Das Gedankenexperiment - Wissenschaft und moralische ...
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Kap. 9: <strong>Gedankenexperiment</strong><br />
Die Tatsache, daß fast alle Vertreter dieser Gruppe - mit den berichteten erfreulichen<br />
Ausnahmen - ihre Verpflichtung schwänzen <strong>und</strong> sich nach dem Muster der unzuständigen<br />
<strong>und</strong> nicht verpflichteten Zeitgenossen verhalten, bedarf nun einer anderen Interpretation.<br />
Die Vertreter dieser Gruppe werden wir im folgenden als die Verantwortlichen bezeichnen.<br />
Sie hatten gewöhnlich die größeren Chancen zu einer Allgemeinbildung, sie verfügen<br />
über mehr Zugänge zu Informationen <strong>und</strong> kompetenten Auskünften <strong>und</strong> beanspruchen<br />
generell, den Durchblick zu haben <strong>und</strong> selbständig urteilen zu können. Welches sind die Gründe<br />
<strong>und</strong> Motive der Verantwortlichen, ihnen zugegangene gravierende Informationen nicht geschäftsmäßig<br />
zu beantworten <strong>und</strong> zu bearbeiten wie z. B. die Informationen über das Atomendlager<br />
Asse, oder über die Spitzelaffäre der Telekom oder die Schmiergeldaffäre bei Siemens?<br />
Wie eine geschäftsmäßige Behandlung aussehen müßte, kann nicht zweifelhaft sein. Wenn<br />
der Gegenstand ein jahrzehntelang bis heute gebrochenes Gr<strong>und</strong>recht ist, kann niemand guten<br />
Glaubens behaupten, er habe die Angelegenheit wegen Bedeutungslosigkeit in den Papierkorb<br />
entsorgt. Jeder Adressat müßte sich selbst oder durch Mitarbeiter oder durch befre<strong>und</strong>ete<br />
Kollegen eine Vorstellung davon verschaffen oder vermitteln lassen, worum es in der Sache<br />
geht. Dann müßte er erkennen, daß es sich um eine Problematik von einiger Tragweite handelt.<br />
Und er müßte erkennen, daß er sich gerade wegen der möglichen Tragweite ein Urteil über die<br />
Qualität der Dokumentation bilden muß, auf der alles beruht, Bis hierher werden alle Adressaten<br />
gehen, weil sie es bei Asse, Telekom <strong>und</strong> Siemens auch tun würden.<br />
Alle weiteren Schritte hängen wesentlich von persönlichen Vorurteilen <strong>und</strong> Urteilen ab,<br />
von Vorlieben, Stimmungen <strong>und</strong> Zufällen. Es sind mehrere Alternativen leicht vorstellbar.<br />
(1) Manche verwerfen ohne Prüfung, weil sie wissen, daß das Genie <strong>und</strong> die Groß-<br />
Koryphäen gr<strong>und</strong>sätzlich unfehlbar recht haben, solange sie sich nicht selbst korrigieren.<br />
(2) Manche erk<strong>und</strong>igen sich bei den Physikern <strong>und</strong> erhalten die beruhigende Versicherung,<br />
daß an der Kritik nichts dran ist.<br />
(3) Einige werden einen Blick in die Dokumentation werfen, dadurch immerhin die<br />
möglichen Dimensionen erkennen <strong>und</strong> sich sagen: wenn da etwas dran sein sollte, dann kann<br />
es sehr ungemütlich werden - also nur nichts damit zu tun haben <strong>und</strong> abtauchen.<br />
(4) Wenige werden versuchen herauszufinden, ob denn die Dokumentation überhaupt<br />
korrekt beschreibt <strong>und</strong> referiert. <strong>Das</strong> macht schon etwas Arbeit. Einige von ihnen werden nur<br />
Zweifel haben <strong>und</strong> damit ein gutes Motiv, die Sache als erledigt abzutun.<br />
(5) Die sehr wenigen, die die Arbeit einer Prüfung leisten <strong>und</strong> die Korrektheit der Dokumentation<br />
bestätigt finden, werden die Gefahren einer Aufklärung der Öffentlichkeit <strong>und</strong> die Folgen<br />
für die eigenen Interessen mit Kollegen beraten <strong>und</strong> gemeinsam zu dem Entschluß kommen, auf<br />
keinen Fall etwas zu unternehmen. Die landesüblichen Fälle Asse, Telekom <strong>und</strong> Siemens lehren<br />
uns, daß alle Informierten bis zum bitteren Ende die Aufklärung der Öffentlichkeit verhindern.<br />
Erst nach dem bitteren Ende wird dann “brutalstmöglich” aufgeklärt. Insbesondere die eigentlich<br />
für die Kontrolle Zuständigen paktieren erfahrungsgemäß bis zuletzt mit den Verbrechern.<br />
Dies sind die fünf wahrscheinlichsten Haltungen der Adressaten. Sie werden kein Interesse<br />
daran haben, mit den Urhebern der zugesandten Schreiben <strong>und</strong> Veröffentlichungen in<br />
Kontakt zu treten.<br />
Eine weitere Konstellation von möglicherweise erheblichem Einfluß - es wäre die<br />
sechste - soll immerhin erwähnt werden. Die an Verantwortliche aller Fachgebiete vermittelte<br />
Forderung nach <strong>Wissenschaft</strong>sfreiheit (im Namen der „Einheit der <strong>Wissenschaft</strong>en“) für<br />
ein Fachgebiet der Naturwissenschaften könnte in der tief eingefressenen <strong>und</strong> deshalb<br />
natürlich öffentlich stets lauthals dementierten Kluft zwischen Naturwissenschaften <strong>und</strong><br />
Geisteswissenschaften untergehen. Die Einen halten die Anderen (die Naturwissenschaftler)<br />
für Banausen, <strong>und</strong> die Anderen halten die Einen (die Geisteswissenschaftler) für Spinner.<br />
Außerdem sollen neuerdings auch die Erforscher der Verse Homers Drittmittel von Sponsoren<br />
einwerben <strong>und</strong> ihr Produkt zur Marktreife entwickeln. Da könnte auf seiten der Geistes-<br />
G. O. Mueller: SRT-Kap.9<br />
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Textversion 1.2 - 2009