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114 DAS MITTELALTER - Universität Bern

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lesbar – in einer Zeit, da viele, weil sie selber<br />

nicht lesen können, sich vorlesen lassen<br />

müssen, ein weiterer Vorteil. Schliesslich<br />

bot der Druck die zusätzliche Möglichkeit,<br />

die sprachlichen, gleichsam «virtuellen»<br />

Bilder, mit denen das Lied arbeitete,<br />

in ein reales Bild umzusetzen: ein<br />

Holzschnitt eröffnet denn auch die Flugschrift,<br />

die für die «wittenbergisch Nachtigall»<br />

wirbt.<br />

Mit seiner zündenden Idee, das vertraute<br />

Muster des Wächterliedes für die religiöse<br />

Propaganda einzusetzen, hat Sachs Nachahmer<br />

gefunden. So erscheinen vor allem<br />

aus dem protestantischen Lager zahlreiche<br />

Lieder, die Martin Luther als warnenden<br />

Wächter auf dem Turm das Anbrechen des<br />

10 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

neuen Glaubenstages verkünden lassen;<br />

keines dieser Gebilde erreicht allerdings<br />

die Prägnanz und Originalität des Vorbildes.<br />

Ganz am Jahrhundertende greift<br />

dann der Pastor Philipp Nicolai neben<br />

Sachs vorbei auf das alte Muster des<br />

geistlichen Tageliedes mit seiner Vorstellung<br />

erotisch gefärbter Gottesnähe<br />

zurück und schafft fern jeder konfessionellen<br />

Kampfstimmung ein Zeugnis<br />

tiefster Glaubenszuversicht und Jenseitssehnsucht:<br />

«Wachet auf, ruft uns die<br />

Stimme» – ein Prachtsstück des evangelischen<br />

Kirchenliedes.<br />

Prof. Dr. André Schnyder<br />

Institut für Germanistik<br />

Das Walt got<br />

Jn der morgenweis Hans Sachsen<br />

Die nachtigal 3 lieder<br />

Wacht auf, wacht auf, es taget!<br />

Ein nachtigal, die waget<br />

ir stim mit suessem hal.<br />

ir thon durchclinget perg vnd thal.<br />

Die morgenrot her zicket.<br />

Der leo sich peclaget;<br />

Wie geren er verjaget<br />

die lieplich nachtigal.<br />

Der liechte man ist worden fal,<br />

Die helle sun her plicket.<br />

Das wilde schwein schreit «waffe»,<br />

Die Nachtigal zw straffe.<br />

Der poch hunt kacz mit im<br />

marren stet dar wider mit grim,<br />

Vnd das schlangen geczichte<br />

Wisplet vnd wider fichte,<br />

Die wolff hewlen al gleich,<br />

Wollen das die nachtigal weich,<br />

Furchten des tages lichte.<br />

Jdoch sie schweiget nichte<br />

Sunder singet fröleich!<br />

Der tag get auf gar frewdenreich.<br />

Secht: die irenden schaffe<br />

Erwacht sint von dem schlaffe<br />

Von der Nachtigal stim.<br />

Des manes schein sie achten nim<br />

Die besprochenen Texte von Sachs liegen käuflich<br />

vor in: Die wittenbergisch Nachtigall. Reforma-<br />

tionsdichtung. von G. H. Seufert, Stuttgart Reclam<br />

1984 u. ö. (RUB 9737); danach der unten orthogra-<br />

pisch vereinfachte Liedtext. Im Verlauf des nächsten<br />

Jahres erscheint vom Verfasser eine mit kommentier-<br />

ten Texten versehene Geschichte des geistlichen Ta-<br />

gelieds in Mittelalter und Neuzeit.<br />

Erwacht, erwacht, es tagt!<br />

Eine Nachtigall lässt<br />

mit süssem Klang ihre Stimme tönen.<br />

Ihr Laut klingt über Berg und Tal.<br />

Die Morgenröte zieht herauf.<br />

Der Löwe knurrt missmutig;<br />

wie gern möchte er<br />

die liebliche Nachtigall verscheuchen.<br />

Der helle Mond ist fahl geworden,<br />

die strahlende Sonne leuchtet herab.<br />

Die Wildsau grunzt: «Vorsicht»,<br />

um die Nachtigall zu massregeln.<br />

Bock, Hund, Katze brüllen mit ihr<br />

andauernd und grimmig,<br />

und das Schlangengezücht<br />

zischt und droht,<br />

die Wölfe heulen im Chor,<br />

sie wollen, dass die Nachtigall weicht,<br />

sie scheuen das Tageslicht.<br />

Aber sie schweigt nicht,<br />

sondern schmettert fröhlich!<br />

Glückverheissend geht der Tag auf.<br />

Schaut: die irrenden Schafe<br />

sind erwacht aus dem Schlaf<br />

durch die Stimme der Nachtigall.<br />

Nicht mehr beachten sie den Mondschein,

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