100 Jahre Entwicklung 1901 - UniversitätsSpital Zürich
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dass sie entweder selbst ihre normalen<br />
Functionen innerhalb der Zelle<br />
nicht mehr vollziehen können oder<br />
störend auf die Functionen anderer<br />
Zellbestantheile wirken.”<br />
Overton war sich aber bewusst,<br />
dass damit das Phänomen der Narkose<br />
nicht völlig geklärt ist, wie der<br />
folgende Abschnitt zeigt:<br />
- “Es ist bekannt, dass man<br />
durch lokale Einwirkung von Narcotica<br />
auf die Nervenstränge die Reizbildung<br />
durch die Achsencylinder<br />
unterbrechen kann, ohne die Fähigkeit<br />
der Reizleitung dauernd aufzuheben,<br />
wozu freilich bedeutend<br />
höhere Concentrationen der Narcotica<br />
erforderlich sind als zur Narkose<br />
der Ganglienzellen. Ich bin sehr<br />
geneigt zu glauben, dass auch die<br />
Narkose der Ganglienzellen auf<br />
einer ganz ähnlichen Erhöhung der<br />
Widerstände beruht, welche sie der<br />
Durchleitung von Reizen entgegensetzen.<br />
Schon unter normalen<br />
Umständen scheinen die Leitungswiderstände<br />
bei der Uebertragung<br />
eines Reizes innerhalb der Ganglienzellen<br />
resp. zwischen den Ganglienzellen<br />
weit grösser zu sein als<br />
die Leitungswiderstände in den centripetalen<br />
und centrifugalen Nerven;<br />
wenigstens spricht hierfür die relativ<br />
lange Dauer der Reflexzeit im Vergleich<br />
zu der Fortpflanzungsgeschwindigkeit<br />
in den Nervenstämmen,<br />
sowie die Thatsache, dass es<br />
einer bedeutend stärkeren Reizung<br />
zur Auslösung einer Reflexbewegung<br />
bedarf, als zur Auslösung einer<br />
Bewegung durch directe Reizung der<br />
motorischen Nerven. Es scheint mir<br />
keineswegs auffallend, dass die Wirkung<br />
der Narcotica sich zunächst<br />
vorwiegend auf eine Erhöhung dieser<br />
intra- und interganglionären<br />
Widerstände beschränken sollte und<br />
dass die Narcotica erst in höheren<br />
Concentrationen einen merklichen<br />
Einfluss auf die Reizleitung in den<br />
Nervenfasern ausüben. Im Uebrigen<br />
ist die Uebertragung der Reizung<br />
Charles Ernest Overton: Studien über die Narkose (<strong>1901</strong>)<br />
Ein beinahe vergessener Pionier der Narkosetheorie<br />
von den sensiblen auf die motorischen<br />
Bahnen in dem Centraltheil<br />
des Reflexbogens sicherlich keine<br />
blosse Reizleitung, es finden vielmehr<br />
in den intermediären Ganglienzellen<br />
Auslösungsvorgänge<br />
statt, welche die Quellen für neue<br />
Reizerscheinungen abgeben. Wahrscheinlich<br />
setzt die Gegenwart der<br />
Narcotica in den Gangleinzellen und<br />
ihren Ausläufern (in den Neuronen<br />
und ihren Dendriden) dem Ablauf<br />
aller Vorgänge grössere Widerstände<br />
entgegen. Wie der durch die Aufnahme<br />
von indifferenten Narcotica<br />
modificirte Zustand der Gehirn-<br />
Lipoide diese grösseren Widerstände<br />
provocirt, kann zur Zeit noch nicht<br />
mit Nutzen erörtert werden.<br />
Vermuthlich wirken auch die<br />
basischen Narcotica durch Vergrösserung<br />
der Widerstände der Reizübertragungen,<br />
nur dass diese Widerstände<br />
in anderer Weise erzeugt,<br />
resp. vergrössert werden.<br />
Ein eingehendes Studium über<br />
die Narkose der Muskel- und Nervenfasern<br />
dürfte wohl am Geeignetsten<br />
sein, um in den Mechanismus<br />
der Narkose einen tieferen Einblick<br />
zu erhalten, da die Aenderungen in<br />
der Thätigkeit dieser Fasern<br />
(namentlich der Muskelfasern) am<br />
ehesten messend verfolgt werden<br />
können.”<br />
Jede allgemeine Narkosetheorie<br />
muss dem Umstand Rechnung tragen,<br />
dass eine Vielzahl sehr verschiedener,<br />
allerdings meist relativ<br />
kleiner Moleküle den Zustand der<br />
Narkose herbeiführen kann. Das diese<br />
Moleküle verbindende Charakteristikum<br />
ist die Fettlöslichkeit, wobei<br />
der Verteilungskoeffizient Wasser/Öl<br />
oder Wasser/Gehirnlipoide ein Mass<br />
für die Wirkstärke abgibt. Dies ist<br />
der originelle Ansatz der Narkosetheorie<br />
von Meyer-Overton.<br />
Versuch einer Würdigung<br />
Die Zürcher Zeit war sicher die<br />
fruchtbarste Forschungsperiode im<br />
Leben von Charles Ernest Overton.<br />
Aber er hatte seine umfangreichen<br />
Versuche über Zellbiologie, Osmose<br />
und den Zusammenhang zwischen<br />
Struktur und Aktivität nie integral<br />
publiziert. Zuerst mag es Perfektionismus<br />
gewesen sein, der ihn an der<br />
Publikation hinderte, in späteren <strong>Jahre</strong>n<br />
Krankheit. Robert L. Lipnick<br />
vom Office of Pesticides and Toxic<br />
Substances, United States Environmental<br />
Protection Agency, stiess bei<br />
seinen Studien über den Zusammenhang<br />
von Struktur und Wirkung von<br />
Substanzen in Bezug auf ihre Toxizität<br />
(Quantitative Structure Activity<br />
Relationsship, QSAR) immer wieder<br />
auf Studien, die Overton zitierten.<br />
Dies weckte sein Interesse, schliesslich<br />
gelang es ihm, mit Hilfe von<br />
Regierungsgeldern “Studien über die<br />
Narkose” 1985 ins Amerikanische<br />
übersetzen zu lassen. Diese Übersetzung<br />
wurde schliesslich in<br />
Zusammenarbeit mit dem Wood<br />
Library Museum of Anesthesiology<br />
1991 publiziert (5). Wir haben also<br />
die paradoxe Situation, dass der<br />
Engländer Overton auf Grund eines<br />
biographischen Zufalles in der<br />
damaligen Weltsprache der Wissenschaft,<br />
nämlich in deutscher Sprache<br />
publizierte, aber heute praktisch nur<br />
noch in der neuen Weltsprache der<br />
Wissenschaft, nämlich englisch<br />
zugänglich ist, da sein deutsches<br />
Hauptwerk heute eine antiquarische<br />
Rarität ist. Lipnick schreibt im Vorwort:<br />
“During this time I performed<br />
the first QSAR study of all of the test<br />
data on tadpoles that Overton provided<br />
in this book.The analysis clearly<br />
demonstrates that although Overton<br />
did not have the benefit of modern<br />
statistical methods, his reported toxicity<br />
values are as reliable as any<br />
aquatic toxicity data in the modern<br />
literature. This reflects the fact that<br />
Overton was a very careful observer<br />
and also that he took great pains to<br />
choose highly reproducible end<br />
effects.”<br />
Von den Zellbiologen wurde die<br />
Bedeutung von Overton 1999 in<br />
einer Monographie gewürdigt:<br />
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