114 DAS MITTELALTER - Universität Bern

Sprichwörtern, die dieses Motiv variieren,
ein Beispiel aus dem Altnordischen: Si lupus
instruitur in numen credere magnum
Semper dirigitur ab eo respectus ad agnum.
– Kaendh wlff pater noster han syr
alth lam lam «Wenn der Wolf gelehrt wird,
an die grosse göttliche Macht zu glauben,
dann wird von ihm immer der Blick auf
das Lamm gerichtet. – Lehrt den Wolf
das Paternoster: er sagt immer ‚Lamm,
Lamm‘».
Wortspiele und Grundmuster
Zuweilen besteht die Prägnanz einer sprichwörtlichen
Formulierung in einem an die betreffende
Einzelsprache gebundenen Wortspiel:
Het ich ist ein boeser vogel Habich
ist ein guter «‚Hätte ich‘ ist ein böser Vogel,
‚Habe ich‘ ein guter». Personifizierung
einzelsprachlich geläufiger Redewendungen
(Syntagmen) ist nicht selten: Getrow
wol den hengst hin reit «Trauwohl ritt den
Hengst weg»; Haddywyst cometh euer to
late «‚Hätte ich gewusst‘ kommt immer
zu spät». Ähnlich ist die Substantivierung
einer Verbform in einem Sprichwort,
das vor allem im Französischen äusserst
gut belegt ist: Mieuz vaut uns ‚tien‘ que
dous ‚tu l’avras‘ «Mehr wert ist ein ‚da
hast du‘ als zwei ‚du wirst haben‘». Vielfach
findet sich ein Inhalt, der Sprichwörtern
zugrunde liegt, in verschiedenen Sprachen,
wobei einzelne Elemente je nach der
Herkunftsregion variieren können. So ist
das beim Typus «Ein Individuum mit bestimmten
negativen Eigenschaften hält einem
anderen, das dieselben Eigenschaften
hat, seine Fehler vor» in einigen Sprachen
der Esel der Täter, wie im heute noch geläufigen
deutschen Sprichwort «Ein Esel
schimpft den anderen Langohr». Oder:
Dixo el asno al mulo: Tira alla orejudo
«Der Esel sagte zum Maultier: Pack dich,
Langohr!». Im Altnordischen ist es der
Troll, der seinen Artgenossen beschimpft:
Hvert trollit tryller annad «Jeder Troll
schilt den andern Troll».
Die Musterkarte könnte nach Belieben
fortgesetzt werden. Es wäre auch reizvoll,
den Grundmustern nachzugehen, die einer
Grosszahl von Sprichwörtern zugrundeliegen.
Elementare Denkfiguren wie Gegensatz
und Vergleich nehmen eine zentrale
Stellung ein, Zahlenverhältnisse spielen
eine wichtige Rolle. Das reichhaltige Material
des Thesaurus lädt dazu ein, dieser
und anderen Fragen nachzugehen.
38 UNIPRESS114/OKTOBER 2002
Eine Seite aus
dem Thesau -
rus Singer.
(WOLF, Thesaurus
Band 13, S. 178)
Überblickt man die Fülle des Materials,
das in den 13 Bänden verarbeitet ist, bleibt
der Eindruck von viel Wiederkehrendem
und Parallelem, aber auch einer Menge heterogener
Einzelheiten zurück. Dies hängt
einerseits mit der Masse von Belegen aus
verschiedenen Sprachen, verschiedenen
Zeiten und verschiedenen Traditionen zusammen,
andererseits auch mit dem weiten
Sprichwortbegriff, den Samuel Singer
seiner Sammlung zugrunde legte: Er überschritt
die Grenze dessen, was gemeinhin
als Sprichwort 1 betrachtet wird, sowohl
nach unten als auch nach oben: nach unten
durch die Aufnahme sprichwörtlicher Redensarten
und fester Fügungen, die im Extremfall
auf ein einziges Wort beschränkt
sind, nach oben durch den Einbezug von
satzübergreifenden Texten, Sprüchen oder
Kurzdialogen.
1 Ein Sprichwort ist ein festgeprägter, syntaktisch unabhängiger
Satz.
«Sie trägt Wasser in der einen und Feuer
in der andern Hand»; sie verdient kein
Vertrauen.