Rotary Magazin 11/2023
Create successful ePaper yourself
Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.
THÈME DU MOIS – ROTARY SUISSE LIECHTENSTEIN – NOVEMBRE <strong>2023</strong><br />
ROTARISCHER GASTBEITRAG<br />
VERANTWORTUNGSVOLLE<br />
SELBSTBESTIMMUNG AM LE<br />
36<br />
Innerhalb einer Lebensspanne kann der gesellschaftliche<br />
Konsens um 180 Grad umschwenken. Wer lange genug lebt,<br />
erfährt die Vorläufigkeit vieler Wertungen.<br />
ETHIK UND ZEITGEIST<br />
Das relativiert das gegenwärtig als Wahrheit<br />
Aufgefasste. Viele alte Menschen<br />
entwickelten eine gesunde Skepsis gegenüber<br />
den eifrigen Verfechtern der jüngsten<br />
moralischen Überzeugungen.<br />
Der gesellschaftliche Konsens ist<br />
immer im Fluss, manchmal schneller und<br />
manchmal träger. Bestimmte Themen<br />
erhöhen plötzlich ihre Fliessgeschwindigkeit,<br />
und dann kommt der grosse Wasserfall<br />
eines eigentlichen Paradigmawechsels.<br />
Die Selbstbestimmung am Lebensende,<br />
einst als Sünde wider den Glauben tabuisiert,<br />
gewinnt an Boden.<br />
Seit der Neuzeit geht der Trend in<br />
Richtung Individualisierung. Die Säkularisierung<br />
schreitet fort, Autoritäten verlieren<br />
Macht und der Einzelne beansprucht<br />
mehr Selbstbestimmung. Die 68er beschleunigten<br />
diese Entwicklung mit<br />
ihren antiautoritären Forderungen. Älter<br />
geworden, stossen sie auf den Anachronismus<br />
der Fremdbestimmung am<br />
Lebensende – und stossen sich daran. Und<br />
stellen erneut die Autorität der Bestimmenden<br />
infrage. Dass ein Arzt entscheidet,<br />
wie viel jemand leiden muss, bis er<br />
Sterbehilfe bekommt, ist nicht mehr<br />
akzeptabel, ebenso wenig wie der Priester,<br />
der einem selbstbestimmt Sterbenden<br />
gemäss den Geboten seiner unbarmherzigen<br />
Kirche die Sakramente verweigert.<br />
Verschiedene Faktoren haben dazu<br />
beigetragen, dass die Selbstbestimmung<br />
am Lebensende in der Schweiz eine grössere<br />
Akzeptanz geniesst als in den meisten<br />
europäischen Ländern. Im Gegensatz zu<br />
Deutschland hatte die Schweiz nach dem<br />
Zweiten Weltkrieg kein Euthanasietrauma<br />
zu verarbeiten. Der Einfluss der katholischen<br />
Kirche hält sich hierzulande in Grenzen.<br />
Schon früh wurde in der Schweiz die<br />
Sterbehilfeorganisation EXIT gegründet,<br />
eine Pionierleistung zu einem Zeitpunkt,<br />
als Sterbehilfe in Europa noch kein Thema<br />
war. Etabliert und einflussreich ist EXIT mit<br />
ihren über 150 000 Mitgliedern und einem<br />
substanziellen von dankbaren Mitgliedern<br />
und ihren Angehörigen gespendeten<br />
Vereinsvermögen ein Leuchtturm für<br />
das Anliegen der Selbstbestimmung. Die<br />
Mitgliederzahl steigt ständig. Selbstbestimmung<br />
am Le bensende ist eine Bewegung<br />
von unten nach oben. Dafür eignet<br />
sich die schweizerische Form der direkten<br />
Demokratie. Das Schweizer Stimmvolk hat<br />
sich für die Sterbehilfe ausgesprochen.<br />
SELBSTBESTIMMUNG<br />
BRAUCHT MUT<br />
Die Voraussetzungen für die neue Wahlfreiheit<br />
am Lebensende sind nicht ohne.<br />
Sie ist nur um den Preis der Integration der<br />
Vergänglichkeit zu haben. Zur Auseinandersetzung<br />
mit der eigenen Sterblichkeit<br />
müssen innere und äussere Hindernisse<br />
überwunden werden. Der Tod macht<br />
Angst. Die Sterblichkeit lässt sich in unserer<br />
Kultur leicht verdrängen. Das Sterben<br />
verbirgt sich in Pflegeheimen und Spitälern.<br />
Viele Erwachsene bei uns haben<br />
noch nie einen Toten berührt. Wissenschaftsgläubigkeit<br />
erlaubt, sich unsterblich<br />
zu wähnen. Der Jugendkult behindert<br />
die Reifung zum Einverständnis mit der<br />
Einbindung in das grosse Stirb und Werde.<br />
Alte Menschen verpassen die Erntephase<br />
ihres Lebens, weil sie glauben, sich jung<br />
und dynamisch geben zu müssen. Das<br />
kirchliche Tabu gegen Selbstbestimmung<br />
am Lebensende drückt durch jüngere<br />
Bewusstseinsschichten hindurch. Der<br />
gegenwärtigen alten Generation sitzt die<br />
moralische Verurteilung des Freitodes<br />
noch im Nacken. Sie kämpft sich zu neuen<br />
ethischen Normen durch. Es braucht Einsicht<br />
und Mut, sich für die Selbstbestimmung<br />
zu entscheiden.<br />
VERANTWORTUNGSVOLLE<br />
SELBSTBESTIMMUNG<br />
Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht,<br />
das wie alle Rechte auch Pflichten<br />
in sich birgt. Selbstbestimmung am<br />
Lebensende muss verantwortungsvoll<br />
ausgeübt werden. Es geht um Selbstverantwortung,<br />
um Rücksichtnahme ge <br />
genüber Angehörigen, gesellschaftliche<br />
Solidarität und für Gläubige auch die<br />
Verantwortung vor Gott.<br />
1. SELBSTVERANTWORTUNG<br />
Die Selbstverantwortung fordert eine<br />
Auseinandersetzung mit Sterben und Tod<br />
durch Informationen, Gespräche und<br />
Nachdenken, damit sich ein fundierter<br />
eigener Standpunkt bilden kann. Bei der<br />
Selbstverantwortung kann es nicht darum<br />
gehen, den eigenen Willen überheblich<br />
gegen den Verlauf des Lebens zu stemmen.<br />
Selbstverantwortung in Demut vor<br />
den Grundgesetzmässigkeiten des Lebens<br />
erduldet, was zu erdulden ist, und entscheidet,<br />
was entschieden werden muss.<br />
Es ist fahrlässig, die Verantwortung für das<br />
eigene Lebensende vorzeitig aus der Hand<br />
PEOPLE OF ACTION<br />
Rot. Katrin Wiederkehr (RC Zurich Plus)<br />
schloss das Studium der Psychologie<br />
und der Religionsgeschichte mit der<br />
Promotion zur Dr. phil. ab. Als Psychotherapeutin<br />
FSP für Einzel- und Paartherapie<br />
war sie Referentin, Dozentin<br />
und Ausbilderin für personenzentrierte<br />
Psychotherapie. Daneben ist sie<br />
journalistisch tätig und hat verschiedene<br />
Sachbücher verfasst.