114 DAS MITTELALTER - Universität Bern
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Mittelalterliche englische Reiseberichte im kolonialistischen Werk Richard Hakluyts<br />
The principall navigations …<br />
Unter der Herrschaft von Königin Elisabeth I. erlebte<br />
England seinen Aufstieg zur grössten Seemacht der damaligen<br />
Zeit und den Beginn seiner erfolgreichen Kolonialpolitik.<br />
Das wachsende nationale Selbstbewusstein<br />
äusserte sich unter anderem in Schriften, in denen nicht<br />
nur zeitgenössische Schilderungen fremder Gegenden<br />
sondern auch Berichte über mittelalterliche Reisende der<br />
Überlegenheit britischen Denkens und Handelns Ausdruck<br />
gaben.<br />
Unter den Tudorkönigen und besonders<br />
unter Königin Elisabeth I. (1533–1603) begannen<br />
sich englische Gelehrte erstmals<br />
für Texte und Artefakte zu interessieren,<br />
welche aus der ihnen nicht mehr unmittelbar<br />
zugänglichen Vergangenheit stammten.<br />
So entstanden im 16. Jahrhundert einerseits<br />
die ersten grossen Manuskriptsammlungen,<br />
Literaturgeschichten und Kuriositätenkabinette,<br />
andererseits zugleich die<br />
Wissenschaftsbereiche des Antiquars und<br />
des Ethnographen. Eine neue Form von<br />
ethnographischen Schriften entwickelte<br />
sich im Zusammenhang mit den kolonia-<br />
listischen Ambitionen der Elisabethaner.<br />
Es ging in diesen Schriften entweder darum,<br />
die fremden Gegenden als potentiellen<br />
Markt für englische Produkte (vor<br />
allem Wolle) zu fördern oder darum, sie<br />
als Gelegenheit darzustellen, die königlichen<br />
Herrschaftsgebiete zu vermehren und<br />
die Geldtruhen zu füllen. Als Gegenleistung<br />
erhielten die einheimischen Heiden<br />
das unüberbietbare Geschenk des christlichen<br />
Heilsversprechens. Dieses Gedankengut<br />
kommt im Werk jenes elisabethanischen<br />
Gelehrten zu Ausdruck, der 1582<br />
(in seinem Werk «Divers Voyages Concer-<br />
Abb. 1: Titelblatt der Erstausgabe<br />
von The Principall Navigations,<br />
Voiages, and Discoveries<br />
of the English Nation […]. (London:<br />
George Bishop and Ralph Newberie, 1589)<br />
ning the Discovery of America») das gesamte<br />
vorhandene Wissen über das östliche<br />
Nordamerika vereinigte und es dem<br />
unmittelbar propagandistischen Ziel unterwarf,<br />
Sir Philip Sydneys Unterstützung<br />
für amerikanische Kolonialunternehmungen<br />
zu gewinnen.<br />
Hakluyt und sein Werk<br />
Es handelt sich bei diesem Gelehrten um<br />
Richard Hakluyt, der während der letzten<br />
Herrschaftsjahre des früh verstorbenen<br />
Edward VI. (1553) zur Welt kam – zu einer<br />
Zeit also, in welcher die ersten Engländer<br />
Reisen nach dem afrikanischen Guinea<br />
unternahmen. Hakluyt starb 1616, d. h.<br />
im selben Jahr wie ein gewisser William<br />
Shakespeare, welcher seine vielfach als<br />
kolonialistisch aufgefasste Vorstellung einer<br />
Brave New World in seinem zauberhaften<br />
Spätwerk «The Tempest» reflektierte.<br />
Der zum Kleriker ausgebildete, jedoch öfter<br />
als Spion in her majesty’s service tätige<br />
Richard Hakluyt war ein Aktionär der<br />
Virginia Company. Dieser persönliche Anteil<br />
an den Kolonialisierungsbestrebungen<br />
führte direkt zu seinem umfangreichen<br />
Hauptwerk «The Prinicipall Navigations,<br />
Voiages and Discoveries of the English Nation...,»<br />
1 dem Sammelband, der sich heute<br />
noch häufig in gekürzter und popularisierter<br />
Form in jeder englischen Hausbibliothek<br />
findet (vgl. dazu die Titelseite einer<br />
Populärausgabe von 1928 (Abb. 2) mit<br />
dem geradezu geschwätzigen Titelblatt der<br />
Erstausgabe von 1589 (Abb. 1). Elf Jahre<br />
später folgte eine zweite, erweiterte Ausgabe,<br />
zu deren Titel das Wort «Traffiques»<br />
hinzugefügt worden war, um auf die Handelsinteressen<br />
der elisabethanischen Seefahrt<br />
hinzuweisen. (Dazu konnte man sich<br />
damals noch ohne Scham bekennen.)<br />
Neunzig Prozent der in der ersten Ausgabe<br />
zusammengefassten Dokumente, welche<br />
England als Nation des Welthandels darstellen<br />
sollten, bestehen aus meist zeitge-<br />
1 Auf Deutsch würde der Titel etwa so lauten: «Die<br />
wichtigsten Seefahrten, Reisen und Entdeckungen<br />
der englischen Nation, auf dem See- oder Landweg,<br />
in die entlegensten und weitest entfernten Teile der<br />
Erde, im Zeitraum dieser 1500 Jahre: Aufgeteilt in<br />
drei Teile gemäss Richtungen, die die Reisende eingeschlagen<br />
hatten ... verfasst von Richard Hakluyt,<br />
Magister Artes und ehemaliger Student von Christchurch<br />
in Oxford.»<br />
UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />
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