114 DAS MITTELALTER - Universität Bern
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Zwischen Abenteuerlust und Henkershand<br />
Räuber, Gauner und Betrüger<br />
im Spätmittelalter<br />
Ein Blick in den täglichen Boulevardjournalismus genügt,<br />
um uns zu zeigen, welche Faszination von Verbrechen und<br />
Gesetzesbrechern für die heutigen Zeitgenossen ausgeht.<br />
Bestätigt wird dieser Eindruck durch die grosse Popularität<br />
von Kriminalromanen wie auch von Kriminalfilmen.<br />
Diese Faszination am Verbrechen lässt sich aber auch in<br />
früheren Zeiten feststellen.<br />
Schon spätmittelalterliche und frühneuzeitliche<br />
Chronisten berichten von Straftaten<br />
und Straftätern, wobei besonders<br />
spektakuläre Verbrechen wiederholt das<br />
Interesse der zeitgenössischen Geschichtsschreiber<br />
weckte: Beispielsweise erzählt<br />
der bekannte Luzerner Diebold Schilling<br />
in seiner Bilderchronik den verabscheuungswürdigen<br />
Mord eines gewissen Hans<br />
Spiess an seiner Ehefrau, die er in ihrem<br />
Ehebett erwürgt hatte. Unter der Folter<br />
blieb der des Mordes verdächtigte Spiess<br />
standhaft, so dass das Gericht als einzige<br />
Möglichkeit zur Überführung des Täters<br />
das mittelalterliche Rechtsinstrument der<br />
sogenannten Bahrprobe sah.<br />
Dabei wurde die des Mordes beschuldigte<br />
Person an die Leiche der ermordeten Person<br />
geführt: Wenn die Leiche wieder zu<br />
bluten anfing, war der Täter überführt. Genau<br />
dies geschah bei der Gegenüberstellung<br />
des Hans Spiess mit seiner durch ihn<br />
ermordeten Ehefrau, welche nach zwanzig<br />
Tagen wieder aus ihrem Grab exhumiert<br />
worden war. Für seine Tat wurde Hans<br />
Spiess schliesslich zum Tod auf dem Rad<br />
verurteilt.<br />
Besonders spektakuläre Betrugsfälle fanden<br />
ebenfalls immer wieder Eingang in<br />
die spätmittelalterliche Chronistik: Sowohl<br />
Zürcher wie Konstanzer Chroniken<br />
berichten für die 1420er-Jahre von der Tätigkeit<br />
eines Franzosen namens Tschan (=<br />
Jean) in dieser Region, welcher sich verschiedener<br />
alchemistischer Künste rühmte<br />
und vorgab, aus Blei Silber und aus Kupfer<br />
Gold herstellen zu können. Einquartiert im<br />
Hause des vermögenden und einflussrei-<br />
18 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />
chen Zürcher Ratsherren Peter Oeri führte<br />
Tschan aller Welt seine Künste vor. Bald<br />
darauf verliess Tschan Zürich und ging<br />
nach Schaffhausen, um dort seine Karriere<br />
fortzusetzen. Auch in dieser Stadt<br />
fand er in der Person des Schaffhausers<br />
Stadtadeligen Götz Schultheiss von Randenburg<br />
das Vertrauen eines mächtigen<br />
Fürsprechers. Dieser betrieb selber «sollich<br />
aventür», war also ebenfalls in alchemistischen<br />
Künsten bewandert. Tschan<br />
und Götz Schultheiss versuchten sich gemeinsam<br />
in der Goldmacherkunst und gewannen<br />
das Vertrauen zahlreicher Leute.<br />
Selbst der Schaffhauser Rat liess sich von<br />
den Künsten des Tschan überzeugen und<br />
Abb. 1: Mit dem<br />
Aufkommen des<br />
Buchdrucks wurde<br />
auch der Steckbrief<br />
im Laufe des<br />
16. Jahrhunderts<br />
zu einem wichtigenFahndungsinstrument.<br />
«tet ... im große zucht und ere und gab im<br />
groß frighait, wan er verhieß, die statt in<br />
groß richtum ze bringend». Der Ruf von<br />
Tschans Goldmacherkünsten drang bis<br />
nach Konstanz vor, wo er ebenfalls seine<br />
angeblichen Fähigkeiten vor versammelter<br />
Menge vorführte. Auch der hegauische<br />
Ritteradel gewann zum Alchemisten ein<br />
besonderes Vertrauen; gemäss einem Konstanzer<br />
Chronisten gab einer dieser Adligen,<br />
Ritter Heinrich von Randegg, Tschan<br />
sogar seine Tochter zur Frau.<br />
Nachdem Tschan seine alchemistischen<br />
Künste eine Weile lang getrieben und<br />
grosse Vermögenswerte geliehen hatte,<br />
«do wolt er gewichen sin»; die Flucht<br />
misslang indessen und er wurde auf einer<br />
Ritterburg im Hegau gefangengehalten.<br />
Von dort gelang ihm neuerdings die<br />
Flucht, worauf die Ritter ihm nacheilten<br />
und ihn vor den Toren Schaffhausens erschlugen.<br />
Erst jetzt wurden die Betrügereien<br />
des französischen Alchemisten vollständig<br />
aufgedeckt «und kament die lüt in<br />
großen kumer und schaden, die das ir uff<br />
in gelait hatten».