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114 DAS MITTELALTER - Universität Bern

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meinwesens durch ein christliches Heer<br />

bedrängt und verletzt wurde, ein Heer,<br />

das seinerseits mit dem Anspruch der<br />

Verteidigung des Erbes Christi im Heiligen<br />

Land operierte. Darüber hinaus besassen<br />

die Muslime in den Augen des Tyrers<br />

das Recht, sich nicht nur gegen christliches<br />

Unrecht (injuria) zur Wehr zu setzen, sondern<br />

auch selbst aktiv zur Rache für ein erlittenes<br />

Unrecht ein bellum justum, einen<br />

gerechten Krieg zu führen. Dieses Recht<br />

war absolut, d. h. es galt auch dann, wenn<br />

die christliche Seite ein gleiches geltend<br />

machte. Und folgerichtig fügte sich allem<br />

Recht der Muslime die lex pactorum,<br />

das Vertragsrecht als formelle Grundlage<br />

der rechtlichen Gleichstellung mit Christen<br />

hinzu. Wilhelm und Rodrigo Ximénez,<br />

beide Juristen, beide ausgebildet in den berühmten<br />

Rechtsschulen von Bologna, waren<br />

zutiefst überzeugt, selbstverständlich<br />

schon aus politischer Notwendigkeit, dass<br />

Verträge gehalten werden müssen, und<br />

zwar uneingeschränkt etiam infidelibus,<br />

auch den Ungläubigen.<br />

4. Wahrnehmung und Toleranz<br />

Die Aufwertung der Anderen durch Geschichtsschreibung<br />

und der darin betonte<br />

Vorrang der Religiosität, des Individuellen<br />

und des gleichartigen Rechts stiess in<br />

der Rezeption der Werke Wilhelms und<br />

Rodrigos bei Bearbeitern, Übersetzern<br />

und Fortsetzern auf Unverständnis und<br />

zum Teil harsche Kritik. Man deutete um,<br />

schwächte ab, verfälschte, unterschlug,<br />

missverstand und gebärdete sich als Glaubenskampfideologe,<br />

der gerade dort wieder<br />

auf Feindbilder setzte, wo die beiden<br />

Autoren Gemeinsamkeiten und individuell<br />

Lobenswertes hervorgehoben hatten. Die<br />

vielen, oft zurechtweisenden Korrekturen<br />

lassen freilich die nicht alltägliche Haltung<br />

der beiden Gewährsleute umso klarer<br />

hervortreten. Diese Haltung kann man<br />

als eine frühe Form von Toleranz verstehen<br />

oder genauer als eine mit inhaltlicher<br />

Intoleranz gepaarte informelle Toleranz.<br />

Selbstverständlich war diese Haltung auch<br />

eine politische und ganz und gar pragmatische,<br />

aber sie ging doch entschieden über<br />

die Notwendigkeiten der Tagespolitik hinaus.<br />

Im übrigen ist mittelalterliche Toleranz<br />

immer eine pragmatische Toleranz<br />

gewesen. Man ertrug mehr oder weniger<br />

gelassen, was man doch nicht oder im Augenblick<br />

nicht ändern konnte. Das Problem<br />

war nur, dass ein solches Ertragen,<br />

Abb. 7: Trotz grundsätzlicher religiöser Gegnerschaft gab es zahlreiche gemeinsame Interessen,<br />

Dienste an anderen Höfen oder gemeinsamer Kampf – sogar unter christlichen<br />

Feldzeichen – gegen gemeinsame Feinde: Szenen der Reconquista aus den Cantigas de<br />

Santa Maria König Alfons X., des Weisen, von Kastilien (13. Jh).<br />

erst recht ein im modernen Sinne bewusstes<br />

Geltenlassen von anderen Meinungen<br />

und Verhaltensweisen gar nicht begrifflich<br />

durch tolerantia oder tolerare wiedergegeben<br />

werden musste. Wilhelms und Rodrigos<br />

Toleranz war keine tolerantia; dieser<br />

Begriff stand bei ihnen nur für das Ertragen<br />

von Hunger, von Durst, von Unrecht,<br />

von Lasten aller Art, von Steuerlasten bis<br />

zu Gebetslasten. Ihre tolerante Wahrnehmung<br />

des Anderen drückte sich vielmehr<br />

in einer Reihe von Synonymen des klassischen<br />

Lateins aus: humanitas, mode-<br />

(Jonathan Riley-Smith (Hg.), The Oxford Illustrated History of the Crusades, Oxford 1995, S. 53)<br />

ramen, clementia, paciencia – Menschlichkeit,<br />

Mässigung, Milde, Geduld<br />

waren Begriffe, die allesamt im antiken<br />

und frühchristlichen Denken Toleranz<br />

meinten oder wenigstens teilweise abdeckten.<br />

5. Konditionen<br />

der Wahrnehmung<br />

Fünf Konditionen könnten zusammenwirkend<br />

die besondere und in ihrer Zeit herausragenden<br />

Haltungen Wilhelms und Rodrigos<br />

begründen:<br />

UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />

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