Die Erschaffung und der Verfall oppositioneller Identität

16 FORSCHUNGSJOURNAL NSB 2/93
meinsinn zu schaffen. Die Überraschung: Es
klappt offenkundig.
Greenpeace - lange Zeit Inbegriff einer spektakulären
Konfrontationspolitik, mit eigenen Booten,
um Walfänger zu behindern, Ankettungen an
Werkstore und Besteigungen von Schornsteinen
- entdeckt die marktverändernde Kraft der Innovation:
Gemeinsam mit dem Ost-Untemehmen dkk
Scharfenberg brachten sie den ersten serienreifen
FCKW-freien Kühlschrank auf den Markt.
Die Botschaft: Mehr Umweltfreundlichkeit geht,
wenn Unternehmen und Verbraucher es wirklich
wollen. Das Ergebnis spricht für sich. Abertausende
von Vorbestellungen und ein plötzliches
Erwachen der traditionellen Großhersteller von
Kühlaggregaten, die nun eigene Versionen werbeaufwendig
anbieten.
Dem BUND und der Deutschen Lufthansa gelang
es durch Absprachen und gemeinsame Aktionen,
das erst vor wenigen Jahren durchgesetzte
Verbot des Lufttransportes exotischer Tiere
politisch abzusichern. Die Lobby der Tierhändler
verlor. Sie hatte über den Bundestag massiven
Druck auf das Staatsunternehmen auszuüben
versucht.
Die Stadt Düsseldorf ließ sich auf ein kooperatives
Planungsmodell ein, als es darum ging,
die Rheinuferstraße tiefer zu legen, um Innenstadt
und Uferbereich zu verbinden. Der Trick:
die Einbeziehung interdisziplinär besetzter Planungsgruppen,
eines Soziologenteams und der
beteiligten Dienststellen. Nicht selten gab es Chaos
und mußten abstruseste Ideen diskutiert werden.
Aber das Ergebnis zählt: Das gesamte
Genehmigungsverfahren konnte innerhalb von
zwei Jahren abgeschlossen werden.
Ob Bertelsmann sich von Greenpeace beraten
läßt, Kosmetikhersteller den BUND konsultieren
oder Planungsverfahren partizipatorisch orga­
nisiert werden - immer geht es zunächst einmal
dämm, Akzeptanz zu sichern. Doch fast immer
verändert sich im Konsensprozeß mit den Kritikern
das Produkt, das Projektziel und/oder das
Verfahren.
Die Chance auf mehr Kreativität und neue Ideen
ist dabei genauso wichtig wie der Zugewinn
von Handlungsfähigkeit. Beides erwarten die
Menschen von der Wirtschaft wie von der Politik.
Denn sie ahnen, daß allein darin die Voraussetzungen
für die Lösungen der großen gesellschaftlichen
Probleme liegen.
Der dramatische Anstieg des Potentials an Nicht-,
Ungültig- und Rechtsradikalwählern zeigt sich
vordergründig als Parteienverdrossenheit.Beim
Ausleuchten des sozialen Hintergrundes jedoch
wird mit einem Mal auch deutlich, daß dieses
Potential von schlichten Sehnsüchten getrieben
wird: Lösungen statt Probleme, Berechenbarkeit
statt Unsicherheit, Vorbilder statt ständige
Schreckensbilder. Ängste, Harmonieträume und
Sicherheitsbedürfnisse als neue politische Herausforderung.
Die Gesellschaft hat in den vergangenen 25 Jahren
immer wieder mühsam lernen müssen, wie
sich mit Konflikten und Ausstieg, Protest und
Konfrontation umgehen läßt.
Heute muß sie zeigen, ob sie auch das Gegenteil
kann, ohne in die formierte Gesellschaft der
60er Jahre zurückzufallen. Vielleicht benötigen
wir eine gesellschaftsweite Experimentierbaustelle
der Kooperationen. Dabei ist nicht auszuschließen,
daß wir wieder mal einen historischen
Pubs brauchen. Diesmal, um mehr Konsens
zu wagen.
Lothar Rolke untersuchte sozialwissenschaftlich
die Geschichte der "Protestbewegungen in der
Bundesrepublik". Heute ist er Geschäftsführender
Gesellschafter bei der Reporter-Gruppe (GPRA).