Ursprung und Ursprünglichkeit - Walter Peter Gerlach ...
Ursprung und Ursprünglichkeit - Walter Peter Gerlach ...
Ursprung und Ursprünglichkeit - Walter Peter Gerlach ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Peter</strong> <strong>Gerlach</strong>, <strong>Ursprung</strong><br />
Dagegen stand - ebenfalls gegen Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts - beispielsweise Morellis Entdeckung<br />
von der Darstellung höchst individueller Differenzen an genau jenen Orten in der Malerei, die<br />
keineswegs der rational kontrollierten Darstellungsabsicht des Künstlers unterlagen, sondern<br />
gewöhnlich als unwichtig, nebensächlich, gar als trivial oder „niedrig“ für das Erkennen der<br />
Eigenhändigkeit aus der Gesamtwirkung eines Werkes der bildenden Kunst eingeschätzt wurden. Um<br />
das Werk eines längst verstorbenen Individuums zu rekonstruieren, konnten derartige unwillkürlichen<br />
Merkmale (Gestaltung der Ohren, Fingernägel <strong>und</strong> dgl.) nunmehr als sehr wohl aufschlußreich<br />
ausgewiesen werden. Willkürliches erhielt einen mindestens ebenbürtigen Rang neben dem<br />
kontrolliert Komponierten. 24 Das entfachte den erbosten Widerstand der etablierten Autoritäten. Diese<br />
urteilten von der Einschätzung des Gesamten des Gemäldes - der Komposition - her, mit der sie die<br />
spezifische Darstellungsabsicht des großen Komponisten <strong>und</strong> Künstlers auszumachen sich in der<br />
Lage sahen.<br />
Morelli hatte sich vorgenommen, in einem System kulturell bedingter Zeichen, z.B. der Malerei,<br />
diejenigen aufzuspüren, die das Unwillkürliche von Symptomen (oder der meisten Indizien eines<br />
Kriminalfalles) an sich hatten. Aber nicht nur das. Morelli erkannte eine sichere Spurengruppe der<br />
Künstler-Individualität in diesen unbeabsichtigten Zeichen, den „materiellen“ Kleinigkeiten - ein<br />
Kalligraph würde sie Schnörkel nennen, die mit den „beliebten Worten <strong>und</strong> Phrasen“ vergleichbar<br />
sind, die „die meisten Menschen, [...] sowohl die Redenden als auch die Schreibenden, [...] haben, die<br />
sie, ohne dessen sich zu versehen, absichtslos, oft anbringen“.<br />
Dies ereignete sich nicht von ungefähr zur gleichen Zeit gegen Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, als die<br />
Methode der Spurensicherung zu einer qualitativen, kapillaren Kontrolle der Gesellschaft durch<br />
staatliche Macht in Kriminalistik <strong>und</strong> Psychologie ausgebildet wurde. Diese nutzten ebenso die auf<br />
geringfügigen <strong>und</strong> willkürlichen Merkmalen basierenden Indizien fürs Individuelle (Fingerabdruck)<br />
einerseits, wie andererseits die sich dem individuellen Zugriff entziehenden, nur statistisch erfaßbaren<br />
Merkmale von Gruppen (Verhaltensmuster), was man unter dem von dem belgischen Astronomen<br />
Adolph Quételet geprägten Begriff der „sozialen Physik“ zusammenfaßte. 25 Davon ist noch heute die<br />
Auswahl an minimalen Individualitätskennzeichen bestimmt, die unser aller Reisepässe ziert.<br />
Das Insgesamt des staatlichen Identitifizierungs-Bedürfnisses von Individualität auf breiterer Basis<br />
entstand erst gegen Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts unter dem Druck des Klassenkampfes <strong>und</strong> der<br />
Unterdrückung der proletarischen Opposition nach der Pariser Kommune, zudem der veränderten<br />
Bedeutung der Kriminalität. Wiederholungstäter etwa wurden strenger bestraft, wenn der<br />
Identitätsnachweis gelang. Denn seit der Einführung des Codes Napoleon hatten sich die Zahl der<br />
strafbaren Handlungen wider das bürgerliche Eigentum <strong>und</strong> das Strafmaß beträchtlich erhöht.<br />
Andererseits führte die Objektivierung der unter den Begriffen von „Wahnsinn“ <strong>und</strong> „Verrücktheit“<br />
http://www.kunstserviceg.de/gerlach 5 von 13