114 DAS MITTELALTER - Universität Bern
114 DAS MITTELALTER - Universität Bern
114 DAS MITTELALTER - Universität Bern
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
wie die zwischen Dingen und ihren Eigenschaften<br />
festgelegt sind. So lässt sich geltend<br />
machen, dass Einzeldinge in unserem<br />
Begriffssystem fundamental sind. Einige<br />
Autoren vertreten näherhin die Auffassung,<br />
dass auch Vorfälle (events) usw. nur<br />
mit Bezug auf jene Einzeldinge identifizierbar<br />
und reidentifizierbar seien, an denen<br />
sie sich vollziehen. Doch besagt das<br />
vielleicht nichts für die ‹wahre› Natur der<br />
Wirklichkeit. Nur war diese skeptische Erwägung<br />
für das Tun der Theologen nicht<br />
attraktiv.<br />
Eine andere Unterscheidung, die innerhalb<br />
des theologischen Diskurses eine grosse<br />
Rolle spielt und buchstäblich massive Arbeit<br />
schultert, ist die zwischen ‹Form› und<br />
‹Materie›. Dieses Begriffspaar wurde seinerzeit<br />
von Aristoteles geprägt und hatte<br />
in seinem Schrifftum (so namentlich in der<br />
Metaphysik-Schrift) die Funktion, Dinge<br />
von der Art geschaffener Substanzen als<br />
komplexe Gebilde begreiflich zu machen.<br />
Zwar blieb unklar, wie das Verhältnis von<br />
Form und Stoff genauer zu denken sei.<br />
Doch handelt es sich bei dieser Orientierung<br />
um eine Betrachtungsweise, die den<br />
mittelalterlichen Denkern grosse Dienste<br />
zu leisten schien. Dies geht vor allem aus<br />
den Texten hervor, in denen immanente<br />
Formen sich als Ausdruck transzendenter<br />
Muster der Schöpfung im göttlichen<br />
Intellekt manifestieren und so die christlich<br />
interpretierte raum-zeitliche Welt ein<br />
Stück weit rational durchschaubar machen.<br />
Insofern schien die Begrifflichkeit<br />
von Form und Materie für die Theologen<br />
unverzichtbar. Nur sie machte es offenbar<br />
möglich, das Wesen der Welt von Grunde<br />
auf zu verstehen.<br />
Näherhin lässt sich mithin auch an jene<br />
Diskussion denken, die sich um die Frage<br />
rankt, was individuelle Dinge eigentlich<br />
zu Individuen macht. Auch diese Frage hat<br />
zwar eine gewisse Tradition. Doch gewinnt<br />
sie im Horizont christlichen Denkens besondere<br />
Relevanz. Denn hier geht es ja um<br />
einen persönlichen Schöpfer-Gott.<br />
Eine Lösungsstrategie – es ist die des Thomas<br />
von Aquin – besagt, dass das, was ein<br />
Individuum ausmacht (principium individuationis),<br />
im stofflichen Bereich anzusiedeln<br />
sei. Hier geht es also um die Vorstellung,<br />
dass etwas von der Art einer<br />
allgemeinen Form von bzw. durch eine<br />
Abb. 3: Gelehrtendisputation.<br />
(Holzschnitt Augsburg, um 1480)<br />
besondere Materie individuiert werde. Die<br />
gegenteilige Strategie verfocht Duns Scotus.<br />
Dieser sprach von einer besonderen,<br />
individuellen Form (‹Diesheit›, haeccitas).<br />
Für heutige Betrachter ist diese Situation<br />
recht aufschlussreich. Denn sie wirft<br />
Licht auf die jeweils leitenden Gottesvorstellungen.<br />
Im einen Fall scheint die Individualität<br />
kreatürlichen Seins mit recht<br />
weltlichen Faktoren verwoben zu sein,<br />
im anderen hingegen scheint es um ideelle<br />
Faktoren zu gehen; und dieser Unterschied<br />
scheint theologisch relevant.<br />
Befund<br />
Doch mag man sich fragen, ob wir hier<br />
nicht mit einer unakzeptablen Alternative<br />
konfrontiert werden. Aus heutiger Sicht<br />
mag das so aussehen. Doch waren die Optionen<br />
der mittelalterlichen Denker hier<br />
vorerst ebenso beschränkt wie die eines<br />
Descartes, der im Spektrum seiner Zwei-<br />
Substanzen-Lehre mit der Alternative von<br />
Denkung (res cogitans) und Ausdehnung<br />
(res extensa) befangen war und vor diesem<br />
Hintergrund z. B. Tiere kaum anders denn<br />
als Automaten verstehen konnte. In dem<br />
Moment, da diese Alternative hinfällig<br />
wurde, eröffneten sich auch neue Möglichkeiten<br />
der Betrachtung. Ähnlich verhalten<br />
sich die Dinge im Falle einer Orientierung,<br />
die an die Begriffe von Form und Materie<br />
gebunden ist. Nur ist letztlich nicht das<br />
Faktum der Bindung interessant, sondern<br />
die Art ihrer Fundierung. Liessen sich die<br />
Autoren der sog. Scholastischen Synthese<br />
im 13. Jahrhundert noch von der Vorstellung<br />
leiten, dass der göttliche Intellekt ein<br />
gutes Stück weit rational verständlich sei,<br />
so haben William von Ockham (1285 bis<br />
1349) und seine Nachfolger diesen Punkt<br />
massiv bestritten. Mit der These von der<br />
Priorität des Willens vor dem Intellekt entfällt<br />
auch die Annahme der Existenz von<br />
Ideen bzw. Universalien als ewigen Mustern<br />
der Schöpfung; und damit schwindet<br />
die Notwendigkeit einer Rückbindung unserer<br />
Begriffe an bestimmte Unterscheidungen<br />
metaphysischer Art, die die Belange<br />
des Glaubens eigentlich nur gefährden<br />
können. Dass heute, im Kontext analytischer<br />
Diskussionen des ontologischen<br />
Status von Kunstwerken einerseits und<br />
Personen andererseits, der Begriff der<br />
Form zumindest verstecktermassen wieder<br />
Interesse gewinnt – so besonders in<br />
Konstititutions- bzw. Verkörperungstheorien<br />
– sei hier nur am Rande erwähnt<br />
Prof. Dr. Andreas Graeser<br />
Institut für Philosophie<br />
Literatur:<br />
• G. R. Evans: Philosophy and Theology in the<br />
Middle Ages, London: Routledge 1993.<br />
• K. Flasch (Hrsg.): Geschichte der Philosophie in<br />
Text und Darstellung: Mittelalter, Stuttgart: Re-<br />
clam 1982.<br />
• Das philosophische Denken im Mittelalter, Stutt-<br />
gart: Reclam 2000.<br />
• Graeser, A.: Interpretationen. Hauptwerke der Phi-<br />
losophie. Antike, Stuttgart: Reclam 1992.<br />
• Positionen der Gegenwartsphilosophie. Vom Prag-<br />
matismus bis zur Postmoderne, München: C. H.<br />
Beck 2002.<br />
• Strawson, P. F. : Individuals. An Essay in Descrip-<br />
tive Metaphysics, London: Methuen 1959.<br />
UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />
7