Mai 2006 (PDF) - an.schläge
Mai 2006 (PDF) - an.schläge
Mai 2006 (PDF) - an.schläge
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
sucht, d.h. nach einer Möglichkeit, Filmgeschichtsschreibung<br />
auch theoretisch<br />
zu begreifen, wobei mittlerweile der<br />
kulturalistische Ansatz weit verbreitet<br />
ist. Es wird nach den Kontexten gefragt,<br />
in denen die Arbeiten entst<strong>an</strong>den sind,<br />
und d<strong>an</strong>ach, welche Diskussionen und<br />
Diskurse es in der jeweiligen Zeit gab.<br />
Mein Schwerpunkt liegt hier auf dem<br />
Frühen Kino, dem Stummfilmkino, dessen<br />
Wiederentdeckung im Rahmen der<br />
feministischen Filmtheorie bzw. -wissenschaft<br />
wesentlich war. Denn m<strong>an</strong><br />
hat entdeckt, dass aufgrund der Neuheit<br />
des Mediums Film und aufgrund<br />
fehlender St<strong>an</strong>dardisierungen damals<br />
ein offenes Experimentierfeld existierte<br />
und die Frauen dadurch viel mehr Möglichkeiten<br />
hatten.<br />
Sie arbeiten in diesem Zusammenh<strong>an</strong>g<br />
zu „Lachen und Kino“. Können Sie<br />
uns dazu etwas erzählen?<br />
Mich interessieren vor allem die Komikerinnen<br />
der 1910er Jahre. Es h<strong>an</strong>delt<br />
sich dabei um kurze Filme, die vor allem<br />
in Serien produziert worden sind, in denen<br />
Frauen häufig die Hauptdarstellerinnen<br />
waren. Es gab in der Frühzeit des<br />
Kinos sehr viele Komikerinnen. Faszinierend<br />
ist für mich dabei vor allem die<br />
Vielfalt dessen, was die Frauen verkörpern<br />
konnten. Es gab sehr wenige Konventionen,<br />
die Frauen durften dick, hässlich,<br />
brutal sein, sie durften witzig sein –<br />
da es um Stummfilme geht, ist hier ein<br />
Witz nicht in einem Wortsinn, sondern<br />
in einem körperlichen Sinn gemeint.<br />
Und dieser körperliche Witz interessiert<br />
mich nicht nur, weil der Körper natürlich<br />
im feministischen Kontext ein wichtiges<br />
Thema war und ist, sondern auch deshalb,<br />
weil sich über den Körper viel vermitteln<br />
lässt. Frauen konnten sich in ihrer<br />
spezifischen Körperlichkeit artikulieren.<br />
Die Filme widersprechen gegenwärtigen<br />
Sehgewohnheiten, weil sie weniger<br />
<strong>an</strong> Narrationen, als vielmehr <strong>an</strong> Aktionen<br />
interessiert sind und auch am<br />
Publikumskontakt. Es gibt ein starkes<br />
Spiel zum Publikum, also zur Kamera<br />
hin, worin ich einen stark kommunikativen<br />
Effekt sehe. Ich bezeichne die Frauen<br />
auch als Erzählerinnen, weil sie über den<br />
Körper das Publikum in ihre Erfahrungen<br />
mit einbeziehen.<br />
Inwiefern hat dieses Lachen em<strong>an</strong>zipatorische<br />
Potenziale?<br />
Die Frage ist immer, wie ein Moment<br />
des Lachens, der durch Aus-<br />
schweifung, körperlichen Expressivität,<br />
die Groteske hervorgerufen wird, wieder<br />
zurückgenommen, wie er wieder<br />
eingegliedert wird bzw. die Frage ist,<br />
was darf davon bleiben. Und das Lachen<br />
durfte im Frühen Kino weiter und<br />
über den Moment hinausgehen. Die<br />
Frauen haben sich attackiert, sie haben<br />
Materialschlachten mit Mehl, mit Wasser,<br />
mit Erde durchgeführt. Sie haben<br />
Häuser, Wohnungen, g<strong>an</strong>ze Umgebungen<br />
zerstört und trotzdem gab es<br />
kaum S<strong>an</strong>ktionen, etwas, das m<strong>an</strong> heute<br />
einfach nicht mehr kennt. Wenn<br />
Frauen etwas kaputtmachen, wenn sie<br />
morden, wenn sie stehlen, kurz: Wenn<br />
sie sich außerhalb der gesellschaftlichen<br />
Norm bewegen, verhängt das Kino<br />
heute S<strong>an</strong>ktionen. In irgendeiner<br />
Form muss so ein Geschehen wieder in<br />
eine Ordnung zurückgeführt werden.<br />
Das war damals nicht der Fall, weil die<br />
Erzählform und das Konzept des Filmens<br />
ein g<strong>an</strong>z <strong>an</strong>deres war. Frauen haben<br />
sich in einer Szene beispielsweise<br />
im Theater fürchterlich aufgeführt, Eier<br />
<strong>an</strong> den Glatzen der Vordermänner zerschlagen,<br />
mit Gegenständen um sich<br />
geworfen und das Ende des Filmes best<strong>an</strong>d<br />
d<strong>an</strong>n darin, dass sie hinausgeführt<br />
wurden, aber d<strong>an</strong>n war der Film<br />
eben aus, ohne Gerichtsszene, ohne<br />
Verurteilung. Im Verhältnis zu dem,<br />
was geschah – Küchen wurden abgebr<strong>an</strong>nt,<br />
Häuser überflutet – war die folgende<br />
S<strong>an</strong>ktion ungewöhnlich milde<br />
und es hat keine Rückführung in eine<br />
herrschaftliche Ordnungsstruktur gegeben.<br />
Und das macht für mich den<br />
em<strong>an</strong>zipatorischen Gestus aus. Darin<br />
stecken unglaubliche Potenziale, weil<br />
m<strong>an</strong> die Lust und die Befreiung des Lachens<br />
ohne Strafe erleben darf.<br />
Dürfen Frauen im Film heute wieder<br />
komisch sein?<br />
Ich sehe sehr viel in dieser Richtung,<br />
um Komikerinnen, oder allgemeiner,<br />
das Lachen von Frauen wieder präsent<br />
zu machen. Vom Witz über Kabarettistinnen<br />
bis hin zu komischen Figuren<br />
im Fernsehen werden verschiedene<br />
Genres miteinbezogen, das gibt es nicht<br />
nur in der Komödie. Und eine weitere<br />
Parallele zu dieser Zeit ist für mich gegenwärtig<br />
auch die existierende Vielfalt,<br />
sie ist vergleichbar mit der von damals.<br />
Wie sollte/ könnte/ müsste feministisches<br />
Fernsehen für Sie aussehen? Gibt<br />
es a) verpflichtende Inhalte und/oder b)<br />
besonders geeignete formale/ästhetische<br />
Strategien?<br />
Das ist eine ähnliche Frage wie die<br />
nach einer feministischen Ästhetik –<br />
früher hat m<strong>an</strong> weibliche Ästhetik gesagt.<br />
Ich denke, es gibt da keine Regeln<br />
oder Kriterien, die festlegen, was feministische/weibliche<br />
Ästhetik ist. Für<br />
mich geht es eher um den Zug<strong>an</strong>g, um<br />
ein Bewusstsein für die Frage:„Was will<br />
ich erzeugen, wie bringe ich Inhalte formal<br />
rüber?“ Es geht um eine starke<br />
Sensibilität für die Frage, welche Mittel<br />
ich wofür einsetze, letztlich also um die<br />
Frage der Repräsentation. Und um ein<br />
historisches Bewusstsein: Ich muss mir<br />
<strong>an</strong>schauen, was schon möglich war,<br />
welche Projekte gab es, auf das Fernsehen<br />
bezogen, beispielsweise schon in<br />
den 1970er Jahren. Das ist für mich alles<br />
Teil des feministischen Feldes, das<br />
ich als politisches und kritisches sehe,<br />
in dem immer wieder Fragen d<strong>an</strong>ach<br />
aufkommen, wie ich mit Inhalten umzugehen<br />
habe, wie stark ich welche Inhalte<br />
sichtbar mache, welche Formen<br />
der Sichtbarmachung es gibt, bis hin<br />
zur Dekonstruktion etablierter Sprachformen.<br />
Wenn ich feministisches Fernsehen<br />
oder feministische Filmproduktion<br />
mache, bedeutet das also viel Arbeit...<br />
Andrea B. Braidt hat im Interview<br />
mit uns vom Einfluss der QueerTheorie<br />
bzw. g<strong>an</strong>z allgemein vom Einfluss dekonstruktivistischer<br />
und poststrukturalistischer<br />
Theorie auf die feministische Filmwissenschaft<br />
gesprochen. Wie schlägt<br />
sich dieser Einfluss in der Filmproduktion<br />
nieder?<br />
Ich denke, dass der Einfluss auf<br />
Film- und Videoproduktion enorm ist.<br />
Mit fällt beispielsweise jedes Jahr bei<br />
der Diagonale in Graz auf, dass es in einer<br />
Fülle von Produktionen g<strong>an</strong>z selbstverständlich<br />
geworden ist, nach Geschlecht<br />
oder auch Ethnie, Alter oder<br />
<strong>an</strong>deren Gruppenzugehörigkeiten zu<br />
fragen und dass dies auch selbstverständlich<br />
aufgenommen wird. Aus meiner<br />
Sicht hat das eine solche Selbstverständlichkeit<br />
gewonnen, dass ich es<br />
gar nicht <strong>an</strong> einzelnen Beispielen erläutern<br />
brauche. Denn diese Bezugnahmen<br />
sind im positiven Sinne fast schon<br />
St<strong>an</strong>dard geworden, vor allem wohl bei<br />
jüngeren Film- und Videoproduzentinnen.<br />
❚<br />
forumwissenschaft<br />
mai <strong>2006</strong><strong>an</strong>.<strong>schläge</strong> 23