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114 DAS MITTELALTER - Universität Bern

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1. Die Nähe zur islamischen Kultur. Wilhelm,<br />

in Jerusalem geboren, fühlte sich<br />

stolz als Orientlateiner. Rodrigo de Rada<br />

aus Navarra ging bereits früh nach Toledo<br />

an den Hof Kastiliens. Zwischen Jerusalem<br />

und Tyrus bzw. in Toledo kamen beide<br />

mit dem Islam in Berührung, sammelten<br />

Wissen, Erfahrungen, Begegnungen; beide<br />

kamen neben anderen Sprachen auch mit<br />

dem Arabischen zurecht und nutzten für<br />

ihre Werke arabisch geschriebene Quellen.<br />

Weder physische noch geistige Nähe waren<br />

jedoch allein ein Garant für Wahrnehmungsfähigkeit.<br />

2. Die Bildung. Wilhelm und Rodrigo hatten<br />

in Paris und Bologna Philosophie, Theologie<br />

und Recht studiert. Beide gehörten<br />

damit in den wachsenden Kreis der Intellektuellen,<br />

die auf geistige Arbeit, rationales<br />

Denken und die eigene Bildungsbiographie<br />

enorm stolz waren. In diesem Milieu<br />

war auch in der Theologie Vieles noch im<br />

Flusse und im besten Sinne «fragwürdig».<br />

Offen konnte man in den Pariser Schulen<br />

nach der Güte ausserchristlicher Ethik<br />

und ihrer Heilswirksamkeit fragen. Möglich<br />

ist, dass neben den Bologneser Rechtstudien<br />

hier ein Raum geöffnet wurde, den<br />

Wilhelm und Rodrigo später mit eigenen<br />

Erfahrungen der Nähe zum Islam füllen<br />

konnten.<br />

3. Karrieren. Beide Gewährsleute durchliefen<br />

herausragende politische und geistliche<br />

Karrieren und wurden Mitgestalter<br />

der Politik ihrer Länder zwischen Krieg<br />

und Frieden, Kreuzzügen und Allianzen.<br />

So lag der Zugang zur Welt der Anderen<br />

bereits auf einem hohen politischen Niveau.<br />

Politik machen und Krieg führen<br />

war das eine, unabhängig denken freilich<br />

das andere.<br />

4. Die Landesgeschichte. In Wilhelms<br />

und Rodrigos Werken ist die jeweilige<br />

Landesgeschichte der gemeinsame Nenner<br />

für christliche wie muslimische Geschichte.<br />

Zwar erhoben beide unbedingten<br />

Anspruch auf Reconquista, auf ein<br />

Wiederanknüpfen an die unterbrochene<br />

christliche Herrschaft, deswegen nannte<br />

Rodrigo seine Spaniengeschichte Historia<br />

Gothica und deswegen liess Wilhelm<br />

seine Kreuzfahrerchronik im 7. Jahrhundert,<br />

in den Tagen des oströmischen Kaisers<br />

Heraklius, beginnen. Und doch waren<br />

sich beide bewusst, dass die Muslime<br />

30 UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

Abb. 8: Kreuzfahrerhelden<br />

sind wahre Ritter Christi, demütig<br />

und fromm, und als<br />

solche dem heidnischen<br />

Gegner haushoch überlegen:<br />

König Heinrich III.<br />

von England als Kreuzritter<br />

(um 1250).<br />

(Jonathan Riley-Smith (Hg.), Oxford<br />

1995, S. 51)<br />

selbständige und subjektiv bedeutende Anteile<br />

an der Geschichte des gemeinsamen<br />

Bodens hatten. Dieser Boden war auch patria,<br />

Vaterland der Anderen, der Orientales<br />

wie der Hispani Arabes, ausgestattet<br />

mit weit zurückreichenden historischen<br />

Rechten, die zu verteidigen auch niemand<br />

rechtlich bestritt. So schrieben sie nicht<br />

einfach ein Kapitel über die Anderen (wie<br />

in manchen späteren Weltchroniken), sondern<br />

eigenständige Historien mit überwiegend<br />

moderaten Interpretationen, um vielleicht<br />

den anderen Teil ihrer eigenen und<br />

eben nicht unwürdigen Geschichte nicht<br />

zu verdrängen.<br />

5. Die persönliche Entscheidung. Wilhelm<br />

und Rodrigo waren Hofhistoriographen,<br />

beide offiziell durch ihre Könige beauftragt,<br />

so dass man geneigt sein könnte,<br />

wenigstens von einem hofgesellschaftlichen<br />

Konsensus zu sprechen. Doch was<br />

diese beiden gelehrten Politiker von Anderen<br />

an Religiosität, Individualität und<br />

Rechtsgleichheit wahrnahmen und in einem<br />

inklusiven Geschichtsbild unterzubringen<br />

vermochten, stand so klar über<br />

der im Westen und gerade auch in Spanien<br />

weitverbreiteten Meinung, dass man<br />

letztlich der persönlichen und unabhängigen<br />

Entscheidung den wichtigsten Effekt<br />

unter den Konditionen der Wahrnehmung<br />

zubilligen muss.<br />

Prof. Dr. Rainer C. Schwinges<br />

Historisches Institut<br />

Abteilung für Mittelalterliche Geschichte<br />

Eine ausführliche Studie zu den angesprochenen<br />

Problemen findet sich in Rainer C. Schwinges: Die<br />

Wahrnehmung des Anderen durch Geschichtsschrei-<br />

bung. Muslime und Christen im Spiegel der Werke<br />

Wilhelms von Tyrus († 1186) und Rodrigo Ximénez'<br />

de Rada (†1247), in: Toleranz im Mittelalter, hg.<br />

von Alexander Patschovsky und Harald Zimmer-<br />

mann (Vorträge und Forschungen 45), Sigmarin-<br />

gen 1998, S. 101–127.

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