114 DAS MITTELALTER - Universität Bern
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als Film im Kopf des einsam und unglücklich<br />
daliegenden Mannes ablaufen lassen;<br />
man konnte auch das Pathos des Liebesschmerzes<br />
parodistisch verkehren, so etwa,<br />
wenn der Mann ohne Dame, dafür in Gegenwart<br />
eines Schwarms von blutgierigen<br />
Flöhen, ungeduldig den Tag erwartet.<br />
Das geistliche Tagelied<br />
Auch hatten schon im späten 13. Jahrhundert<br />
fromm gestimmte Autoren entdeckt,<br />
welche Möglichkeiten diese gerade dank<br />
ihrer Beliebtheit zugkräftige Form für<br />
die Vermittlung religiöser Anliegen haben<br />
konnte. Damit war das geistliche Tagelied<br />
entstanden. Es wendete die verfängliche<br />
erotische Situation mittels der<br />
Allegorie in eine heilsame Lehre; die bekannten<br />
Figuren und Situationen standen<br />
so nicht mehr für sich, sondern bedeuteten<br />
religiöse Sachverhalte: Nicht mehr der<br />
zärtliche Ritter liebkoste seine attraktive<br />
Dame, sondern der heilsvergessene Sünder<br />
lag im Lotterbett der «Frau Welt», das<br />
Dämmern des Tages meinte den Anbruch<br />
des Jüngsten Tages; hinter dem warnenden<br />
Wächter erschien der geistliche Lehrer mit<br />
seinen Mahnungen, oder es war gar Christus<br />
selber, der die Seele zur rechtzeitigen<br />
Umkehr mahnte. In manchen Liedern wird<br />
auch das Paar weggelassen und die Liedsituation<br />
auf Tagesanbruch und Weckruf<br />
des Wächters reduziert: ein Wächterlied.<br />
Durch diese geistliche Umnutzung hatte<br />
sich – dies nebenbei gesagt – die religiöse<br />
Dichtung eigentlich nur das zurückgeholt,<br />
was ihr von vornherein am Tagelied<br />
schon gehörte. Es gibt nämlich gute<br />
Gründe anzunehmen, dass die frühesten<br />
Beispiele der provenzalischen Alba nicht<br />
ohne den Einfluss religiöser Hymnen und<br />
der Bibel denkbar sind.<br />
Hans Sachs hat 1518, als eben etablierter<br />
Meistersänger, noch ganz im alten Glauben<br />
sein erstes geistliches Tagelied gesungen;<br />
darin wollte er mit dieser altbewährten<br />
Formel dem frommen Christen eine<br />
Vermanung zur buß und einprägsame<br />
Warnung vor der Hölle erteilen.<br />
Die Wittenbergisch Nachtigall<br />
Es folgte 1523 das Meisterlied von der<br />
Nachtigall, die das Evangelium des neuen<br />
Glaubens verkündet. Die ganze erste Strophe<br />
entwickelt ein Bild; dieses wird dann<br />
vom Beginn der zweiten an, quasi mit dem<br />
didaktischen Zeigestock – «das Morgenrot<br />
Abb. 2: Die Illustration<br />
setzt den<br />
Text von Sachs in<br />
ein klares, vielleicht<br />
werten -<br />
des Links-Rechts-<br />
Schema um; ortet<br />
man dieses nämlich<br />
– wie etwa<br />
auch bei den<br />
Weltgerichtsdarstellungen<br />
üblich<br />
– nicht vom Betrachter<br />
her, sondern<br />
aus dem Bild<br />
heraus, dann liegt<br />
der neue Tag des<br />
Evangeliums in der<br />
«besseren», d. h.<br />
rechten Hälfte.<br />
(Titelholzschnitt zur Erst-<br />
ausgabe des Spruchge-<br />
dichts ‹Die Wittenbergisch<br />
Nachtigall› 1523)<br />
bedeutet ...» – Zug um Zug erklärt und ausgelegt:<br />
Die tagverkündende Nachtigall ist<br />
doctor Martinus von Wittenwerg, der Tag<br />
verweist auf das Evangelium, die Sonne<br />
ist Christus, der Mond steht dagegen für<br />
den Papst mit seinen selber gemachten<br />
Gesetzen und seinen Ablässen – ein Herrschaftsanspruch,<br />
der nun am Licht des Tages<br />
verblasst. Auf den Papst, namentlich<br />
auf den kurz zuvor verstorbenen Leo X.,<br />
weist auch der gegen die Nachtigall brüllende<br />
Löwe. Daneben erscheinen weitere<br />
Zeitgenossen aus dem katholischen Lager:<br />
Hieronymus Emser als Bock, Johannes<br />
Eck als Wildschwein, Thomas Murner<br />
als Katze und in Hundsgestalt schliesslich<br />
Jakob Lemp. Gleich am Anfang weckt<br />
Sachs mit der Nachtigall und mit dem Tagesanbruch<br />
den Gedanken an ein Tagelied,<br />
stört dann aber nach wenigen Versen diese<br />
Hörererwartung nachhaltig und lässt den<br />
Löwen und all das andere Viehzeug, das<br />
im Tagelied nichts verloren hat, aufmarschieren.<br />
Mehr als das: diese Tiere entfesseln<br />
nun einen Brüllkampf gegen die<br />
Nachtigall; so kommt das Lied als akustisches<br />
Ereignis zu seinem eigentlichen<br />
Recht. Anderseits ist es keine Frage, wem<br />
die Sympathien des Publikums gehören:<br />
der wohlklingenden Nachtigall, nicht ihren<br />
brüllenden, grunzenden, iahenden, bellenden,<br />
blökenden, zischenden Gegnern.<br />
Und der kleine Vogel setzt sich durch! Sie<br />
singet fröleich – ein Wunder, fast so gross<br />
wie jenes, dass dem Mönch aus Wittenberg<br />
mit Bann und Acht nicht beizukommen<br />
war. Nicht zur Fauna des Tagelieds<br />
gehören schliesslich die irrenden Schafe,<br />
die erwacht sint von dem schlaffe. Wer damit<br />
gemeint war, wusste aber jeder, der das<br />
Gleichnis vom guten Hirten kannte.<br />
Mit einem Meisterlied, das nach den Regeln<br />
der Meister nicht gedruckt und publiziert<br />
werden durfte, kann Sachs aber seine<br />
Sache nicht wirkungsvoll vertreten. So<br />
verfasst er einen Text in einfachen Sprechversen<br />
ohne Melodie; er erscheint mit vorangestellter<br />
Prosavorrede 1523. Durch die<br />
Änderung der Form umgeht Sachs nicht<br />
nur das Publikationsverbot, sondern er gewinnt<br />
auch mehr «Sendezeit» für seine Sache,<br />
war doch das Spruchgedicht im Umfang<br />
nicht begrenzt. Schliesslich sind die<br />
Knittelverse, anders als das Lied mit seiner<br />
anspruchsvollen Melodie, auch gut vor-<br />
UNIPRESS<strong>114</strong>/OKTOBER 2002<br />
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