Stalin Eine neue Welt
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die Genehmigung zur Aufstellung zusätzlicher Militärkräfte zum Mordfeldzug gegen sein Land zu erhalten.<br />
Man kann es gewiss verstehen, dass der gewaltige „Präzedenzfall“ der vollkommenen Umwälzung des<br />
zaristischen Rußland alle Reaktionäre auf die Beine gebracht hat, besonders die von der so genannten<br />
demokratischen Sorte (die sich bei dieser ganzen Geschichte wahrhaftig besonders bloßgestellt haben). Aber<br />
man muss sich doch wundern, dass so viele ehrliche Liberale in Frankreich die russische Revolution ebenso<br />
behandelt haben, wie England Frankreich nach der Revolution 1789 behandelte. Man muss sich wundern,<br />
dass so viele bedeutende Intellektuelle so lange Zeit ein so vollständiges Unverständnis für eine Erscheinung<br />
von diesem Ausmaße und dieser Tiefe gezeigt haben. (So etwas nennt man bei uns „fortschrittliche Ideen“.)<br />
Inmitten all dieses Hasses, dieser Hereinfälle und dieser Flüche wirkte es sonderbar, wenn sich damals schon<br />
hin und wieder solche Stimmen erhoben, wie z. B. die jenes unbekannten Journalisten namens Bullit, der da<br />
sagte: Es wird einst ein Tag kommen, wo man alle Menschen unserer Zeit danach beurteilen wird, wie weit<br />
sie die großartigen Bemühungen des roten Rußlands verstanden und verteidigt haben. Der Tag wird<br />
kommen, ja, aber bis dahin: „Nicht nur hin und wieder sondern während ganzer zweier Jahre von 1918 ab,<br />
ihr besinnt euch, Genossen“, so sagte kürzlich <strong>Stalin</strong>, „haben die Arbeiter von Petrograd nicht ein einziges<br />
Stück Brot bekommen. Die Tage, wo sie 50 Gramm krümeliges Schwarzbrot erhielten, waren Glückstage.“<br />
Das war also die Lage, mit der die Revolution, umzingelt von der ganzen kapitalistischen Menagerie, fertig<br />
werden musste. Es war nicht nur alles zu tun - die Lage war noch schlimmer: alles war von <strong>neue</strong>m<br />
anzufangen. Es schien gegeben, dass man von dem Augenblick an, wo man die Macht besaß und noch nicht<br />
die verbündeten Weißen und Europäer gegen sich hatte, in aller Eile durch einige vorläufige Zugeständnisse<br />
den furchtbaren wirtschaftlichen Zerfall aufhalten musste. Sollte man nicht daran denken, die so<br />
schwerkranke Wirtschaft durch irgendeine Kombination nach und nach wieder auf die Beine zu bringen,<br />
indem man den alten Mechanismus, den noch vorhandenen bürgerlichen Apparat in irgendeiner Weise<br />
ausnützt? Zunächst die wichtigsten Dinge anpacken, ausschließlich an die Erhaltung der militärischen<br />
Verteidigungskraft - und des nackten Lebens - denken, bevor man sich auf den Ausbau des politischen<br />
Systems und den Umbau der Wirtschaft einließ - war das nicht das Gegebene? Ja, das war das Gegebene<br />
vom rein wirtschaftlichen Standpunkt aus, aber es war unzulässig im politischen Sinne. Kurzsichtige,<br />
übereilige Geschäftsleute würden so gehandelt haben. Nicht so Sozialisten, die eine <strong>neue</strong> <strong>Welt</strong> schaffen! Es<br />
schien, wie gesagt, einleuchtend, aber die revolutionäre Klugheit verlangte mehr, als was nur „einleuchtete“;<br />
sie war weitblickender. Sie erkannte, dass in diesem Moment in dieser Weise handeln soviel bedeutet hätte,<br />
wie den Gang der Maschinen auf „Rückwärts“ schalten. Sie beschloss auch in der furchtbaren Lage, in der<br />
man sich befand, zunächst einmal endgültig mit der politischen und sozialen Vergangenheit aufzuräumen<br />
und den alten Apparat für immer voll-ständig zu zertrümmern, anstatt auch nur eine Ecke der <strong>neue</strong>n -<br />
Gesellschaft auf ihm aufzubauen. Es hieß, mit andern Worten, weiter zerstören, obwohl man selbst fast vor<br />
der Zerstörung stand. Dieser Entschluss war genial in seiner Kühnheit und entscheidend für den<br />
dramatischen aber richtigen weiteren Verlauf der Dinge. Die Bourgeoisie konnte sich nicht vorstellen, dass<br />
ihre Zeit zu Ende war. Die Herrschaft des Kapitals sollte irgendwo auf dem alten Kontinent gebrochen sein?<br />
Das wollte ihr nicht in den Kopf. Außerhalb der Reihen der Revolutionäre glaubte eigentlich niemand an die<br />
Revolution.<br />
Man trat den Proklamationen dieser Regierung, die gar zu verschieden war von den bisher bekannten, und<br />
die sich mit so übertriebener Wut über den alten Zarismus und den <strong>neue</strong>n, scheinliberalen Ersatz-Zarismus<br />
hermachte, skeptisch und gleichgültig gegenüber. „Bis zu den Zeitungshändlern herab“, stellte man<br />
rückblickend auf dem IV. Kongress der Komintern (1922) fest, „weigerten sich die Leute, die wichtigsten<br />
revolutionären Maßnahmen der Arbeiterregierung ernst zu nehmen ... Jede Fabrik, jede Bank, jedes Büro,<br />
jeder Laden, jedes Rechtsanwaltskabinett war eine gegen uns gerichtete Festung.“ Wieder einmal stand in<br />
seiner ganzen Größe vor der Revolution das Problem ihrer Existenz. Die Revolution musste ihre Gestalt<br />
zeigen, aber auch ihre Gewalt. Die Niederlage der russischen Bourgeoisie war noch nicht vollständig. Ein<br />
Teil des Sieges musste noch errungen werden. Das bedeutete: Diese Revolution, koste es was es wolle, bis<br />
zu Ende durchzuführen; die Bourgeoisie endgültig niederschlagen; alle Brücken abbrechen; radikal<br />
konfiszieren und enteignen; alles beschlagnahmen, den Handel, die Industrie, den Verkehr. Das hieß aber,<br />
die Lage, in der man sich befand, bewusst komplizieren und erschweren; die Krise und das Elend<br />
wahrscheinlich, ja fast unvermeidlich, an gewissen Punkten noch vermehren; von der Bevölkerung<br />
Anstrengungen verlangen, die allem Anschein nach die irdischen Möglichkeiten überschritten; und<br />
besonders den Bauern unzufrieden machen. Und doch haben da, wo engstirnige und mittelmäßige Politiker<br />
den Weg des Kompromisses eingeschlagen hätten, der letzten Endes zur Errichtung des bürgerlichen<br />
Regimes geführt haben würde, die Männer vom Oktober weiter Schlag um Schlag geführt. Manchmal<br />
zuckte Unsicherheit in den Reihen der Revolutionäre auf, ja es kam zu Schwankungen an den höchsten