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Die Erschaffung und der Verfall oppositioneller Identität

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Nun ist die Zeit <strong>der</strong> Illusionen langsam vorbei.<br />

Jetzt kann man besser verstehen, warum <strong>der</strong><br />

Sozialismus im Osten tatsächlich real war. <strong>Die</strong><br />

heutige politische Entwicklung in Bulgarien<br />

scheint sich nicht so sehr in Richtung des Standards<br />

westlicher Demokratien zu bewegen, als<br />

vielmehr in Richtung <strong>der</strong> alten autokratisch-demokratischen<br />

Form, die dem Sozialismus vorausging<br />

<strong>und</strong> ihn im gewissen Sinne vorbereitete.<br />

Man kommt schon zum zweiten Akt des<br />

protodemokratischen Dramas: <strong>Die</strong> Dissidenten,<br />

"die Grün<strong>der</strong>" <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e Hauptakteure <strong>der</strong> "ersten<br />

St<strong>und</strong>e", werden - nicht nur in Bulgarien -<br />

von technokratischen Politikern verdrängt. <strong>Die</strong>ser<br />

ambivalente Prozeß ernüchtern<strong>der</strong> Instrumentalisierung<br />

<strong>und</strong> gleichzeitiger zynischer Verflachung<br />

<strong>der</strong> Politik führt zu dem wachsenden<br />

Bedürfnis <strong>der</strong> Wertkritik an Zielen <strong>und</strong> Mitteln<br />

des weiteren Übergangs. <strong>Die</strong> Spannungen zwischen<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> Staat nehmen zu, denn<br />

es gibt keine hinreichenden Formen politischer<br />

Interessenvermittlung, <strong>und</strong> die schon vorhandenen<br />

funktionieren schlecht.<br />

Illusionsverlust mag eine traurige, gar gefährliche<br />

Sache sein. Sein Vorteil, ja seine Unersetzlichkeit<br />

besteht jedoch in <strong>der</strong> Entzauberungsarbeit,<br />

in <strong>der</strong> Auslösung von Reflexionsprozessen.<br />

Erst jetzt setzt eine intensive "Selbstbewegung<br />

<strong>der</strong> Begriffe" ein, <strong>der</strong> Gegenstand <strong>der</strong> Sozialwissenschaften<br />

wird mündig, verliert also eine<br />

zeitweilige Sprachlosigkeit. Das macht die Rationalisierung<br />

<strong>der</strong> pohtischen Entscheidungsprozesse<br />

durch wissenschaftliche Kritik gesellschaftlich<br />

wie<strong>der</strong> gefragt <strong>und</strong> machbar. Denn, wie wir<br />

wissen, es ist kein sozialwissenschaftliches Denken<br />

über einen Gegenstand möglich, <strong>der</strong> selbst<br />

noch nicht über sich zu reflektieren imstande<br />

ist.<br />

2. Theoretische Defizite<br />

Hat das vorschnelle Ende <strong>der</strong> Bewegungen in<br />

Bulgarien, die den Umbruch - wie überall in<br />

FORSCHUNGSJOURNAL NSB 2/93<br />

Osteuropa - wenn nicht allein verursachten, so<br />

doch sicher entscheidend mitbedingten, einen<br />

solchen Institutionahsierungseffekt gehabt, daß<br />

die Umumkehrbarkeit des Demokratisierungsprozesses<br />

garantiert ist? Ist die Entwicklung in<br />

Bulgarien eine historische, konkrete Demonstration<br />

des "natürlichen" Ablaufes (o<strong>der</strong> "Zyklus")<br />

einer sozialen Bewegung, <strong>der</strong>en Ende mit ihrer<br />

Formalisierung <strong>und</strong> Institutionahsierung gleichgesetzt<br />

werden kann? Ist denn aber <strong>der</strong> Demokratisierungsprozeß<br />

überhaupt möglich, falls er<br />

lediglich durch einen - wenn auch massiven -<br />

Präzedenzfall initiiert wird?<br />

(Süd-) Osteuropäische Bewegungen <strong>und</strong> ihre Institutionahsierungseffekte<br />

sind auch eine Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

für die NSB-Forschung. Grob gesagt,<br />

ist letztere zu eindimensional o<strong>der</strong> zu eindeutig<br />

auf die Protesterscheinungen <strong>der</strong> (Selbst-)<br />

Kritik industrieller Gesellschaften konzentriert,<br />

um eine hinreichende theoretisch-methodologische<br />

Sensibilität in bezug auf die äußerst verwirrende<br />

Komplexität <strong>und</strong> Gleichzeitigkeit <strong>der</strong><br />

Konfliktlinien im Osten zu bewahren. 2<br />

Gewiß<br />

sind die dort zu beobachtenden Bewegungen,<br />

die bulgarischen eingeschlossen, we<strong>der</strong> ganz<br />

"neu" - Friedens- unjd Frauenbewegungen gibt<br />

es kaum - noch ganz "alt": Wenn eine Arbeiterbewegung<br />

überhaupt in Erscheinung tritt, dann<br />

nicht im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> nicht ohne Frigidität<br />

in bezug auf die Sozialdemokratie.<br />

Ohne Zweifel sind die Bewegungen im Osten<br />

überwiegend politisch. Werden sie sozialer, wenn<br />

sie sich depolitisierenl Wie unterscheiden sich<br />

politische <strong>und</strong> soziale Bewegungen in Bezug<br />

auf ihre Institutionahsierungseffekte? Und welche<br />

institutionellen Bedingungen sind es, die<br />

hier die Entstehung <strong>und</strong> Etablierung neuer Vermittlungsformen<br />

begünstigen? Welche institutionellen<br />

Defizite weist die "Umbruchsgesellschaft"<br />

typischerweise auf, <strong>und</strong> was bedeutet<br />

das konkret für die politischen Perspektiven in<br />

Bulgarien?

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