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Arbeitsrechtliche Entscheidungen Ausgabe 2005-04

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läufig zum Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten führt<br />

(Erfurter Kommentar, 5. Aufl., § l KSchG Rn 399).<br />

Die Beklagte hätte den Betriebsrat über beide organisatorische<br />

Maßnahmen informieren müssen.<br />

Es ist ferner davon auszugehen, dass die übertragenen<br />

Schreibarbeiten in der Vergangenheit nicht im geringen<br />

Umfang angefallen sind, wie die Beklagte meint. Zwar ist<br />

zwischen den Parteien streitig, ob die Berechnung der Arbeitgeberin<br />

mit 0,5 einer Vollzeitkraft gerechtfertigt ist. In diesem<br />

Umfang ist jedenfalls nicht von einer zu vernachlässigenden<br />

Größe auszugehen. Das Verbleiben der Schreibarbeiten war<br />

der Beklagten bereits bei Einleitung des Anhörungsverfahrens<br />

im November 20<strong>04</strong> auch bekannt. Die Beklagte hatte bereits<br />

die Angebote für die Fremdvergabe ohne Schreibarbeiten<br />

vorgenommen.<br />

Im Verfahren führt die unvollständige Unterrichtung des Betriebsrates<br />

über einen wesentlichen Teil des Kündigungsgrundes<br />

dazu, dass es der Beklagten verwehrt ist, die Abgabe<br />

der Schreibarbeiten zu verwerten. Ohne diesen Vortrag hat<br />

die Beklagte das dringende betriebliche Erfordernis für die<br />

Kündigung nicht nachgewiesen. Die Kündigung ist nach § l<br />

Abs. 2 KSchG sozialwidrig. Das Arbeitsverhältnis der Parteien<br />

wird nicht zum 31.03.<strong>2005</strong> beendet<br />

■ Arbeitsgericht Leipzig<br />

vom 29. April <strong>2005</strong>, 8 Ca 8301/<strong>04</strong>, Berufung eingelegt<br />

eingereicht von Rechtsanwalt Roland Gross, Christianstraße<br />

27, <strong>04</strong>105 Leipzig, Tel.: 0341/9746-20, Fax: -24;<br />

e-mail: leipzig@advo-gross.de, www.advo-gross.de<br />

367. Kündigung, Schwerbehinderung, Nachweis der<br />

Schwerbehinderung, Auslegung<br />

1. Der besondere Kündigungsschutz nach § 90 Abs. 2 a SGB<br />

IX entfällt, wenn der Nachweis nicht geführt wurde und der<br />

fehlende Nachweis auf einem Verschulden, d. h. auf einer fehlenden<br />

Mitwirkung des Arbeitnehmers im Feststellungsverfahren<br />

beruht. Bei dem Bindewort „oder“ im Wortlaut des § 90<br />

Abs. 2 a handelt es sich um ein Redaktionsversehen, das im<br />

Wege der Auslegung in ein „und“ zu berichtigen ist.<br />

2. (…) § 90 Abs. 2 a SGB IX versagt den besonderen Kündigungsschutz,<br />

wenn die Schwerbehinderteneigenschaft im<br />

Zeitpunkt der Kündigung nicht nachgewiesen und nicht offenkundig<br />

ist, es sei denn, ein Feststellungsantrag ist gestellt<br />

worden und das Versorgungsamt hat ohne Verschulden des<br />

Antragstellers noch nicht entschieden (so – ohne nähere Begründung<br />

– im Ergebnis auch Berger-Delhey, ZTR 20<strong>04</strong>, 347).<br />

Dieser Regelungsgehalt ergibt sich bei Auslegung der Norm<br />

anhand der Entstehungsgeschichte, des Willens des Gesetzgebers<br />

und des Regelungszwecks. Der Wortlaut einer Norm<br />

bietet bei der Auslegung eine erste Orientierung. Die äußere<br />

Grenze der Auslegung ergibt sich jedoch nicht aus dem Wortlaut,<br />

sondern aus dem Sinn des Gesetzes (vgl. Wank, Die Auslegung<br />

von Gesetzen, 2. Aufl. 2001, S. 50 ff.; Rüthers, Rechtstheorie,<br />

1999, Rn 732).<br />

<strong>04</strong>/05<br />

Rechtsprechung<br />

Kündigungsrecht<br />

Es ist davon auszugehen, dass bei der Formulierung des Wortlauts<br />

dem Gesetzgeber ein Redaktionsversehen unterlaufen<br />

ist: Statt des Wortes „oder“ hätte das Wort „und“ verwandt<br />

werden müssen. Redaktionsversehen, d. h. nachweisliche „Erklärungsirrtümer“<br />

der gesetzgebenden Organe, die einen anderen<br />

Wortlaut des Gesetzes beschlossen haben als sie wollten,<br />

sind gegebenenfalls im Wege der Auslegung entsprechend<br />

der wirklichen Absicht zu berichtigen (Bydlinski, Juristische<br />

Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, S. 393). Die<br />

Gerichte sind nicht an den Wortlaut der Gesetze, sondern<br />

an die erkannten wirklichen Normzwecke der Gesetzgebung<br />

gebunden. Aufgabe der Rechtsanwendung ist es, den wirklichen<br />

Willen der Gesetzgebung zu vollziehen; es geht um denkenden<br />

Gehorsam, nicht um Buchstabengehorsam (Rüthers,<br />

Rechtstheorie, 1999, Rn 938).<br />

Nach dem objektiven Wortlaut beinhaltet der neu in § 90<br />

SGB IX eingefügte Abs. 2 a aufgrund der „oder“-Verknüpfung<br />

zwei selbständige Ausnahmetatbestände. Gem. § 90 Abs. 2 a<br />

1. Alt SGB IX entfällt der besondere Kündigungsschutz, wenn<br />

zum Zeitpunkt der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter<br />

Mensch nicht nachgewiesen ist. Gem. § 90 Abs. 2 a<br />

2. Alt. SGB IX entfällt der besondere Kündigungsschutz, wenn<br />

das Versorgungsamt nach Ablauf der Frist des § 69 Abs. 1<br />

Satz 1 eine Feststellung wegen fehlender Mitwirkung nicht<br />

treffen konnte. Systematisch ist die Verknüpfung der beiden<br />

Alternativen durch ein „oder“ jedoch sinnwidrig. Da die „erste<br />

Alternative“ alle Fälle umfasst, in denen die Schwerbehinderung<br />

nicht nachgewiesen ist, unabhängig davon, ob der<br />

fehlende Nachweis auf einem Verschulden des Arbeitnehmers<br />

beruht oder nicht, stellt die „zweite Alternative“, die auf ein<br />

Verschulden abstellt, nur einen Unterfall der „ersten Alternative“<br />

dar. Einen eigenen Regelungsgehalt hätte die „zweite<br />

Alternative“ nur dann, wenn damit auch demjenigen die<br />

Berufung auf den besonderen Kündigungsschutz verwehrt<br />

werden soll, der zwar die Feststellung zunächst schuldhaft<br />

verzögert hatte, dessen Schwerbehinderung aber letztlich vor<br />

Zugang der Kündigung nachgewiesen wurde. Dafür, dass der<br />

Gesetzgeber tatsächlich die fehlende Mitwirkung im Feststellungsverfahren<br />

mit der Folge des dauerhaften Verlusts des<br />

besonderen Kündigungsschutzes sanktionieren wollte, fehlt<br />

jeglicher Anhaltspunkt.<br />

Durch die Neuregelung sollte vielmehr nach dem Willen des<br />

Gesetzgebers nur einem Missbrauch des besonderen Kündigungsschutzes<br />

für schwerbehinderte Menschen entgegengewirkt<br />

werden (vgl. Feldes/Kossak, AiB, 20<strong>04</strong>, 453, 454). Der<br />

Bundesrat wollte zu diesem Zweck den Kündigungsschutz<br />

nach §§ 85 ff. SGB IX in allen Fällen ausschließen, in denen<br />

dem Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigung ein Ausweis<br />

noch nicht vorlag (vgl. Gramer, NZA 20<strong>04</strong>, 698, 7<strong>04</strong>; Düwell,<br />

FA 20<strong>04</strong>, 200, 201). Diese Folge würde nach dem objektiven<br />

Wortlaut der ersten Alternative des jetzigen § 90 Abs. 2 a SGB<br />

IX eintreten. Diese weitreichende Regelung sollte jedoch gerade<br />

nicht Gesetz werden, die getroffene Ausnahmeregelung<br />

sollte hinter den Vorstellungen des Bundesrats zurückbleiben<br />

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