

die mittelalterlichen Menschen tatsächlich<br />

klein und grazil?<br />

Unsere Daten weisen auf regionale wie<br />

auch soziale Unterschiede hin. Gegenüber<br />

den frühmittelalterlichen germanischen<br />

Bewohnern unseres Gebietes, die<br />

eine beachtliche Körperhöhe von 170<br />

bis 175 cm (Durchschnitt für die Männer<br />

verschiedener Orte) aufwiesen, waren<br />

die Menschen der späteren Jahrhunderte<br />

mit Durchschnittswerten zwischen<br />

168 und 170 cm tatsächlich etwas kleiner,<br />

aber nicht selten kräftig gebaut.<br />

Was die Grösse der Rüstungen anbetrifft,<br />

so steckten darin wohl nicht nur Erwachsene,<br />

sondern auch Halbwüchsige. Die<br />

nach dem Frühmittelalter eingetretene Reduktion<br />

der Körperhöhe wird neben anderen<br />

Faktoren auf Umwelteinflüsse, vor<br />

allem auf Ernährungsänderungen zurückgeführt.<br />

Die Verlagerung von der frühmittelalterlichen<br />

Milch- und Viehwirtschaft<br />

zu vermehrtem Ackerbau führte zu einem<br />

höheren Getreideanteil der Kost respektive<br />

zum Rückgang an hochwertigen tierischen<br />

Eiweissen. Setzt sich der Speisezettel nicht<br />

nur aus Mus und Brei zusammen, sondern<br />

ist darin viel Fleisch enthalten, wirkt sich<br />

dies positiv auf die Körperhöhe aus. Ein<br />

weiterer die Körperhöhe senkender Faktor<br />

ist eine starke körperliche Belastung<br />

im Kindesalter.<br />

Mit der Verminderung der Körperhöhe<br />

ging ein weiteres Phänomen einher, das<br />

der Schädelverrundung. Es führte zum typischen<br />

Rundschädel des Mittelalters. Die<br />

Ursachen dieser Formveränderung sind<br />

noch immer nicht völlig geklärt. Diskutiert<br />

werden genetische und gesellschaftliche<br />

Vermischungsvorgänge, Siebung,<br />

Klimaveränderungen und wiederum Änderungen<br />

in den Ernährungs- und Arbeitsbedingungen.<br />

Mit diesen Puzzlesteinchen<br />

lässt sich noch kein vollständiges Bild des<br />

Abb. 6: Mittelalterlicher Schädel aus Nidau. Im Stirnbein sind löchrige Veränderungen<br />

(Caries sicca) ausgebildet, die zusammen mit den Veränderungen an anderen Skelettteilen<br />

auf Syphilis hinweisen. (Foto: HA)<br />

mittelalterlichen Menschen zeichnen, aber<br />

jeder neue Skelettfund ist für uns eine Herausforderung,<br />

eine weitere kleine Lücke<br />

zu schliessen.<br />

Dr. phil.-nat. Susi Ulrich-Bochsler<br />

Historische Anthropologie<br />

Medizinhistorisches Institut<br />

Literatur:<br />

• Eggenberger Peter, Ulrich-Bochsler Susi: Unter-<br />

seen. Die reformierte Pfarrkirche, 2001.<br />

• Gutscher Daniel, Ueltschi Alexander, Ulrich-<br />

Bochsler Susi: Die St. Petersinsel im Bielersee –<br />

ehemaliges Cluniazenser-Priorat, 1997.<br />

• Lanz Christian: Ein möglicher Fall von tertiärer<br />

Syphilis aus dem Spätmittelalter, Diss. 1997.<br />

• Ulrich-Bochsler Susi: Vom «enfant sans âme» zum<br />

«enfant du ciel», Unipress Nr. 92, 1997.<br />

• Ulrich-Bochsler Susi: Anthropologische Befunde<br />

zur Stellung von Frau und Kind in Mittelalter und<br />

Neuzeit. Soziobiologische und soziokulturelle As-<br />

pekte im Lichte von Archäologie, Geschichte, Volks-<br />

kunde und Medizingeschichte, 1997.<br />

• Wurm Helmut: Die Körperhöhe deutscher Har-<br />

nischträger, Z. Morph. Anthrop. 75, 1985.<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

17


Zwischen Abenteuerlust und Henkershand<br />

Räuber, Gauner und Betrüger<br />

im Spätmittelalter<br />

Ein Blick in den täglichen Boulevardjournalismus genügt,<br />

um uns zu zeigen, welche Faszination von Verbrechen und<br />

Gesetzesbrechern für die heutigen Zeitgenossen ausgeht.<br />

Bestätigt wird dieser Eindruck durch die grosse Popularität<br />

von Kriminalromanen wie auch von Kriminalfilmen.<br />

Diese Faszination am Verbrechen lässt sich aber auch in<br />

früheren Zeiten feststellen.<br />

Schon spätmittelalterliche und frühneuzeitliche<br />

Chronisten berichten von Straftaten<br />

und Straftätern, wobei besonders<br />

spektakuläre Verbrechen wiederholt das<br />

Interesse der zeitgenössischen Geschichtsschreiber<br />

weckte: Beispielsweise erzählt<br />

der bekannte Luzerner Diebold Schilling<br />

in seiner Bilderchronik den verabscheuungswürdigen<br />

Mord eines gewissen Hans<br />

Spiess an seiner Ehefrau, die er in ihrem<br />

Ehebett erwürgt hatte. Unter der Folter<br />

blieb der des Mordes verdächtigte Spiess<br />

standhaft, so dass das Gericht als einzige<br />

Möglichkeit zur Überführung des Täters<br />

das mittelalterliche Rechtsinstrument der<br />

sogenannten Bahrprobe sah.<br />

Dabei wurde die des Mordes beschuldigte<br />

Person an die Leiche der ermordeten Person<br />

geführt: Wenn die Leiche wieder zu<br />

bluten anfing, war der Täter überführt. Genau<br />

dies geschah bei der Gegenüberstellung<br />

des Hans Spiess mit seiner durch ihn<br />

ermordeten Ehefrau, welche nach zwanzig<br />

Tagen wieder aus ihrem Grab exhumiert<br />

worden war. Für seine Tat wurde Hans<br />

Spiess schliesslich zum Tod auf dem Rad<br />

verurteilt.<br />

Besonders spektakuläre Betrugsfälle fanden<br />

ebenfalls immer wieder Eingang in<br />

die spätmittelalterliche Chronistik: Sowohl<br />

Zürcher wie Konstanzer Chroniken<br />

berichten für die 1420er-Jahre von der Tätigkeit<br />

eines Franzosen namens Tschan (=<br />

Jean) in dieser Region, welcher sich verschiedener<br />

alchemistischer Künste rühmte<br />

und vorgab, aus Blei Silber und aus Kupfer<br />

Gold herstellen zu können. Einquartiert im<br />

Hause des vermögenden und einflussrei-<br />

18 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

chen Zürcher Ratsherren Peter Oeri führte<br />

Tschan aller Welt seine Künste vor. Bald<br />

darauf verliess Tschan Zürich und ging<br />

nach Schaffhausen, um dort seine Karriere<br />

fortzusetzen. Auch in dieser Stadt<br />

fand er in der Person des Schaffhausers<br />

Stadtadeligen Götz Schultheiss von Randenburg<br />

das Vertrauen eines mächtigen<br />

Fürsprechers. Dieser betrieb selber «sollich<br />

aventür», war also ebenfalls in alchemistischen<br />

Künsten bewandert. Tschan<br />

und Götz Schultheiss versuchten sich gemeinsam<br />

in der Goldmacherkunst und gewannen<br />

das Vertrauen zahlreicher Leute.<br />

Selbst der Schaffhauser Rat liess sich von<br />

den Künsten des Tschan überzeugen und<br />

Abb. 1: Mit dem<br />

Aufkommen des<br />

Buchdrucks wurde<br />

auch der Steckbrief<br />

im Laufe des<br />

16. Jahrhunderts<br />

zu einem wichtigenFahndungsinstrument.<br />

«tet ... im große zucht und ere und gab im<br />

groß frighait, wan er verhieß, die statt in<br />

groß richtum ze bringend». Der Ruf von<br />

Tschans Goldmacherkünsten drang bis<br />

nach Konstanz vor, wo er ebenfalls seine<br />

angeblichen Fähigkeiten vor versammelter<br />

Menge vorführte. Auch der hegauische<br />

Ritteradel gewann zum Alchemisten ein<br />

besonderes Vertrauen; gemäss einem Konstanzer<br />

Chronisten gab einer dieser Adligen,<br />

Ritter Heinrich von Randegg, Tschan<br />

sogar seine Tochter zur Frau.<br />

Nachdem Tschan seine alchemistischen<br />

Künste eine Weile lang getrieben und<br />

grosse Vermögenswerte geliehen hatte,<br />

«do wolt er gewichen sin»; die Flucht<br />

misslang indessen und er wurde auf einer<br />

Ritterburg im Hegau gefangengehalten.<br />

Von dort gelang ihm neuerdings die<br />

Flucht, worauf die Ritter ihm nacheilten<br />

und ihn vor den Toren Schaffhausens erschlugen.<br />

Erst jetzt wurden die Betrügereien<br />

des französischen Alchemisten vollständig<br />

aufgedeckt «und kament die lüt in<br />

großen kumer und schaden, die das ir uff<br />

in gelait hatten».


London<br />

Meddelburg<br />

Brügge<br />

Paris<br />

Utrecht<br />

Venlo<br />

Juden unter Verdacht<br />

Noch ein viel grösseres Interesse fanden<br />

die Fabelgeschichten um die angeblich<br />

durch Juden begangenen Verbrechen wie<br />

Brunnenvergiftungen, Hostienfreveleien<br />

oder Ritualmorde; häufig führten solche<br />

absurden Verdächtigungen zu mehr oder<br />

weniger umfangreichen Judenverfolgungen.<br />

Auch das im Laufe des 15. Jahrhunderts<br />

durch den Einfluss von Theologen<br />

sich ausbildende Hexereidelikt fand verschiedentlich<br />

Eingang in die spätmittelalterliche<br />

Chronistik.<br />

Mit dem seit der Mitte des 16. Jahrhunderts<br />

aufkommenden Buchdruck gewannen Geschichten<br />

von Mördern und Räubern, Gaunern<br />

und Betrügern eine besondere Popularität:<br />

Vor allem seit dem 16. Jahrhundert<br />

fand ein solcher «Sensationsjournalismus»<br />

in der Form des Flugblattes einen reissenden<br />

Absatz unter einem Publikum, welches<br />

sich schaudernd-fasziniert an solchen<br />

Nachrichten ergötzte.<br />

Im Gegensatz zu der durch Dichter und<br />

andere Kunstschaffende vermittelten Räuberromantik<br />

des 18. und 19. Jahrhunderts,<br />

welche das freie und angeblich abenteuerreiche<br />

Leben von Räubern und anderen<br />

Kriminellen glorifizierten, lässt sich eine<br />

Idealisierung solcher Existenzen im Spätmittelalter<br />

nicht feststellen, obwohl immerhin<br />

gewisse Ansätze dazu vorhanden<br />

waren. Erwähnt werden können hier die<br />

Nijmwegen<br />

Bergen op Zoom<br />

Köln<br />

Schaffhausen<br />

Strassburg<br />

Abb. 2: Tatorte und Itinerar des 1483 in Schaffhausen hingerichteten Hans Ru o st.<br />

im englischen Sprachraum im Laufe des<br />

Spätmittelalters entstehenden Geschichten<br />

über den in den Wäldern lebenden «good<br />

outlaw» Robin Hood, der sich für Unterdrückte<br />

und Arme einsetzte. Im deutschsprachigen<br />

Raum kann die Figur des Till<br />

Eulenspiegel genannt werden, der mittels<br />

mehr oder weniger krimineller Taten<br />

seinen Lebensunterhalt verdiente. Während<br />

diese Geschichten mehr oder weniger<br />

reine Phantasieprodukte dichterischen<br />

Ursprungs waren, verarbeitete der<br />

dem französischen Sprachraum angehörende<br />

François Villon in der Mitte des<br />

15. Jahrhunderts sein eigenes, kriminelle<br />

Bahnen einschlagendes Leben in literarischer<br />

Weise.<br />

Das «reale Leben»<br />

spätmittelalterlicher Krimineller<br />

Das Alltagsleben von spätmittelalter-<br />

lichen Delinquenten wird vor allem in<br />

den aus verschiedenen Städten überlieferten<br />

Verhör- und Geständnisprotokolle dokumentiert.<br />

Allerdings stellt sich bei dieser<br />

Quellengattung die Frage, inwiefern<br />

diese Gerichtsprotokolle angesicht der<br />

Tatsache, dass die Aussagen der Angeschuldigten<br />

häufig unter der Anwendung<br />

von Folter zustandegekommen waren, der<br />

Realität entsprechen und die gestandenen<br />

Taten tatsächlich durch die beschuldigten<br />

Personen begangen worden waren. Selbst<br />

die Zeitgenossen waren gegenüber den unter<br />

der Folter erzwungenen Geständnissen<br />

kritisch eingestellt, wie dies im speziellen<br />

auch ein durch den Luzerner Chronisten<br />

Diebold Schilling berichteten Fall zeigt:<br />

Ein gewisser Jakob Kessler wurde in Luzern<br />

aufgegriffen und war dem Rat «verzöugt<br />

und an was geben für ein mörder»;<br />

im badischen Lenzkirch (Schwarzwald)<br />

soll er einen Mord begangen haben. Unter<br />

der Folter gestand Kessler die Tat und<br />

wurde deshalb zum Tod auf dem Rad verurteilt.<br />

Vor seiner Hinrichtung wurde ihm<br />

nochmals die Beichte vor einem Priester<br />

zugestanden; gegenüber diesem beteuerte<br />

er seine Unschuld und gab der Folter die<br />

Schuld für das falsche Geständnis. Dies<br />

hörte einer der Ratsknechte und trug alles<br />

dem Chronisten Diebold Schilling zu,<br />

worauf dieser im letzten Moment intervenierte.<br />

Hierauf machte der Luzerner Rat<br />

Nachforschungen in Lenzkirch, wobei<br />

auskam, dass dort gar niemand ermordet<br />

und der aufgegriffene Jakob Kessler unschuldig<br />

war.<br />

Die Geständnisprotokolle spätmittelalterlicher<br />

Delinquenten offenbaren nicht selten<br />

ein äusserst entbehrungsreiches Leben,<br />

welches einerseits durch Langeweile<br />

und andererseits durch hohe Risiken geprägt<br />

war. Deutlich geht dies etwa aus<br />

einem <strong>Bern</strong>er Verhörprotokoll von 1510<br />

hervor, worin ein gewisser Jakob Trutman,<br />

Pfeifer aus Rottweil, sein Räuberleben<br />

schildert: Das Alltagsleben dieses<br />

Delinquenten bestand vor allem aus dem<br />

langem Warten auf potentielle Opfer und<br />

gelegentlichen Einbrüchen in Häuser; die<br />

Beute blieb häufig gering und setzte sich<br />

zumeist aus Nahrungsmitteln und Kleidungsstücken<br />

zusammen. In nicht wenigen<br />

Fällen gehörten die Delinquenten<br />

der im Laufe des Spätmittelalters immer<br />

grösser werdenden Gruppe der heimatlosen<br />

Vaganten an, welche mehr oder weniger<br />

mittellos von einem Ort zum anderen<br />

ziehend mittels Gelegenheitsarbeiten, Bettelei<br />

und gelegentlicher krimineller Handlungen<br />

ihr Leben auf der Landstrasse zu<br />

fristen suchten.<br />

Zur Mobilität<br />

spätmittelalterlicher Krimineller<br />

Besonders interessant sind die geographischen<br />

Angaben in den Geständnissen,<br />

welche von der bisweilen grossen Mobilität<br />

dieser Delinquenten zeugen; aus vielen<br />

Geständnissen lassen sich aufgrund der<br />

Herkunftsorte der einzelnen Delinquenten<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

19


sowie den von ihnen genannten Tatorten<br />

gross- oder kleinräumigere Itinerare (Aufenthaltsortsverzeichnisse)<br />

rekonstruieren<br />

und diese kartographisch abbilden.<br />

Eine besonders grossräumige Mobilität<br />

lässt sich etwa aus dem Geständnisprotokoll<br />

des Anfang Mai 1483 in<br />

Schaffhausen hingerichteten Hans<br />

Ru o st rekonstruieren, dessen Geständnis<br />

uns ein Gaunerleben vorstellt, welches<br />

durch halb Europa führt: Hans Ru o st<br />

stammte aus der niederländischen Stadt<br />

Nijmegen (Abb. 2).<br />

Seine Lehrjahre verbrachte er als Goldschmiedelehrling<br />

in Paris. Bereits hier geriet<br />

er auf die schiefe Bahn; denn er stahl<br />

seinem Meister eine kleinere Geldsumme<br />

und lief dann davon. Er setzte nach England<br />

über, wo er seinen Lebensunterhalt<br />

mit weiteren Diebstählen und Betrügereien<br />

verdiente.<br />

Im Auftrage eines Londoner Kaufmannes<br />

reiste er schliesslich nach Brügge<br />

in Flandern; für diesen sollte er verschiedene<br />

Geldgeschäfte tätigen. Die<br />

dabei eingenommenen Gelder steckte<br />

Ru o st allerdings in seine eigene Tasche. In<br />

Brügge versuchte er sich im betrügerischen<br />

Warenhandel; an dem dabei gewonnenen<br />

Geld konnte er sich allerdings nicht<br />

lange erfreuen, verspielte er es doch schon<br />

bald wieder im seeländischen Middelburg.<br />

Hier versuchte Ru o st sich wenig erfolgreich<br />

im Heringshandel mit England.<br />

Weitere Stationen seiner kriminellen Laufbahn<br />

führten nach Bergen-op-Zoom und<br />

nach Utrecht. Nach kurzem Aufenthalt<br />

in seiner Heimatstadt Nijmegen reiste er<br />

nach Venlo weiter, wo er betrügerische<br />

Devisengeschäfte tätigte. Über Köln gelangte<br />

er nach Strassburg, wo er sich mit<br />

einem Kölner Studenten zu einer Falschspielerbande<br />

zusammenschloss. Nach einem<br />

Streit erstach Ru o st den Studenten ausserhalb<br />

Strassburgs und raubte ihn aus.<br />

Daraufhin gelangte er nach Schaffhausen,<br />

wo er sich im November 1482 als Goldschmied<br />

vereidigen liess und eine dort ansässige<br />

Frau ehelichte. Nicht lange danach<br />

wurde er allerdings als Bigamist entlarvt;<br />

denn wie aus seinem Geständnis hervorgeht,<br />

hatte er auch noch eine Ehefrau in<br />

seiner Heimatstadt Nijmegen. Auch in sei-<br />

20 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

nem Goldschmiedehandwerk liess er sich<br />

zu einigen Betrügereien hinreissen, indem<br />

er minderwertiges Edelmetall verarbeitete.<br />

Schliesslich wurde er im Mai 1483 durch<br />

Ertränken im Rhein hingerichtet.<br />

Im grossen und ganzen stellt dieses Itinerar<br />

des Hans Ru o st eine Ausnahme dar: Nur<br />

in den seltensten Fällen bewegten sich Delinquenten<br />

in einem so weiten Gebiet; zumeist<br />

war der durchwanderte Raum dieser<br />

Personen sehr viel kleinräumiger und<br />

enger, wobei sich je nach Delinquententypus<br />

aber unterschiedliche Migrationsmuster<br />

ermitteln lassen: So wanderten<br />

etwa Betrüger, welche vorgaben, besondere<br />

Künste bzw. spezielle berufliche Fähigkeiten<br />

beherrschen zu können, in der<br />

Regel über weitere Distanzen. Ihr Wirkungsbereich<br />

konzentrierte sich häufig auf<br />

grössere und mittelgrosse Städte. Ähnliche,<br />

vor allem auf Städte bezogene Migrationsmuster<br />

weisen die Geständnisse von<br />

auf kriminelle Bahnen geratene Handwerksgesellen<br />

auf.<br />

Neben dieser eher grossräumigen Migration<br />

lassen sich in den Quellen aber auch<br />

viele Beispiele kleinräumiger Mobilität<br />

feststellen, bei denen Delinquenten sich<br />

in einem engen Revier nur über wenige<br />

Kilometer von einer Ortschaft zur an-<br />

Abb. 3: Bettlerfamilie<br />

auf dem Weg<br />

zur Stadt. Titelblatt<br />

der «Liber vagatorum»<br />

(1510).<br />

deren bewegten. Daneben gab es natürlich<br />

auch Delinquenten, zumeist Einheimische,<br />

die im engen städtischen Gebiet<br />

ihr Revier hatten; nicht selten handelte es<br />

sich dabei um Handwerker, welche bei Berufskollegen<br />

Rohmaterialien stahlen, um<br />

diese dann im eigenen Betrieb weiterzuverarbeiten.<br />

Allgemein kann festgestellt<br />

werden, dass selbst Delinquenten, welche<br />

sich über weitere Distanzen fortbewegten,<br />

nur selten die Sprachgrenzen überschritten;<br />

weitaus lieber verblieben sie in Gebieten,<br />

in welchen ihnen Sprache, Sitten und<br />

Gebräuche vertraut waren.<br />

Bandenbildung<br />

im Spätmittelalter<br />

Bereits im Mittelalter kam es zur Bildung<br />

von Verbrecherbanden. Besonders bekannt<br />

ist die aus dem französischen Sprachraum<br />

überregional operierende Bande der Coquillards,<br />

welche mittels Raub und Mord,<br />

Diebstahl und Falschspiel ihren Lebensunterhalt<br />

zu verdienen suchte. Der Zusammenschluss<br />

von Verbrecherbanden gewann<br />

auch im deutschsprachigen Raum eine immer<br />

weitere Verbreitung, wobei dies rein<br />

fiktiv aufgebauscht werden konnte, wie<br />

dies etwa der «Liber Vagotorum» mit der<br />

Vorstellung eines kriminellen «Vagantenordens»<br />

oder «Bettlerordens» (lat. ordo<br />

vagatorum) belegt (Abb. 3).


Abb. 4: Urteil des Hans Müller 1508: « ... das<br />

man denselben Hans Mueller dem nachrichter<br />

bevelchen, der im sine hend zuo rugk<br />

all einem dieb binden und in niden us uff<br />

die gwenliche richtsstatt fueren unnd in mitt<br />

dem strick vom leben zum tod richten und<br />

dem lufft bevelchen sol».<br />

In einem aus dem Ende des 15. oder Anfang<br />

des 16. Jahrhunderts stammenden<br />

<strong>Bern</strong>er Verhörprotokoll werden zwölf<br />

aus dem süddeutschen Raum stammende<br />

Männer erwähnt, welche sich in Zürich im<br />

sogenannten «Kratz», einem berühmt-berüchtigten<br />

Aussenseiterquartier der Limmatstadt,<br />

versammelten und sich zu einer<br />

«rott» zusammenschlossen, um «alle boßheit<br />

und boeße stueck anzefangen, morden,<br />

stelen, roben, und was gelt bringen<br />

moeg». Im Jahre 1527 fahndete der <strong>Bern</strong>er<br />

Rat nach einer Verbrecherbande, welche<br />

sowohl in ihrem bernischen wie auch<br />

im zürcherischen Herrschaftsterrritorium<br />

ihr Unwesen trieb; sie gaben sich als Leprakranke<br />

aus, waren aber laut Geständnis<br />

eines «jungen starcken pettler(s)», der dieser<br />

Bande angehörte, tatsächlich «grosse<br />

Diebe, Ketzer und Mörder».<br />

Nicht wenige dieser Delinquenten, seien<br />

es Bandenmitglieder oder als Einzelgänger<br />

operierende Kriminelle, kamen in die<br />

Mühlen der Justiz. Am Ende einer Krimi-<br />

nellenkarriere stand nicht selten der Galgen,<br />

wie dies auch im Gerichtsurteil des<br />

1508 in <strong>Bern</strong> hingerichteten Dieb Hans<br />

Müller belegt ist (Abb. 4): « ... das man<br />

denselben Hans Mueller dem nachrichter<br />

bevelchen, der im sine hend zuo rugk all<br />

einem dieb binden und in niden us uff die<br />

gwenliche richtstatt fueren unnd in mitt<br />

dem strick vom leben zum tod richten<br />

und dem lufft bevelchen sol».<br />

Dr. Oliver Landolt<br />

Historisches Institut<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

21


Mit den <strong>Bern</strong>er Stadtläufern des Spätmittelalters unterwegs<br />

«Uber hoch Berg /<br />

durch finstre Wäld»<br />

Bis ins 13. Jahrhundert zurück reichen die Anfänge des<br />

bernischen Botenwesens. Nachdem <strong>Bern</strong> 1353 der<br />

Eidgenossenschaft beigetreten war und diplomatisch<br />

eine wichtigere Rolle spielte, wuchs die Bedeutung der<br />

louffenden botten. Spätestens ab 1426 trugen die<br />

Läufer eine Amtskleidung in den Stadtfarben rot und<br />

schwarz. Die territoriale Ausdehnung des Stadtstaates sowie<br />

die zahlreichen Konflikte des 15. und frühen 16. Jahrhunderts<br />

führten nochmals zu einer Expansion des <strong>Bern</strong>er<br />

Botenwesens.<br />

In Zeiten der elektronischen Datenübertragung<br />

sind Schlagworte wie Revolution<br />

der Kommunikationskultur heute in aller<br />

Munde. Ob der Faszination der jeweils<br />

neuesten Entwicklung geraten die jeweils<br />

letzten Modelle schnell in Vergessenheit.<br />

Und kaum jemand ist sich bewusst, dass<br />

sich bereits mit dem Entstehen des Botenwesens<br />

im 14. Jahrhundert eine Neuerung<br />

gegeben hat, die für die Zeitgenossen mindestens<br />

so einschneidend gewesen dürfte.<br />

Ich Bin ein berayter pot zu fuess<br />

deshalb ich mich vil leyden muess<br />

Es sey gleych Schnee / Wint oder Regen<br />

So mus ich doch hinaus allwegen<br />

Zu wasser unnd landt überal<br />

Uber hoch Berg und tieffe thal<br />

Durch finstere Wäld / stauden und<br />

hecken<br />

Da mich offt die schnaphannen<br />

schrecken<br />

Und mir als nehmen was ich thu tragen<br />

Und mir die hawt darzu vol schlagen<br />

Im Winter leyd ich grosse kelt<br />

Im herbst mich das ungwitter quelt<br />

Im Summer leyd ich grosse hytz<br />

Da ich mich offt Beym Wirt versitz<br />

Und Leich gar verdien mein lon<br />

So ist er offt vorhyn verthon [...]<br />

Mit diesen schlichten Versen beschreibt<br />

ein laufender Bote im Jahr 1530 auf einem<br />

Nürnberger Flugblatt des Kupferstechers<br />

Hans Guldenmund die dunklen Seiten<br />

seines abenteuerreichen Berufs (Abbildung<br />

1). Schlechte Strassenverhältnisse,<br />

22 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

schwierige Witterungsbedingungen, Gefahren<br />

durch Raubüberfälle und Kriege<br />

und nicht zuletzt auch betrügerische Wirte,<br />

die sich an seinem kargen Lohn bereichern<br />

wollen, gehörten zum Alltag. Auch wenn<br />

dieses Flugblatt als Schmähschrift gegen<br />

freischaffende Läufer gedacht war, die<br />

auf dem hart umkämpften, von der Thurn<br />

und Taxi’schen Post beherrschten Informationsmarkt<br />

eine unliebsame Konkurrenz<br />

darstellten, schildert es doch in überhöhter<br />

Form Alltagsprobleme, die jeder spätmittelalterliche<br />

Laufende oder berittene Bote<br />

aus eigener Anschauung kannte. Dies gilt<br />

auch für die <strong>Bern</strong>er Stadtläufer, auf deren<br />

Wirken sich die folgenden Ausführungen<br />

konzentrieren. Seit dem 14. Jahrhundert<br />

beförderten sie den grössten Teil<br />

der mündlichen und schriftlichen Korrespondenz<br />

des obersten Führungsgremiums,<br />

des <strong>Bern</strong>er Rates. Wie jede halbwegs autonome<br />

Stadt war auch das reichsfreie <strong>Bern</strong><br />

um einen regen Nachrichtenaustausch bemüht,<br />

der einerseits der Verwaltung eines<br />

beachtlichen Stadtgebietes galt, andererseits<br />

auch der Kontaktpflege mit anderen<br />

Städten und Ländern der Alten Eidgenossenschaft<br />

sowie ausserhalb dieser Gebiete<br />

gelegenen Mächten des Alten Reiches.<br />

Louffende botten<br />

Die Wurzeln des bernischen Botenwesen<br />

reichen bis ins 13. Jahrhundert zurück.<br />

Bereits im ältesten <strong>Bern</strong>er Stadtrecht, der<br />

Abb. 1: Läufer mit voller<br />

Ausrüstung unter -<br />

wegs: Die Illustration entstammt<br />

einem Flugblatt<br />

des Nürnberger Kupferstechers<br />

Hans Guldenmund<br />

(1530).<br />

(Hans-Dieter Heimann, Zur Visualisie-<br />

rung städtischer Dienstleistungskultur,<br />

S. 28, in «Anzeiger des Germanischen<br />

Nationalmuseums 1993».<br />

©Preussischer Kulturbesitz, Berlin)


Abb. 2 : Eine silberne Basler Botenbüchse<br />

aus dem Jahr 1553. (© Basel, Hist. Museum)<br />

Goldenen Handfeste aus den 1270er-Jahren,<br />

wird ein Amtmann genannt, der mit<br />

der Nachrichtenübermittlung beauftragt<br />

wurde: der städtische Weibel. Auch wenn<br />

er hauptsächlich ordnungsrechtliche Aufgaben<br />

wahrzunehmen hatte, musste er auch<br />

die Entscheidungen des Rates in Stadt und<br />

Landschaft veröffentlichen. Diese Doppelbelastung<br />

der Weibel, Verwalten und Reisen,<br />

führte im 14. Jahrhundert dazu, dass<br />

der Rat das Amt eines städtischen Läufers<br />

schaffen musste. Dies war umso notwendiger,<br />

als <strong>Bern</strong> 1353 der Eidgenossenschaft<br />

beitrat und diplomatisch eine wichtigere<br />

Rolle spielte. Diese neuen Amtleute, die<br />

in der ältesten erhaltenen Stadtrechnung<br />

von 1375 als louffende botten bezeichnet<br />

werden, hatten nun die alleinige Aufgabe,<br />

Nachrichten zu übermitteln. Genaueres<br />

über Tätigkeit berichten jedoch erst<br />

die zahlreicheren Quellen des 15. Jahrhunderts:<br />

Spätestens ab 1426 trugen die Läufer<br />

eine Amtskleidung in den Stadtfarben<br />

rot und schwarz. Die Stadtrechnungen der<br />

1430er-Jahre enthalten erstmals auch Angaben<br />

zu ihrer Ausrüstung. Der Rat hat für<br />

die Boten unter anderem ein Abzeichen<br />

mit dem Stadtwappen anfertigen lassen,<br />

welches die Läufer auf ihren Wegen unter<br />

den Schutz der Stadt stellte: eine rund<br />

handtellergrosse, silberne «Botenbüchse»,<br />

die die Boten gut sichtbar auf ihrem Wams<br />

trugen (Abb. 2). Sie gehörten somit definitiv<br />

zum niederen Amtspersonal der Stadtverwaltung<br />

und waren damit verpflichtet,<br />

an Ostern vor einem Ausschuss des Rates<br />

einen Amtseid zu schwören. Als fest angestellte<br />

Amtspersonen erhielten sie auch<br />

vierteljährlich einen kleinen Lohn ausbezahlt.<br />

Expansionsbewegungen<br />

Die territoriale Ausdehnung des Stadtstaates<br />

<strong>Bern</strong>, die um 1415 nach der Annexion<br />

des Aargaus vorläufig abgeschlossen<br />

war, sowie die zahlreichen Konflikte<br />

des 15. und frühen 16. Jahrhunderts, Alter<br />

Zürichkrieg, Burgunderkriege, Mailänder<br />

Kriege, führten auch zu einer Expansion<br />

des <strong>Bern</strong>er Botenwesens. Aus<br />

den fünf Läufern, die im Jahre 1435 verzeichnet<br />

wurden, waren zu Beginn des<br />

16. Jahrhunderts zehn ständig beanspruchte<br />

Boten geworden. Doch auch zehn Boten<br />

vermochten die Nachrichtenflut, die in<br />

Kriegszeiten beträchtlich anstieg, nicht alleine<br />

zu bewältigen. Deshalb wurden den<br />

Läufern im Jahr 1481 Zupotten genannte<br />

Aushilfsläufer zur Seite gestellt, die sie<br />

in Krisensituationen entlasten sollten. In<br />

Ausnahmefällen wurden zusätzlich vertrauenswürdige,<br />

dem Rat nahestehende<br />

Personen zu Botendiensten herangezogen.<br />

Ihre Zahl konnte bei grossem Bedarf jene<br />

der Boten um ein Vielfaches übersteigen.<br />

So wurden etwa 1516, als die Niederlage<br />

von Marignano der Tagsatzung Grundsatzentscheidungen<br />

erforderte, 60 weitere Bedarfsläufer<br />

engagiert. Viele von ihnen erledigten<br />

nur einen einzigen Botengang. Fast<br />

Abb. 3: Die Botenfigur des <strong>Bern</strong>er Läuferbrunnens.<br />

(Bild: pm)<br />

80 % aller Nachrichten des Rats wurden<br />

nämlich von vereidigten Läufern und Zuboten<br />

übermittelt.<br />

Etablierter Status und<br />

flexibler Einsatz<br />

Die meisten Nachrichten gingen von den<br />

Sitzungen des Kleinen Rates aus, der das<br />

eigentliche Führungsgremium der Stadt<br />

war und sich im Normalfall alle zwei bis<br />

drei Tage versammelte. Anwesend war<br />

auch der Stadtschreiber, der den Schriftverkehr<br />

des Gremiums organisierte. Besonders<br />

in Krisenzeiten, wenn der Rat<br />

jeden Tag zusammensass und Mobilmachungsbefehle<br />

erlassen wurden, musste<br />

die Korrespondenz sehr schnell funktionieren.<br />

Beispielsweise mussten der Höhepunkt<br />

der Burgunder-Krise im Jahre 1473<br />

innert kürzester Zeit 56 Kriegsaufgebote<br />

ausgestellt werden, wofür der damalige<br />

Stadtschreiber Diebold Schilling nach eigenen<br />

Angaben bis tief in die Nacht hinein<br />

arbeiten musste.<br />

Zusammen mit dem jeweils dienstältesten<br />

Läufer war der Stadtschreiber verantwortlich,<br />

dass dringende Aufträge umgehend an<br />

die Läufer verteilt wurden und sich diese<br />

unverzüglich auf den Weg machten. Ausgerüstet<br />

mit Immunität und freies Geleit<br />

garantierender Botenbüchse, mit schwarzroter<br />

Amtstracht und einem Spiess, den sie<br />

auch als Waffe gegen Hunde und Halunken<br />

einsetzen konnten, waren die Läufer<br />

auf Strassen und Wegen unterwegs (Abbildung<br />

3). Die schriftlichen Nachrichten<br />

trugen sie in ein Wachstuch eingewickelt<br />

in einer Ledertasche am Gürtel. Bevor<br />

sie jedoch <strong>Bern</strong> verliessen, mussten sie<br />

sich noch vom städtischen Seckelmeister<br />

(Finanzminister) ihr Weggeld ausbezahlen<br />

lassen. Dieses wurde nach Meilen,<br />

Dringlichkeit und Tageszeit der Reise<br />

berechnet. Ein Läufer, der 1513 tagsüber<br />

nach z. B. Thun reiste, erhielt sechs <strong>Bern</strong>er<br />

Schilling, während er bei einem Nachtlauf<br />

Anspruch auf die doppelte Summe<br />

hatte. Die Verdoppelung der Geldsumme<br />

muss vor allem als Gefahrenzulage verstanden<br />

werden. Solches galt auch für entfernte<br />

Zielorte, wie etwa Basel, Lyon oder<br />

Mailand. Die meisten Boten werden schon<br />

vor ihrer Wahl zum städtischen Amtmann<br />

mit den wichtigsten Wegen rund um <strong>Bern</strong><br />

vertraut gewesen sein. Kenntnisse über die<br />

schnellsten Strassenverbindungen zu entfernteren<br />

Orten wie Luzern, Zürich oder<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

23


Genf erwarben sie sich wahrscheinlich erst<br />

dadurch, dass sie ihre dienstälteren Kollegen<br />

zuweilen begleiteten.<br />

250 verschiedene Zielorte<br />

Die Raumkenntnisse der <strong>Bern</strong>er Läufer<br />

waren beeindruckend, wenn man bedenkt,<br />

dass die 64 zwischen 1375 und 1527 erhaltenen<br />

Stadtrechnungen rund 250 verschiedene<br />

Ortsnamen enthalten. Darunter nicht<br />

nur Dörfer oder Weiler der eigenen Landschaft,<br />

sondern auch weit entfernte Städte<br />

wie Innsbruck, Frankfurt am Main oder<br />

Rom. Allerdings lag das Schwergewicht<br />

der Botengänge auf dem eigenen Territorium,<br />

woraus sich schliessen lässt, dass<br />

die Läufer vor allem bei der Durchsetzung<br />

des <strong>Bern</strong>ischen Staatswillens eine<br />

wichtige Rolle gespielt haben. Das zweitwichtigste<br />

Zielgebiet der Nachrichten des<br />

<strong>Bern</strong>er Rates war der Einflussbereich der<br />

Alten Eidgenossenschaft, allen voran die<br />

Städte Fribourg und Solothurn, deren<br />

wechselhafte nachbarliche Beziehung zur<br />

Aarestadt die Kommunikation seit dem<br />

14. Jahrhundert mit geprägt hat. Aber auch<br />

die Städte Luzern, Baden oder Zürich, wo<br />

sich die Tagsatzung besonders häufig versammelte,<br />

war überdurchschnittlich häufig<br />

Zielort von <strong>Bern</strong>er Boten.<br />

Eine besondere Rolle spielte Basel, das<br />

nicht nur Finanzplatz und wichtiger Warenabsatzmarkt<br />

für <strong>Bern</strong>er Lederfabrikate<br />

war, sondern auch eines der bedeutendsten<br />

spätmittelalterlichen Nachrichtenzentren<br />

des oberdeutschen Raumes war. Da sie<br />

an solchen Orten ihre Nachrichten an die<br />

Boten anderer Mächte weitergeben konnten,<br />

wurden die <strong>Bern</strong>er Boten auch selten<br />

ausserhalb des eidgenössischen Raumes<br />

geschickt. Somit sparte der <strong>Bern</strong>er Rat<br />

Zeit und Geld.<br />

Zuverlässigkeit trotz<br />

vieler Gefahren<br />

Auch wenn die Zuverlässigkeit der Nachrichtenübermittlung<br />

durch Boten sehr<br />

gross war und Läufer obrigkeitlichen<br />

Schutz genossen, konnte es dennoch zu<br />

Zwischenfällen kommen. Was einem widerfahren<br />

konnte, wenn man sich an einem<br />

Läufer verging, verdeutlicht etwa eine<br />

Basler Läufergestalt aus dem 16. Jahrhundert,<br />

die der örtlichen Schützengesellschaft<br />

als Schiessscheibe gedient hat. Auf<br />

einem Schild, dass die Figur in der Hand<br />

trägt, steht nämlich: Ich louff nit schnell /<br />

24 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

Abb. 4: Karnevalesk überzeichnetes Negativbeispiel des pflichtvergessenen Boten.<br />

vnd bin lang ouff der fartt / gutter xel gutter<br />

/ hast woll denn schuttz (Schuss) gespartt<br />

/ ich warrn dich drifftts mich / es<br />

gerütt dich.<br />

Trotz der Immunität der Boten, die den<br />

Basler Schützen hier recht deutlich vor Augen<br />

geführt wurde, kam es immer wieder<br />

vor, dass Läufer an ihren Zielorten gefangengesetzt<br />

oder unterwegs getötet wurden.<br />

Gelegentlich wurden auch Briefe entwendet,<br />

um damit ein politisches Zeichen zu<br />

setzen, den Gegner auszuspionieren und<br />

dadurch zu schwächen. So wurde in der<br />

Schlacht bei St. Jakob an der Birs 1444<br />

(Sebastian Brand: Das Narrenschiff, 1494)<br />

ein Hensli Schmid von Stans getötet, der<br />

als landlüten löüfer unterwegs war und eigentlich<br />

eine Kriegserklärung nach Ensisheim<br />

überbringen sollte. Solche Überfälle<br />

waren bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts<br />

ein gängiges Mittel politischer Rache:<br />

ein Überfall französischer Truppen<br />

auf zwei eidgenössische Boten im Jahr<br />

1511 löste etwa den sogenannten Kaltwinterfeldzug<br />

aus.<br />

Wie ihre Kollegen gerieten auch die <strong>Bern</strong>er<br />

Ratsboten gelegentlich zwischen die<br />

politischen Fronten. Während des Alten<br />

Zürichkrieges wurde 1444 der geschwo-


ene Läufer Wernlin Furer in Zürich gefangen<br />

genommen. Der <strong>Bern</strong>er Rat reagierte<br />

umgehend auf die Inhaftierung, wie<br />

eine Ausgabe in den <strong>Bern</strong>er Stadtrechnungen<br />

belegt: Denne Furer, als der ze Zurich<br />

gevangen lag, hiessen ime min herren ze<br />

stur geben IIII lb. Ob es sich dabei um<br />

Geld für einen Loskauf handelte, ist unsicher.<br />

Auch während der Kriege in Norditalien<br />

zwischen 1490 und 1525 scheinen<br />

die <strong>Bern</strong>er Läufer gelegentlich am Ausführen<br />

ihrer Aufträge gehindert worden<br />

zu sein. So erfuhr <strong>Bern</strong> die Nachricht von<br />

der Eroberung Pavias am 15. Juni 1512 erst<br />

mit Verspätung, da der Bote, welchen der<br />

<strong>Bern</strong>er Hauptmann vom Kriegsschauplatz<br />

ausgesandt hatte, abgefangen wurde. Auch<br />

dem Läufer Rudolf Siber, der 1516 nach<br />

Norditalien unterwegs war, wurde auf der<br />

Südseite des Gotthards von französischen<br />

Truppen aufgehalten und musste unverrichteter<br />

Dinge nach <strong>Bern</strong> zurückkehren.<br />

Immer wieder Raubüberfälle<br />

Immer wieder wurden auch einfache<br />

Raubüberfälle auf Boten verübt. Dies geschah<br />

vor allem deshalb, weil Läufer nicht<br />

selten auch Geld transportierten und nur<br />

leicht bewaffnet waren. Neben dem Geld<br />

wurde ihnen meistens auch die silberne<br />

Botenbüchse abgenommen. So wurden<br />

1469 ein <strong>Bern</strong>er und ein Solothurner Bote<br />

von der Stadt Basel entschädigt, denen auf<br />

Basler Gebiet beides – Geld und Büchsen<br />

– geraubt worden war. Weniger glimpflich<br />

verlief der Raubüberfall auf einen Colmarer<br />

Stadtläufer, dessen Überreste 1556 in<br />

einem Wald bei <strong>Bern</strong> gefunden wurden.<br />

Die <strong>Bern</strong>er Obrigkeit hat sie samt der silbernen<br />

leuffers buchsen und eyn lederner<br />

sack darinnen vielerley brieff und zedell<br />

zusammen mit einem schryb täffely und<br />

dem Botenspiess des Getöteten nach Colmar<br />

zurückgeschickt.<br />

Doch auch seitens der Läufer scheint es gelegentlich<br />

zu Nachlässigkeiten und Gaunereien<br />

gekommen zu sein: So wurde<br />

1484 in Strassburg eine neue Botenordnung<br />

verfasst, weil angeblich viele leichtfertige<br />

Knechte zugelaufen sind, um der<br />

Stadt Büchse zu tragen (Abb. 4). Auch<br />

der Basler Bürgermeister und Rat liess<br />

zur besseren Kontrolle im Jahr 1475 die<br />

Berichte zweier Ratsboten über die Ablieferung<br />

von Briefen beurkunden. Aus ähnlichen<br />

Gründen muss auch der <strong>Bern</strong>er Rat<br />

im Eid der Boten und Zuboten 1481 folgende<br />

Klausel eingeführt haben: falls die<br />

Amtleute auf ihren Wegen einem ihnen<br />

unbekannten Boten begegnen sollten, der<br />

silbrin oder annder büchsen miner herren<br />

unerlaubt tragen würde, müssten sie das<br />

unverzüglich min hern oder einen stattschriber<br />

melden. Demnach war es auch<br />

in <strong>Bern</strong> bereits zu Zwischenfällen gekommen.<br />

Menschliche Unzulänglichkeiten anderer<br />

Art belegt der Fall eines Solothurner<br />

Boten, der im Jahre 1509 «aus dem<br />

Löwen herausgefallen ist», was entweder<br />

auf Trunkenheit oder einen Raufhandel im<br />

Wirtshaus hindeutet.<br />

Trotz solcher Zwischenfälle war die Nachrichtenübermittlung<br />

über Boten im Spätmittelalter<br />

sehr zuverlässig, wovon in<br />

<strong>Bern</strong> allein die 8500 Botengänge zeugen,<br />

die der Seckelmeister in den zwischen<br />

1375 und 1527 erhaltenen Stadtrechnungen<br />

verzeichnet hat. Im Schnitt wurden<br />

dabei rund 400 Botengänge pro Jahr ausgeführt.<br />

Diese Effizienz ist wahrscheinlich<br />

nicht zuletzt der flexiblen Organisa-<br />

tionform zu verdanken. Die Wertschätzung<br />

für diese Art der Nachrichtenübermittlung<br />

blieb auch mit der Einführung<br />

fester Post- und Botenkurse im Verlauf<br />

des 16. Jahrhunderts bestehen.<br />

Lic. phil. Klara Hübner<br />

Historisches Institut<br />

Abteilung Mittelalter<br />

Literatur:<br />

• Hans-Dieter Heimann: Zur Visualisierung städ-<br />

tischer Dienstleistungskultur: Das Beispiel der<br />

kommunalen Briefboten, in: Anzeiger des Ger-<br />

manischen Nationalmuseums 1993, S. 22–35.<br />

• Klara Hübner: <strong>Bern</strong>s Louffende Botten von den<br />

Anfängen bis zur Reformation. Entstehung, Orga-<br />

nisation und Funktionsweise des <strong>Bern</strong>er Botenwe-<br />

sens zwischen Tradition und Innovation, Lizentiat<br />

<strong>Bern</strong> 2000.<br />

• Otto Lauffer: Der laufende Bote im Nachrichten-<br />

wesen der früheren Jahrhunderte. Sein Amt, seine<br />

Ausstattung und seine Dienstleistungen, in: Bei-<br />

träge zur deutschen Volks- und Altertumskunde 1<br />

(1954), S. 19–60.<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

25


Wahrnehmungsprobleme zur Zeit der Kreuzzüge<br />

Haben Andersgläubige<br />

keine Geschichte?<br />

Viele grössere und kleinere Kreuzzüge haben christliche<br />

Heere zwischen 1095 und 1291 unternommen, um<br />

das Heilige Land oder spanischen Boden den «Ungläubigen»<br />

zu entreissen. Vielfach wurden die historischen Taten<br />

der Kreuzfahrer beschrieben, die der Gegner aber nicht.<br />

Obwohl sie eine hohe Kultur besassen, gibt es aus jener Zeit<br />

keine christlichen Darstellungen der Geschichte der Muslime.<br />

Mit zwei Ausnahmen: Erzbischof Wilhelm von Tyrus<br />

(ca. 1130–1186) verfasste eine «Geschichte der orientalischen<br />

Fürsten», und Rodrigo Ximénez de Rada, Erzbischof von<br />

Toledo (1170–1247), schrieb eine «Geschichte der Araber».<br />

Die christliche Geschichtsschreibung liess<br />

Andersgläubigen keinen eigenen Platz. Sich<br />

mit der Geschichte von Heiden oder Juden<br />

auseinanderzusetzen, galt als unnütz und<br />

nahezu wertlos, war eine res negligenda,<br />

eine zu vernachlässigende Angelegenheit,<br />

so meinten die Chronisten und Kronzeugen<br />

Adam von Bremen († um 1081) und<br />

Otto von Freising († 1158). In deren Geschichtsphilosophie<br />

konzentrierte sich in<br />

Anlehnung an die Lehren des Kirchenvaters<br />

Augustinus alles von Bedeutung und<br />

Wert, Heil, Herrschaft und fortschreitendes<br />

Wissen in einem, dem christlichen und<br />

westlichen Teil der Welt, in der alleinherrschenden<br />

civitas Christi, die sich als römische<br />

Papstkirche in Europa verstand, während<br />

dem anderen und östlichen Teil der<br />

Welt als der civitas perfida der Juden und<br />

Heiden nichts blieb und, zum Untergang<br />

bestimmt, nichts bleiben sollte. Ein solches<br />

Geschichtsbild hinderte zwar nicht<br />

daran, Wissen über Andere anzuhäufen;<br />

doch fehlte die historische Verarbeitung<br />

des vielfach Erfahrenen, die Wahrnehmung<br />

des Anderen durch das Medium der<br />

Geschichtsschreibung.<br />

Bis heute sind in Europa nur zwei christliche<br />

Ausnahmen bekannt geworden, die<br />

jede auf ihre Weise das verordnete Desinteresse,<br />

eine förmliche «Ideologie des<br />

Schweigens» durchbrachen. Es handelt<br />

sich in beiden Fällen um historische Darstellungen<br />

der Muslime seit den Tagen Mohammeds,<br />

zum einen um die «Geschichte<br />

26 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

der orientalischen Fürsten» (Gesta orientalium<br />

principum) des Erzbischofs Wilhelm<br />

von Tyrus, zugleich Kanzler des<br />

Kreuzfahrerkönigreichs Jerusalem, zum<br />

anderen um die «Geschichte der Araber»<br />

(Historia Arabum) des Erzbischofs von<br />

Toledo und Primas von Spanien, Rodrigo<br />

Ximénez de Rada. Wilhelms von Tyrus<br />

«Geschichte der orientalischen Fürsten»,<br />

noch im 13. Jahrhundert im lateinischen<br />

Orient benutzt, ist indessen nach 1300 in<br />

Vergessenheit geraten und dann wohl verloren<br />

gegangen. Dass ihr im Gegensatz<br />

zu seiner lateinischen «Kreuzfahrerchronik»,<br />

die fortgesetzt und in andere Sprachen<br />

übersetzt, vielfach abgeschrieben<br />

und gelesen wurde, kein Erfolg beschieden<br />

war, zeigt nur allzu deutlich, wie stark<br />

die Vorbehalte im Westen gewesen sind,<br />

zumal am Ende der europäischen Präsenz<br />

im Orient: Crusades were interesting,<br />

but Muslims were not (R. H. C. Davis).<br />

So muss man ersatzweise Wilhelms<br />

«Kreuzfahrerchronik» studieren. Anders<br />

war die Ausgangslage im Reconquista-<br />

Spanien. Hier blieb trotz der Vertreibungen<br />

und des künftigen Missionsdrucks ein<br />

historisches Interesse am islamischen Spanien<br />

bestehen. Nicht nur Rodrigos Haupt-<br />

Abb. 1: Die Abqualifizierung der Anderen diente der Immunisierung der Eigenen. Muslime<br />

galten zumeist als Heiden, mithin Teufels- und Dämonenkinder, die mit Christen nur<br />

Böses im Sinn hatten: Ein «heidnischer Mohren-König» droht dem Christen, der sich weigert,<br />

das Götzenbildnis zu verehren, mit Enthauptung (13. Jh).<br />

(Terry Jones, Alan Ereira, Die Kreuzzüge, München 1995, S. 19)


Abb. 2: «Heiden» werden trotz gleicher ritterlich-kultureller Standards als dämonische Wesen durchschaut: Fiktiver Zweikampf zwischen<br />

dem Kreuzfahrer Richard Löwenherz, König von England, und dem Sultan Saladin von Ägypten. Der Sultan verliert seinen Helm<br />

und entpuppt sich unter der Maske des Ritterlichen als Heide mit dämonischen Zügen und drachenartigem Schuppenpanzer (14. Jh).<br />

werk, die «Geschichte Spaniens oder gotische<br />

Geschichte» (De rebus Hispaniae seu<br />

Historia Gothica), sondern auch seine Historia<br />

Arabum wurden noch in der Neuzeit<br />

in der spanischen Chronistik benutzt und<br />

frühzeitig gedruckt.<br />

Wilhelm von Tyrus und Rodrigo Ximénez,<br />

die als gelehrte Juristen und Theologen,<br />

als Kirchenfürsten, Hofmänner<br />

und Geschichtsschreiber viele Gemeinsamkeiten<br />

aufwiesen, lebten in kulturellen<br />

Grenzräumen des Nahen Ostens und<br />

Spaniens und hatten offenbar kaum Wahrnehmungsprobleme.<br />

Dies lässt sich an fünf<br />

Punkten überprüfen:<br />

1. Die Religion<br />

Die Tatsache, dass Muslime historiographisch<br />

zu Subjekten ihrer Geschichte gemacht<br />

wurden und man damit sowohl in<br />

Tyrus als auch in Toledo der angeblichen<br />

Bedeutungslosigkeit der Anderen widersprach,<br />

lässt schon eine andere Einstellung<br />

erwarten, als sie gemeinhin im europäischen<br />

Mittelalter den hostes crucis,<br />

den «Feinden des Kreuzes» entgegengebracht<br />

worden ist. Muslime wurden von<br />

beiden Gewährsmännern nicht als Heiden,<br />

sondern als Gottgläubige wahrgenommen,<br />

die den gemeinsamen Gott verehrten,<br />

wenn auch auf andere Weise als<br />

die Christen. Die Verehrung an sich erschien<br />

beiden Autoren ein durchaus positives<br />

Verhalten zu sein, das heisst, Wilhelm<br />

von Tyrus und Rodrigo Ximénez waren in<br />

der Lage, obwohl sie sich von der anderen<br />

Religion als einer doctrina pestilens<br />

schärfstens distanzierten, der Religiosität<br />

der Menschen dennoch Achtung entgegen<br />

zu bringen. Diese Form der inhaltlichen<br />

Wahrnehmung von Religion sei daher «der<br />

Vorrang der Religiosität» genannt. Beide<br />

anerkannten im Islam eine Lehre, die<br />

ebenfalls, wenn auch nur in dessen Denken<br />

und eigenen Traditionen und nicht auf<br />

der Stufe der christlicherseits beanspruchten<br />

Vollkommenheit, zu Gottesfurcht und<br />

Frömmigkeit und zu einem reinen, heiligmässigen<br />

Lebenswandel anleiten konnte.<br />

Mit solchen Auffassungen, die allesamt<br />

ein persönliches Moment im Umgang mit<br />

Religion betonten, stellten sich die beiden<br />

Autoren, obwohl Lateiner, in eine orientchristliche<br />

bzw. spanisch-mozarabische<br />

Tradition hinein, die nicht lange nach der<br />

Ausbreitung des Islam begann und erst einmal<br />

das Verbindende zwischen beiden Religionen<br />

suchte.<br />

2. Die Menschen<br />

Der Vorrang der Religiosität kündigt im<br />

Grunde bereits an, in welcher Weise Menschen,<br />

handelnde Völker, Gruppen und<br />

Personen durch die beiden Geschichtsschreiber<br />

betrachtet worden sind. Die<br />

Masse der Muslime oder einzelne Völker,<br />

die Araber, die Türken, die Berber, die<br />

Ägypter bleiben seltsam amorph und farblos.<br />

Ethnische Vorurteile, positive wie negative,<br />

finden sich nur selten. Ganz anders<br />

schrieben sie, wenn es um überschaubare<br />

Einheiten oder mehr noch um einzelne<br />

Personen ging, freilich um Standesgenossen,<br />

die die tragenden Rollen der Landesgeschichte<br />

spielten; dann wurden sie aus<br />

(Terry Jones, Alan Ereira, Die Kreuzzüge, München 1995, S. 188–89)<br />

der Masse herausgehoben, mit ihren Tugenden<br />

und Untugenden, Fähigkeiten und<br />

Leistungen, auch dann, wenn oder gar obwohl<br />

dieselben zum Schaden christlichen<br />

Landes verwendet wurden. Diese Form<br />

der Wahrnehmung von Anderen sei «der<br />

Vorrang des Individuellen» benannt. Wil-<br />

Abb. 3: Muslime haben als «Heiden» dunkelhäutige,<br />

grobe, «barbarische» Gesichtszüge,<br />

selbst als Fürsten: Verwandtschaft<br />

Sultan Saladins (um 1350).<br />

(Peter Milger, Die Kreuzzüge. Krieg im Namen Gottes, Mün-<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

chen 1988, S. 32)<br />

27


helm und Rodrigo beurteilten islamische<br />

Herrscher vornehmlich danach, wie sie die<br />

politischen Tugenden ausübten, zum Nutzen<br />

oder zum Schaden ihrer Reiche und<br />

Völker, ohne dabei Rücksicht auf christliche<br />

Belange zu nehmen.<br />

Eindrucksvoll gelang es beiden Autoren,<br />

Sympathien und Antipathien zu formulieren<br />

und Persönlichkeitsbilder zu zeichnen,<br />

in denen das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein<br />

von Eigenschaften wie<br />

milde, freigebig, gütig, gerecht, gottesfürchtig,<br />

religiös, umsichtig, menschlich,<br />

moderat, friedfertig, beständig, geduldig,<br />

würdig, glücklich und gesegnet, jedoch<br />

nicht die Tatsache der Andersgläubigkeit,<br />

eine grosse Rolle spielten. Herrscher<br />

mochten gut oder schlecht, stark oder<br />

schwach sein, sie waren vor allem für Rodrigo<br />

am schlimmsten, wenn sie sich als<br />

solche Leichtgewichte erwiesen, dass in<br />

ihrer Regierungszeit nichts passierte, was<br />

würdig gewesen wäre, überliefert zu werden:<br />

Welch ein Unterschied zu Adam von<br />

Bremen und Otto von Freising, die noch<br />

Abb. 5: Ein besonderer Kreuzfahrer und<br />

Verehrer des Heiligen Landes: Ritter Kuno<br />

von Buchsee als Stifter der Johanniterkomturei<br />

in Münchenbuchsee, Kt. <strong>Bern</strong>, Chorfenster<br />

in der Kirche von Münchenbuchsee<br />

(13. Jh).<br />

(Peter Meyer (Hg.), <strong>Bern</strong>er – deine Geschichte; 1981, S. 63)<br />

28 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

Abb. 4: Zahlreiche Kreuzfahrer-Darstellungen<br />

in den<br />

Chroniken dienen der Verherrlichung<br />

der «christlichen<br />

Helden» und ihrer Taten:<br />

Gottfried von Bouillon und<br />

der päpstliche Kreuzzugslegat,<br />

Bischof Adhémar von Le<br />

Puy, an der Spitze des siegreichen<br />

Heeres auf dem ersten<br />

Kreuzzug (13. Jh).<br />

(Silvia Rozenberg (Hg.), Knights of the<br />

Holy Land)<br />

Nutzen und Würde der Historiographie<br />

von ihrem christlichen Gehalt abhängig<br />

machten!<br />

3. Das Recht<br />

Die lateinischen Gesellschaften in Spanien<br />

und im Heiligen Land werden oft<br />

als Pionier- oder Frontgesellschaften beschrieben,<br />

wobei man bewusst oder unbewusst<br />

assoziiert, dass ununterbrochen<br />

Reconquista-Kriege, Heilige Kriege oder<br />

Kreuzkriege geführt worden seien. Insgesamt<br />

waren jedoch die Friedenszeiten<br />

viel häufiger und länger als die Kriegszeiten,<br />

und nicht selten waren jene auch<br />

vertraglich gesichert. Die Basis dazu war<br />

das Recht, worauf Wilhelm und Rodrigo,<br />

Abb. 6: Friedenszeiten waren<br />

viel länger als die Zeiten des<br />

Krieges und boten Chancen<br />

zur Verständigung: Muslim<br />

und Christ beim Schachspiel<br />

(11./12. Jh).<br />

(Terry Jones, Alan Ereira, Die Kreuzzüge,<br />

München 1995, S. 96)<br />

beide hochrangige politische Mitgestalter<br />

ihrer Reiche, wenigstens reflexiv in ihrer<br />

Historiographie Einfluss nehmen konnten.<br />

Im Gegensatz zu den herrschenden<br />

Vorstellungen der lateinischen Papstkirche,<br />

in denen Ungläubigen entweder gar<br />

keine oder nur mindere Rechte zugebilligt<br />

wurden, machten sie keinerlei Unterschiede.<br />

Daher sei diese Form inhalt-<br />

licher Wahrnehmung «der Vorrang gleichen<br />

Rechts» genannt. Für diesen Vorrang<br />

trat insbesondere Wilhelm von Tyrus<br />

ein. Er zögerte nicht, den feindlichen<br />

Nachbarn gerade auch dann das Recht auf<br />

Heimat, Freiheit, Eigentum und Familie<br />

zuzugestehen, wenn die territoriale oder<br />

städtische Hoheit des muslimischen Ge-


meinwesens durch ein christliches Heer<br />

bedrängt und verletzt wurde, ein Heer,<br />

das seinerseits mit dem Anspruch der<br />

Verteidigung des Erbes Christi im Heiligen<br />

Land operierte. Darüber hinaus besassen<br />

die Muslime in den Augen des Tyrers<br />

das Recht, sich nicht nur gegen christliches<br />

Unrecht (injuria) zur Wehr zu setzen, sondern<br />

auch selbst aktiv zur Rache für ein erlittenes<br />

Unrecht ein bellum justum, einen<br />

gerechten Krieg zu führen. Dieses Recht<br />

war absolut, d. h. es galt auch dann, wenn<br />

die christliche Seite ein gleiches geltend<br />

machte. Und folgerichtig fügte sich allem<br />

Recht der Muslime die lex pactorum,<br />

das Vertragsrecht als formelle Grundlage<br />

der rechtlichen Gleichstellung mit Christen<br />

hinzu. Wilhelm und Rodrigo Ximénez,<br />

beide Juristen, beide ausgebildet in den berühmten<br />

Rechtsschulen von Bologna, waren<br />

zutiefst überzeugt, selbstverständlich<br />

schon aus politischer Notwendigkeit, dass<br />

Verträge gehalten werden müssen, und<br />

zwar uneingeschränkt etiam infidelibus,<br />

auch den Ungläubigen.<br />

4. Wahrnehmung und Toleranz<br />

Die Aufwertung der Anderen durch Geschichtsschreibung<br />

und der darin betonte<br />

Vorrang der Religiosität, des Individuellen<br />

und des gleichartigen Rechts stiess in<br />

der Rezeption der Werke Wilhelms und<br />

Rodrigos bei Bearbeitern, Übersetzern<br />

und Fortsetzern auf Unverständnis und<br />

zum Teil harsche Kritik. Man deutete um,<br />

schwächte ab, verfälschte, unterschlug,<br />

missverstand und gebärdete sich als Glaubenskampfideologe,<br />

der gerade dort wieder<br />

auf Feindbilder setzte, wo die beiden<br />

Autoren Gemeinsamkeiten und individuell<br />

Lobenswertes hervorgehoben hatten. Die<br />

vielen, oft zurechtweisenden Korrekturen<br />

lassen freilich die nicht alltägliche Haltung<br />

der beiden Gewährsleute umso klarer<br />

hervortreten. Diese Haltung kann man<br />

als eine frühe Form von Toleranz verstehen<br />

oder genauer als eine mit inhaltlicher<br />

Intoleranz gepaarte informelle Toleranz.<br />

Selbstverständlich war diese Haltung auch<br />

eine politische und ganz und gar pragmatische,<br />

aber sie ging doch entschieden über<br />

die Notwendigkeiten der Tagespolitik hinaus.<br />

Im übrigen ist mittelalterliche Toleranz<br />

immer eine pragmatische Toleranz<br />

gewesen. Man ertrug mehr oder weniger<br />

gelassen, was man doch nicht oder im Augenblick<br />

nicht ändern konnte. Das Problem<br />

war nur, dass ein solches Ertragen,<br />

Abb. 7: Trotz grundsätzlicher religiöser Gegnerschaft gab es zahlreiche gemeinsame Interessen,<br />

Dienste an anderen Höfen oder gemeinsamer Kampf – sogar unter christlichen<br />

Feldzeichen – gegen gemeinsame Feinde: Szenen der Reconquista aus den Cantigas de<br />

Santa Maria König Alfons X., des Weisen, von Kastilien (13. Jh).<br />

erst recht ein im modernen Sinne bewusstes<br />

Geltenlassen von anderen Meinungen<br />

und Verhaltensweisen gar nicht begrifflich<br />

durch tolerantia oder tolerare wiedergegeben<br />

werden musste. Wilhelms und Rodrigos<br />

Toleranz war keine tolerantia; dieser<br />

Begriff stand bei ihnen nur für das Ertragen<br />

von Hunger, von Durst, von Unrecht,<br />

von Lasten aller Art, von Steuerlasten bis<br />

zu Gebetslasten. Ihre tolerante Wahrnehmung<br />

des Anderen drückte sich vielmehr<br />

in einer Reihe von Synonymen des klassischen<br />

Lateins aus: humanitas, mode-<br />

(Jonathan Riley-Smith (Hg.), The Oxford Illustrated History of the Crusades, Oxford 1995, S. 53)<br />

ramen, clementia, paciencia – Menschlichkeit,<br />

Mässigung, Milde, Geduld<br />

waren Begriffe, die allesamt im antiken<br />

und frühchristlichen Denken Toleranz<br />

meinten oder wenigstens teilweise abdeckten.<br />

5. Konditionen<br />

der Wahrnehmung<br />

Fünf Konditionen könnten zusammenwirkend<br />

die besondere und in ihrer Zeit herausragenden<br />

Haltungen Wilhelms und Rodrigos<br />

begründen:<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

29


1. Die Nähe zur islamischen Kultur. Wilhelm,<br />

in Jerusalem geboren, fühlte sich<br />

stolz als Orientlateiner. Rodrigo de Rada<br />

aus Navarra ging bereits früh nach Toledo<br />

an den Hof Kastiliens. Zwischen Jerusalem<br />

und Tyrus bzw. in Toledo kamen beide<br />

mit dem Islam in Berührung, sammelten<br />

Wissen, Erfahrungen, Begegnungen; beide<br />

kamen neben anderen Sprachen auch mit<br />

dem Arabischen zurecht und nutzten für<br />

ihre Werke arabisch geschriebene Quellen.<br />

Weder physische noch geistige Nähe waren<br />

jedoch allein ein Garant für Wahrnehmungsfähigkeit.<br />

2. Die Bildung. Wilhelm und Rodrigo hatten<br />

in Paris und Bologna Philosophie, Theologie<br />

und Recht studiert. Beide gehörten<br />

damit in den wachsenden Kreis der Intellektuellen,<br />

die auf geistige Arbeit, rationales<br />

Denken und die eigene Bildungsbiographie<br />

enorm stolz waren. In diesem Milieu<br />

war auch in der Theologie Vieles noch im<br />

Flusse und im besten Sinne «fragwürdig».<br />

Offen konnte man in den Pariser Schulen<br />

nach der Güte ausserchristlicher Ethik<br />

und ihrer Heilswirksamkeit fragen. Möglich<br />

ist, dass neben den Bologneser Rechtstudien<br />

hier ein Raum geöffnet wurde, den<br />

Wilhelm und Rodrigo später mit eigenen<br />

Erfahrungen der Nähe zum Islam füllen<br />

konnten.<br />

3. Karrieren. Beide Gewährsleute durchliefen<br />

herausragende politische und geistliche<br />

Karrieren und wurden Mitgestalter<br />

der Politik ihrer Länder zwischen Krieg<br />

und Frieden, Kreuzzügen und Allianzen.<br />

So lag der Zugang zur Welt der Anderen<br />

bereits auf einem hohen politischen Niveau.<br />

Politik machen und Krieg führen<br />

war das eine, unabhängig denken freilich<br />

das andere.<br />

4. Die Landesgeschichte. In Wilhelms<br />

und Rodrigos Werken ist die jeweilige<br />

Landesgeschichte der gemeinsame Nenner<br />

für christliche wie muslimische Geschichte.<br />

Zwar erhoben beide unbedingten<br />

Anspruch auf Reconquista, auf ein<br />

Wiederanknüpfen an die unterbrochene<br />

christliche Herrschaft, deswegen nannte<br />

Rodrigo seine Spaniengeschichte Historia<br />

Gothica und deswegen liess Wilhelm<br />

seine Kreuzfahrerchronik im 7. Jahrhundert,<br />

in den Tagen des oströmischen Kaisers<br />

Heraklius, beginnen. Und doch waren<br />

sich beide bewusst, dass die Muslime<br />

30 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

Abb. 8: Kreuzfahrerhelden<br />

sind wahre Ritter Christi, demütig<br />

und fromm, und als<br />

solche dem heidnischen<br />

Gegner haushoch überlegen:<br />

König Heinrich III.<br />

von England als Kreuzritter<br />

(um 1250).<br />

(Jonathan Riley-Smith (Hg.), Oxford<br />

1995, S. 51)<br />

selbständige und subjektiv bedeutende Anteile<br />

an der Geschichte des gemeinsamen<br />

Bodens hatten. Dieser Boden war auch patria,<br />

Vaterland der Anderen, der Orientales<br />

wie der Hispani Arabes, ausgestattet<br />

mit weit zurückreichenden historischen<br />

Rechten, die zu verteidigen auch niemand<br />

rechtlich bestritt. So schrieben sie nicht<br />

einfach ein Kapitel über die Anderen (wie<br />

in manchen späteren Weltchroniken), sondern<br />

eigenständige Historien mit überwiegend<br />

moderaten Interpretationen, um vielleicht<br />

den anderen Teil ihrer eigenen und<br />

eben nicht unwürdigen Geschichte nicht<br />

zu verdrängen.<br />

5. Die persönliche Entscheidung. Wilhelm<br />

und Rodrigo waren Hofhistoriographen,<br />

beide offiziell durch ihre Könige beauftragt,<br />

so dass man geneigt sein könnte,<br />

wenigstens von einem hofgesellschaftlichen<br />

Konsensus zu sprechen. Doch was<br />

diese beiden gelehrten Politiker von Anderen<br />

an Religiosität, Individualität und<br />

Rechtsgleichheit wahrnahmen und in einem<br />

inklusiven Geschichtsbild unterzubringen<br />

vermochten, stand so klar über<br />

der im Westen und gerade auch in Spanien<br />

weitverbreiteten Meinung, dass man<br />

letztlich der persönlichen und unabhängigen<br />

Entscheidung den wichtigsten Effekt<br />

unter den Konditionen der Wahrnehmung<br />

zubilligen muss.<br />

Prof. Dr. Rainer C. Schwinges<br />

Historisches Institut<br />

Abteilung für Mittelalterliche Geschichte<br />

Eine ausführliche Studie zu den angesprochenen<br />

Problemen findet sich in Rainer C. Schwinges: Die<br />

Wahrnehmung des Anderen durch Geschichtsschrei-<br />

bung. Muslime und Christen im Spiegel der Werke<br />

Wilhelms von Tyrus († 1186) und Rodrigo Ximénez'<br />

de Rada (†1247), in: Toleranz im Mittelalter, hg.<br />

von Alexander Patschovsky und Harald Zimmer-<br />

mann (Vorträge und Forschungen 45), Sigmarin-<br />

gen 1998, S. 101–127.


Das Riesenreich im Osten<br />

Pax Mongolica<br />

Das mongolische Weltreich verband im 13. und<br />

14. Jahrhundert Europa und Asien miteinander. Politische<br />

Stabilität, ein funktionierendes Post- und Kurierwesen,<br />

offene Handelswege sowie die religiöse Toleranz<br />

der mongolischen Herrscher ermöglichten kulturellen<br />

Austausch und Handelsbeziehungen.<br />

Es mag zunächst erstaunen, in einem dem<br />

europäischem Mittelalter gewidmeten<br />

Themenheft einen Beitrag zu den Mongolen,<br />

einem zentralasiatischen Nomadenvolk,<br />

zu finden. Was haben die Mongolen<br />

mit unserem Mittelalter zu tun? Die<br />

Antwort ist einfach: die Mongolen gestalteten<br />

im 13./14. Jahrhundert die politischen,<br />

ökonomischen und auch kulturgeschichtlichen<br />

Gegebenheiten Europas mit.<br />

So wie in der Neuzeit Asien und Europa<br />

keineswegs zwei in sich geschlossene Kulturräume<br />

darstellen, so bildete im europäischen<br />

Mittelalter das mongolische<br />

Weltreich mit Europa einen gemeinsamen<br />

Kulturraum. Eine Geschichte Europas im<br />

13./14. Jahrhundert, die ohne die Einbeziehung<br />

der Geschichte des mongolischen<br />

Weltreichs und seiner in der Folgezeit entstandenen<br />

Teilreiche geschrieben wird,<br />

bleibt ein Torso und in zahlreichen kulturellen,<br />

religiösen und wirtschaftlichen Aspekten<br />

unverständlich.<br />

Pax Mongolica – der Titel weckt Assoziationen<br />

zur Pax Romana. Und in der Tat<br />

stellte auch das mongolische Weltreich<br />

ein übernationales Imperium dar, das in<br />

Abb. 1: Chinggis Khan. (Mongolia. The Legacy of Chinggis Khan, S. 26)<br />

wesentlichen Aspekten von einheitlichen<br />

Grundsätzen getragen wurde. Im Folgenden<br />

sollen die Entstehung dieses riesigen<br />

Reichs sowie seine kulturgeschichtliche<br />

Bedeutung für das mittelalterliche Europa<br />

im 13. und 14. Jahrhundert geschildert<br />

werden.<br />

Die Entstehung des<br />

mongolischen Weltreichs<br />

Die Geschichte der Mongolen als Volk ist<br />

mit dem Namen Chinggis Khans verbunden,<br />

der nicht nur die einzelnen Klans der<br />

«Monggol» zu einer Föderation zusammenschloss,<br />

sondern auch eine Reihe anderer<br />

mongolischer und türkischer Stammesgruppen<br />

durch sein Charisma an sich<br />

zu binden verstand. Temüdschin, der spätere<br />

Chinggis Khan, wurde in den sechziger<br />

Jahren des 12. Jahrhunderts im Klan<br />

der Bordschigid geboren. Nach einer entbehrungsreichen<br />

Kindheit und Jugend gelang<br />

es ihm, sich die benachbarten turkmongolischen<br />

Stämme zu unterwerfen.<br />

Auf einem Quriltai, einer Versammlung<br />

der Stammesfürsten der verschiedenen<br />

Steppenstämme, im Jahre 1206 wurde<br />

er zu ihrem Herrscher erhoben, die neunschwänzige<br />

Standarte als sichtbares Symbol<br />

seiner Herrschermacht wurde aufgepflanzt<br />

und der Titel Chinggis Khan<br />

wurde ihm verliehen. In den folgenden drei<br />

Jahren reorganisierte er die soziale Ordnung<br />

der nun «Monggol» genannten Stammesverbände,<br />

indem er die bisherige, an<br />

Deszendenzlinien orientierte Sozialstruktur<br />

zugunsten einer politisch-militärischen<br />

Ordnung ersetzte, die in Zehntausendschaften<br />

untergliedert war. Führungspositionen<br />

wurden allein nach Verdienst und<br />

Leistung vergeben. Die neue Sozialstruktur<br />

erwies sich als ausserordentlich flexibel<br />

und ermöglichte es, immer neue Völker<br />

dem mongolischen Reich einzugliedern.<br />

Nach Feldzügen gegen die Tanguten und<br />

das chinesische Chin-Reich wandte sich<br />

Chinggis Khan 1218 nach Westen und<br />

eroberte das Reich der Kara-Kitai, dann<br />

Buchara und Samarkand, Balch und Chorasan.<br />

1223 schlugen die mongolischen<br />

Truppen ein vereinigtes Heer von Kumanen<br />

und Russen an der Kalka und stiessen<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

31


Abb. 2: Feldzüge des Chinggis Khan und seiner Nachfolger. (Die Mongolen und ihr Weltreich, S. 46–47)<br />

bis zum Dnjepr vor. 1227, im Todesjahr<br />

Chinggis Khans, war aus dem mongolischen<br />

Steppenimperium ein Weltreich bisher<br />

nicht bekannten Aussmasses geworden,<br />

das unter Chinggis Khans Sohn und Nachfolger<br />

Ögedei stabilisiert und noch weiter<br />

ausgedehnt wurde.<br />

Die Herrschaft<br />

Ögedei Khagans<br />

Ögedei Khagan setzte die Eroberungspolitik<br />

seines Vaters mit einem Feldzug gegen<br />

das Chin-Reich fort, das 1234 endgültig besiegt<br />

wurde. 1237 fielen die mongolischen<br />

Heere in Osteuropa ein und eroberten Rjazan,<br />

Kolomna und Moskau. 1238 fielen die<br />

Städte Wladimir, Twer und Rostow, 1240<br />

wurde die «Mutter der russischen Städte»,<br />

Kiew, eingenommen. Die Mongolen waren<br />

nun zu einer akuten Bedrohung Europas<br />

geworden. Nach dem Sieg über ein polnisches<br />

Heer bei Krakau drangen die Mongolen<br />

ins Odertal vor, zerstörten Breslau<br />

und brachten schliesslich am 9. April 1241<br />

dem deutschen Ritterheer bei Liegnitz eine<br />

vernichtende Niederlage bei. Zur gleichen<br />

Zeit rückten mongolische Truppen gegen<br />

Buda, die ungarische Hauptstadt, vor und<br />

schlugen am 11. April 1241 das ungarische<br />

Heer. Aber plötzlich zogen die mongolischen<br />

Truppen ab: Ögedei Khagan war in<br />

der Mongolei gestorben, und die mongolischen<br />

Fürsten und Befehlshaber wurden<br />

unverzüglich nach Karakorum zu einem<br />

32 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

Quriltai einberufen, um die Nachfolge zu<br />

regeln. Europa verdankte seine Rettung<br />

vor den Mongolen einem Zufall.<br />

Grundlagen<br />

der Pax Mongolica<br />

Ögedei Khagan zeichnete sich nicht nur<br />

als Feldherr aus, sondern er legte auch<br />

den Grundstein für die «Pax Mongolica».<br />

Nach der Geheimen Geschichte der Mongolen<br />

aus dem Jahre 1241 schreibt sich<br />

Ögedei selbst vier Leistungen zu, von denen<br />

die zweite von besonderer Bedeutung<br />

ist: «Meine zweite Leistung ist, dass ich<br />

Poststellen errichtet habe für den dazwischen<br />

laufenden Eilverkehr unserer Kuriere<br />

und für die Beförderung meiner<br />

wichtigen Amtssachen.»<br />

Das von ihm eingerichtete Postwesen<br />

Abb. 3: Paiza in Phags-pa-<br />

Schrift, spätes 13. Jh.<br />

(Mongolia. The Legacy of Chinggis Khan,<br />

S. 32, Abb. 5)<br />

und der Kurierverkehr führten dazu, dass<br />

das Mongolenimperium über Nachrichten-<br />

und Reiseverbindungen verfügte, wie<br />

sie bis dahin noch nicht existiert hatten.<br />

Durch das dichte Netz von Pferdewechselstationen<br />

konnten Reisende pro Tag<br />

100 Meilen zurücklegen. Spezialkuriere<br />

des Khans brachten es durch siebenfachen<br />

Pferdewechsel sogar auf 200 Meilen<br />

pro Tag. Als «Passierschein» im gesamten<br />

mongolischen Herrschaftsbereich<br />

diente den Reisenden der paiza, eine vom<br />

Khan legitimierte Erkennungsmarke.<br />

Unter Ögedei Khagan wurde schon 1229/<br />

1230 ein einheitliches Steuerwesen im<br />

mongolischen Reich etabliert. Zwecks<br />

Festlegung der Steuerabgaben liess er<br />

1235 den ersten Zensus in den mongo-


lischen Gebieten Nordchinas durchführen.<br />

Für die Einrichtung der ersten Staatskanzlei<br />

im Herbst 1231 nutzte Ögedei<br />

geschickt die administrativen Kenntnisse<br />

der ihm unterworfenen Völker. Das Kanzleiwesen<br />

wies im ganzen Reich ein hohes<br />

Mass an Verbindlichkeit auf, wie vielfach<br />

belegt ist durch die in chinesischer, türkischer,<br />

persischer, tibetischer und altrussischer<br />

Sprache überlieferten mongolischen<br />

Herrscherurkunden. 1234 erliess Ögedei<br />

eine Reihe von Zivil- und Militärgesetzen,<br />

die im ganzen Reich Gültigkeit hatten, und<br />

1236 befahl er den Druck von Papiergeld<br />

und dessen Umlauf. Mit diesen Massnahmen<br />

schuf er die Basis für die politische<br />

Stabilität des mongolischen Imperiums<br />

und ebnete den Weg für die transkon-<br />

tinentalen Kultur- und Handelsbeziehungen.<br />

So wurde es möglich, dass asiatische Gewürze<br />

und Seidenstoffe nach Venedig<br />

und Genua, Murano-Glas und mechanische<br />

Uhren nach China gelangten. Über<br />

die politischen und administrativen Gegebenheiten<br />

hinaus, spielte die bemerkenswerte<br />

religiöse Toleranz der Mongolen<br />

eine wichtige Rolle für den kulturellen<br />

Austausch. Sie war allerdings an die Bedingung<br />

geknüpft, dass der Klerus der verschiedenen<br />

Religionen seine Dienste stets<br />

dem Herrscherhaus zur Verfügung stellte,<br />

wie aus vielen der Steuerbefreiungserlasse<br />

hervorgeht, die den Vertretern der einzelnen<br />

Religionen gewährt wurden.<br />

Eine gemeinsame<br />

mittelalterliche Welt:<br />

Europa und Asien<br />

1245 schickte Papst Innozenz IV. eine Gesandtschaft<br />

zu den Mongolen. Ihm ging es<br />

vor allem darum, die Mongolen als Verbündete<br />

gegen die Muslime zu gewinnen<br />

und mit ihrer Hilfe die heiligen Stätten<br />

in Jerusalem zu befreien. Der Franziskaner<br />

Plano Carpini überbrachte ein entsprechendes<br />

Schreiben dem neu gewählten<br />

Güyük Khagan in Karakorum. Das<br />

Antwortschreiben, in einer in arabischer<br />

Schrift geschriebenen persischen Fassung<br />

überliefert und mit dem Siegel des Güyük<br />

Khagan versehen, etablierte den mongolischen<br />

Anspruch auf Weltherrschaft. Erst<br />

jetzt ahnten die Westeuropäer die politische<br />

Bedeutung des neu entstandenen<br />

Mongolenreiches.<br />

Nach dieser ersten offiziellen Gesandt-<br />

schaft wurden die diplomatischen Kontakte<br />

und die Handelsbeziehungen zwischen<br />

Europäern und Mongolen ausgebaut.<br />

Die in den unbekannten Weiten Asiens liegende<br />

Mongolei, die zuerst nur Stoff für<br />

Mythen hergab, wandelte sich schnell zu<br />

einem Reich, das in vielem den europäischen<br />

Christen vertraut war. Durch die<br />

Missionare und Kaufleute, die in dem<br />

riesigen mongolischen Reich unterwegs<br />

waren, kam es zu einem vorher nie dagewesenen<br />

Informationsfluss über bisher<br />

unbekannte Gebiete und Völker. In den<br />

mittelalterlichen Berichten können wir das<br />

Erstaunen über fremde Bräuche und religiöse<br />

Traditionen, die immer an den eigenen<br />

christlichen Paradigmen gemessen<br />

werden, und über die Prunkentfaltung<br />

am Hof der mongolischen Herrscher herauslesen.<br />

Trotz der Betonung der kulturellen<br />

Differenzen wird vor allem in dem<br />

Bericht des Guilelmus de Rubruc deutlich,<br />

dass über einen gemeinsamen kulturellen<br />

Raum gesprochen wird, der über<br />

die Konstante der Sesshaftigkeit definiert<br />

wird. Die Mongolen galten so lange als die<br />

vollkommen Fremden, wie sie als nomadische<br />

Reiterkrieger erlebt wurden, in Rubrucs<br />

Worten: «Nirgends haben sie eine<br />

feste Niederlassung, keine bleibende Stadt,<br />

noch wissen sie vorher ihren nächsten Aufenthaltsort.»<br />

In dem Augenblick jedoch, in<br />

dem die Reisenden in der Hauptstadt Karakorum<br />

eintrafen, begegneten sie inmitten<br />

einer für sie unberechenbaren, nicht lokalisierbaren<br />

Welt einem festen Ort. Die<br />

Erfahrung von Karakorum als städtischer<br />

Mittelpunkt des mongolischen Weltreichs<br />

veränderte die europäische Wahrnehmung<br />

der Mongolen und transformierte sie zu<br />

einem Volk, dem ebenfalls Kultur, wenn<br />

auch eine fremde und andere, eignete.<br />

Karakorum, eine<br />

mittelalterliche Metropole<br />

Karakorum, die 1220 gegründete Hauptstadt<br />

des mongolischen Weltreichs – rund<br />

370 km südwestlich des heutigen Ulaanbaatar<br />

gelegen –, stellte im 13. Jahrhundert<br />

eines der wichtigsten Machtzentren<br />

der mittelalterlichen Welt dar. Hier traf<br />

man auf russische Goldschmiede, deutsche<br />

Bergleute, uigurische Kanzleibeamte<br />

und armenische Händler. Der französische<br />

Bildhauer und Architekt Guillaume Boucher<br />

konstruierte für Möngke Khagan einen<br />

goldenen Baum, der schlangenartige<br />

Äste besass, welche unter Musikbeglei-<br />

Abb. 4: Ausschnitt des Schreibens Güyük<br />

Khagan an Papst Innozenz IV.<br />

(Plano Carpini, Kunde von den Mongolen, Farbtafel 22)<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

33


tung die vom Khagan gewünschten Getränke<br />

spendeten. Dieses Wunderwerk<br />

versetzte noch den venezianischen Kaufmann<br />

Marco Polo in Erstaunen. Karakorum<br />

war eine multinationale und multireligiöse<br />

Stadt, sie besass ein muslimisches<br />

Viertel mit zwei Moscheen, eine nestorianische<br />

Kirche, deren Innenausstattung<br />

ebenfalls von Boucher gestaltet worden<br />

war, und eine Reihe tibetisch-buddhistischer<br />

Tempel, in Rubrucs Worten «Götzentempel».<br />

Die Stadt wurde um 1235 ausgebaut,<br />

mit einem Wall umgeben, und ein<br />

Palast, dessen Dach mit Löwendrachen<br />

als Verzierung gekrönt war, wurde nach<br />

den Plänen eines chinesischen Baumeisters<br />

errichtet. Der Palast wird seit kurzem<br />

in einem gemeinsamen Projekt der mongolischen<br />

Akademie der Wissenschaften<br />

und des Deutschen Archäologischen Instituts<br />

sowie des Instituts für Vor- und Frühgeschichte<br />

der <strong>Universität</strong> Bonn (D) ausgegraben<br />

und rekonstruiert.<br />

Karakorum, während der Yuan-Dynastie<br />

zugunsten von Dayidu, dem heutigen Beijing,<br />

von den mongolischen Herrschern<br />

aufgegeben, wurde nach 1368 wieder zur<br />

mongolischen Hauptstadt. Kurze Zeit später,<br />

1380, zerstörten chinesische Truppen<br />

in einer Strafexpedition die Stadt.<br />

Nach dem Zusammenbruch der mongolischen<br />

Yuan-Dynastie fielen die durch die<br />

Mongolen etablierten transkontinentalen<br />

Kultur- und Handelsbeziehungen bald<br />

der Vergessenheit anheim. Die Verbindungen<br />

zwischen Asien und Europa brachen<br />

ab, Innerasien wurde zu einem unbekannten,<br />

öden Raum, die Mongolen zu<br />

einem geschichtslosen, wilden Volk, zum<br />

Inbegriff des «Barbaren». Auch heute wird<br />

das Bild der Mongolen als eines in einem<br />

Urzustand elementarer Wildheit verharrenden<br />

Volkes fortgeschrieben, während<br />

die kulturelle Bedeutung der Mongolen<br />

und ihres Weltreiches für das europäische<br />

Abendland fast unbekannt ist. Vielleicht<br />

vermag die Wiederentdeckung von<br />

Karakorum, einer der bedeutendsten Metropolen<br />

der mittelalterlichen Welt, den<br />

Europäern einen vergessenen Teil ihrer<br />

eigenen Vergangenheit wieder in Erinnerung<br />

zu rufen.<br />

Prof. Dr. Karénina Kollmar-Paulenz<br />

Institut für Religionswissenschaft<br />

34 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

Abb. 5: Antonio Pisanello (etwa 1395–1450/55): Tatarischer Krieger. Ausschnitt aus dem<br />

Fresko San Giorgio e la Principessa (Chiesa di Sant`Anastasia, Verona).<br />

(Heisig, Müller (Hrsg.), Die Mongolen, Bd. 2, S. 62)<br />

Abb. 6: Steinerne Schildkröte, zur einstigen Palastanlage von Karakorum gehörend.<br />

(Die Mongolen und ihr Weltreich, S. 184)


Mittelalterliche englische Reiseberichte im kolonialistischen Werk Richard Hakluyts<br />

The principall navigations …<br />

Unter der Herrschaft von Königin Elisabeth I. erlebte<br />

England seinen Aufstieg zur grössten Seemacht der damaligen<br />

Zeit und den Beginn seiner erfolgreichen Kolonialpolitik.<br />

Das wachsende nationale Selbstbewusstein<br />

äusserte sich unter anderem in Schriften, in denen nicht<br />

nur zeitgenössische Schilderungen fremder Gegenden<br />

sondern auch Berichte über mittelalterliche Reisende der<br />

Überlegenheit britischen Denkens und Handelns Ausdruck<br />

gaben.<br />

Unter den Tudorkönigen und besonders<br />

unter Königin Elisabeth I. (1533–1603) begannen<br />

sich englische Gelehrte erstmals<br />

für Texte und Artefakte zu interessieren,<br />

welche aus der ihnen nicht mehr unmittelbar<br />

zugänglichen Vergangenheit stammten.<br />

So entstanden im 16. Jahrhundert einerseits<br />

die ersten grossen Manuskriptsammlungen,<br />

Literaturgeschichten und Kuriositätenkabinette,<br />

andererseits zugleich die<br />

Wissenschaftsbereiche des Antiquars und<br />

des Ethnographen. Eine neue Form von<br />

ethnographischen Schriften entwickelte<br />

sich im Zusammenhang mit den kolonia-<br />

listischen Ambitionen der Elisabethaner.<br />

Es ging in diesen Schriften entweder darum,<br />

die fremden Gegenden als potentiellen<br />

Markt für englische Produkte (vor<br />

allem Wolle) zu fördern oder darum, sie<br />

als Gelegenheit darzustellen, die königlichen<br />

Herrschaftsgebiete zu vermehren und<br />

die Geldtruhen zu füllen. Als Gegenleistung<br />

erhielten die einheimischen Heiden<br />

das unüberbietbare Geschenk des christlichen<br />

Heilsversprechens. Dieses Gedankengut<br />

kommt im Werk jenes elisabethanischen<br />

Gelehrten zu Ausdruck, der 1582<br />

(in seinem Werk «Divers Voyages Concer-<br />

Abb. 1: Titelblatt der Erstausgabe<br />

von The Principall Navigations,<br />

Voiages, and Discoveries<br />

of the English Nation […]. (London:<br />

George Bishop and Ralph Newberie, 1589)<br />

ning the Discovery of America») das gesamte<br />

vorhandene Wissen über das östliche<br />

Nordamerika vereinigte und es dem<br />

unmittelbar propagandistischen Ziel unterwarf,<br />

Sir Philip Sydneys Unterstützung<br />

für amerikanische Kolonialunternehmungen<br />

zu gewinnen.<br />

Hakluyt und sein Werk<br />

Es handelt sich bei diesem Gelehrten um<br />

Richard Hakluyt, der während der letzten<br />

Herrschaftsjahre des früh verstorbenen<br />

Edward VI. (1553) zur Welt kam – zu einer<br />

Zeit also, in welcher die ersten Engländer<br />

Reisen nach dem afrikanischen Guinea<br />

unternahmen. Hakluyt starb 1616, d. h.<br />

im selben Jahr wie ein gewisser William<br />

Shakespeare, welcher seine vielfach als<br />

kolonialistisch aufgefasste Vorstellung einer<br />

Brave New World in seinem zauberhaften<br />

Spätwerk «The Tempest» reflektierte.<br />

Der zum Kleriker ausgebildete, jedoch öfter<br />

als Spion in her majesty’s service tätige<br />

Richard Hakluyt war ein Aktionär der<br />

Virginia Company. Dieser persönliche Anteil<br />

an den Kolonialisierungsbestrebungen<br />

führte direkt zu seinem umfangreichen<br />

Hauptwerk «The Prinicipall Navigations,<br />

Voiages and Discoveries of the English Nation...,»<br />

1 dem Sammelband, der sich heute<br />

noch häufig in gekürzter und popularisierter<br />

Form in jeder englischen Hausbibliothek<br />

findet (vgl. dazu die Titelseite einer<br />

Populärausgabe von 1928 (Abb. 2) mit<br />

dem geradezu geschwätzigen Titelblatt der<br />

Erstausgabe von 1589 (Abb. 1). Elf Jahre<br />

später folgte eine zweite, erweiterte Ausgabe,<br />

zu deren Titel das Wort «Traffiques»<br />

hinzugefügt worden war, um auf die Handelsinteressen<br />

der elisabethanischen Seefahrt<br />

hinzuweisen. (Dazu konnte man sich<br />

damals noch ohne Scham bekennen.)<br />

Neunzig Prozent der in der ersten Ausgabe<br />

zusammengefassten Dokumente, welche<br />

England als Nation des Welthandels darstellen<br />

sollten, bestehen aus meist zeitge-<br />

1 Auf Deutsch würde der Titel etwa so lauten: «Die<br />

wichtigsten Seefahrten, Reisen und Entdeckungen<br />

der englischen Nation, auf dem See- oder Landweg,<br />

in die entlegensten und weitest entfernten Teile der<br />

Erde, im Zeitraum dieser 1500 Jahre: Aufgeteilt in<br />

drei Teile gemäss Richtungen, die die Reisende eingeschlagen<br />

hatten ... verfasst von Richard Hakluyt,<br />

Magister Artes und ehemaliger Student von Christchurch<br />

in Oxford.»<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

35


nössischen Schriften verschiedensten Charakters.<br />

Neben eigentlichen Reiseberichten<br />

stehen hier Inventare, Bordbücher, königliche<br />

Botschaften, Privilegien, usw. Die<br />

übrigen zehn Prozent des zusammengefügten<br />

Materials beziehen sich auf das englische<br />

Mittelalter. Die Fragen, die sich nun<br />

der Mediävistin stellen, sind: Erstens, zu<br />

welchem Zweck wurden diese (durch die<br />

Überlieferung oftmals stark verfälschten)<br />

mittelalterlichen Texte angeführt? Und<br />

zweitens, was passiert mit einem mittelalterlichen<br />

Reisebericht, wenn die englische<br />

Renaissance ihn sich angeeignet hat?<br />

Kolonialisierung<br />

der Vergangenheit<br />

In seinen einleitenden Worten stellt Hakluyt<br />

sich selbst als einen Kulturhistoriker<br />

dar, der das Verborgene ans Licht bringt<br />

und eine nahezu verlorene Vergangenheit<br />

zum Leben erweckt, indem er ihre Fragmente<br />

in mühsamer Arbeit wieder zusammenfügt.<br />

Dabei bedient sich der gelehrte<br />

Antiquar der «Geographie» und der «Chronologie»<br />

beziehungsweise der Geschichte.<br />

Wenn der Renaissance-Autor auf die mittelalterlichen<br />

Kreuzfahrten zurückblickt,<br />

glaubt er, die Ziele der Kolonialisierung<br />

Virginias wiederzuerkennen. Auch in Virginia<br />

gehe es letztlich um den glühenden<br />

Wunsch, den christlichen Glauben zu verbreiten<br />

und zu beschützen. Es handelt sich<br />

hier um eine ganz bestimmte Art von Kolonisierung,<br />

nämlich jener des Mittelalters<br />

durch die Renaissance. Diese Art kultureller<br />

«Kolonisierung» führt zur Neukonzeption<br />

und Neuerfindung des mittelalterlichen<br />

Reisenden als eines heimlichen oder<br />

unheimlichen Doppelgängers aus der Vergangenheit.<br />

Die sich herausbildende Nationalidentität<br />

wird durch diesen Doppelgänger<br />

einerseits legitimiert, andererseits<br />

gelegentlich aber auch bedroht.<br />

Die heilige Helena<br />

Ein eindrückliches Beispiel für diese Kolonisierung<br />

der Vergangenheit findet sich<br />

im ersten Eintrag, welcher fast beiläufig<br />

die Reise von Konstantins Mutter, der britisch<br />

geborenen Heiligen Helena, nach<br />

Jerusalem erwähnt. Diese Beiläufigkeit<br />

überrascht, bedenkt man, dass die heilige<br />

Helena durch das Mittelalter hindurch vor<br />

allem wegen des Auffindens des Wahren<br />

Kreuzes im Heiligen Land verehrt wurde.<br />

Noch überraschender ist demgegenüber<br />

die stark betonte Darstellung dieser Hei-<br />

36 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

Abb. 2: Titelblatt einer Populärausgabe<br />

von Hakluyts Werk aus<br />

dem Jahre 1928.<br />

ligen als eine gelehrte Kaiserstochter, die<br />

eine unheimliche Ähnlichkeit mit einer<br />

gewissen Tudor-Königin auf dem englischen<br />

Thron zur Zeit der «Principall Navigations»<br />

aufweist. Von Helena wird gesagt,<br />

dass sie alle ihre Zeitgenossinnen an<br />

Kenntnissen der freien Künste, an musikalischem<br />

Geschick, an Sprachgewandtheit<br />

übertreffe. Ihre hervorragende Erziehung<br />

verdanke sie dem Umstand, dass sie die<br />

einzige legitime Thronnachfolgerin gewesen<br />

sei. Schliesslich wird sie weiter als Autorin<br />

zahlreicher Bücher und griechischer<br />

Gedichte dargestellt.<br />

Diese «Stammmutter der Reisenden» teilt<br />

mit frühen Protagonisten der Reiseberichte<br />

Hakluyts die Eigenschaft, dass sie<br />

sich als gelehrte Vielsprachige, übrigens<br />

genauso wie der Renaissance-Autor Hakluyt<br />

selbst, mit der Arbeit des Studierens,<br />

Schreibens und Übersetzens beschäftigt.<br />

Viele der Reisenden sind zudem anachronistischerweise<br />

als <strong>Universität</strong>sgebildete<br />

dargestellt: Hakluyt selbst hatte in Oxford<br />

Theologie studiert.<br />

Kollektives Identitätsbewusstein<br />

In dieser Zeit des Übergangs von Mittel-<br />

alter zu Renaissance entwickelten die Engländer<br />

ein kollektives Identitätsbewusst-<br />

sein, das mehr als je zuvor mit der geographischen<br />

Tatsache zu tun hatte, dass<br />

sie sich auf einer Insel befanden, und dass<br />

dementsprechend für jeglichen Kontakt<br />

mit anderen Ländern (sei es zwecks Handel,<br />

Landesverteidigung oder Territorialgewinn)<br />

die Seefahrt unentbehrlich war.<br />

Kein Wunder, dass des Nationalhistorikers<br />

Projekt, England als Seemacht aufzubauen,<br />

auf dem Sammeln, Übersetzen und<br />

der Neugestaltung von früheren Diskursen<br />

beruht, die fähig sind, «die Anfänge, Ursprünge<br />

und das Wachstum der Seefahrt<br />

dieser Insel» zu dokumentieren. 2 Die von<br />

Hakluyt aufgeführten mittelalterlichen<br />

Reisenden und Seefahrer liefern letztlich<br />

eine Genealogie für eine Nation, die sich<br />

spätestens seit der Renaissance als Reise-<br />

und Handelsnation versteht.<br />

Prof. Dr. Margaret Bridges<br />

Institut für Englische Sprache<br />

und Literaturen<br />

2 Von Hakluyts «Principall Navigations» ist keine<br />

vollständige Ausgabe, welche akademische Ansprüche<br />

erfüllt, vorhanden. Eine im Penguin Verlag<br />

erhältliche Auswahl der von Hakluyt gesammelten<br />

Schriften (ohne Erläuterungen) ist 1972 von<br />

Jack Beeching herausgegeben worden. Siehe ferner:<br />

Quinn, D. B. et al., eds. «Principall Navigations.<br />

Facsimile edition for the Hakluyt Society and the<br />

Peabody Museum of Salem». Cambridge, 1965.


Ein Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters<br />

Thesaurus proverbiorum<br />

medii aevi<br />

Der Thesaurus proverbiorum medii aevi ist ein Lexikon<br />

der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters<br />

und ein einzigartiges Werk, weil es Materialien aus<br />

zahlreichen Sprachgebieten und einer langen Epoche<br />

enthält. Es sollte nach der Absicht des Gründers, des <strong>Bern</strong>er<br />

Altgermanisten Samuel Singer, mehr als ein blosses Nachschlagewerk<br />

sein.<br />

Samuel Singer (1860–1948), der über den<br />

altgermanistischen Bereich hinaus weite<br />

Kenntnisse in anderen Sprachen und Epochen<br />

hatte, wollte mit seinem Thesaurus<br />

mittelalterlicher Sprichwörter einen Beitrag<br />

leisten zu einer «Weltliteratur» im<br />

goetheschen Sinn. Das Resultat sollte<br />

«mehr als blosses Nachschlagewerk» sein,<br />

«denn, wenn mit weltliterarischer Betrachtungsweise<br />

Ernst gemacht werden soll, so<br />

wird diese sich zuerst den kleinen Dichtungsarten<br />

der Sprichwörter, Rätsel, Anekdoten,<br />

etc. zuwenden, an denen sich wegen<br />

ihrer leichteren Überschaubarkeit<br />

und ihrer Ubiquität die Einheitlichkeit<br />

menschlicher oder wenigstens eurasischer<br />

Denk- und Empfindungsart am Bes-<br />

ten aufzeigen und untersuchen lässt». Die<br />

Einheitlichkeit der mittelalterlichen Geisteswelt,<br />

«auf die gleiche christliche Religion<br />

gegründet, durch die gleiche lateinische<br />

Sprache und Bildung überbaut, an<br />

die antike Humanität angeschlossen», galt<br />

Singer als beispielhaft für die Überwindung<br />

nationalistischer Beschränktheit, wie<br />

sie zur Zeit des Zweiten Weltkrieges nicht<br />

nur in Politik und Öffentlichkeit, sondern<br />

auch in gewissen wissenschaftlichen Positionen<br />

unheilvoll wirksam war.<br />

Bildungstradition<br />

Dieses singer’sche Grundkonzept ist im<br />

Lexikon vielfach dokumentiert, vornehmlich<br />

in Fällen, wo gut erkennbare Tradi-<br />

Auf dem Gemälde «Die holländischen Sprichwörter» des Malers Pieter Bruegel d. Ä. sind<br />

über 100 Sprichwörter dargestellt.<br />

tionen mit biblischem oder antik griechischem<br />

und lateinischem Ursprung in einer<br />

Reihe von mittelalterlichen Sprachen weiterleben.<br />

Daneben treibt aber auch die<br />

Phantasie der verschiedenen Sprachregionen,<br />

unbeeinflusst von Bildungstraditionen,<br />

ihre Blüten. Ein Ausdruck von<br />

spontaner Lebenserfahrung und Sprachwitz,<br />

wie ihn Samuel Singer, der nicht<br />

nur ein seriöser Gelehrter, sondern auch<br />

ein Geniesser, Freund von Volkstümlichem<br />

und Sinnlichem und Liebhaber von<br />

Frauen und Katzen war, mit Bestimmtheit<br />

geschätzt hat.<br />

Die Vielfalt der Inhalte, die in Sprichwörtern<br />

thematisiert werden, spiegelt sich in<br />

einer bunten Fülle des Ausdrucks. Während<br />

menschliches Verhalten im weitesten<br />

Sinn als ein gemeinsamer Nenner<br />

sprichwörtlicher Rede gelten kann, sind<br />

die konkreten Ausgestaltungen der jeweiligen<br />

Themen auf einer breiten Skala angesiedelt.<br />

Sie reichen von abstrakten Sprüchen<br />

wie etwa Errare humanum est «Irren<br />

ist menschlich» über Formulierungen mit<br />

einzelnen bildlichen Elementen bis hin zu<br />

völlig verschlüsselten Aussagen. Nicht selten<br />

sind Beobachtungen an Tieren Hintergrund<br />

für Anweisungen oder Warnungen,<br />

die sich an Menschen richten, so<br />

etwa im Sprichwort Oveja que bala, bocado<br />

pierde «Das Schaf, das blökt, verliert<br />

den Bissen».<br />

Die Parallelisierung von Tier und Mensch<br />

oder die Chiffrierung menschlichen Verhaltens<br />

in Tierfabeln hat andererseits eine<br />

lange Tradition, die in die Antike zurückreicht.<br />

Diese Tradition erzeugt Sprichwörter<br />

in den verschiedenen romanischen und<br />

germanischen Ländern. Im Artikel WOLF<br />

z. B. gibt es eine Menge Material zum<br />

Thema «Unverbesserlichkeit des Menschen»,<br />

das an die Erzählung vom Wolf<br />

anknüpft, der ein Mönch werden wollte<br />

und zur Schule ging, aber nicht von seinem<br />

Hauptinteresse, dem Verzehr des<br />

Lamms, abzubringen war. Von den zum<br />

Thema «Unverbesserlichkeit des Wolfes»<br />

in zahlreichen Sprachen verbreiteten<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

37


Sprichwörtern, die dieses Motiv variieren,<br />

ein Beispiel aus dem Altnordischen: Si lupus<br />

instruitur in numen credere magnum<br />

Semper dirigitur ab eo respectus ad agnum.<br />

– Kaendh wlff pater noster han syr<br />

alth lam lam «Wenn der Wolf gelehrt wird,<br />

an die grosse göttliche Macht zu glauben,<br />

dann wird von ihm immer der Blick auf<br />

das Lamm gerichtet. – Lehrt den Wolf<br />

das Paternoster: er sagt immer ‚Lamm,<br />

Lamm‘».<br />

Wortspiele und Grundmuster<br />

Zuweilen besteht die Prägnanz einer sprichwörtlichen<br />

Formulierung in einem an die betreffende<br />

Einzelsprache gebundenen Wortspiel:<br />

Het ich ist ein boeser vogel Habich<br />

ist ein guter «‚Hätte ich‘ ist ein böser Vogel,<br />

‚Habe ich‘ ein guter». Personifizierung<br />

einzelsprachlich geläufiger Redewendungen<br />

(Syntagmen) ist nicht selten: Getrow<br />

wol den hengst hin reit «Trauwohl ritt den<br />

Hengst weg»; Haddywyst cometh euer to<br />

late «‚Hätte ich gewusst‘ kommt immer<br />

zu spät». Ähnlich ist die Substantivierung<br />

einer Verbform in einem Sprichwort,<br />

das vor allem im Französischen äusserst<br />

gut belegt ist: Mieuz vaut uns ‚tien‘ que<br />

dous ‚tu l’avras‘ «Mehr wert ist ein ‚da<br />

hast du‘ als zwei ‚du wirst haben‘». Vielfach<br />

findet sich ein Inhalt, der Sprichwörtern<br />

zugrunde liegt, in verschiedenen Sprachen,<br />

wobei einzelne Elemente je nach der<br />

Herkunftsregion variieren können. So ist<br />

das beim Typus «Ein Individuum mit bestimmten<br />

negativen Eigenschaften hält einem<br />

anderen, das dieselben Eigenschaften<br />

hat, seine Fehler vor» in einigen Sprachen<br />

der Esel der Täter, wie im heute noch geläufigen<br />

deutschen Sprichwort «Ein Esel<br />

schimpft den anderen Langohr». Oder:<br />

Dixo el asno al mulo: Tira alla orejudo<br />

«Der Esel sagte zum Maultier: Pack dich,<br />

Langohr!». Im Altnordischen ist es der<br />

Troll, der seinen Artgenossen beschimpft:<br />

Hvert trollit tryller annad «Jeder Troll<br />

schilt den andern Troll».<br />

Die Musterkarte könnte nach Belieben<br />

fortgesetzt werden. Es wäre auch reizvoll,<br />

den Grundmustern nachzugehen, die einer<br />

Grosszahl von Sprichwörtern zugrundeliegen.<br />

Elementare Denkfiguren wie Gegensatz<br />

und Vergleich nehmen eine zentrale<br />

Stellung ein, Zahlenverhältnisse spielen<br />

eine wichtige Rolle. Das reichhaltige Material<br />

des Thesaurus lädt dazu ein, dieser<br />

und anderen Fragen nachzugehen.<br />

38 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

Eine Seite aus<br />

dem Thesau -<br />

rus Singer.<br />

(WOLF, Thesaurus<br />

Band 13, S. 178)<br />

Überblickt man die Fülle des Materials,<br />

das in den 13 Bänden verarbeitet ist, bleibt<br />

der Eindruck von viel Wiederkehrendem<br />

und Parallelem, aber auch einer Menge heterogener<br />

Einzelheiten zurück. Dies hängt<br />

einerseits mit der Masse von Belegen aus<br />

verschiedenen Sprachen, verschiedenen<br />

Zeiten und verschiedenen Traditionen zusammen,<br />

andererseits auch mit dem weiten<br />

Sprichwortbegriff, den Samuel Singer<br />

seiner Sammlung zugrunde legte: Er überschritt<br />

die Grenze dessen, was gemeinhin<br />

als Sprichwort 1 betrachtet wird, sowohl<br />

nach unten als auch nach oben: nach unten<br />

durch die Aufnahme sprichwörtlicher Redensarten<br />

und fester Fügungen, die im Extremfall<br />

auf ein einziges Wort beschränkt<br />

sind, nach oben durch den Einbezug von<br />

satzübergreifenden Texten, Sprüchen oder<br />

Kurzdialogen.<br />

1 Ein Sprichwort ist ein festgeprägter, syntaktisch unabhängiger<br />

Satz.<br />

«Sie trägt Wasser in der einen und Feuer<br />

in der andern Hand»; sie verdient kein<br />

Vertrauen.


«Er schägt mit dem Kopf gegen die Wand»;<br />

Er ist vergebens eigensinnig.<br />

Schatztruhe des Mittelalters<br />

Es versteht sich von selbst, dass ein Werk<br />

von der Art des Thesaurus Singer, von einem<br />

Einzelnen konzipiert und in jahrzehntelanger<br />

Arbeit, mit etlichen Unterbrüchen,<br />

von zahlreichen Bearbeitern zu Ende geführt,<br />

seine Mängel hat. Der gravierendste<br />

ist wohl die ungleiche Ausschöpfung der<br />

Quellen. Die Redaktion, die für die definitive<br />

Fassung verantwortlich ist, hat sich<br />

jedoch dazu entschlossen, im Wesentlichen<br />

das von Singer gesammelte Material<br />

zu publizieren. Eine systematische Ergänzung<br />

hätte zu einer jahre-, wenn nicht<br />

jahrzehntelangen Verzögerung des Abschlusses<br />

geführt. Auch in seiner jetzigen<br />

Form wird der Thesaurus proverbiorum<br />

medii aevi für Forschungen in vielen Disziplinen<br />

ein wertvolles Arbeitsinstrument<br />

sein. Literatur- und Sprachwissenschafter,<br />

aber auch Historiker, Rechtshistoriker<br />

und Ethnologen werden verschiedene<br />

Fragestellungen an das Sprichwortlexikon<br />

herantragen. Und nicht zuletzt ist der<br />

Thesaurus eine Fundgrube oder eben eine<br />

Schatztruhe für jedermann, der sich für die<br />

Kultur und das Leben des Mittelalters interessiert.<br />

Prof. Dr. Ricarda Liver<br />

Ginsberg<br />

3432 Lützelflüh<br />

Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der<br />

Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittel-<br />

alters. Begründet von Samuel Singer. Hrsg. Kurato-<br />

rium Singer der Schweiz. Akademie der Geistes- und<br />

Sozialwissenschaften, Berlin/New York (Walter de<br />

Gruyter). 13 Bde. + 1 Quellenband.<br />

Thesaurus proverbiorum medii aevi<br />

Im Januar 2002 ist der 13. und letzte<br />

Band des umfangreichen Sprichwort-<br />

Lexikons erschienen, das in der ersten<br />

Hälfte des vergangenen Jahrhunderts<br />

vom <strong>Bern</strong>er Altgermanisten Samuel<br />

Singer begründet worden war und<br />

nach einer langen und wechselvollen<br />

Entstehungsgschichte, in den Jahren<br />

1995 bis 2002 bei de Gruyter<br />

in Berlin gedruckt wurde. Zu den 13<br />

Bänden, die das Material präsentieren,<br />

kommt noch ein Quellenband, der<br />

die Zitate aufschlüsselt und über neuere<br />

Literatur zu den vielfach in alten<br />

Ausgaben zitieren Texten orientiert.<br />

Der Thesaurus Singer, wie das Werk<br />

im Hausgebrauch genannt wird, ist in<br />

mancher Hinsicht ein Unikum. Singer hatte für den Begriff «Mittelalter» die Zeitspanne<br />

von 500 bis 1500 festgelegt, wobei gewisse Grenzüberschreitungen<br />

nicht ausgeschlossen waren. Vor allem der Endpunkt wird vielfach überschritten,<br />

da zahlreiche Quellen des 16. Jahrhunderts, die älteres Sprichwortgut enthalten,<br />

mit einbezogen sind.<br />

Die Sprachen, die im Lexikon vorkommen, sind sämtliche romanischen und germanischen<br />

Sprachen, aus denen schriftliche Zeugnisse aus dem Mittelalter überliefert<br />

sind. Entsprechend fehlen aus dem heutigen Kanon der romanischen Sprachen<br />

das Rumänische und das Rätoromanische, wo die Schrifttradition erst im<br />

16. Jahrhundert einsetzt. Vertreten sind jedoch Französisch, Provenzalisch, Katalanisch,<br />

Spanisch, Portugiesisch. Im germanischen Bereich sind es Altnordisch,<br />

v. a. Isländisch und Dänisch, seltener Schwedisch, Englisch, Niederländisch<br />

und Deutsch. Ferner sind mittellateinische und mittelgriechische Sprichwörter einbezogen.<br />

Wo immer möglich, werden die Quellen der mittelalterlichen Sprichwörter<br />

aus der Antike (klassisches Latein und klassisches Griechisch) an den<br />

Anfang gestellt. Eine besonders gewichtige Quelle ist die Bibel, die in der lateinischen<br />

Übersetzung des Hieronymus (Vulgata) zitiert wird, gefolgt von der<br />

deutschen Version Martin Luthers. Dieses Inventar ergibt eine Gesamtzahl von<br />

12 oder 14 Sprachen, je nachdem, ob man das Altnordische als eine einzige<br />

oder als drei Sprachen zählt.<br />

Angesichts dieser Vielfalt, die noch zusätzlich durch markant voneinander abweichende<br />

Sprachstufen (Altfranzösisch und Mittelfranzösisch, Altenglisch und<br />

Mittelenglisch, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch und Frühneuhochdeutsch) kompliziert<br />

wird, entschlossen sich die Bearbeiter, jedes Sprichwort, das zunächst<br />

im Originaltext wiedergegeben wird, auch in modernes Deutsch zu übersetzen.<br />

Die ursprüngliche Konzeption Singers, wonach die Sprichwörter unter deutschen<br />

Titelstichwörtern alphabetisch geordneten Artikeln zugeteilt werden sollten, wurde<br />

beibehalten. Dagegen verzichtete man aus leicht nachvollziehbaren Gründen auf<br />

das an sich sinnvolle Vorhaben Singers, einzelne Sprichwörter mehrfach, d. h. in<br />

verschiedenen Artikeln, aufzunehmen, also z. B. «Alle Wege führen nach Rom»<br />

unter ALL, WEG und ROM. Stattdessen wurde ein differenziertes System von<br />

Querverweisen eingeführt, das erlaubt, die von Singer anvisierten Zusammenhänge<br />

herzustellen. Der Umfang der Artikel ist höchst unterschiedlich. Er reicht<br />

von einem blossen Verweis oder einem einzigen Sprichwort bis zu umfangreichen<br />

Artikeln wie etwa FRAU, 1818 Sprichwörter, 127 Seiten; GOTT, 1443<br />

Sprichwörter, 84 Seiten oder LIEBE, 1630 Sprichwörter, 88 Seiten.<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

39


Minnesang der Stauferzeit<br />

Höfische Liebeskunst<br />

als Gesellschaftsspiel<br />

Minnesang ist Gesellschaftskunst. In ihm wird das Wertesystem<br />

der alteuropäischen Adelskultur zelebriert. Er<br />

inszeniert die Liebe als Erfahrungs- und Bewährungsfeld<br />

ästhetisch-ethischer Normen. Doch diese schwerblütige<br />

Erhabenheit wird bald vom ausgelassenen Gegengesang<br />

entzaubert.<br />

Her Walther von der Vogelweide:<br />

Swer des vergêze der tête mir leide:<br />

Alein er wêre niht rîch des guotes,<br />

Doch was er rîch sinniges muotes.<br />

Mit diesen Worten erinnerte drei Generationen<br />

nach dem Tode Walthers der Bamberger<br />

Schulrektor Hugo von Trimberg an<br />

einen der grössten Lyriker deutscher Sprache.<br />

Aber wie könnte man dieses ständig<br />

am Hungertuch nagende Genie der Poesie,<br />

den Schöpfer nobler und mutiger Gedanken,<br />

je dem Vergessen anheim geben,<br />

Walther von der Vogelweide, der wie<br />

kein zweiter Zugang hatte zur Gedankenwelt<br />

der Staufer und gewiss auch zu ihren<br />

Schatzmeistern! Für König Philipp von<br />

Schwaben (1198–1208) tritt er ebenso auf<br />

die politische Bühne wie für dessen jungen<br />

Neffen, den grossen Kaiser Friedrich<br />

II. (1212–1250) – und zwischendurch auch<br />

mal für den welfischen Gegenspieler Otto<br />

IV. von Braunschweig (1198–1218). Aber<br />

wer wollte ihn dafür tadeln, wo doch sogar<br />

der Papst die Fronten wechselte und<br />

ein Poet keine Pfründen besass, sondern<br />

nur das Brot des Gönners, dessen Lied<br />

er sang.<br />

Walther schuf Klanggebilde der verschiedensten<br />

Art und mit den unterschiedlichsten<br />

Themen: das fromme Lob des dreifaltigen<br />

Gottes und der Gottesmutter Maria;<br />

der verwirrende Zauber unnahbarer weiblicher<br />

Schönheit; die verträumte Zärtlichkeit<br />

des liebenden Mädchens; der<br />

bohrende Schmerz des abgewiesenen<br />

Liebhabers; die reuevolle Sorge um das<br />

eigene Seelenheil; die zehrende Melancholie<br />

des altgewordenen Mannes; aber<br />

40 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

auch: die scharfe Attacke gegen die skandalösen<br />

Missstände im Reich und in der<br />

Kirche; der politische Aufruf zu Umkehr<br />

und Erneuerung.<br />

Imperiale Poesie<br />

Die staufische Aristokratie feierte sich<br />

selbst, wenn sie bei glanzvollen Festen ihren<br />

höfischen Lebensstil zur Schau trug.<br />

Dann blühte sie auf im raffinierten Spiel<br />

mit den ästhetischen Erfahrungen, die der<br />

Die Insignien der<br />

Macht und das<br />

Schriftband präsentieren<br />

Heinrich VI.<br />

als Herrscher und<br />

Autor in der Tradition<br />

des Dichterkönigs<br />

David.<br />

Kult der unerreichbaren Dame auslöste.<br />

Die existentielle Gewalt der Minne, die<br />

gerade im zelebrierten Verzicht auf den<br />

sexuellen Vollzug erotische Kräfte und<br />

spirituelle Energien freisetzte, bildete<br />

das Lieblingsthema dieser hochkultivierten<br />

Rittergesellschaft. Heinrich VI. (1190<br />

bis 1197), der Sohn Friedrich Barbarossas,<br />

hat sich selber als Minnesänger betätigt.<br />

Zu Recht eröffnet daher sein Bildnis die<br />

berühmte Manessische Liederhandschrift<br />

aus Zürich, heute in Heidelberg.<br />

Der Kaiser spricht in einem seiner Gedichte<br />

von einer Liebeserfahrung, die ihn<br />

seine ganze weltliche Macht vergessen<br />

lässt. Immer wenn er von dieser einen Frau<br />

Abschied nehmen müsse, hülfen ihm Herrschaft<br />

und Reichtum nicht das geringste,<br />

um seinen Sehnsuchtsschmerz loszuwerden.<br />

Diese Liebe bedeute ihm so viel, dass<br />

er nicht von ihr lassen könne:


ê ich mich ir verzige, ich verzige mich ê<br />

der krône.<br />

Bevor ich auf sie verzichte, verzichte ich<br />

lieber auf die Krone.<br />

Grosse Worte eines Kaisers, dem es die<br />

Wirklichkeit ersparte, die Probe auf sein<br />

rhetorisches Exempel machen zu müssen.<br />

Nicht die Minne zwang ihn zur Abdankung,<br />

sondern der Tod, der ihn 32-jährig<br />

in Messina ereilte, als er mit den Vorbereitungen<br />

zu seinem Kreuzzug beschäftigt<br />

war. Den Staufern lag die Minne nicht allein<br />

auf der Zunge, sondern auch im Blut.<br />

Der Barbarossa-Enkel, Kaiser Friedrich II.,<br />

führte nicht nur vier Frauen, die ihm zusammen<br />

zehn Kinder schenkten, zu politisch<br />

motivierten Ehen heim; er hatte auch<br />

noch mindestens acht aussereheliche Beziehungen,<br />

aus denen wenigstens neun<br />

weitere Kinder hervorgingen. Verständlich,<br />

dass dieser Kaiser, der an seinem<br />

sizilischen Hof die Dichterelite der Zeit<br />

um sich scharte, auch in der literarischen<br />

Liebesmode mit gutem Beispiel vorangehen<br />

wollte. Als «Kind Apuliens» tat er es<br />

nicht im strengen Mittelhochdeutsch seiner<br />

schwäbischen Vorfahren, sondern im<br />

melodiösen Italienisch seiner apulisch-sizilischen<br />

Heimat:<br />

Oi lasso! non pensai<br />

sì forte mi parisse<br />

lo dipartire da madonna mia.<br />

O weh, ich dachte nicht,<br />

dass es mich so hart ankäme,<br />

das Fortziehn von meiner Herrin.<br />

Wer dem weltmännischen Friedrich – «von<br />

Gottes Gnaden immer erhabener Kaiser<br />

der Römer, König von Jerusalem und Sizilien»<br />

– seine Not nicht glauben wollte,<br />

hätte den intellektuell-erotischen Witz und<br />

die schmachtende Reflexion dieser poesievollen<br />

Spielkunst nicht verstanden. Sieger<br />

blieb hier immer der, dem ein neuer dichterischer<br />

Einfall gelang, der für sein Publikum<br />

das Vertraute in aparten neuen Varianten<br />

präsentierte, so dass es sogar in der<br />

scheinbar ewigen Monotonie von Liebesfreud<br />

und Liebesleid immer wieder von<br />

neuem knisterte und unerwartete Funken<br />

sprühten.<br />

Betörende Lieder<br />

Kenner waren es, die in den staufischen<br />

Residenzen und Pfalzen zum Vortrag der<br />

Sänger beisammen sassen. Dann konnte<br />

sich jener kostbare Augenblick höchsten<br />

Kunstgenusses einstellen, wenn die Meister<br />

ihres Faches auftraten. Die Wirkung,<br />

die sie mit ihren Kompositionen erzielten,<br />

beschreibt Gottfried von Strassburg in seinem<br />

Tristanroman: Als Tristan zur Harfe<br />

griff und die alten Weisen von lieb unde<br />

leit so ganz neu intonierte, da geschah es,<br />

daz maneger da stuont unde saz,<br />

der sin selbes namen vergaz:<br />

da begunden herze und oren<br />

tumben unde toren<br />

und uz ir rehte wanken;<br />

da wurden gedanken<br />

in maneger wise vür braht.<br />

Mancher stand und sass<br />

ganz selbstvergessen da;<br />

Herz und Ohr<br />

gerieten ausser sich<br />

und kamen ab von altgewohnter Bahn.<br />

Vielfache Gedankenbilder<br />

stellten sich ein.<br />

Gottfried traut dem Minnesang geradezu<br />

therapeutische Wirkungen zu: Erklängen<br />

die lieblichen Sommerlieder des neuen<br />

Orpheus Reinmar von Hagenau oder Walthers<br />

von der Vogelweide nicht, so sagt er,<br />

dann gäbe es keine Hochgestimmtheit in<br />

der Welt. Apathisch und antriebslos lebten<br />

die Menschen dahin. Denn Wort und<br />

Weise dieser wundersamen Poesie bringen<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

Im Rosenhag beschwört<br />

der Gestus der ineinander<br />

gelegten Hände die Minneharmonie<br />

zwischen dem Ritter<br />

<strong>Bern</strong>ger von Horheim und<br />

seiner Dame.<br />

in jedem, der jemals der Liebe zugewandt<br />

war, das Gute zum Schwingen, setzen Gefühle<br />

frei, die das Herz mit Sanftmut erfüllen.<br />

Eine gelöste Stimmung breitet sich aus<br />

und führt zu meditativer Versenkung.<br />

Seelische Zerreissproben<br />

<strong>Bern</strong>ger von Horheim, bezeugt in zwei italienischen<br />

Urkunden Philipps von Schwaben,<br />

beschwört in seiner Minneklage eine<br />

absolute Liebe, die in ihrer radikalen Hingabe<br />

sogar die legendäre Leidenschaft<br />

Tristans und Isoldes übertrifft; und dies,<br />

obwohl der Liebende bei <strong>Bern</strong>ger nicht<br />

von jenem Minnetrank gekostet hat, der<br />

Tristan und Isolde rettungslos einander<br />

auslieferte. Tatsächlich ist die seelische<br />

Situation dieses Liebenden noch verzweifelter<br />

als die Not Tristans. Denn Isolde gab<br />

sich Tristan hin, während hier eine Treue<br />

besungen wird, die auf Dauer im entsagungsvollen<br />

Verzicht ausharrt:<br />

doch singe ich, swie ez darumbe ergât,<br />

und klage, daz sî mich trûren lât.<br />

Doch sing’ ich, wie’s auch kommen mag,<br />

und klag’, dass sie mich trauern lässt.<br />

Welch tiefen Konflikt die Ritterpflicht herbeiführen<br />

kann, macht der zwischen Bingen<br />

und Mannheim ansässige Friedrich<br />

von Hausen, der hochangesehene Ministeriale<br />

Kaiser Friedrich Barbarossas, zum<br />

41


Thema eines ergreifenden Minneliedes.<br />

Den Liebenden muss es zerreissen, wenn<br />

er zum Kreuzzug aufbrechen soll, um gegen<br />

die Heiden zu kämpfen, und die verehrte<br />

Dame zurücklassen muss, die seinem<br />

Herzen so nahe ist. Den Minneritter, der<br />

zugleich ein zum Kampf entschlossener<br />

Kreuzritter sein will, quält es unsäglich,<br />

dass Leib und Herz, also seine soldatischchristliche<br />

und seine ästhetisch-erotische<br />

Existenzform, sich jetzt nicht mehr werden<br />

zur Deckung bringen lassen, wenn Gott<br />

nicht eingreift:<br />

Mîn herze und mîn lîp diu wellent scheiden,<br />

diu mit ein ander wâren nu manige zît.<br />

der lîp wil gerne vehten an die heiden,<br />

sô hât iedoch daz herze erwelt ein wîp<br />

Vor al der welt. daz müet mich iemer sît,<br />

daz siu ein ander niht volgent beide.<br />

mir habent diu ougen vil getân ze leide.<br />

got eine müese scheiden noch den strît.<br />

Mein Herz und mein Leib wollen sich<br />

scheiden,<br />

die beisammen waren nun schon lange<br />

Zeit.<br />

Der Leib möchte kämpfen gegen die Heiden,<br />

das Herz jedoch hat eine Frau erwählt<br />

vor aller Welt. Das schmerzt mich seither<br />

unaufhörlich,<br />

dass beide einander nicht mehr Folge<br />

leisten.<br />

Mir haben die Augen viel Leids getan.<br />

Gott allein könnte diesen Zwiespalt noch<br />

aufheben.<br />

Am 6. Mai 1190, wenige Wochen vor dem<br />

Tode seines Kaisers, ist Friedrich von Hausen<br />

auf dem dritten Kreuzzug bei Philomelium,<br />

dem heutigen Akschehir in Anatolien,<br />

gefallen.<br />

Gegengesänge<br />

Man besässe ein ziemlich einseitiges<br />

Bild von der Lyrik des staufischen Mittelalters,<br />

wäre man nur von dem Goldgrund<br />

fasziniert, auf dem sich die hehrsten<br />

Gedanken, die edelsten Gefühle, die<br />

ernstesten Pflichten und die würdevollsten<br />

Aufgaben ein elegantes Stelldichein<br />

geben. Schon Wolfram von Eschenbach,<br />

der berühmte Autor des Parzivalromans,<br />

hat hier humorvoll wider den Stachel vom<br />

Minnepathos gelökt und mit seinem Publikum<br />

manchen Schabernack getrieben, sei<br />

es, dass er die schlanke Taille eines adli-<br />

42 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

Der Kreuzfahrer Friedrich von Hausen<br />

sinniert über die Gefahren der Expedition.<br />

gen Fräuleins mit einer Ameise oder einem<br />

Hasen am Spiess verglich oder mitten<br />

am Karfreitag die Töchter eines barfuss<br />

im Schnee pilgernden Ritters mit Parzival<br />

flirten liess, was der Dichter mit den<br />

Worten kommentiert:<br />

wîp sint et immer wîp:<br />

werlîches mannes lîp<br />

hânt si schier betwungen:<br />

in ist dicke alsus gelungen.<br />

Frauen bleiben halt immer Frauen.<br />

Auch den abwehrbereiten Mann<br />

haben sie schnell bezwungen.<br />

Das ist ihnen schon oft gelungen.<br />

Über den vielbeschworenen, scheinbar so<br />

idealistischen Minnedienst nobler Frauenverehrer<br />

macht sich Wolfram nicht die geringsten<br />

Illusionen. Seine Ehefrau, so sagt<br />

er, hätte er nicht ins grosse Gedränge der<br />

Feste bei König Artus gelassen, wo mancher<br />

ihr zugeflötet hätte, dass seine Liebe<br />

zu ihr ihm zusetze und seine Lebensfreude<br />

verdunkle. Bevor ihr der Galan immerwährenden<br />

Minnedienst angeboten hätte,<br />

wenn sie ihn nur aus seiner Liebesqual erlösen<br />

wollte, hätte er, Wolfram, sich mit<br />

seiner Frau eiligst davongemacht.<br />

In der späten Stauferzeit wird die Liebespoesie<br />

ausgelassen. Neidhart von Reuenthal<br />

und der Tannhäuser schätzen den<br />

Tiefgang ihrer klassischen Vorgänger nur<br />

noch insofern, als er sich, wie alles Erhabene,<br />

trefflich karikieren und parodieren<br />

lässt: Man nehme einen Natureingang,<br />

stelle ihn an den Beginn des Liedes und signalisiere<br />

damit, dass bei Frühlingsblüte<br />

und Vogelgezwitscher die Minne nicht<br />

mehr weit sein kann. Dann lande man<br />

einen literarischen Coup, mache aus der<br />

distanzierten edlen Dame ein triebhaftes<br />

Bauernmägdlein und bringe als moralische<br />

Instanz für Sitte und Ordnung dessen<br />

eigene Mutter ins Spiel. Diese möchte<br />

ihrer Tochter den Jungbauer von nebenan<br />

als standesgemässe Partie ans Herz legen,<br />

doch das Töchterchen hat Höheres<br />

im Sinne, verschwiegene Minne nämlich<br />

zu einem stolzen Ritter – ich minne einen<br />

stolzen ritter also tougen – und nicht die<br />

Heirat mit dem bäurischen Nachbarn. Das<br />

Mädchen setzt ganz auf die Ritterkarte.<br />

Und die Leute werden schon noch merken,<br />

dass sein Sinn strebt gein Riuwental.<br />

Da konnte ein höfisches Publikum – und<br />

nur für ein solches komponierte Neidhart<br />

von Reuenthal – sich köstlich amüsieren.<br />

Wie unmöglich es war, Minne in Mesalliancen<br />

zu pflegen, das kannte man aus<br />

dem Leben ebenso gut wie aus der Literatur.<br />

Dieser Tausendsassa von Neidhart,<br />

kokettierte der auf minnesängerischem<br />

Klavier mit der Schnulze, dass ein Bauernmädchen<br />

hinter ihm her sei, wo doch<br />

jeder wusste, wohin eine solche Affäre im<br />

Ernst führen würde: nämlich direkt «zum<br />

Reuenthal» – ins Jammertal.<br />

Und erst der Tannhäuser! Wenn seine<br />

Tanzlieder erklingen, dann ist das dort verherrlichte<br />

Weib noch bezzer danne guot.<br />

An dieses Frauenzimmer, so schön und<br />

Abschied und Trennung von der Minneherrin:<br />

der Reichsschenk von Limburg.


hochgesinnt und so integer wie die ideale<br />

Minnedame, reicht keine Isolde, Juno oder<br />

Helena heran. Der Dichter trumpft auf mit<br />

einer Revue aller Traumfrauen aus Literatur<br />

und Mythologie, um dann abrupt seinen<br />

respektablen Katalog, dieses alte Zeug,<br />

zu beenden und den Blick auf seine eigene,<br />

für die Minne wie geschaffene Tanzpartnerin<br />

zu lenken, die schönste Frau der ganzen<br />

Welt:<br />

Von Oriende unz z’Occidende wart<br />

nie schoener wip geborn.<br />

Augenzwinkernd geht der Sängerdichter<br />

sogar noch in die Details, schwärmt von<br />

der Vollkommenheit ihrer drallen Proportionen,<br />

phantasiert von einem abwärts ge-<br />

Des Tannhäusers Lied von der Vergeblichkeit männlicher Hoffnungen und<br />

von der Unerfüllbarkeit weiblicher Bedingungen<br />

Staeter dienest der ist guot,<br />

den man schoenen frouwen tuot,<br />

als ich miner han getan.<br />

der muoz ich den salamander bringen.<br />

Einez hat si mir geboten,<br />

daz ich schicke ir abe den Roten<br />

hin von Provenz in daz lant<br />

ze Nüerenberc, so mac mir wol gelingen,<br />

Und die Tuonouw über Rin;<br />

füege ich daz, so tuot si, swes ich muote.<br />

danc so habe diu frouwe min,<br />

sist geheizen Guote.<br />

spriche ich ja, si sprichet nein,<br />

sus so hellen wir enein.<br />

heia hei!<br />

sist ze lange gewesen uz miner huote.<br />

Ein boum stet in Indian,<br />

groz, den wil si von mir han.<br />

minen willen tuot si gar,<br />

seht, ob ich irz allez her gewinne.<br />

Ich muoz bringen ir den gral,<br />

des da pflac her Parzival,<br />

und den apfel, den Paris<br />

gap durch minne Venus der gütinne,<br />

Und den mantel, der besloz<br />

gar die frouwen, diust unwandelbaere.<br />

dannoch wil si wunder groz,<br />

deist mir worden swaere:<br />

ir ist nach der arke we,<br />

diu beslozzen hat Noe.<br />

heia hei!<br />

braehte ich die, wie liep ich danne waere!<br />

rutschten Hüftband, dorthin, wo man in ihrem<br />

Saal – aber, aber – den Reigen tanzt.<br />

Minne machen möchte er mit der, die gerade<br />

von rehter arte der eren krone tragen<br />

sollte. Solch anzügliche Träumereien lassen<br />

den Tänzer so richtig in die Höhe hüpfen:<br />

nu heia, Tanhusaere! Zergangen ist<br />

din swaere – verflogen ist die Depression.<br />

Schaut, wie die Geliebte tanzt und springt.<br />

Auf zur Linde, da singen wir zum Tanze.<br />

Ein Reinmar von Hagenau oder ein Friedrich<br />

von Hausen hätten sich im Grab herumgedreht,<br />

wenn diese späthöfische<br />

Avantgarde zu ihnen gedrungen wäre.<br />

Der Tannhäuser wiederum hätte sich<br />

ganz schön gelangweilt, wenn er die unsinnlichen<br />

Minnereflexionen und das<br />

steife Minnezeremoniell seiner Vorgänger<br />

über sich hätte ergehen lassen müssen.<br />

Nach einem Tango mag halt niemand mehr<br />

ein Menuett tanzen!<br />

Prof. Dr. Hubert Herkommer<br />

Institut für Germanistik<br />

Dauerdienst, ja der ist gut,<br />

den man an schönen Frauen tut,<br />

wie ich’s bei meiner hab’ getan:<br />

Der ich den Salamander bringen muss!<br />

Und noch ein zweites sie mir abverlangt:<br />

Dass ich die Rhône umleit ihr<br />

aus der Provence hinauf in<br />

Nürnbergs Land: dann hätt’ ich Erfolg bei ihr!<br />

Doch noch die Donau lenken sollt’ ich übern Rhein;<br />

schafft’ ich dies, dann gäb’ sie sich mir hin.<br />

Merci, Madame!<br />

Sie heisst die Gute.<br />

Sag’ ich ja, dann sagt sie nein,<br />

so passen wir zusammen!<br />

Juchhei, juchhe!<br />

Zu lang ist sie emanzipiert gewesen.<br />

Einen mächt’gen Baum aus Indien,<br />

den will sie von mir haben.<br />

Zu Willen ist sie mir,<br />

schaut, wenn ich das schaffe.<br />

Ich muss erringen ihr den Gral,<br />

um den sich Parzival gekümmert,<br />

und den Apfel, den Paris<br />

vor lauter Minn’ der Göttin Venus gab dahin,<br />

und auch den Zaubermantel noch,<br />

der nur die treue Frau umhüllt.<br />

Und dann will sie was ganz Extremes,<br />

wo mich die Schwermut gleich gepackt:<br />

Ihr ist so nach der Arche weh,<br />

in der geborgen war Noe.<br />

Juchhei, juchhe!<br />

Schleppt’ ich die an, wie lieb ich ihr dan wär!<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

43


Der Dagulf-Psalter und das kirchenpolitische Umfeld seiner Entstehung<br />

Der König als Priester<br />

Der Austausch von Geschenken gehört zum Protokoll<br />

politischer Diplomatie. Dies war auch im Mittelalter nicht<br />

anders. Würde ein Staatspräsident heute allerdings dem<br />

Papst eine Bibel schenken, wäre das Erstaunen wohl gross.<br />

Genau dies jedoch plante Karl der Grosse. Er beabsichtigte,<br />

Papst Hadrian I. den am Aachener Hof fertiggestellten<br />

Dagulf-Psalter anlässlich der Frankfurter Synode von 794<br />

zu übergeben. Weshalb damit trotzdem keine Eulen nach<br />

Rom getragen worden wären, lässt sich mit einem genaueren<br />

Blick in die Handschrift nachweisen.<br />

Der «Goldene Psalter», wie der Dagulf-Psalter<br />

1 wegen der für die gesamte<br />

Handschrift verwendeten Goldfarbe auch<br />

genannt wird, ist ein Bild- und Schriftzeugnis<br />

für das Bemühen um die Bewahrung<br />

des reinen Prophetenwortes. Nach<br />

Meinung der mittelalterlichen Theologen<br />

soll der Mensch am Wort Gottes, dem seiner<br />

Propheten oder Evangelisten, da als<br />

Offenbarung gleichsam in Stein gehauen,<br />

nicht kritzeln. Der Mensch darf nur, ja er<br />

muss sogar, die «Ablagerungen» fälschlicher<br />

Überlieferungen entfernen.<br />

Kunstvoller Einband<br />

aus Elfenbein<br />

Der als Geschenk an den Papst gedachte<br />

Dagulf-Psalter wurde von Hoftheologen<br />

Karls des Grossen unter der Leitung des<br />

Iren Alkuin zusammengestellt. Die Redaktoren<br />

signalisieren bereits mit dem<br />

Elfenbein-Einband, dass sie eine originalgetreue<br />

Abschrift der Psalmen Davids<br />

vorlegen wollen. Die Vorderseite der<br />

kunstvoll gefertigten Tafeln zeigt auf der<br />

oberen Bildhälfte, wie David vier Schreiber<br />

mit grosser Geste beauftragt, seine Gesänge<br />

gleichsam «live» mitzuschreiben,<br />

und unten, wie dieser Auftrag ausgeführt<br />

wird (Abb. 1, linke Tafel). Auf der Rückseite<br />

des Einbands wird Hieronymus von<br />

einem Boten des Papstes beauftragt, den<br />

in der Zwischenzeit nicht mehr originalen,<br />

sondern korrumpierten Psalmentext zu re-<br />

1 Der nach dem Schreiber Dagulf benannte Psalter<br />

ist eine kleinformatige (12x19cm) Prachthandschrift<br />

der Psalmen aus dem Alten Testament. Im<br />

Unterschied zur neuzeitlichen Bibelauslegung<br />

glaubte das Mittelalter, dass die hochpoetischen<br />

Lob-, Dankes- und Klagelieder allesamt von David<br />

stammen würden.<br />

44 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

digieren. Im unteren Bildfeld diktiert Hieronymus<br />

seinen verbesserten Text einem<br />

Schreiber (Abb. 1, rechte Tafel).<br />

Geschenk für den Papst<br />

Auf einem Einzelblatt, noch vor den Vorreden<br />

und dem eigentlichen Psalmentext<br />

eingebunden, finden sich zwei Widmungsgedichte.<br />

Dank dem ersten Widmungsgedicht<br />

(siehe Kasten «Erstes Widmungsgedicht»<br />

und Abb. 2 ) weiss man, dass Karl<br />

der Grosse das schmuckvolle Bändchen<br />

Papst Hadrian I. schenken wollte. Es blieb<br />

allerdings bei der Absicht. Der Papst hat<br />

die Gabe vor seinem Tode am ersten Weihnachtstag<br />

795 wohl nicht mehr erhalten.<br />

Weshalb jedoch beabsichtigt ein weltlicher<br />

Herrscher, dem geistlichen Oberhaupt<br />

eine Psalmenhandschrift zu schenken?<br />

Das Werk des Schreibers Dagulf ist<br />

wahrscheinlich eine Verdankung der zahlreichen<br />

Handschriften, welche Hadrian I.<br />

Abb. 1: Der Einband des Dagulf-<br />

Psalters aus Elfenbein.<br />

ins Frankenreich geschickt hatte. Indem<br />

der Papst die Buchwünsche des Königs<br />

er-füllte und sowohl kirchenpolitisch als<br />

auch pastoral bedeutsame Texte als Dauerleihgabe<br />

freigab, ermöglichte er diesem,<br />

weit-greifende liturgische Reformen<br />

einzuleiten. Bekanntestes Beispiel dieser<br />

Reformen ist die im Namen Karls an<br />

den fränkischen Klerus gerichtete Mahnschrift<br />

mit dem Titel Admonitio generalis<br />

von 789. Darin fordert er, «dass jedes<br />

Kloster darum bemüht sein soll, mit grösster<br />

Sorgfalt den Wortlaut der Psalmen authentisch<br />

wiederzugeben und, wenn notwendig,<br />

von den besten Theologen und<br />

Schreibern originalgetreue Abschriften<br />

der Psalmen anfertigen zu lassen».<br />

Gegen die byzantinische<br />

Bilderverehrung<br />

Der Dagulf-Psalter könnte folglich auch<br />

ein Schriftbeweis für die erfolgreich<br />

durchgeführte Verbreitung orthodoxer<br />

Schrifttradition sein und den Absender<br />

vor dem Papst als Hüter der Rechtgläubigkeit<br />

erscheinen lassen. Dies ist um so<br />

naheliegender, als der König genau in jenen<br />

Jahren mit beinahe schon päpstlichem<br />

Eifer an zwei Fronten als Verteidiger der<br />

katholischen Lehre auftrat: Auf der Synode<br />

von Frankfurt 794 kämpfte Karl<br />

der Grosse einerseits gegen die byzantinische<br />

Bilderverehrung und andererseits<br />

gegen die spanische Irrlehre des Adoptianismus<br />

2 . Der Dagulf-Psalter ist nicht<br />

nur ein Beweis vom treuen Schaffen, er<br />

trägt auch explizite Spuren dieser beiden


Erstes Widmungsgedicht<br />

Dem obersten Bischof und dem Heiligen Vater, Hadrian,<br />

sage ich, König Karl: »Sei gegrüsst, Vater, es möge Dir wohl ergehen!”<br />

Vorsteher des Apostolischen Stuhls, nimm dieses Geschenk an,<br />

es ist zwar aussen von geringem Wert, innen jedoch ist es edel.<br />

Es zeigt eine Harfe, die durch Davids Schlagstab erklingt<br />

und es enthält süss klingende Gesänge zur Lyra.<br />

Dieses Saiteninstrument, Christus, lässt Deine erhabenen Wunder erklingen,<br />

Du, der Du den Schlüssel Davids, sein Reich und sein Haus besitzst.<br />

Geheimnissvoll mit siebenfachem Siegel verschlossen wären diese Lieder geblieben,<br />

hätte sie Christus als Gott nicht erschlossen.<br />

Deshalb widme ich Euch dieses Geschenk, frommer Priester,<br />

damit ich mich als Sohn in das Andenken meines Vaters bringen kann.<br />

Und so denkt an mich in Euren heiligen und frommen Gebeten,<br />

wenn Ihr dieses kleine Geschenk oft in den Händen haltet.<br />

Auch wenn das Büchlein nur in mässigem Glanz schimmert,<br />

so mögen doch die erhabenen Lieder Davids Dir gefallen.<br />

Möge mein Rinnsal von Eurem Strom aufgenommen werden<br />

und unsere kleine Blume auf den Blumenhain gelangen.<br />

Du sollst als Lenker auf lange Zeit hinaus gesund bleiben<br />

und die Kirche Gottes mit der Kunst der dogmatischen Lehre leiten.<br />

Streitsachen. Die kritische Position Karls<br />

gegenüber der Bilderverehrung wird mitbestimmend<br />

für die Ausstattung des Psalters<br />

gewesen sein: Auf Miniaturen wurde<br />

ganz verzichtet. Der für eine Prachthandschrift<br />

typische Buchschmuck findet sich<br />

nur in der Form von Schmuckinitialen<br />

(Abb. 3). Die traditionellerweise als Miniaturen<br />

in die Handschriften eingebundenen<br />

Autorbilder oder Christusdarstellungen<br />

fehlen. Ihre Funktion übernimmt der<br />

Elfenbein-Einband.<br />

Gegen die spanische Irrlehre<br />

Die fränkische Haltung gegenüber dem<br />

spanischen Adoptianismus bezeugen die<br />

fünf Glaubensbekenntnisse in den Vorreden.<br />

Es ist zwar üblich, dass am Ende einer<br />

mittelalterlichen Psalterhandschrift<br />

das Apostolische Taufbekenntnis angeführt<br />

wird. Ganz und gar ungewöhnlich<br />

allerdings ist es, fünf unterschiedliche<br />

Glaubensbekenntnisse in die Vorreden<br />

mitaufzunehmen, so wie dies die Redaktoren<br />

der Vorreden des Dagulf Psalters<br />

machten. Dieser Bruch mit der Tradition<br />

hätte mit Bestimmtheit auch den Papst irritiert.<br />

Rom liess keine Gelegenheit aus,<br />

die fränkischen Theologen darauf hin-<br />

2 «Adoptianismus» bezeichnet eine theologische<br />

Lehre, wonach Jesus Christus nur ein Mensch gewesen<br />

sei, der von Gott gleichsam «adoptiert» wurde.<br />

Diese Lehre war Anlass der Synoden in Regensburg<br />

im Jahr 792, in Frankfurt im Jahr 794 und in<br />

Aix-la-Chapelle im Jahr 799, die den Adoptianismus<br />

als Irrlehre verurteilten.<br />

zuweisen, dass neben dem Altrömischen<br />

Bekenntnis aus dem zweiten Jahrhundert<br />

keine neuen Bekenntnisse mehr aufgestellt<br />

werden sollten. Auch gegen die zeitgleich<br />

mit der Anfertigung des Psalters<br />

vorgenommene Aufnahme des Glaubensbekenntnisses<br />

in die fränkische Liturgie<br />

wehrte sich der Klerus Roms. Seine Argumentation<br />

war so entschieden wie entwaffnend:<br />

«Die römische Kirche hat sich<br />

niemals mit dem Bodensatz einer Irrlehre<br />

befleckt, sondern ist in der Reinheit des<br />

katholischen Glaubens entsprechend der<br />

Lehre des Petrus unerschütterlich geblieben,<br />

weshalb es diejenigen nötiger haben,<br />

das Bekenntnis zu singen, welche sich von<br />

einer Ketzerei beschmutzen liessen.»<br />

Die Kirche des Frankenreichs jedoch<br />

musste sich von diesem Vorwurf nun<br />

wirklich nicht betroffen fühlen. Gerade<br />

in den Grenzregionen zu Spanien wurde<br />

mit Vehemenz und auch Erfolg ein Herüberschwappen<br />

des spanischen Irrglaubens<br />

bekämpft. In den Augen des fränkischen<br />

Klerus’ war das Singen des Glaubensbekenntnisses<br />

eng verbunden mit der Verteidigung<br />

der Rechtgläubigkeit. So schreibt<br />

der Abt des Klosters Reichenau: «Unter<br />

den Galliern und Germanen begann das<br />

Bekenntnis in den Abendmahlsfeiern häufiger<br />

rezitiert zu werden nach der Absetzung<br />

des adoptianistischen Ketzers Felix,<br />

der in der Regierungszeit Karls verurteilt<br />

wurde». Für die Franken war das Singen<br />

Abb. 2: Erstes Widmungsgedicht.<br />

des Glaubensbekenntnisses gerade nicht<br />

ein Zeichen fehlender Glaubensstärke,<br />

sondern Verteidigung und Vergewisserung<br />

der eigenen Rechtgläubigkeit. Nur vor diesem<br />

Hintergrund wird verständlich, weshalb<br />

die Aachener Hoftheologen gleich<br />

fünf Versionen des Glaubensbekenntnisses<br />

in die Vorreden des Dagulf-Psalters<br />

aufnahmen. Weil die Irrlehren immer wieder<br />

andere sind, müssen auch stets neue Bekenntnisse<br />

formuliert werden.<br />

Hüter der reinen Lehre<br />

Die fünf Glaubensbekenntnisse integrieren<br />

Karl in die lange Geschichte der kirchlichen<br />

Streitfragen, womit sein Agieren in<br />

kirchlichen Angelegenheiten auch legitimiert<br />

wird. Diese Legitimierung gegenüber<br />

dem geistlichen Oberhaupt ist deshalb<br />

notwendig geworden, weil Karl der<br />

Grosse in der Bilderfrage eine vom Papst<br />

abweichende Position bezog und in der<br />

Frage des Adoptianismus immer wieder<br />

am Papst vorbei direkt mit den Spaniern<br />

verhandelte.<br />

Die Reihe der Bekenntnisse beginnt mit einer<br />

auf dem 1. Konzil von Nikäa (325) gebilligten<br />

Formel. Sie bildet gleichsam die<br />

Folie, durch die hindurch die Zusätze der<br />

folgenden Bekenntnisse ersichtlich werden.<br />

Gleich wie die Mehrzahl der übrigen<br />

Formeln trägt auch das Nizänische<br />

Bekenntnis die Spur seiner Entstehung im<br />

Kampf gegen den Irrglauben: Jene wel-<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

45


che die Göttlichkeit Jesu weiterhin leugneten,<br />

würde «die katholische Kirche mit<br />

dem Bannfluch» belegen, wird am Schluss<br />

gedroht. Die drei folgenden Bekenntnisse<br />

unterstreichen die Göttlichkeit der trinitarischen<br />

Personen. Die fünfte Glaubensformel<br />

ist mit sieben Seiten die längste Fassung.<br />

Sie nennt den Schlüsselbegriff im<br />

Adoptianismus-Streit: «Wir glauben an<br />

Jesus Christus, Gottes einziggeborener<br />

Sohn, der nicht adoptiert wurde, sondern<br />

wahrhaftig geboren und wesensgleich mit<br />

dem Vater ist.»<br />

Indem Karl der Grosse im unmittelbaren<br />

zeitlichen Umfeld der Frankfurter Synode<br />

gedenkt, den Dagulf-Psalter Papst Hadrian<br />

I. zu schenken, wird eine nicht ganz<br />

selbstlose Absicht offenbar: Karl will sich<br />

vor dem Nachfolger Petri als «Defensor»,<br />

als Verteidiger des rechten Glaubens präsentieren<br />

und damit die Einlösung jener<br />

Verpflichtung signalisieren, welche in den<br />

päpstlichen Briefen mit dem Zusatz «Defensor<br />

Ecclesiae» zum offiziellen Titel<br />

Karls wiederholt ausgesprochen wurde.<br />

Der neue David<br />

Der Dagulf-Psalter ist aber ebenso eine<br />

bild-textliche Darstellung einer weiteren<br />

Betitelung Karls, die sich auch genau für<br />

besagte Jahre am Aachener Hof ein erstes<br />

Mal nachweisen lässt und die in der Folge<br />

beinahe inflationäre Verwendung fand:<br />

die Bezeichnung Karls als «novus David».<br />

Im zweiten Widmungsgedicht vergleicht<br />

der Schreiber Dagulf Karl den Grossen mit<br />

David. Seine Widmung schliesst mit einem<br />

Segenswunsch: «Möge Dein Szepter mit<br />

vielen Siegen geschmückt werden/und Du<br />

selbst dem Chor Davids beigesellt!» Die<br />

Beziehung zwischen David und Christus<br />

wird im ersten Widmungsgedicht ausgeführt:<br />

«Dieses Saiteninstrument, Christus,<br />

lässt Deine erhabenen Wunder erklingen,/<br />

Du, der Du den Schlüssel Davids, sein<br />

Reich und sein Haus besitzst».<br />

Auf der Bildebene des Elfenbein-Einbands<br />

ist dieser Bezug geschaffen über<br />

das Lamm Gottes, welches in die Zierleiste<br />

über dem auf einem Thron psalmierenden<br />

David eingelassen ist. Der Dreischritt<br />

von David zu Christus und von<br />

David zu Karl, mithin also die Herrschaft<br />

legitimierende heilsgeschichtliche Anbindung<br />

des Frankenkönigs an die biblische<br />

Zeit, ist Bild- und Textprogramm des<br />

46 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

Abb. 3: Eine Zierseite aus dem Psalter.<br />

Psalters. Wie eng der Zusammenhang zwischen<br />

der Bezeichnung Karls mit David<br />

und der Verteidigung der Rechtgläubigkeit<br />

ist, zeigt der erste Beleg überhaupt für diesen<br />

Vergleich. Er findet sich in einem die<br />

Streitfrage des Adoptianismus behandelnden<br />

Brief Alkuins aus dem Jahre 794:<br />

«Selig schätzen kann sich jenes Volk, das<br />

einen ebenso hervorragenden Lenker (rector)<br />

wie begnadeten Prediger (praedicator)<br />

hat; einen Herrscher, der in seiner Rechten<br />

das siegreiche Schwert der Macht führt,<br />

in seiner Linken aber das klingende Horn<br />

der katholischen Verkündigung. Genau auf<br />

diese Weise hat einst der Psalmensänger<br />

David, von Gott erwählt und von Gott geliebt,<br />

das Volk Israel geführt. Von seinen<br />

Nachfahren und der jungfräulichen Maria<br />

wurde Christus geboren. Es ist dieser<br />

Christus, der seinem Volk nun in der heutigen<br />

Zeit einen Herrscher – nämlich Karl<br />

– schenkt, der nicht nur den Namen, sondern<br />

auch die Macht und den Glauben Davids<br />

hat.»<br />

Wird Karl am Aachener Hof mit David angesprochen,<br />

so trägt der Frankenregent damit<br />

nicht nur den Namen des alttestamentlichen<br />

Königs, sondern er verkörpert auch<br />

dessen ideale Herrschaftsform, welche in<br />

der Verbindung von weltlicher und geistlicher<br />

Macht besteht und in der Formel «rector<br />

et praedicator» zum Ausdruck kommt.<br />

Als König und Priester wird auch David<br />

auf dem Elfenbein-Einband dargestellt: als<br />

thronender Psalmist. Statt der Herrsche-<br />

rinsignien hält er die Harfe, welche nach<br />

Hieronymus «wegen ihrer Schildform als<br />

die Kirche im Kampf gegen die Häresie<br />

ausgelegt werden kann».<br />

Genau wie David mit seinem Psalmengesang<br />

den orthodoxen Glauben verkündet,<br />

tut Karl dies im Rahmen der Synoden.<br />

Der Dagulf-Psalter liest sich wie<br />

eine dem Papst vorgelegte Signatur dieses<br />

Dienstes am Glauben. Im letzten der<br />

fünf Glaubensbekenntnisse kommt die<br />

aktuelle Ausrichtung einer jahrhundertelangen<br />

Glaubensverkündigung und -verteidigung<br />

zum Ausdruck, welche mit David<br />

ihren Ursprung hat, in Christus ihre<br />

Offenbarung und Erfüllung, über die jeweils<br />

unterschiedlichen Bekenntnisse fortgeschrieben<br />

wurde und in Karl einen vorläufigen<br />

Abschluss findet. Die Anbindung<br />

Karls an diese Tradition gelingt nur auf<br />

der Basis einer Lehre von Christus, wie sie<br />

gegen den Adoptianismus verteidigt und<br />

im letzten Glaubensbekenntnis angezeigt<br />

wurde: Christus als Inkarnation der unversehrten<br />

Göttlichkeit im unversehrten Menschen.<br />

Nur so kann die genealogische Linie<br />

von David zu Christus als Erwählung<br />

Karls durch Christus fortgesetzt werden.<br />

Karl der Grosse äussert in seinem Widmungsgedicht<br />

den Wunsch, der Papst<br />

möge seiner im Gebet gedenken, wenn<br />

er «das kleine Geschenk oft in den Händen»<br />

hält. Wichtiger wohl als die päpstliche<br />

Fürbitte war dem König jedoch, dass<br />

das geistliche Oberhaupt sich anhand des<br />

Psalters seiner Verdienste um die Sache<br />

der Kirche bewusst wurde. In dieser<br />

Hinsicht war grosses diplomatisches<br />

Geschick wahrlich vonnöten und dabei<br />

waren prachtvolle Geschenke sicherlich<br />

förderlich. Immerhin ist es traditionellerweise<br />

die Aufgabe des Papstes, sich als<br />

Hüter der Rechtgläubigkeit zu beweisen.<br />

In einer Zeit jedoch, in welcher der Papst<br />

sich oft genug ausgesprochen weltlich gab<br />

und sogar, zum ersten Mal in der Papstgeschichte,<br />

Kriegszüge in eigenem Namen<br />

durchführte, konnte es schon vorkommen,<br />

dass der König als Priester auftrat.<br />

Lic. phil. hist. Adrian Mettauer<br />

Institut für Germanistik


Gemeinsame Arbeit an einem berühmten Figurenportal<br />

Die Basler Galluspforte<br />

Die Galluspforte ist eines der bedeutendsten romanischen<br />

Skulpturenwerke der Schweiz. Das heilgeschichtliche<br />

Figurenprogramm des triumphbogenartigen Portals ist<br />

vielseitig interpretiert worden. Ist die gut erhaltene Pforte<br />

ein aus älteren Portalen zusammengestückeltes Flickwerk<br />

oder stellt sie ein streng theologisch begründetes Gesamtkunstwerk<br />

dar?<br />

Im Bogenfeld thront Christus als Weltenrichter<br />

umgeben von Petrus, Paulus und<br />

den Stiftern. Im Türsturz, Bezug nehmend<br />

auf den Kircheneingang, stehen die<br />

törichten Jungfrauen – ihre erloschenen<br />

Lampen in der Hand – vor verschlossener<br />

Tür, die weisen Jungfrauen, deren Lampen<br />

noch brennen, werden jedoch von Christus<br />

empfangen und aufgefordert, einzutreten.<br />

Im Gewände, d. h. in der seitlichen<br />

Umgrenzung links und rechts neben dem<br />

Eingang, stehen die vier Evangelisten; die<br />

in je drei übereinander gestellten Ädikulen<br />

(Baldachinen) dargestellten Werke der<br />

christlichen Barmherzigkeit daneben sollen<br />

dem Gläubigen einen möglichen Weg<br />

Abb. 1: Basel,<br />

Münster, Gal -<br />

luspforte.<br />

(Foto: E. Schmidt<br />

ins ewige Leben exemplarisch vorführen.<br />

Darüber, das Bogenfeld flankierend, stehen<br />

links Johannes der Täufer und rechts<br />

Johannes der Evangelist. Im obersten Register<br />

blasen zwei Engel zum Gericht des<br />

jüngsten Tages; die Toten erwachen, steigen<br />

aus ihren Gräbern und kleiden sich an,<br />

um beim Jüngsten Gericht zu erscheinen.<br />

Ausgangslage<br />

Die Galluspforte am Nordquerhaus des<br />

Basler Münsters wird mit dem spätromanischen<br />

Neubau nach einem allerdings<br />

durch eine zweifelhafte Quelle überlieferten<br />

Brand des Münsters im Jahre 1185 datiert.<br />

Sie verdankt ihre Berühmtheit der<br />

Bezeichnung als erstes Figurenportal im<br />

deutschsprachigen Raum (Abb. 1). Dieser<br />

Umstand hat die kunstgeschichtliche Literatur<br />

bewogen, Herleitungen jedweder<br />

Art zu entdecken. Die verschiedenen inhaltlichen<br />

Anregungen können vor allem<br />

in Frankreich und Italien gefunden werden.<br />

So ist der Gerichtsgedanke am Westportal<br />

der Abteikirche von Cluny, die Werke der<br />

Barmherzigkeit am linken Türpfosten des<br />

Nordportals des Baptisteriums von Parma<br />

ebenfalls anzutreffen.<br />

Auch der antike Triumphbogen von Besançon,<br />

die Porte Noire, gehört zu den<br />

Mosaiksteinen, aus denen das Bild der<br />

Galluspforte sich immer wieder neu zusammensetzen<br />

liess (Abb. 2).<br />

Es galt, diese angeblichen Beziehungen<br />

auf ihre Glaubwürdigkeit zu überprüfen<br />

und dabei das Münster in seiner Gesamtheit<br />

in die Diskussion einzubeziehen.<br />

Nach der Restaurierung der 1990er-Jahre,<br />

dem 500-Jahrjubiläum der Vollendung des<br />

Münsters und der Ausstellung des Münsterschatzes<br />

sind in jüngster Zeit neue Impulse<br />

zur Erforschung des Basler Münsters<br />

zu verzeichnen. Der Zeitpunkt erschien<br />

deshalb günstig, sich wieder einmal intensiver<br />

mit der Galluspforte als einem<br />

der kunsthistorischen Angelpunkte des<br />

Münsters auseinanderzusetzen.<br />

Stand und Perspektiven<br />

der Forschung<br />

Der Forschungsstand zur Galluspforte<br />

wurde zuletzt 1990 von Dorothea Schwinn<br />

Schürmann zusammengefasst (s. Literaturverzeichnis).<br />

Sie resümierte auch kurz<br />

die Restaurierungsgeschichte des Portals.<br />

Ein wichtiger erster Schritt war die Frage,<br />

wie die «Tür gegen die Linden hinuß» (so<br />

eine Quelle des 16. Jahrhunderts) im Laufe<br />

der Jahrhunderte gesehen und behandelt<br />

wurde. Für diesen rezeptionsgeschichtlichen<br />

Ansatz wurden sämtliche erreichbaren<br />

Bildquellen und Beschreibungen<br />

der Pforte zusammengestellt. Dabei galt<br />

es, die in der genannten Publikation nur<br />

kurz dargestellten Resultate der restauratorischen<br />

Untersuchung von 1986–89 auf-<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

47


zugreifen und vor allem der Frage der Farbigkeit<br />

in einem breiten Zusammenhang<br />

nachzugehen, wie das in den letzten Jahren<br />

etwa für die allerdings jüngeren Portale<br />

des <strong>Bern</strong>er oder des Freiburger Münsters<br />

sowie für das Portail peint von Lausanne<br />

(um nur die mittelalterlichen Beispiele aus<br />

der Schweiz zu nennen) geschehen ist.<br />

Das Portal: eine Einheit<br />

Offen waren aber auch die zentralen Fragen<br />

nach der Einheitlichkeit des Portals<br />

und – davon abhängig – nach seinem ursprünglichen<br />

Standort innerhalb des Münsters.<br />

Während Schwinn Schürmann 1990<br />

noch vermelden konnte, die neuere Forschungsliteratur<br />

gehe weitgehend einhellig<br />

von einer sekundären Montage verschiedener<br />

(West-)Portalteile aus, neigen die Beiträge<br />

der 1990er-Jahre eher wieder dazu,<br />

die Einheitlichkeit des Portals zu postulieren.<br />

Das hängt gewiss mit dem allgemeinen<br />

Bedeutungsrückgang normativer<br />

Vorstellungen zusammen; so wird heute<br />

beispielsweise die früher als störend empfundene<br />

Vielfalt – in Übereinstimmung<br />

mit dem mittelalterlichen Lob der «varietas»<br />

– durchaus als Qualität beurteilt. Insbesondere<br />

die überaus reiche Ornamentik<br />

ist in diesem Zusammenhang einer eingehenden<br />

Betrachtung wert. Der neue Blick<br />

hat aber auch die Augen für neue Vergleiche<br />

geöffnet, die als konkrete Argumente<br />

gegen die Stückwerk-Theorie aufgeführt<br />

werden können. So dürfen die zu Recht<br />

registrierten Stilunterschiede nicht über-<br />

48 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

Abb. 2: Besançon, Porte<br />

Noire.<br />

Abb. 3: Basel, Galluspforte, Auferstehende im Bogenzwickel.<br />

interpretiert werden, sind solche doch in<br />

der Portalskulptur des 12. und 13. Jahrhunderts<br />

allenthalben zu beobachten. Entsprechend<br />

wird in der neueren Forschung<br />

auf Händescheidungen (d. h. die Zuordnung<br />

einzelner Teile zu einem bestimmten<br />

Künstler) in der hochmittelalterlichen<br />

Bauhüttenskulptur oft ganz verzichtet.<br />

Den Vorwurf ikonografischer Inkonsistenz<br />

des Basler Portalprogramms konnte<br />

neuerdings Bruno Boerner (1994) wieder<br />

ausräumen. Und gegen das Argument der<br />

seltsamen Platzierung der Auferstehenden<br />

ist auf die sehr ähnliche Anordnung<br />

in den vor 1154 entstandenen Portalfresken<br />

von SS. Felice e Fortunato in Vicenza<br />

zu verweisen (Abb. 3 und 4). Auch die baugeschichtlich<br />

besten Argumente für eine<br />

sekundäre Versetzung des Portals, nämlich<br />

die Unregelmässigkeiten in der Innengliederung<br />

der Querhausstirnwand, waren<br />

unter Beachtung des ähnlichen Aufrisses<br />

etwa im Nordquerschiffs von St-Denis<br />

zu überdenken. So galt es, den Baubefund<br />

nochmals sorgfältig zu überprüfen<br />

und Vergleiche mit in situ befindlichen<br />

Portalen (wie dem vorbildlich untersuchten<br />

Fürstenportal des Bamberger Domes<br />

(Abb. 5), aber auch mit sicher sekundär<br />

versetzten zeitgleichen anzustellen. Gerade<br />

diese recht grosse Gruppe liefert unterschiedliche<br />

Modelle, zeigt aber auch,<br />

Abb. 4: SS. Felice e Fortunato in Vicenza,<br />

Hauptfassade, Auferstehende im Bogenzwickel.


dass diese Wertschätzung für romanische<br />

Portale im späteren Mittelalter ein<br />

Thema ist, das einer systematischen Diskussion<br />

in grösserem Rahmen bedarf. Zu<br />

nennen seien hier nur die Seitenportale in<br />

Bourges, die um 1172 zwar für eine neue<br />

Westfassade der romanischen Kathedrale<br />

geplant, dann aber im gotischen Neubau<br />

anderweitig verwendet wurden, oder das<br />

schon im frühen 13. Jahrhundert versetzte<br />

Ein Projekt der <strong>Universität</strong>en <strong>Bern</strong> und Basel<br />

Abb. 5: Bamberg, Dom, Fürstenportal.<br />

Johannes-Portal in der Petrikirche in Soest<br />

und die spätgotische Übernahme der<br />

«Goldenen Pforte» im Domneubau von<br />

Freiberg.<br />

Funktion des Portals<br />

Nicht betroffen von einem ursprünglich<br />

allenfalls anderen Status ist die Frage<br />

nach der Funktion der Galluspforte in ihrer<br />

heutigen Lage als Nordquerhausportal<br />

Die Kunsthistorischen Institute der <strong>Universität</strong>en <strong>Bern</strong> (Prof. Dr. Norberto Gramaccini,<br />

Dr. Sibylle Walther) und Basel (PD Dr. Hans-Rudolf Meier), unter Mitarbeit der<br />

Basler Denkmalpflege (Dorothea Schwinn Schürmann) und der Basler Münsterbauhütte<br />

(Peter Burckhardt, Münsterbaumeister), haben im Sommersemester 2001 ein<br />

gemeinsames Seminar zur Basler Galluspforte durchgeführt. Es ging darum, der<br />

eingefahrenenen kunsthistorischen Literatur gegenüber neue Aspekte abzugewinnen.<br />

Diskutiert wurde im Seminar und vor Ort, wobei die Studierenden beider Institute<br />

einander kennen lernten.<br />

Von Anbeginn war geplant, mit den Ergebnissen an eine breite Öffentlichkeit heranzutreten.<br />

Seit September 2002 ist es soweit: im Museum Kleines Klingental in Basel<br />

findet die Ausstellung statt (7. September 2002 bis 26. Februar 2003); dazu ist<br />

eine wissenschaftliche Publikation mit internationaler Autorenschaft erschienen.<br />

Für die Studierenden war ein weit gespannter Bogen von Fragen und Forschungsproblemen<br />

zu beschreiten, den sie mit den Fachleuten vor Ort besprechen konnten.<br />

In vielen Bereichen konnten echte Fortschritte erzielt, manchmal auch neue Fragestellungen<br />

aufgeworfen werden; zuweilen blieb es bei der Feststellung, dass man über<br />

das bisher Bekannte nicht hinaus komme. Dass man dabei einmal Studierende einer<br />

anderen <strong>Universität</strong> vor sich hatte und sich mit ihren Erfahrungen messen konnte, hat<br />

sich belebend ausgewirkt. So ist neben der wissenschaftlichen Ausbeute als Ergebnis<br />

der Gemeinschaftsarbeit in jedem Fall festzuhalten, dass diese Form der Lehrveranstaltung,<br />

mit der Arbeit vor dem Objekt und in Kooperation über die Grenzen der<br />

<strong>Universität</strong> hinaus, für Lehrende und Lernende gleichermassen anregend ist.<br />

Abb. 6: Basel, Münster, Galluspforte, Barmherzigkeit:<br />

die Kleidung des Nackten.<br />

(Foto: E. Schmidt, in Meier/Schwinn Schürmann, Galluspforte)<br />

im Rahmen von Liturgie und Repräsentation.<br />

Hier konnte an jüngste Vorarbeiten<br />

von Regine Abegg (z. Z. Lehrbeauftragte<br />

am Kunsthistorischen Institut in Zürich)<br />

angeknüpft werden, die darauf aufmerksam<br />

gemacht hat, dass die Galluspforte<br />

gemäss dem Ceremoniale des Domstifts<br />

der Ort war, bei dem in der Palmsonntagsprozession<br />

der Einzug in Jerusalem kommemoriert<br />

wurde. Das Basler Portal hätte<br />

damit temporär die Rolle des Jerusalemer<br />

Stadttors übernommen, ein Aspekt, der bei<br />

der Thematisierung des Portals im ikonografischen<br />

Zusammenhang zu berücksichtigen<br />

ist.<br />

Die Entstehungszeit<br />

Der Ausgang der Debatte um die Einheitlichkeit<br />

des Portals wirkt zurück auf die<br />

Frage nach seiner Entstehung. Dieses früher<br />

intensiv, in der letzten Dekade aber<br />

kaum mehr diskutierte Problem wird neuerdings<br />

um die Deutung des – relativ späten<br />

– Dendrodatums (Altersbestimmung<br />

mittels Jahrringzählung des Holzes) der<br />

Querhausrose bereichert. Zugleich drängt<br />

es sich auf, das für die Datierungsfrage<br />

des spätromanischen Münsters so zentrale<br />

Datum des Münsterbrandes von<br />

1185 – an dessen Relevanz bereits Stehlin<br />

zweifelte, das aber Hans Reinhardt wieder<br />

in der Forschungsdiskussion fixierte –<br />

quellenkritisch zu überprüfen. Mit der Datierungsfrage<br />

eng verknüpft ist jene nach<br />

den Stiftern, die im Tympanon der Galluspforte<br />

bekanntlich prominent dargestellt,<br />

aber leider nicht beschriftet sind. Nach einem<br />

frühen Versuch, sie mit Graf Fried-<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

49


Abb. 7: Basel, Münster, Galluspforte, Türsturz, «Die törichten Jungfrauen».<br />

rich von Montbéliard und Pfirt (1093 bis<br />

1160) und dessen Gemahlin Stephania von<br />

Vaudémont-Egisheim (<strong>114</strong>0–1160) zu identifizieren,<br />

hat die neuere Forschung dazu<br />

nichts Neues beigetragen, jedoch die Portalstiftung<br />

als Thema des Programms hervorgehoben.<br />

Auch hierzu liessen sich weiterführende<br />

Vergleiche nennen, die zeigen,<br />

wie im Basler Tympanon die Tradition von<br />

Stifterdarstellungen im Portal mit jener<br />

der Thematisierung der (Himmels)-Pforte<br />

im Portalzusammenhang verknüpft wurde.<br />

Auch mit der in diesem Kontext seltenen<br />

Darstellung der Werke der Barmherzigkeit<br />

waren persönliche Erwartungshaltungen<br />

der Stifter verbunden (Abb. 6).<br />

Im selben heilsgeschichtlichen Zusammenhang<br />

steht die Verbindung von Weltgericht<br />

und Klugen und Törichten Jungfrauen,<br />

ein Thema, das auch im <strong>114</strong>0<br />

entstandenen Westportal von St-Denis<br />

vorkam (Abb. 7 und 8).<br />

Mit St-Denis, der Grabkirche der französischen<br />

Könige in der Nähe von Paris,<br />

ist ein Monument angesprochen, das zur<br />

Frage nach der Stellung der Galluspforte<br />

in der Geschichte des Figurenportals überführt:<br />

Auf welche Vorläufer in Frankreich<br />

und Italien nimmt das Basler Portal in welcher<br />

Weise Bezug, und welche entwicklungsgeschichtliche<br />

Bedeutung kommt<br />

ihm seinerseits für die deutschen Figurenportale<br />

der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts<br />

(u. a. Bamberg, Freiberg) zu?<br />

Ein neuerer methodischer Ansatz von<br />

Peter Cornelius Claussen (Ordinarius<br />

für Kunstgeschichte des Mittelalters am<br />

Kunsthistorischen Institut in Zürich) erwies<br />

sich dabei als fruchtbar: Mit dem<br />

50 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

Begriff «Transperipherie» bezeichnet er<br />

ein Denkmodell, mit dem für die Figurenportale<br />

das oft bemühte Schema von<br />

einfachen Abhängigkeiten vom Zentrum<br />

Ile-de-France (oder allenfalls Provence)<br />

durchbrochen werden kann. Im Zusammenhang<br />

mit Vorbildern für die Galluspforte<br />

war überdies die Bedeutung des<br />

römischen Stadttores von Besançon, der<br />

Porte Noire (s. Abb. 2) erneut zu diskutieren.<br />

In der Tat hat die Mittelalterforschung<br />

der Antikenrezeption, d. h. der<br />

Erforschung der Übernahme antiker Elemente<br />

in der Form und Gestaltung späterer<br />

Kunstwerke, in den letzten Jahren vermehrt<br />

Aufmerksamkeit geschenkt.<br />

Abb. 9: St Ursanne,<br />

Collégiale, Portal.<br />

(© Foto: Jacques Bélat)<br />

Abb. 8: Saint Denis, «törichte Jungfrau».


Auf die Frage der Nachfolge der Galluspforte<br />

ist neben dem entwicklungsgeschichtlichen<br />

sehr weiten Bogen auch der<br />

geographisch kleinere, jedoch konkretere<br />

Resultate liefernde Kreis der möglichen<br />

Nachfolger in der Region zu schlagen<br />

(St-Ursanne (Abb. 9), Neuenburg, das<br />

Elsass, Petershausen (nördlich von München)<br />

und Kloster Schöntal (östlich von<br />

Heidelberg).<br />

Die Basler Galluspforte oszilliert zwischen<br />

Antike und Moderne, zwischen<br />

Provinz und Transperipherie. Dabei weiss<br />

sie diese Bereiche eigenwillig miteinander<br />

zu verknüpfen, gleichermassen als wollte<br />

sie sich ebenso des berühmten Altertums<br />

wie der zeitgenössischen Scholastik vergewissern<br />

und ebenso Lokal- wie Weltpolitik<br />

treiben.<br />

Prof. Dr. Norberto Gramaccini,<br />

Dr. Sibylle Walther,<br />

Institut für Kunstgeschichte,<br />

PD Dr. Hans-Rudolf Meier,<br />

Kunsthistorisches Seminar,<br />

Uni Basel<br />

Abb. 2, 3, 4, 5, 7 und 8: Institut für Kunstgeschichte<br />

Literaturverzeichnis<br />

• Regine, Abegg, Funktion des Kreuzgangs im Mit-<br />

telalter – Liturgie und Alltag, in: Kunst + Archi-<br />

tektur in der Schweiz 48, 1997, S. 6–24.<br />

• Bruno Boerner: Überlegungen zum Programm der<br />

Basler Galluspforte, in: Kunst + Architektur in der<br />

Schweiz 45/3, 1994, 238–246.<br />

• Peter Cornelius Claussen: Zentrum, Peripherie,<br />

Transperipherie. Überlegungen zum Erfolg des go-<br />

tischen Figurenportals an den Beispielen Chartres,<br />

Sangüesa, Magdeburg, Bamberg und den Westpor-<br />

talen des Domes S. Lorenzo in Genua, in: Beck/<br />

Hengevoss-Dürkop1994, 665–687.<br />

• Regine Körkel-Hinkfoth: Sinnbild des Jüngsten Ge-<br />

richts – Darstellung der Parabel von den klugen<br />

und törichten Jungfrauen am Basler Münster, in:<br />

Unsere Kunstdenkmäler 44, 1993, 309–322.<br />

• Hans-Rudolf Meier, Dorothea Schwinn Schürmann<br />

(Hg.): Schwelle zum Paradies. Die Galluspforte des<br />

Basler Münsters, Basel 2002 (Ausstellungskata-<br />

log).<br />

• Hans Reinhardt, Das Basler Münster, Basel 1961.<br />

• Dorothea Schwinn Schürmann: Die Restaurie-<br />

rungs- und Forschungsgeschichte der Galluspforte,<br />

in: Die Münsterbauhütte Basel 1985–1990, Basel<br />

1990, 57–65.<br />

• Dies.: Das Basler Münster. Schweiz. Kunstführer<br />

GSK Nr. 689/80, <strong>Bern</strong> 2000.<br />

• Karl Stehlin, in: Baugeschichte des Basler Müns-<br />

ters, hrsg. vom Basler Münsterbauver., BS, 1895, 6f.<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

51


Ringvorlesung des <strong>Bern</strong>er-Mittelalter-Zentrums (BMZ)<br />

52 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

Europa und der Orient<br />

im WS 2002/03<br />

Donnerstag, jeweils 17–19 Uhr, Hauptgebäude der <strong>Universität</strong>, Hochschulstrasse 4, Hörsaal 220.<br />

31.10.2002 Prof. Dr. Rainer C. Schwinges Vom Einfluss der Kreuzzüge<br />

auf die europäische Kultur<br />

07.11.2002 Prof. Dr. Hans-Joachim Schmidt, Fribourg Geographisches Wissen von fremden Räumen<br />

14.11.2002 Lic. phil. Adrian Mettauer Im Osten viel Neues. Die Wunder des Orients<br />

in der Literatur des 12. Jahrhunderts<br />

21.11.2002 Prof. Dr. Johannes Tripps Von Natterzungen, chinesischem Porzellan<br />

und Unterwasserpalmen: Pilgerandenken als<br />

Objekte mittelalterlicher Goldschmiedekunst<br />

28.11.2002 Lic. phil. Nicole Staub „Wir sind zu Orientalen geworden“.<br />

Wilhelm von Tyrus über Europäer und<br />

Orientalen im Kreuzfahrerkönigreich Jerusalem<br />

05.12.2002 Prof. Dr. Anke von Kuegelgen Die Tamerlane-Rezeption in Orient<br />

und Okzident<br />

12.12.2002 Dr. Therese Bruggisser-Lanke, Thun Der Moriskentanz – Vom Ritual zum Drama.<br />

Kollektive Erinnerung an Kreuzzüge<br />

und Türkenkriege (mit Musikbeispielen)<br />

19.12.2002 Prof. Dr. Volker Hoffmann Was verdankt die abendländische Baukunst<br />

dem Morgenlande?<br />

09.01.2003 PD Dr. Christoph T. Maier, Basel Die Rolle der Frauen in der Kreuzzugsbewegung<br />

16.01.2003 PD Dr. Paul Strässle, Zürich Krieg und Frieden in Byzanz<br />

23.01.2003 PD Dr. Andreas Kaplony, Zürich Ein Florentiner Kaufmann auf der Seidenstrasse:<br />

Pegolottis Handels-Handbuch im Vergleich<br />

mit muslimischen Reiseberichten<br />

30.01.2003 Prof. Dr. Stig Förster und Bedrohung aus dem Osten. Die Mongolen<br />

Prof. Dr. Karénina Kollmar-Paulenz<br />

06.02.2003 Prof. Dr. Hubert Herkommer Wolframs „Parzival“ als Orientroman


Senioren-<strong>Universität</strong> – Programm 2002/2003<br />

Die Vorträge finden in Räumen der <strong>Universität</strong> statt. Im Wintersemester sind jeweils der Dienstag und Freitag reserviert, im Sommersemester<br />

nur der Freitag. Dienstags steht der Hörsaal A 6, Institut für Exakte Wissenschaften, Sidlerstrasse 5, 16.15–18.00<br />

Uhr und freitags der Hörsaal 110 im Hauptgebäude der Uni, Hochschulstrasse 4, (1. Stock), 14.15–16.00 Uhr zur Verfügung.<br />

Anmeldung 2002/2003<br />

Die Anmeldefrist für die Mitgliedschaft dauert vom 1. Okt. bis 31. Dez. 2002. In besonderen Fällen können Anmeldungen noch<br />

während des laufenden akademischen Jahres erfolgen. Mitgliedern der Senioren-<strong>Universität</strong> wird das neue Programm mit eingeheftetem<br />

Einzahlungsschein automatisch zugestellt. Die Senioren-<strong>Universität</strong> steht jedermann offen, der das 60. Altersjahr überschritten<br />

hat. Frühpensionierte können sich ab dem 55. Altersjahr anmelden. Mitgliederbeitrag Fr. 60.– für das akademische Jahr.<br />

Vorträge<br />

Dienstag, 22. Oktober Wolfram von Eschenbach: «Parzivâl»/ Prof. Dr. phil. Hanns Peter Holl<br />

Adolf Muschg: «Der rote Ritter.<br />

Eine Geschichte von Parzivâl»<br />

Freitag, 25. Oktober Aus der Geschichte des <strong>Bern</strong>er Prof. Dr. ing. Daniel Vischer, ETHZ<br />

Hochwasserschutzes; vom Schwellenwesen zu<br />

den grossen Korrektionen des 19. Jahrhunderts<br />

Dienstag, 29. Oktober Psychische Folgen kritischer Lebensereignisse Prof. Dr. phil. Hansjörg Znoj<br />

Freitag, 1. November Zeitgenössische Westschweizer Literatur Dr. phil. Béatrice Chissalé (em.)<br />

Dienstag, 5. November Wasserwelten Neuseelands und der Schweiz – Dr. phil. Rolf Weingartner<br />

ein Vergleich<br />

Freitag, 8. November Halten Sie sich jung; Behandlung von Dr. med. Lasse Braathen<br />

Altershaut, Falten und Hautkrebsen<br />

Dienstag, 12. November Bewegung und Gesundheit Dr. med. Hans Hoppeler<br />

Freitag, 15. November Geldanlage ohne Kristallkugel Prof. Dr. rer. pol. Claudio Loderer<br />

Dienstag, 19. November Naturkatastrophen als Schrittmacher Prof. Dr. phil. Christian Pfister<br />

gesellschaftlicher Lernprozesse<br />

Freitag, 22. November Chemie: Vielfalt und Wandel des Materiellen Prof. Dr. phil. Jürg Hulliger<br />

Dienstag, 26. November Schweizerische Auswanderung nach Argentinien Dr. phil. Markus Glatz<br />

in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts<br />

Freitag, 29. November Herzinsuffizienz beim älteren Patienten Dr. med. Hullin Roger<br />

Dienstag, 3. Dezember Herzinfarkt – gibt es eine wirksame Prävention? PD Dr. med. Rubino Mordasini<br />

Freitag, 6. Dezember Klimawechsel und Erosion Prof. Dr. phil. Fritz Schlunegger<br />

Dienstag, 10. Dezember Zur Weltliteratur des Kindes: Prof. Dr. phil. Franz Georg Maier (em.)<br />

Die «Kinderbuchklassiker»<br />

Freitag, 13. Dezember Der alte Mensch in biblisch-theologischer Sicht Prof. Dr. theol. Martin Klopfenstein (em.)<br />

Dienstag, 17. Dezember Entstehung und Entwicklung der operativen PD Dr. med. Urs Heim (em.)<br />

Knochenbruchbehandlung<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

53


Freitag, 20. Dezember Die gotische Kathedrale als Abbild des Prof. Dr. phil. Peter Kurmann, Fribourg<br />

himmlischen Jerusalem.<br />

Ein Mythos der Kunstgeschichte?<br />

Dienstag, 7. Januar So kamen die Bauern zu ihren Wappen Ehrensenator Berchtold Weber<br />

Freitag, 10. Januar «Der Mozart-Effekt» – macht Musik klüger? Prof. Urs Frauchiger<br />

Dienstag, 14. Januar Aus Geometrie und Zahlentheorie: Ungelöstes – Prof. Dr. phil. Jürg Rätz (em.)<br />

schön Gelöstes – Unlösbares<br />

Freitag, 17. Januar Sprachstörungen nach Hirnschlag Dr. med. Ellen Markus<br />

Dienstag, 21. Januar Der Glaube an Gott nach Auschwitz Prof. Dr. phil. Ernst Ludwig Ehrlich (em.)<br />

Freitag, 24. Januar Gehirn und Bewusstsein Prof. Dr. med. Norbert Herschkowitz (em.)<br />

Dienstag, 28. Januar Space Odyssee 2011: Prof. Dr. phil. Kathrin Altwegg<br />

die europäische Kometenmission Rosetta<br />

Freitag, 31. Januar Wohlfahrtsstaatliche Reformen in Europa Prof. Dr. rer. soc. Klaus Armingeon<br />

Dienstag, 4. Februar Möglichkeiten und Grenzen Dr. med. Brigitte Ausfeld<br />

der Traditionellen Chinesischen Medizin<br />

Freitag, 7. Februar Zur Entstehung und Entwicklung der Stadt <strong>Bern</strong> Dr. phil. Armand Baeriswyl<br />

im Mittelalter – alte und neue Erkenntnisse,<br />

Hypothesen und Spekulationen<br />

Freitag, 28. März Minotaurus und Theseus – oder: Tiermensch Prof. Dr. phil. Peter Rusterholz (em.)<br />

und Menschentier – Friedrich Dürrenmatts<br />

Texte und Bilder zur Frage nach der Natur<br />

des Menschen<br />

Freitag, 4. April Ein Entwicklungshilfeeinsatz in Tanzania PD Dr. med. Walter Schweizer<br />

Freitag, 11. April Die Geschichte des Universums: Prof. Dr. phil. Uwe-Jens Wiese<br />

Vom Urknall bis heute<br />

Freitag, 25. April Die Kunst der manuellen Druckgraphik Patricia Schneider, Solothurn<br />

Freitag, 2. Mai Aktuelle Themen und Probleme der Prof. Dr. med. Daniel Candinas<br />

Transplantationsmedizin<br />

Freitag, 9. Mai Die Chancen der Gewaltfreiheit in einer Welt Prof. Dr. theol. Wolfgang Lienemann<br />

der Gewalt<br />

Freitag, 16. Mai Bienen – soziale Insekten Dr. phil. Anna Heitzmann<br />

Entwicklungsprozesse im Bienenvolk<br />

Freitag, 23. Mai Digitale Bildgebung in der Medizin Prof. Dr. med. Peter Vock<br />

Freitag, 30. Mai Schweizer Puppentheater im 20. Jahrhundert Dr. phil. Elke Krafka<br />

Freitag, 6. Juni Franz Liszts musikalische Schweizerreise Prof. Dr. phil. Anselm Gerhard<br />

Freitag, 13. Juni Konstantin der Grosse und Dr. phil. Bruno Bleckman<br />

der Triumph des Christentums<br />

54 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002


Freitag, 20. Juni UNESCO – Weltnaturerbe und die Schweiz PD Dr. phil. Meinrad Küttel<br />

Freitag, 27. Juni Hanf, Anbau und Ernte; Verarbeitung zu legalen Dr. phil. Werner <strong>Bern</strong>hard<br />

und illegalen Produkten<br />

Seminare, Führungen, Exkursionen und Kurse<br />

Bei den meisten Veranstaltungen unter dieser Rubrik (mit Ausnahme der Seminare) ist die Zahl der Teilnehmenden beschränkt. Zu allen<br />

Anlässen ohne Orts- und Zeitangabe werden entsprechende Informationen während des Semesters schriftlich aufgelegt sowie<br />

auf der Homepage der Seniorenuniversität publiziert: http://www.advd.unibe.ch/imd/seniorenuni<br />

Führungen, Besichtigungen und Exkursionen<br />

• „Theater in Gegenwart und Geschichte“ Prof. Martin Dreier und Prof. Andreas Kotte<br />

• Was sagt das Steinbeil? Prof. Felix Müller<br />

• Ausstellungsbesuch im Centre Dürrenmatt Prof. Peter Rusterholz<br />

• Forschungsstelle für Namenkunde mit Einführung in Entstehung und Arbeitsweise Dr. Erich Blatter und<br />

des Ortsnamenbuchs des Kantons <strong>Bern</strong> Frau Dr. Erika Derendinger<br />

• Herzzentrum Sonnenhof PD Rubino Mordasini<br />

• Grabungsbesuch auf dem Casinoplatz Dr. Armand Baeriswyl<br />

• Holzburgen im Raum Signau – zur Erstbesiedlung und zum Landesausbau Hans Grütter<br />

des Emmentals im Früh- und Hochmittelalter<br />

• Druckateliers der Hochschule für Gestaltung, Kunst und Konservierung in Bümpliz Patricia Schneider<br />

• Magnetresonanz -Tomographie (MRI) am Inselspital Prof. Peter Vock<br />

• Begleitung eines Vorstellungsbesuches des <strong>Bern</strong>er Puppentheaters Dr. Elke Krafka<br />

• Bienen und ihre Trachtpflanzen – Ein Blick in die Honigproduktion Dr. Anna Heitzmann<br />

• „<strong>Bern</strong>er Tanztage“ 11.–28. Juni Dr. Claudia Rosiny<br />

Seminare und Kurse<br />

• Amor fucatus – Marginalie zu einem wiederentdeckten Gemälde des H. v. Aachen Frau Prof. Ellen J. Beer (em.)<br />

• Urininkontinenz bei der Frau: das muss nicht sein Dr. med. Fiona Burkhard<br />

• Littérature suisse romande contemporaine – Zeitgenössische Westschweizer Literatur Dr. Béatrice Chissalé<br />

• Kurs in Kalligraphie Heidi Trachsel-Kurth (031 829 19 35)<br />

Kursangebot des Instituts für Sport- und Sportwissenschaft der <strong>Universität</strong><br />

Kursart Praktische Durchführung eines körperlichen Trainings mit den Themen: Dehnen, Kräftigen – Lösen, Entspannen<br />

– körperliche Beweglichkeit – geistige Beweglichkeit. Den eigenen Körper und seine Möglichkeiten<br />

bewusst wahrnehmen. Die Erfahrung auf Alltagshaltung und Alltagsbewegungen übertragen.<br />

Freude und Spass am gemeinsamen Bewegen, Tanzen, Sport und Spiel.<br />

Kursverantwortung Frau Margrit Bischof, Dozentin am Institut für Sport und Sportwissenschaft (ISSW)<br />

Kursleitung Frau Dr. Trudi Stiffler<br />

Voraussetzungen Der Kurs richtet sich an alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Senioren-<strong>Universität</strong>, die bereit sind,<br />

sich für ihr individuelles Wohlbefinden zu engagieren. Dazu sind keine besonderen sportlichen Voraussetzungen<br />

notwendig. Der Unterricht findet in 2 Gruppen statt. Gruppe A: Montag 14.00–15.00<br />

Uhr und Gruppe B: Montag 15.15–16.15 Uhr. Die Teilnehmerzahl ist auf 30 Personen pro Gruppe<br />

beschränkt. Die Anmeldung beim Sekr. ISSW ist obligatorisch: Frau Elisabeth Waldvogel, Tel. 031<br />

631 47 62.<br />

Kursort Institut für Sport und Sportwissenschaft, Kleine Universtätsturnhalle, Bremgartenstrasse 145, 3012<br />

<strong>Bern</strong>, SVB-Endstation P+R Neufeld (Bus Nr. 11 ab Hauptbahnhof <strong>Bern</strong>).<br />

Kursbeginn 21. Oktober 2002. Das detaillierte Programm wird in Abhängigkeit von der Zahl der Teilnehmenden<br />

festgelegt.<br />

Kurskosten Die Kurskosten von Fr. 40.– sind mit gleichzeitiger Vorweisung des gültigen Mitgliederausweises der<br />

Senioren-<strong>Universität</strong> bei der Kursleiterin, Frau Dr. T. Stiffler, zu bezahlen.<br />

Bekleidung Bequeme Turn- oder Hauskleidung mit Turn- oder Hausschuhen.<br />

Weitere Informationen Kanzlei der <strong>Universität</strong> <strong>Bern</strong>, Frau Heidi Wyss, Hochschulstrasse 4, 3012 <strong>Bern</strong>,<br />

(Schalteröffnungszeiten: 9.00–11.30 Uhr und 14.00–15.00 Uhr). Tel. 031 631 39 11 oder<br />

631 82 53, Fax 031 631 80 08, E-Mail seniorenuni@imd.unibe.ch,<br />

Internet http://www.advd.unibe.ch/imd/seniorenuni<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

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