Stalin Eine neue Welt
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I<br />
Der Rote Platz, Zentrum von Moskau und Zentrum des gewaltigen europäischen und asiatischen<br />
Rußland. Das Mausoleum, Zentrum des Roten Platzes. Oben auf dem Mausoleum - auf seinem<br />
Grunde schläft, wie auferstanden, Lenin - fünf oder sechs Personen nebeneinander; aus ein paar<br />
Schritt Entfernung sind sie einander fast gleich. Ringsherum flutet, ein symmetrisches Gewimmel,<br />
die Masse an und ab: sie scheint aus der Erde aufzutauchen und wieder in ihr zu verschwinden.<br />
<strong>Eine</strong> Zeremonie rollt ab, längs, quer, kaleidoskopisch, in den Grenzen des Platzes. Ein schier<br />
endloser Zug, zitternd unter rotem Tuch, roter Seide, Buchstaben und Worten: Stoff, der ruft. Oder<br />
es ist eine riesige Sportparade, die, vorwärtsstürmend, wie ein Park vor uns steht. Oder das Meer<br />
des gewaltigsten Heeres der <strong>Welt</strong>, Rechtecke, das Volk der Roten Armee. Momentweise sieht man<br />
ganz nahe einzelne Stücke dieses Festes: ein Zaun von Bajonetten, der blitzend vorbeizieht, eine<br />
Reihe von jungen Männern und Frauen, oder einfach Gesichter nebeneinander, erregt, glücklich,<br />
Gesichter, die lachen und leuchten. Diese beseelten Wellen, die stundenlang vorbeifluten, und die<br />
Begeisterung, die ihnen aus der Zuschauermenge antwortet - in langen Reihen steht sie unter der<br />
gezahnten Kremlmauer gedrängt -, wirbeln brausend und rufend um einen Mittelpunkt. Die Rufe<br />
nehmen menschliche Form an: „<strong>Stalin</strong>!“ „Es lebe der Genosse <strong>Stalin</strong>!“ <strong>Eine</strong>r von denen, die oben<br />
auf dem Denkmal Lenins stehen, hält die Hand am Schirm der Mütze oder den Arm mit offener,<br />
wie schlagbereiter Hand rechtwinklig erhoben. Er trägt einen langen Militärmantel, der ihn aber<br />
nicht von den anderen Männern unterscheidet. Die Mitte ist er, er das Herz von all dem, was, von<br />
Moskau aus, über die Erdkugel strahlt. Sein Bild - Büsten, Zeitungen, Photographien - ist überall<br />
auf dem Sowjetkontinent, wie das von Lenin, neben dem von Lenin. Es gibt keine Fabrik, keine<br />
Kaserne, kein Büro, kein Schaufenster, das nicht einen Winkel hat, wo er erscheint, auf rotem<br />
Grund zwischen einer Tafel mit malerischen sozialistischen Statistiken - antireligiösen<br />
Heiligenbildern - und der Sichel, die den Hammer kreuzt. Kürzlich konnte man überall an den<br />
Mauern der Sowjetunion ein Plakat sehen: drei riesige Profile übereinander, Profile zweier Toten<br />
und eines Lebenden: Marx, Lenin, <strong>Stalin</strong>. Tausendfach kehrt sein Bild wieder: es gibt kaum ein<br />
Zimmer eines Arbeiters oder Intellektuellen, wo <strong>Stalin</strong> nicht zu sehen ist. Dieses Volk des sechsten<br />
Teils der Erde, dieses <strong>neue</strong> Volk, das man liebt und hasst - hier ist sein Kopf.<br />
Einige Stunden später, zur Essenszeit. (Sie wechselt sehr in Rußland: bei der zahlreichen Elite der<br />
Verantwortlichen gehorcht sie der Arbeitszeit.) Heute ist es, sagen wir, zwei Uhr. Der Kreml ist ein<br />
buntfarbiges Festungswerk, eine kleine Prachtstadt, aufgebaut wie aus einem Stück im Herzen von<br />
Moskau. Im Innern der weitläufigen Mauer mit ihren roten und grünen fremdartigen Türmen liegt<br />
eine ganze Stadt goldüberkuppelter alter Kirchen und Paläste. (Unter ihnen auch ein großes <strong>neue</strong>s<br />
Schloss, das von einem reichen Mitglied der Familie Romanow im 19. Jahrhundert erbaut worden<br />
ist und aussieht wie ein Carlton-Hotel.) Hier in diesem Kreml, der einer Kirchen- und<br />
Schlossausstellung gleicht, zu den Füßen eines der Paläste steht ein kleines, dreistöckiges Haus.<br />
Dieses Häuschen, das man kaum beachtet, wenn es einem niemand zeigt, gehörte einst zu den<br />
Nebengebäuden des großen Schlosses. Irgendein Zarendiener wohnte darin.<br />
Man steigt hinauf zu dem Stockwerk, wo weiße Leinenvorhänge an den Fenstern hängen. Diese<br />
drei Fenster gehören zu <strong>Stalin</strong>s Wohnung. In dem winzigen Vorraum fällt ein langer<br />
Soldatenmantel mit einer Schirmmütze darüber auf. Drei Stuben und ein Speisezimmer. Es sieht<br />
aus wie in einem anständigen Hotel zweiten Ranges. Das Speisezimmer ist oval. Hier werden die<br />
Mahlzeiten eingenommen; sie kommen aus einem Restaurant oder werden von einem<br />
Hausmädchen zubereitet. In den kapitalistischen Ländern würde ein mittlerer Angestellter, diese<br />
Zimmer schief ansehen und lange Zähne machen vor diesem Essen. Ein kleiner Junge spielt im