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Die Erschaffung und der Verfall oppositioneller Identität

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I I FORSCHUNGSJOURNAL NSB 2/93<br />

itiative von Soziologen, Sozialarbeitern <strong>und</strong> Intellektuellen<br />

stand die Bewältigung von Problemen<br />

<strong>der</strong> Armut - eine bis dahin in Ungarn tabuisierte<br />

Problematik.<br />

Im Verlauf des Jahres 1988 verdichteten sich in<br />

Ungarn organisatorische <strong>und</strong> thematische Verbindungen<br />

zwischen unterschiedlichen informellen<br />

Gruppen. Es bildeten sich Grappierungen,<br />

die sich zum Teil ausdrücklich als Gegenverbände<br />

zu Vereinigungen aus dem "offiziellen"<br />

politischen System bestimmten. So gründete sich<br />

Ende März 1988 <strong>der</strong> Verband <strong>der</strong> "Jungdemokraten"<br />

(FIDESZ) als Konkurrenz zum staatlichen<br />

Jugendverband: "<strong>Die</strong> Mitglie<strong>der</strong>zabi <strong>der</strong><br />

FIDESZ verdoppelte sich von Woche zu Woche,<br />

von einer Versammlung zur an<strong>der</strong>en." 37<br />

Kennzeichnend für die Herausbildung dieser<br />

Gruppierung war, daß FIDESZ selbst als das<br />

Ergebnis eines kollektiven Mobilisierungsprozesses<br />

gesehen werden kann. L. Varga faßt Gesichtspunkte<br />

dieses Vorgangs in das Urteil: "In<br />

einer autoritären Gesellschaftsordnung zeigt dies,<br />

Prozesse <strong>der</strong> Konsens-Mobilisierung von Bedeutung<br />

sind.<br />

Unter diesem Gesichtspunkt gibt es Parallelen<br />

zu KOR in Polen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Charta 77 in <strong>der</strong><br />

Tschechoslowakei: Mit dem Komitee für histo­<br />

rische Gerechtigkeit entstand eine freiwillige<br />

Organisationsform <strong>der</strong> "zivilen Gesellschaft" 41<br />

,<br />

die den Konflikt über die Gr<strong>und</strong>lagen <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>aneignung<br />

verdrängter historischer Ereignisse<br />

zuspitzte <strong>und</strong> zu öffentlichen Protestwellen<br />

beitrug. Daß dieses Komitee auf dem Weg <strong>der</strong><br />

Themenbildung über "Geschichte" zentrale politische<br />

Fragen offenlegte, läßt sich nämlich an<br />

zeitgleich verlaufenen kollektiven Mobilisierungsprozessen<br />

ermessen: den spontanen Massendemonstrationen<br />

in Budapest 1988 <strong>und</strong> 1989,<br />

auf denen in erster Linie das Recht auf historische<br />

Erinnerung an den Volksaufstand von<br />

1956 <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e vom Regime verdrängte Ereignisse<br />

gefor<strong>der</strong>t wurde.<br />

3.1. Korporatistische Übereinkunft <strong>und</strong><br />

neue politische Parteien<br />

wie die Macht ihre Autorität verlor, wie die<br />

Unzufriedenheit die Angst überwand." 38<br />

An zwei<br />

weiteren Fallbeispielen kann verdeutlicht werden,<br />

wie in <strong>der</strong> Phase vor dem 1989 am R<strong>und</strong>en<br />

Tisch festgelegten Systemwandel die Trennungslinien<br />

zwischen <strong>der</strong> "zweiten" <strong>und</strong> <strong>der</strong> "offiziellen"<br />

Öffentlichkeit 39<br />

schrittweise politisch überw<strong>und</strong>en<br />

wurden: 1) durch die im Mai 1988 von<br />

über tausend Wissenschaftlerinnen gegründeten<br />

ersten demokratischen, unabhängigen Gewerkschaften<br />

<strong>und</strong>) durch das ebenfalls im Mai 1988<br />

gebildete "Komitee für historische Gerechtigkeit".<br />

<strong>Die</strong> unabhängigen Gewerkschaften repräsentierten<br />

den erfolgreichen Versuch <strong>der</strong> Selbstorganisation<br />

von Wissenschaftlerinnen, <strong>der</strong> auch<br />

durch herkömmliche Strategien <strong>der</strong> polizeilichen<br />

Unterdrückung nicht mehr rückgängig gemacht<br />

werden konnte 40<br />

In Ungarn gab es eine ausgeprägte Tradition des<br />

("staatlichen") korporatistischen Interessenausgleichs<br />

. <strong>Die</strong> Gründung des "Komitees<br />

für historische Gerechtigkeit" kann als exemplarisch<br />

für informelle Gruppen gelten, die über<br />

den Rahmen als informelle Gruppe hinaus für<br />

42<br />

. In <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> korporatistischen<br />

Interessenübereinkunft sind auch noch die<br />

Gespräche am R<strong>und</strong>en Tisch im Sommer 1989<br />

zwischen Regierang <strong>und</strong> politischen Gruppen/<br />

Parteien <strong>der</strong> Opposition zu sehen. In diese Tradition<br />

gehört auch die poUtische Übereinkunft<br />

zwischen <strong>der</strong> stärksten neuen Regierungspartei<br />

"Ungarisches Demokratisches Forum (MDF)"<br />

<strong>und</strong> dem oppositioneUen "B<strong>und</strong> <strong>der</strong> Freien Demokraten"<br />

(SZDSZ); Parteigruppierungen, die<br />

neben <strong>der</strong> "Partei <strong>der</strong> kleinen Landwirte", <strong>der</strong><br />

Unabhängigen SoziaUstischen Partei (USP) <strong>und</strong><br />

den Jungdemokraten (FIDESZ) die zentralen Akteure<br />

im neuen Parteienspektrum Ungarns vor<br />

<strong>und</strong> nach den ersten Parlamentswahlen im März<br />

1990 waren.

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