Thesis - RWTH Aachen University
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Gelten aus heutiger Sicht die Restaurierungsmethoden des 19. Jahrhunderts oftmals als<br />
fragwürdig, so muss jener Zeit doch zugute gehalten werden, dass eine Vielzahl<br />
mittelalterlicher Objekte ohne diese Maßnahmen nicht bis in unsere Zeit hätte<br />
hinübergerettet werden können. Die heutige Literatur kennt Bock unter dem<br />
persiflierenden Beinamen „Scherenbock“ 170 , der weniger seine Person betrifft, als<br />
vielmehr das, was sie tat. Der Kanonikus zerschnitt kostbare Gewebe und Stickereien<br />
und verkaufte ihre Teile an verschiedene Museen. Bocks Leistungen sind somit so<br />
zweischneidig wie die Scheren, die er benutzte. 171 Er hat vieles zerstört, aber ebenso ist<br />
ihm der Erhalt zahlloser Schätze – man denke nur an jene in der heutigen <strong>Aachen</strong>er<br />
Domschatzkammer – zu verdanken. 172 Kanonikus Franz Bock muß somit als eine der<br />
Schaltzentralen bei der programmatischen Formulierung ästhetischer Norm und deren<br />
Vermittlung genannt werden; ein anderer war August Reichensperger.<br />
2.2 AUGUST REICHENSPERGER UND SEINE KUNSTTHEORETISCHEN<br />
SCHRIFTEN<br />
Neben Bock gehörte dessen Lehrer und Freund August Reichensperger zu jenen<br />
Persönlichkeiten, die großen Einfluss auf die Kunst in der zweiten Hälfte des 19.<br />
Jahrhunderts ausgeübt haben. 173 Auch die Kunstauffassung Reichenspergers ist<br />
170 Zuletzt bei Borkopp 1993, S. 25.<br />
171 Vorzuwerfen ist ihm insbesondere, daß er in der Absicht, mustergültige Arbeiten an möglichst vielen<br />
Orten präsentieren zu wollen, rücksichtslos und ohne Hemmungen Textilien zerstörte. Bei jenen<br />
mustergültigen Textilien handelte es sich in der Regel um sehr qualitätsvolle Objekte innerhalb der<br />
Gattung der mittelalterlichen Paramente. Je mustergültiger sie waren, um so häufiger wurden sie<br />
zertrennt. Demnach wußte der Kanonikus die Arbeiten ihrer Bedeutsamkeit nach sehr genau zu<br />
unterscheiden. Daß er sie zerschnitt, obwohl er selbst immer wieder schriftlich dargelegt hatte, daß die<br />
mittelalterliche Kunst zu schützen sei, geschah aus einer anderen Wertigkeit der Objekte heraus. Für ihn<br />
waren die Textilien nicht eigenständige Kunstwerke, die man in dem Zustand, in dem man sie auffand, zu<br />
bewahren suchte, sondern Vermittler. Vgl. dazu Borkopp 1993, S. 32. Wie vehement und auch<br />
kompromißlos Bock für seine Ideen eintrat, verdeutlicht die vorsichtig formulierte Kritik Scheins: „Bock<br />
suchte den Streit nicht; wenn er aber irgendwo die Sache der christlichen Kunst gefährdet glaubte, dann<br />
griff es ihm ans Herz, und er hielt es gewissermaßen für Berufspflicht, auf den Gegner scharfe Pfeile zu<br />
versenden.“ Scheins 1899.<br />
172 Scheins 1899, S. 35 f.<br />
173 Lütkenhaus 1993, S. 70. Scheins nennt Bock einen Freund Reichenspergers. Scheins 1899. Zur Person<br />
Reichenspergers siehe die ausführliche Biografie von Pastor, 2 Bde, 1899 und jene von Liessem 1985, die<br />
einen guten Überblick über die Kunstauffassung Reichenspergers liefert. Bedauerlicherweise verzichtet<br />
sie auf einen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat, so daß insbesondere, was Zitate aus kleineren<br />
Artikeln Reichenspergers in Zeitschriften betrifft, Quellen nicht auszumachen sind. Sehr prägnant ist der<br />
kurze Artikel von Hans-Jürgen Becker 1985. Standardwerk zu Reichensperger ist das von Michael J.<br />
Lewis verfaßte Buch The Politics of the German Gothic Revival. August Reichensperger, erschienen 1993<br />
in New York. Lewis beleuchtet sehr facettenreich, umfassend und fundiert das Wirken August<br />
Reichenspergers, dessen Verbindungen zu den Neogotik-Vertretern Englands sowie die politische<br />
Auseinandersetzung mit der Neogotik. Er liefert zudem eine ausführliche Bibliografie.