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114 DAS MITTELALTER - Universität Bern

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sowie den von ihnen genannten Tatorten<br />

gross- oder kleinräumigere Itinerare (Aufenthaltsortsverzeichnisse)<br />

rekonstruieren<br />

und diese kartographisch abbilden.<br />

Eine besonders grossräumige Mobilität<br />

lässt sich etwa aus dem Geständnisprotokoll<br />

des Anfang Mai 1483 in<br />

Schaffhausen hingerichteten Hans<br />

Ru o st rekonstruieren, dessen Geständnis<br />

uns ein Gaunerleben vorstellt, welches<br />

durch halb Europa führt: Hans Ru o st<br />

stammte aus der niederländischen Stadt<br />

Nijmegen (Abb. 2).<br />

Seine Lehrjahre verbrachte er als Goldschmiedelehrling<br />

in Paris. Bereits hier geriet<br />

er auf die schiefe Bahn; denn er stahl<br />

seinem Meister eine kleinere Geldsumme<br />

und lief dann davon. Er setzte nach England<br />

über, wo er seinen Lebensunterhalt<br />

mit weiteren Diebstählen und Betrügereien<br />

verdiente.<br />

Im Auftrage eines Londoner Kaufmannes<br />

reiste er schliesslich nach Brügge<br />

in Flandern; für diesen sollte er verschiedene<br />

Geldgeschäfte tätigen. Die<br />

dabei eingenommenen Gelder steckte<br />

Ru o st allerdings in seine eigene Tasche. In<br />

Brügge versuchte er sich im betrügerischen<br />

Warenhandel; an dem dabei gewonnenen<br />

Geld konnte er sich allerdings nicht<br />

lange erfreuen, verspielte er es doch schon<br />

bald wieder im seeländischen Middelburg.<br />

Hier versuchte Ru o st sich wenig erfolgreich<br />

im Heringshandel mit England.<br />

Weitere Stationen seiner kriminellen Laufbahn<br />

führten nach Bergen-op-Zoom und<br />

nach Utrecht. Nach kurzem Aufenthalt<br />

in seiner Heimatstadt Nijmegen reiste er<br />

nach Venlo weiter, wo er betrügerische<br />

Devisengeschäfte tätigte. Über Köln gelangte<br />

er nach Strassburg, wo er sich mit<br />

einem Kölner Studenten zu einer Falschspielerbande<br />

zusammenschloss. Nach einem<br />

Streit erstach Ru o st den Studenten ausserhalb<br />

Strassburgs und raubte ihn aus.<br />

Daraufhin gelangte er nach Schaffhausen,<br />

wo er sich im November 1482 als Goldschmied<br />

vereidigen liess und eine dort ansässige<br />

Frau ehelichte. Nicht lange danach<br />

wurde er allerdings als Bigamist entlarvt;<br />

denn wie aus seinem Geständnis hervorgeht,<br />

hatte er auch noch eine Ehefrau in<br />

seiner Heimatstadt Nijmegen. Auch in sei-<br />

20 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

nem Goldschmiedehandwerk liess er sich<br />

zu einigen Betrügereien hinreissen, indem<br />

er minderwertiges Edelmetall verarbeitete.<br />

Schliesslich wurde er im Mai 1483 durch<br />

Ertränken im Rhein hingerichtet.<br />

Im grossen und ganzen stellt dieses Itinerar<br />

des Hans Ru o st eine Ausnahme dar: Nur<br />

in den seltensten Fällen bewegten sich Delinquenten<br />

in einem so weiten Gebiet; zumeist<br />

war der durchwanderte Raum dieser<br />

Personen sehr viel kleinräumiger und<br />

enger, wobei sich je nach Delinquententypus<br />

aber unterschiedliche Migrationsmuster<br />

ermitteln lassen: So wanderten<br />

etwa Betrüger, welche vorgaben, besondere<br />

Künste bzw. spezielle berufliche Fähigkeiten<br />

beherrschen zu können, in der<br />

Regel über weitere Distanzen. Ihr Wirkungsbereich<br />

konzentrierte sich häufig auf<br />

grössere und mittelgrosse Städte. Ähnliche,<br />

vor allem auf Städte bezogene Migrationsmuster<br />

weisen die Geständnisse von<br />

auf kriminelle Bahnen geratene Handwerksgesellen<br />

auf.<br />

Neben dieser eher grossräumigen Migration<br />

lassen sich in den Quellen aber auch<br />

viele Beispiele kleinräumiger Mobilität<br />

feststellen, bei denen Delinquenten sich<br />

in einem engen Revier nur über wenige<br />

Kilometer von einer Ortschaft zur an-<br />

Abb. 3: Bettlerfamilie<br />

auf dem Weg<br />

zur Stadt. Titelblatt<br />

der «Liber vagatorum»<br />

(1510).<br />

deren bewegten. Daneben gab es natürlich<br />

auch Delinquenten, zumeist Einheimische,<br />

die im engen städtischen Gebiet<br />

ihr Revier hatten; nicht selten handelte es<br />

sich dabei um Handwerker, welche bei Berufskollegen<br />

Rohmaterialien stahlen, um<br />

diese dann im eigenen Betrieb weiterzuverarbeiten.<br />

Allgemein kann festgestellt<br />

werden, dass selbst Delinquenten, welche<br />

sich über weitere Distanzen fortbewegten,<br />

nur selten die Sprachgrenzen überschritten;<br />

weitaus lieber verblieben sie in Gebieten,<br />

in welchen ihnen Sprache, Sitten und<br />

Gebräuche vertraut waren.<br />

Bandenbildung<br />

im Spätmittelalter<br />

Bereits im Mittelalter kam es zur Bildung<br />

von Verbrecherbanden. Besonders bekannt<br />

ist die aus dem französischen Sprachraum<br />

überregional operierende Bande der Coquillards,<br />

welche mittels Raub und Mord,<br />

Diebstahl und Falschspiel ihren Lebensunterhalt<br />

zu verdienen suchte. Der Zusammenschluss<br />

von Verbrecherbanden gewann<br />

auch im deutschsprachigen Raum eine immer<br />

weitere Verbreitung, wobei dies rein<br />

fiktiv aufgebauscht werden konnte, wie<br />

dies etwa der «Liber Vagotorum» mit der<br />

Vorstellung eines kriminellen «Vagantenordens»<br />

oder «Bettlerordens» (lat. ordo<br />

vagatorum) belegt (Abb. 3).

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