114 DAS MITTELALTER - Universität Bern
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ton <strong>Bern</strong> liegen erst wenige Funde von Syphiliskranken<br />
vor. Sie sind kleine Puzzlesteine<br />
zur Geschichte dieser Krankheit,<br />
über die nach wie vor eine Kontroverse<br />
herrscht zur Frage nach ihrer Verschleppung<br />
aus der Neuen Welt nach Europa<br />
durch die Seefahrer um Kolumbus.<br />
Unterschiede<br />
in der Körpergrösse<br />
Neben Krankheiten und demographischen<br />
Strukturen kann aus alten Knochen auch<br />
auf den Körperbau des mittelalterlichen<br />
Menschen geschlossen werden. Turnier-<br />
und Kriegsrüstungen, wie wir sie heute in<br />
Sammlungen und Museen bestaunen (und<br />
vermessen) können, lassen das Bild von<br />
schmächtigen Männern entstehen. Waren<br />
die mittelalterlichen Menschen tatsächlich<br />
klein und grazil?<br />
Unsere Daten weisen auf regionale wie<br />
auch soziale Unterschiede hin. Gegenüber<br />
den frühmittelalterlichen germanischen<br />
Bewohnern unseres Gebietes, die<br />
eine beachtliche Körperhöhe von 170<br />
bis 175 cm (Durchschnitt für die Männer<br />
verschiedener Orte) aufwiesen, waren<br />
die Menschen der späteren Jahrhunderte<br />
mit Durchschnittswerten zwischen<br />
168 und 170 cm tatsächlich etwas kleiner,<br />
aber nicht selten kräftig gebaut.<br />
Was die Grösse der Rüstungen anbetrifft,<br />
so steckten darin wohl nicht nur Erwachsene,<br />
sondern auch Halbwüchsige. Die<br />
nach dem Frühmittelalter eingetretene Reduktion<br />
der Körperhöhe wird neben anderen<br />
Faktoren auf Umwelteinflüsse, vor<br />
allem auf Ernährungsänderungen zurückgeführt.<br />
Die Verlagerung von der frühmittelalterlichen<br />
Milch- und Viehwirtschaft<br />
zu vermehrtem Ackerbau führte zu einem<br />
höheren Getreideanteil der Kost respektive<br />
zum Rückgang an hochwertigen tierischen<br />
Eiweissen. Setzt sich der Speisezettel nicht<br />
nur aus Mus und Brei zusammen, sondern<br />
ist darin viel Fleisch enthalten, wirkt sich<br />
dies positiv auf die Körperhöhe aus. Ein<br />
weiterer die Körperhöhe senkender Faktor<br />
ist eine starke körperliche Belastung<br />
im Kindesalter.<br />
Mit der Verminderung der Körperhöhe<br />
ging ein weiteres Phänomen einher, das<br />
der Schädelverrundung. Es führte zum typischen<br />
Rundschädel des Mittelalters. Die<br />
Ursachen dieser Formveränderung sind<br />
noch immer nicht völlig geklärt. Diskutiert<br />
werden genetische und gesellschaftliche<br />
Vermischungsvorgänge, Siebung,<br />
Klimaveränderungen und wiederum Änderungen<br />
in den Ernährungs- und Arbeitsbedingungen.<br />
Mit diesen Puzzlesteinchen<br />
lässt sich noch kein vollständiges Bild des<br />
Abb. 6: Mittelalterlicher Schädel aus Nidau. Im Stirnbein sind löchrige Veränderungen<br />
(Caries sicca) ausgebildet, die zusammen mit den Veränderungen an anderen Skelettteilen<br />
auf Syphilis hinweisen. (Foto: HA)<br />
mittelalterlichen Menschen zeichnen, aber<br />
jeder neue Skelettfund ist für uns eine Herausforderung,<br />
eine weitere kleine Lücke<br />
zu schliessen.<br />
Dr. phil.-nat. Susi Ulrich-Bochsler<br />
Historische Anthropologie<br />
Medizinhistorisches Institut<br />
Literatur:<br />
• Eggenberger Peter, Ulrich-Bochsler Susi: Unter-<br />
seen. Die reformierte Pfarrkirche, 2001.<br />
• Gutscher Daniel, Ueltschi Alexander, Ulrich-<br />
Bochsler Susi: Die St. Petersinsel im Bielersee –<br />
ehemaliges Cluniazenser-Priorat, 1997.<br />
• Lanz Christian: Ein möglicher Fall von tertiärer<br />
Syphilis aus dem Spätmittelalter, Diss. 1997.<br />
• Ulrich-Bochsler Susi: Vom «enfant sans âme» zum<br />
«enfant du ciel», Unipress Nr. 92, 1997.<br />
• Ulrich-Bochsler Susi: Anthropologische Befunde<br />
zur Stellung von Frau und Kind in Mittelalter und<br />
Neuzeit. Soziobiologische und soziokulturelle As-<br />
pekte im Lichte von Archäologie, Geschichte, Volks-<br />
kunde und Medizingeschichte, 1997.<br />
• Wurm Helmut: Die Körperhöhe deutscher Har-<br />
nischträger, Z. Morph. Anthrop. 75, 1985.<br />
UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />
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