Kernfragen des Glaubens - Evangelische Akademikerschaft in ...
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<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong><br />
Die Reformation geht weiter! Auch für den Glauben?<br />
Der Lan<strong>des</strong>verband Pfalz-Saar der <strong>Evangelische</strong>n <strong>Akademikerschaft</strong> <strong>in</strong> Deutschland stellt<br />
Inhalte <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> zur Diskussion<br />
Stand 25.11.12. Zum Inhaltsverzeichnis Seite3<br />
Der Glaube verändert sich, auch der christliche: Es gibt neue Gottesvorstellungen und<br />
andere Arten zu beten, die Bibel zu verstehen und Jesus als Sohn Gottes zu sehen.<br />
E<strong>in</strong>iges ist nicht mehr so wichtig, anderes ist gefragt.<br />
Viele Begriffe und manche Inhalte <strong>des</strong> christlichen <strong>Glaubens</strong> werden heute h<strong>in</strong>terfragt und<br />
entsprechen häufig nicht mehr der heutigen spirituellen Praxis. Fragen wie „Was ist heute<br />
Kirche?“ oder „Wie verhalten sich Naturwissenschaft und Glauben zue<strong>in</strong>ander?“ lassen<br />
sich nicht mehr zufriedenstellend und angemessen nur mit Sätzen aus Luthers<br />
Katechismus beantworten.<br />
Das (apostolische) <strong>Glaubens</strong>bekenntnis wird anders als früher <strong>in</strong>terpretiert. „Ich glaube an<br />
Gott, den Allmächtigen...., .... an die Auferstehung der Toten und das ewige Leben.“ Das<br />
sprechen manche Gottesdienstbesucher nicht mehr mit. Brauchen wir e<strong>in</strong> neues, anderes<br />
Bekenntnis? Die christlichen Kirchen gehen auf solche Fragen nicht ausreichend e<strong>in</strong>.<br />
Wir brauchen Bes<strong>in</strong>nung auf und Nachdenken über das Wesentliche <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> als<br />
S<strong>in</strong>ngebung unseres Lebens – e<strong>in</strong>e „Reformation“ (auch) beim <strong>Glaubens</strong>verständnis!<br />
Zwar gibt es neue theologische Literatur und neue religiöse Praxis. Aber nötig wäre, dass<br />
wir selber verständlich von den D<strong>in</strong>gen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> reden können, von Gott, von Jesus,<br />
von der Bibel, von der Kirche, vom Jenseits und vom Ewige Leben. Gibt es da Neues?<br />
Anderes? Es geht nicht nur um Kritik an der Tradition, sondern um geme<strong>in</strong>sam zu<br />
f<strong>in</strong>dende und zu def<strong>in</strong>ierende neue Zugänge, zu denen zunehmend Nichttheologen<br />
kreative Beiträge leisten.<br />
Wir – das s<strong>in</strong>d Mitglieder e<strong>in</strong>es theologischen Arbeitskreises der <strong>Evangelische</strong>n<br />
<strong>Akademikerschaft</strong> – haben damit angefangen, unser Verständnis von e<strong>in</strong>igen <strong>Kernfragen</strong><br />
<strong>des</strong> christlichen <strong>Glaubens</strong> aufzuschreiben, zu diskutieren und aus eigener Sicht zu<br />
beantworten. (Zum Verlauf der Arbeit und der Diskussion im theol. Arbeitskreis der<br />
<strong>Evangelische</strong>n <strong>Akademikerschaft</strong> für die „<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“ f<strong>in</strong>den Sie etwas <strong>in</strong><br />
den Anlagen).<br />
Wir wollen, kurz gesagt:<br />
1. Neue <strong>Glaubens</strong>vorstellungen prüfen und, wenn nötig und möglich, <strong>in</strong>haltlich und<br />
praktisch konkretisieren und weiter entwickeln.<br />
2. Möglichkeiten der Verb<strong>in</strong>dung von traditionellen <strong>Glaubens</strong>formen mit neuen<br />
theologischen Ansätzen untersuchen und vermitteln.<br />
3. Innerhalb und außerhalb der <strong>Evangelische</strong>n <strong>Akademikerschaft</strong> dazu anregen, dass<br />
neues <strong>Glaubens</strong>verständnis und neue <strong>Glaubens</strong>formen <strong>in</strong> der Kirche anerkannt und<br />
aufgenommen werden, ohne dadurch bisher praktizierte und bewährte <strong>Glaubens</strong>weisen<br />
zu bee<strong>in</strong>trächtigen.<br />
1
Wir halten es für e<strong>in</strong>e Aufgabe der <strong>Evangelische</strong>n <strong>Akademikerschaft</strong> <strong>in</strong> Deutschland, e<strong>in</strong>en<br />
Beitrag zur Entwicklung und Aktualisierung <strong>des</strong> christlichen <strong>Glaubens</strong> <strong>in</strong> dieser Zeit zu<br />
leisten, <strong>in</strong>dem ihre Mitglieder ihr eigenes <strong>Glaubens</strong>verständnis klären und neue<br />
<strong>Glaubens</strong>aussagen prüfen.<br />
In den „<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“ s<strong>in</strong>d auch kurze persönliche Beiträge von e<strong>in</strong>igen<br />
Mitgliedern <strong>des</strong> Arbeitskreises zu ihrem eigenen Glauben enthalten. Sie zeigen (wie auch<br />
<strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Themen) unterschiedliches <strong>Glaubens</strong>verständnis, was aber e<strong>in</strong>e<br />
E<strong>in</strong>igung auf e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Stellungnahme nicht verh<strong>in</strong>dert hat. Damit soll e<strong>in</strong> Beispiel<br />
für Geme<strong>in</strong>schaft im Glauben auch bei unterschiedlichen Auffassungen <strong>des</strong>selben<br />
gegeben werden.<br />
Greifen Sie das Thema „<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“ auch <strong>in</strong> Ihren Veranstaltungen auf!<br />
(Kurze Inhaltsangaben zu den 15 Themen f<strong>in</strong>den Sie jeweils im kursiv gesetzten<br />
Vorspann).<br />
Ihre Zustimmung und Kritik, Ihre Fragen und Antworten und Ihre Erfahrungen mit<br />
<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> <strong>in</strong> der heutigen Zeit (auch über den Kreis von Mitgliedern der<br />
EAiD h<strong>in</strong>aus) können, wenn Sie es erlauben, auf unserer Internetseite http://www.evakademiker.de/ea-vor-ort/pfalz-saar/<br />
(Diskussionsforum) veröffentlich werden.<br />
Weitere Internetadressen auf den Seiten <strong>des</strong> ea-Bun<strong>des</strong>verban<strong>des</strong> wären noch<br />
e<strong>in</strong>zurichten<br />
eMail-Adresse für Beiträge: Günter Hegele hegele@ev-akademiker.de<br />
Postadresse: Günter Hegele, Ahornstr. 5, 76829 Landau<br />
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H<strong>in</strong>weise zu den Texten:<br />
Anführungszeichen im Text können Zitate (auch ohne oder mit pauschalen<br />
Quellenangaben) oder Beiträge von Arbeitskreisteilnehmenden se<strong>in</strong>, die sich der<br />
Arbeitskreis zu eigen gemacht hat.<br />
L<strong>in</strong>ks im Text (blau) führen zu Texten mit ähnlichem Inhalt oder zu e<strong>in</strong>schlägigen Anlagen.<br />
In den Texten s<strong>in</strong>d – entsprechend der Zusammensetzung <strong>des</strong> Arbeitskreises –<br />
unterschiedliche theologische und naturwissenschaftliche Auffassungen enthalten. Sie<br />
liegen aber im Rahmen pluralistischer Theologie und verbreiteter naturwissenschaftlicher<br />
Erkenntnisse. Der Arbeitskreis bemüht sich, die Offenheit und Toleranz für<br />
2
unterschiedliche religiöse Positionen auch selbst zu praktizieren. Bei gegensätzlichen<br />
Auffassungen wird e<strong>in</strong>e Abwertung anderer Überzeugungen soweit wie möglich<br />
vermieden.<br />
Inhalt:<br />
Erweitertes Inhaltsverzeichnis am Ende der <strong>Kernfragen</strong><br />
1. Warum Kern-„Fragen“, wenn es um unseren Glauben geht?<br />
Warum nicht Kern-„Aussagen“?<br />
2. Was ist Glaube?<br />
3. Glaube und Wissen<br />
4. Naturwissenschaft und Glauben<br />
5. Religion und Naturwissenschaft im Licht der modernen Physik<br />
6. Kommunikation mit Gott?<br />
7. Gott <strong>in</strong> der Mystik f<strong>in</strong>den ?<br />
8. Das Gebet als Kommunikation mit Gott<br />
9. Jesus – wer war und wer ist das?<br />
10. Me<strong>in</strong>e Kirche ?<br />
11, Schuld / Sünde / Vergebung<br />
12 Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht, Ewiges Leben<br />
13, Hoffen über den Tod h<strong>in</strong>aus?<br />
14. Der andere Gott – damals und heute<br />
15. Theodizee – Gott entschuldigen?<br />
Erweitertes Inhaltsverzeichnis am Ende der <strong>Kernfragen</strong><br />
Anlagen zu den <strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> (mit eigenem Inhaltsverzeichnis)<br />
zum Inhaltsverzeichnis der Anlagen<br />
3
1. Warum Kern-„Fragen“, wenn es um unseren Glauben geht?<br />
Warum nicht Kern-„Aussagen“?<br />
Wir s<strong>in</strong>d unsicher geworden.<br />
In den protestantischen Kirchen Europas, zumal <strong>in</strong> Deutschland breitet sich Unsicherheit<br />
aus, wie man der schw<strong>in</strong>denden B<strong>in</strong>dung ihrer Mitglieder an die Organisation und ihrer<br />
Verkündigung begegnen kann.<br />
Auch das Verständnis <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> ist unsicher geworden. Selbst Aussagen im<br />
<strong>Glaubens</strong>bekenntnis zu Gott und über den Heiligen Geist werden nicht mehr voll bejaht.<br />
Erkenntnisse der Naturwissenschaften lassen manches früher für selbstverständlich<br />
Gehaltene als fraglich und überholt ersche<strong>in</strong>en.<br />
Vieles ersche<strong>in</strong>t aber auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuen Licht. Es lohnt sich, Fragen zu stellen, auch<br />
wenn nicht gleich und nicht leicht Antworten zu f<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d. Neue Ansätze <strong>in</strong> der<br />
Theologie s<strong>in</strong>d überraschend und weiterführend. Sie s<strong>in</strong>d nicht nur <strong>in</strong> der Spanne<br />
zwischen säkularisiertem Denken und Fundamentalismus zu f<strong>in</strong>den. Auch auf <strong>in</strong>dividueller<br />
Ebene kann ergebnisoffen nach dem Grund <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> gefragt werden. Wir stellen<br />
ke<strong>in</strong>e neuen „Kernsätze <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“ auf, sondern wir fragen nach neuen<br />
Möglichkeiten zu glauben, tun dies gerne mite<strong>in</strong>ander und auch zusammen mit anderen<br />
Interessierten. Unser Glaube an Gott und unsere „Gottesbilder“ müssen nicht <strong>in</strong> negativer<br />
Theologie enden. Neue Gottesbilder korrespondieren mit dem, was wir über die Welt<br />
wissen können.<br />
Wir s<strong>in</strong>d unsicher geworden.<br />
In den protestantischen Kirchen Europas, zumal <strong>in</strong> Deutschland breitet sich Unsicherheit<br />
aus, wie man der schw<strong>in</strong>denden B<strong>in</strong>dung ihrer Mitglieder an die Organisation und ihrer<br />
Verkündigung begegnen kann.<br />
Diese Schwächung ist nicht nur „gefühlt“, sie schlägt sich <strong>in</strong> Austrittszahlen und<br />
nachlassenden Gottesdienstbesuchen nieder, obwohl die immer wieder genannten<br />
Gründe für die ganz ähnlichen Probleme der katholischen Kirche, Priestermangel,<br />
Frauenord<strong>in</strong>ation, Zölibat, den Protestanten nicht zu schaffen machen.<br />
Unsicherheit spüren wir aber auch selber, die wir der Kirche noch nahestehen und wir<br />
erfahren sie <strong>in</strong> Gesprächen, was unseren Glauben und se<strong>in</strong> Bekenntnis angeht.<br />
Wer ist das, der Drei-e<strong>in</strong>e Gott, den wir bekennen? Wer ist das, se<strong>in</strong> Sohn, <strong>des</strong>sen Tod<br />
und Auferstehung uns von Sünden lossprechen und das ewige Leben verheißen sollen?<br />
Uns, die wir das Wort „Sünde“ vielfach gar nicht mehr im Munde führen, geschweige denn,<br />
dass wir uns unsere Fehltritte als Sünde zurechnen (weswegen wir wohl auch nicht mehr<br />
zwischen Schuld und schicksalhaftem Unglück zu unterscheiden vermögen).<br />
Uns, denen die Sterblichkeit als unausweichliches Los alles Lebendigen bewusst ist,<br />
selbst wenn wir sie zeitlebens verdrängen wollen.<br />
4
Wo f<strong>in</strong>den wir ihn, den Heiligen Geist? Heute, <strong>in</strong> den Beschleunigerkathedralen der<br />
Physiker, wenn diese das „Gottesteilchen“ als „miss<strong>in</strong>g l<strong>in</strong>k“ e<strong>in</strong>er durch und durch als<br />
materiell verstandenen Welt aufspüren?<br />
Wir sprechen das apostolische <strong>Glaubens</strong>bekenntnis im Gottesdienst, allsonntäglich oder<br />
bei besonderen Anlässen. Aber nicht wenige fragen sich, ob sie dabei nicht e<strong>in</strong>em<br />
Missverständnis erliegen. Weil <strong>in</strong> ihren Köpfen e<strong>in</strong>e andere Vorstellung Platz gegriffen hat<br />
als die von e<strong>in</strong>er Welt, geteilt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Unterwelt, das Reich <strong>des</strong> To<strong>des</strong>; die Erde, auf der<br />
sich das Leben abspielt; den Himmel dort oben, der verheißen ist, wenn wir das Gericht<br />
bestanden haben. Welches Gericht denn? Von welchen unterirdischen und überirdischen<br />
Orten ist die Rede? Gott, der Schöpfer der Welt, das kann plausibel kl<strong>in</strong>gen, weil man da<br />
auch an den „Urknall“ denken kann als den Schöpfungsakt. Aber auch als der allmächtige<br />
Vater wird er angesprochen. Und sofort steht das Bild vom hoheitsvollen Alten mit weißem<br />
Bart vor Augen, der <strong>in</strong> wallendem Gewand auf der Wolke thront. Gott wie e<strong>in</strong> überaus<br />
erhabener Mensch, nur viel älter als je<strong>des</strong> Menschenalter, ewig sogar, und von<br />
unermesslicher Macht. E<strong>in</strong> majestätischer Herrscher auch, für den wir nicht nur K<strong>in</strong>der,<br />
sondern zugleich Untertanen s<strong>in</strong>d.<br />
Diese Bilder können wir nicht ohne weiteres zusammen sehen und zusammen denken mit<br />
dem, was wir, meist nur ganz unvollkommen verstanden, aber jedenfalls begründet <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em rationalen Zusammenhang und beglaubigt durch die technische Bewältigung<br />
unserer Lebenswelt, als das „naturwissenschaftliche Weltbild der Moderne“ ver<strong>in</strong>nerlicht<br />
haben.<br />
Diagnosen werden gestellt. E<strong>in</strong>e davon vermutet, gerade das unzeitgemäße Bekennen<br />
<strong>des</strong> Apostolikums habe die Verkündigung <strong>in</strong>fiziert und verursache die<br />
<strong>Glaubens</strong>verflüchtigung. Konziliar-theologischer Tradition entsprungen, wird es<br />
augensche<strong>in</strong>lich dem modernen Weltverständnis nicht mehr gerecht, aber auch nicht dem<br />
biblischen Gottesverständnis.<br />
Selbst diese bibelfundierte Gottesverkündigung ist aber nach dieser Überzeugung<br />
defizitär, weil <strong>in</strong> Mythen und Bildern sprechend, die, so die Behauptung, nicht mehr die<br />
unseren se<strong>in</strong> können.<br />
Was könnte näher liegen, als mit dem Theologen Matthias Kroeger e<strong>in</strong>en „Ruck <strong>in</strong> den<br />
Köpfen“ <strong>des</strong> kirchlichen Personals, der Kirchenleitungen und ihrer Pfarrer<strong>in</strong>nen und Pfarrer<br />
zu fordern, damit die neuen Theologien Platz greifen können, die seit dem Aufbruch <strong>in</strong> die<br />
historisch-kritische und liberale Theologie seit dem 19. Jahrhundert von den gelehrtesten<br />
Köpfen <strong>des</strong> europäischen Protestantismus entwickelt wurden?<br />
Öffnet sich damit nicht der Weg, die <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halte und <strong>Glaubens</strong>formeln den neuen<br />
Erkenntnissen der Naturwissenschaft und ihrem Weltbild anzupassen?<br />
Oder müssen wir uns damit abf<strong>in</strong>den, dass der Diskurs zwischen Naturwissenschaft und<br />
Religion , wenn er nicht schon als entschieden gelten kann, nur noch als Konfrontation<br />
e<strong>in</strong>es fundamentalistischen Naturalismus der modernen Wissenschaften mit e<strong>in</strong>er mehr<br />
oder weniger dogmatisch-unzeitgemäßen Religiosität und ihrem überholten Weltbild<br />
ausgetragen werden kann? E<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>andersetzung, die bei fortschreitender<br />
5
Säkularisierung <strong>des</strong> Denkens mit dem Verschw<strong>in</strong>den jeglichen <strong>Glaubens</strong> an e<strong>in</strong>e Sphäre<br />
<strong>des</strong> Göttlichen enden müsste.<br />
E<strong>in</strong>en Ausweg sucht, wer e<strong>in</strong>e relativierende Koexistenz der Weltauffassungen vor Augen<br />
sieht, e<strong>in</strong> friedliches oder auch gleichgültig-gleichwertiges Nebene<strong>in</strong>ander von mehr oder<br />
weniger <strong>in</strong>dividuellen <strong>Glaubens</strong>überzeugungen vom Göttlichen und Num<strong>in</strong>osen e<strong>in</strong>erseits,<br />
über<strong>in</strong>dividuell überprüfbaren Wirklichkeitsaussagen im Rahmen wissenschaftlicher<br />
Methodik andrerseits. Es sche<strong>in</strong>t, dass dieser Sichtweise e<strong>in</strong>er neutralen Koexistenz<br />
gerade der Theologe und „Weltethiker“ Hans Küng zuneigt, der sich auch <strong>in</strong><br />
naturwissenschaftlichen Fragen als beschlagen zeigt, der aber dem Versuch e<strong>in</strong>er<br />
„Synthese der Erkenntniswege“ letzten En<strong>des</strong> e<strong>in</strong>e Absage erteilt.<br />
E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gehende Beschäftigung <strong>des</strong> Arbeitskreises mit den neuen Veröffentlichungen<br />
Küngs ergab ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>stimmiges Votum für diese Position, auch wenn die Tendenz zu<br />
spüren war, sie als wichtiges Ergebnis (festzuschreiben) <strong>in</strong> die eigenen Überlegungen<br />
e<strong>in</strong>zubeziehen.. (www.evangelische-akademiker.de/publikationen) Sie könnte für die<br />
verfassten Kirchen tatsächlich e<strong>in</strong>e Option se<strong>in</strong>, die vielen bereits Distanzierten wieder<br />
enger an sich zu b<strong>in</strong>den, ohne dass zu viel an theologisch-traditionellem Bestand geopfert<br />
werden muss.<br />
Kann man behaupten, wie wir die Welt im Glauben erkennen, kann überhaupt nicht <strong>in</strong><br />
Widerspruch geraten zu dem, was die Naturwissenschaft darüber zu sagen hat? Auf jeden<br />
Fall müsste das, ehrlicherweise, e<strong>in</strong>er agnostische Haltung der Naturwissenschaftler<br />
entsprechen. Deren methodische Selbstbeschränkung führt notwendig zur Ausgrenzung<br />
<strong>des</strong> nicht über<strong>in</strong>dividuell Überprüfbaren, <strong>des</strong> „<strong>Glaubens</strong>mäßigen“, als<br />
nichtwissenschaftlich, wenn nicht als irrelevant oder falsch. Dass es zwischen<br />
Naturwissenschaft als dem „Bereich <strong>des</strong> Wissens“ und der Religion als dem „Bereich <strong>des</strong><br />
<strong>Glaubens</strong>“ ke<strong>in</strong>en Widerspruch geben kann, wäre also e<strong>in</strong>e Feststellung, die man<br />
zuallererst von den Naturwissenschaftlern erwarten müsste.<br />
Statt<strong>des</strong>sen wird, ungeachtet der Grundlagenproblematik ihrer Welterklärungsmodelle,<br />
<strong>in</strong>sbesondere der physikalischen, von e<strong>in</strong>er atheistischen Fraktion unter den<br />
Naturwissenschaftlern, der aggressive Anspruch auf Monopolisierung der Welterkenntnis<br />
erhoben. Fragen wir, welche Wirklichkeit wir mit ihrer Methodik erkennen, so tritt zutage,<br />
dass es ke<strong>in</strong>eswegs um die ganze uns existentiell berührende Wirklichkeit gehen kann,<br />
und dass selbst das naturalistisch-materialistisch gedeutete Wirklichkeitsfragment, das sie<br />
bearbeiten, noch so große Lücken aufweist, dass ihre Schließung auch bei größtem<br />
Forschungsaufwand unwahrsche<strong>in</strong>lich ersche<strong>in</strong>t. Damit lassen sich ke<strong>in</strong>e Denkverbote<br />
aussprechen.<br />
Das lässt nicht den Umkehrschluss zu, naturwissenschaftliche Welterkenntnis sei<br />
ihrerseits für die Frage nach Gott <strong>in</strong> der Welt irrelevant. Die Vermutung bleibt begründet,<br />
dass die Naturwissenschaft zwar ke<strong>in</strong>eswegs das e<strong>in</strong>zige Fenster ist, durch das wir auf die<br />
Wirklichkeit blicken können, sondern dass andere Fenster, wie das <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>,<br />
durchaus s<strong>in</strong>nhafte E<strong>in</strong>blicke öffnen können.<br />
E<strong>in</strong>ige Entdeckungen der Naturwissenschaften legen geradezu nahe, dass <strong>in</strong> ihnen e<strong>in</strong>e<br />
Begegnung mit dem Göttlichen stattf<strong>in</strong>det. Schon <strong>in</strong> den kreativen Möglichkeiten <strong>des</strong> sich<br />
6
evolutionär entfaltenden Universums kann sich für den Glauben die Anwesenheit <strong>des</strong>sen<br />
spiegeln, der es erschaffen hat und der seit Anbeg<strong>in</strong>n der Zeit mit ihm ist.<br />
Zweifel an Aussagen biblischen und christlichen <strong>Glaubens</strong>, die das schlechth<strong>in</strong><br />
„Wunderbare“<br />
zu behaupten sche<strong>in</strong>en, so auch die Möglichkeit e<strong>in</strong>er Auferstehung von den Toten, gab<br />
es schon <strong>in</strong> frühen, vormodernen Zeiten, die ebenso wie wir um die Grundbef<strong>in</strong>dlichkeiten<br />
unserer irdischen Existenz wussten. Diese Zweifel mussten nicht erst von den<br />
Naturwissenschaften aufgebracht und genährt werden. Diese ergriff im Vere<strong>in</strong> mit der<br />
Aufklärung allerd<strong>in</strong>gs Partei gegen e<strong>in</strong>en kirchlich- religiösen Dogmatismus, der dem<br />
Wunder im Namen Gottes die Dignität der Welterklärung zusprechen wollte.<br />
Der sicher von sonntäglichen Erfahrungen gestützte Vorwurf, unsere Kirche nehme neue<br />
theologische Vorstellungen nicht ernst genug, die manchen Anstoß an traditionellreligiösen<br />
Formen der Welterklärung beseitigen könnten, sche<strong>in</strong>t überzogen. Ihre<br />
Pfarrer<strong>in</strong>nen und Pfarrer s<strong>in</strong>d, ausweislich ebenfalls praktischer Erfahrungen <strong>in</strong><br />
Gottesdiensten und Bibelarbeiten, durchaus willig und fähig, neue theologische E<strong>in</strong>sichten<br />
den <strong>Glaubens</strong>unwilligen nahezubr<strong>in</strong>gen. Sie nutzen ihre theologische Ausbildung <strong>in</strong><br />
Predigten und bei der Ausgestaltung der Liturgie, für Freiheiten e<strong>in</strong>er Verkündigung, die<br />
auch neue theologische Inhalte vermittelt. Alle<strong>in</strong> auf Grund dieser Ausbildung ist es ihnen<br />
gar nicht mehr möglich, <strong>in</strong> der Sprache „überholter“ Theologien zu reden. Und dass ihre<br />
Zuhörer e<strong>in</strong> von der Moderne geprägtes Weltbild haben wie sie selber, muss man ihnen<br />
nicht erst erzählen. Müssen hier offene Türen e<strong>in</strong>gerannt werden?<br />
Geflissentlich übersieht man aber auch die Unkenntnis und die Lernunwilligkeit <strong>in</strong> den<br />
Geme<strong>in</strong>den für das theologisch Neue, für das e<strong>in</strong>e gläubige Spiritualität nicht oberstes<br />
Anliegen ist, Sie stehen der manifesten Unkenntnis naturwissenschaftlichen Wissens<br />
kaum nach. Als Seelsorger wissen die Pfarrer<strong>in</strong>nen und Pfarrer - und die Kirche tut gut<br />
daran, sie dar<strong>in</strong> anzuleiten und zu bestärken - dass sie die Menschen nicht mit dem<br />
Neuen überrumpeln dürfen. Diese wollen das, was sie für ihren Glauben halten, nicht<br />
ohne weiteres gegen Lehrme<strong>in</strong>ungen vom Hochschulkatheder e<strong>in</strong>tauschen.<br />
Ohneh<strong>in</strong> hat sich unsere Kirche längst e<strong>in</strong>e Verkündigungsdiät für die Gläubigen zu eigen<br />
gemacht.. Das extrem Anstößige <strong>in</strong> den biblischen Schriften wird heute niemand mehr<br />
zugemutet, der es nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er privaten Bibellektüre aufsuchen will. Auch das ganz und<br />
gar Antiquierte hat im Gottesdienst ke<strong>in</strong>en Platz mehr. Was ke<strong>in</strong>en auch im weitesten S<strong>in</strong>n<br />
für uns relevanten „<strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halt“ transportiert, f<strong>in</strong>det <strong>in</strong> der gottesdienstlichen Agenda<br />
e<strong>in</strong>fach nicht statt und niemand wird für verpflichtet gehalten, es aufzusuchen.<br />
Aber natürlich werden von der Kanzel noch D<strong>in</strong>ge verkündet, von denen der Pfarrer/die<br />
Pfarrer<strong>in</strong> weiß, dass sie für jeden vernünftigen Menschen heute nur noch Legenden<br />
bedeuten können. Dass man sie wortwörtlich glauben soll, wird er/sie nicht mehr<br />
verlangen, selbst wenn sich das mancher Zuhörer selbst suggerieren mag. Manche<br />
mögen wegen e<strong>in</strong>er für sie unglaubwürdigen Verkündigung den Gottesdiensten<br />
fernbleiben, viele aber tun dies aus Gleichgültigkeit dieser oder jeder anderen<br />
Verkündigung gegenüber. Anders herum sagt sich mancher Pfarrer/manche Pfarrer<strong>in</strong><br />
wohl, dass es ganz <strong>in</strong> Ordnung ist, wenn schlichtere Gemüter manches glauben, was<br />
er/sie selber besser weiß.<br />
7
E<strong>in</strong>e andere Diagnose stellt der „Säkularisierung <strong>des</strong> Denkens“ <strong>in</strong> unseren Breiten, die<br />
unter Protestanten, aber auch unter Katholiken, um sich greift, die Zunahme e<strong>in</strong>er, wenn<br />
auch eher diffusen Spiritualität gegenüber. Ihr versuchen vielfältige Angebote<br />
nachzukommen.<br />
So ist die sogenannte Esoterik zu e<strong>in</strong>em Sammelbecken geworden, <strong>in</strong> dem das Dümmste<br />
neben dem Ehrwürdigen, neben den echten spirituellen Traditionen der Welt, zu f<strong>in</strong>den ist.<br />
Der von den offensichtlichen Symptomen ausgelösten Besorgnis um die Zukunft<br />
europäischer Volkskirchen ist freilich das Phänomen christlicher Missionierung<br />
entgegenzuhalten. Als evangelikale Verkündigung im weitesten S<strong>in</strong>n beherrscht sie<br />
Nordamerika, und breitet sich <strong>in</strong> Südamerika und im nichtmuslimischen Afrika und selbst<br />
im andersreligiösen Asien aus, ganz im Gegensatz zu unseren Erfahrungen. In diesen<br />
Weltteilen sche<strong>in</strong>t der religiöse Eifer gerade <strong>in</strong> Gestalt der „reformiert“-protestantischen<br />
Bekenntnisse e<strong>in</strong>en enormen Aufschwung zu erfahren. Und das nicht nur mittels e<strong>in</strong>er frei<br />
flottierenden „pf<strong>in</strong>gstlerischen“ Spiritualität, sondern auch <strong>in</strong> der strikt traditionellen schrift-<br />
und offenbarungsgläubigen Form, die wir fundamentalistisch nennen.<br />
E<strong>in</strong>es der wichtigsten Kennzeichen der Diskussion im Arbeitskreis war es, solchen<br />
Diagnosen den Versuch an die Seite zu stellen, sich nicht mit den Alternativen der<br />
Konfrontation oder der Koexistenz von Religion und Naturwissenschaft zu begnügen oder<br />
gar e<strong>in</strong>e fundamentalistische Regression für denkbar oder geboten zu halten, sondern<br />
nach der Möglichkeit <strong>des</strong> Brückenschlags, e<strong>in</strong>er Synthese zwischen<br />
naturwissenschaftlicher Erkenntnisweise und christlicher <strong>Glaubens</strong>erkenntnis zu fragen.<br />
Wir stellen ke<strong>in</strong>e neuen „Kernsätze <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“ auf, sondern wir fragen nach neuen<br />
Möglichkeiten zu glauben, und tun dies gerne mite<strong>in</strong>ander und auch zusammen mit<br />
anderen Interessierten.<br />
Wir haben uns der Frage gestellt, ob unser Glaube an Gott und unsere „Gottesbilder“ es<br />
überhaupt zulassen, <strong>in</strong> negativer Theologie zu enden, oder dies sogar von uns fordern.<br />
Beharren wir darauf,<br />
Gott habe als Schöpfer <strong>in</strong> ganz e<strong>in</strong>deutiger Weise mit der Konstitution se<strong>in</strong>er Welt zu<br />
tun,<br />
sei <strong>in</strong> ganz bestimmter Weise <strong>in</strong> ihr anwesend<br />
und unterhalte sogar – und nach biblischer Lesart ganz bestimmt – e<strong>in</strong>e aktive<br />
Beziehung zu ihr,<br />
nicht nur als der beständig Anwesende von Ewigkeit zu Ewigkeit,<br />
sondern <strong>in</strong> sorgender Liebe, mit e<strong>in</strong>em auf Vollendung gerichteten Heilsplan,<br />
so wie es dem christlichen <strong>Glaubens</strong>bekenntnis entspricht,<br />
kommen wir zu e<strong>in</strong>em anderen Schluss. Wir müssen unseren Gottesbildern e<strong>in</strong>e<br />
Bedeutung geben, die mit dem korrespondiert, was wir über die Welt wissen können. Die<br />
Physik als herausragende Vertreter<strong>in</strong> der Naturwissenschaften, stellt uns seit dem Beg<strong>in</strong>n<br />
<strong>des</strong> 20.Jahrhunderts <strong>in</strong> ihren Großtheorien e<strong>in</strong> tief problematisches Bild der Welt vor<br />
Augen.<br />
8
Folgen wir se<strong>in</strong>er Entwicklung bis heute, so lässt es unser Wissen von der Welt als e<strong>in</strong><br />
ebenso großes Geheimnis ersche<strong>in</strong>en wie unser Bild von Gott.<br />
Mehr dazu <strong>in</strong> dem Beitrag „Religion und Naturwissenschaft im Licht der modernen<br />
Physik“.<br />
Was ist Glaube?<br />
Zurück zum Inhaltsverzeichnis<br />
Vom Verständnis <strong>des</strong>sen, was mit „Glaube“ geme<strong>in</strong>t ist, hängt auch se<strong>in</strong> Inhalt ab: Ist es<br />
e<strong>in</strong>e besondere Erkenntnisform, die weiter reicht als Gefühl und Verstand? Oder e<strong>in</strong>e<br />
Grundhaltung, die das Handeln bestimmt? Wor<strong>in</strong> liegt der Unterschied von Glauben und<br />
Wissen, von Religion und Naturwissenschaft? Wie kommen Menschen zum Glauben und<br />
welche Veränderungen s<strong>in</strong>d festzustellen, zu wünschen? Anerkennung <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong><br />
anderer auch bei erheblichen Unterschieden.<br />
Glaube ist Offenheit für MEHR : Hilfe, Helfen, Kraft, Verstehen. Gott.<br />
Glaube ist Offenheit für MEHR: Für die größere Wirklichkeit, für die Existenz Gottes. Von<br />
daher kommen Gaben und Aufgaben: Mit dem Verstand erkennen wir, durch Arbeit<br />
schaffen wir, mit Gefühl empf<strong>in</strong>den wir: Schönes und Bedrohliches. Mehr oder weniger.<br />
Auf- oder abgeblendet. E<strong>in</strong> Glaube an die größere Wirklichkeit verhilft zu e<strong>in</strong>em Leben <strong>in</strong><br />
größerem Zusammenhang: Mehr als <strong>in</strong> dem Namen Gott enthalten ist. Es darf ruhig noch<br />
MEHR als das se<strong>in</strong>. War im Wort zum Sonntag am 21.1.12 zu hören.<br />
Nach religiösem Verständnis bedeutet das Tätigkeitswort „glauben“ vertrauen auf ..., sich<br />
verlassen auf, ..Rückb<strong>in</strong>dung an e<strong>in</strong>e höhere Wirklichkeit....... Sich-richten-nach, Offense<strong>in</strong><br />
für: ... Offenbarung, Übernatürliches, Transzendentes.<br />
Als Substantiv (Glauben) bezeichnet das Wort meist bestimmte (Lehr-)Inhalte e<strong>in</strong>er<br />
Religion, also z.B. e<strong>in</strong> Verständnis von Gott, Jesus oder der Kirche. In e<strong>in</strong>em <strong>Glaubens</strong>bekenntnis<br />
s<strong>in</strong>d solche wesentlichen Inhalte zusammengefasst, zur eigenen<br />
Vergewisserung, aber auch gegenüber „Andersgläubigen“: „Ich glaube an Gott, den Vater,<br />
den Allmächtigen, den Schöpfer <strong>des</strong> Himmels und der Erde.“<br />
In Theologie und <strong>Glaubens</strong>praxis äußern sich Unterschiede bei <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halten<br />
e<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong> der Hervorhebung von besonderen Inhalten (z.B. Monotheismus, den<br />
Glauben an nur e<strong>in</strong>en Gott, <strong>in</strong> den „Buchreligionen“ Judentum, Christentum und Islam).<br />
Andererseits wird der eigene Glaube oft mit Hilfe von Negationen erklärt, also durch<br />
Abgrenzungen gegenüber anderen Auffassungen (oder von Teilen derselben). Dann<br />
glaubt jemand sozusagen etwas anderes (oder anders) als andere Gläubige. Die<br />
unzureichende Sprache <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> wird durch Deutungen, wie „im übertragenen<br />
S<strong>in</strong>ne, nicht wörtlich zu verstehen“, Chiffren und Bildern ergänzt.<br />
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E<strong>in</strong>en grundlegenden Lebenss<strong>in</strong>n hat wohl jeder Mensch. Auch wenn dieser sich nicht <strong>in</strong><br />
Worten ausdrücken kann, zeigt er sich doch im Verhalten. „Woran de<strong>in</strong> Herz hängt, das ist<br />
de<strong>in</strong> Gott“ schreibt Luther. Der Glaubende f<strong>in</strong>det se<strong>in</strong>en Lebenss<strong>in</strong>n im Kontakt mit der<br />
größeren Wirklichkeit, mit Gott. Dadurch öffnet er sich auch anderen Menschen, für die er<br />
<strong>in</strong> liebender Zuwendung Verantwortung übernimmt: “Liebe De<strong>in</strong>en Nächsten wie Dich<br />
selbst“. Das Leben <strong>des</strong> e<strong>in</strong>zelnen, aber auch der Geme<strong>in</strong>schaft bekommt e<strong>in</strong>e neue<br />
Qualität.<br />
Inhalte und Formen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> .<br />
Die heutigen Inhalte und die Formen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> an Gott haben sich geschichtlich<br />
entwickelt. Sie beruhen auf E<strong>in</strong>sichten aus religiösen Erfahrungen, die Menschen gemacht<br />
und beschrieben haben. Persönlich s<strong>in</strong>d sie von sozialisationsbed<strong>in</strong>gtem Erleben und<br />
<strong>des</strong>sen deutender Verarbeitung <strong>in</strong> der jeweiligen Zeit geprägt.<br />
Neben dem Glauben existieren die im Laufe der Geschichte angesammelten religiösen<br />
Traditionen.<br />
Im christlichen Glauben gab es bei den Vorstellungen von Gott <strong>in</strong> den 2000 Jahren seit<br />
Jesus kaum Veränderungen. Die Entwicklung <strong>des</strong> zunehmend naturwissenschaftlich<br />
bestimmten Weltbilds beg<strong>in</strong>nt sich nur zögernd auf den Glauben auszuwirken. In letzter<br />
Zeit wird mit positiver Bewertung von e<strong>in</strong>er Evolution auch <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> gesprochen.<br />
Dazu schreibt G. Theißen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en „<strong>Glaubens</strong>sätzen“:<br />
Schon das Urchristentum kannte<br />
verschiedene Reflexionsstufen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>.<br />
Alle s<strong>in</strong>d gültig,<br />
ke<strong>in</strong>e ist endgültig.<br />
Alle nähern sich unvollkommen dem,<br />
was letztgültig ist.<br />
Wenn andere e<strong>in</strong>en anderen Glauben haben<br />
So gibt es <strong>in</strong> derselben (evangelischen oder katholischen) Kirche sehr verschiedene Arten<br />
<strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>. In dem Buch „Der Junge, der aus dem Himmel zurückkehrte“ („E<strong>in</strong>e wahre<br />
Geschichte“ von Kev<strong>in</strong> und Alex Malarkey) wird die Wunderheilung e<strong>in</strong>es 10-jährien<br />
Knaben geschildert, der nach eigener detaillierter Aussage und Darstellung se<strong>in</strong>es Vaters<br />
nach e<strong>in</strong>em Autounfall während e<strong>in</strong>es zweimonatigen Komas und danach im Himmel war.<br />
Dort begegnete er Gott, Jesus und vielen Engeln und sprach mit ihnen (was sich auch <strong>in</strong><br />
der Rekonvaleszenz fortsetzte). Die Heilung der Trennung <strong>des</strong> Kopfes von der<br />
Wirbelsäule wurde als übernatürliches Wunder der Kraft vieler Gebete zugeschrieben, so<br />
wie auch erstaunliche Hilfen, die die Familie von anderen Menschen empf<strong>in</strong>g. Bibelstellen<br />
– wie etwa die Aussage Jesu: „bei Gott s<strong>in</strong>d alle D<strong>in</strong>ge möglich“ (Mit 19,26) – werden<br />
wörtlich verstanden und als Erklärung für viele unwahrsche<strong>in</strong>liche Ereignisse<br />
herangezogen. Auch <strong>in</strong> den Gebeten f<strong>in</strong>det der Glaube an die Allmacht und Güte <strong>des</strong><br />
persönlich erfahrenen Gottes se<strong>in</strong>en Ausdruck.<br />
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Diese <strong>Glaubens</strong>form f<strong>in</strong>det auch bei vielen jungen Menschen volle Zustimmung.<br />
Andere Gläubige verstehen viele Bibelworte und Berichte über das direkte E<strong>in</strong>greifen<br />
Gottes oder von Jesus Christus <strong>in</strong> den Geschehensablauf mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em übertragenen<br />
S<strong>in</strong>n. Wenn es sich um Beschreibungen von Ereignissen handelt, die im Widerspruch zu<br />
gesicherten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen stehen (oder diese, weil transrational<br />
wie z,B. „Himmel“, transzendieren), fragen sie nach der Absicht und nach dem S<strong>in</strong>n, dem<br />
Wesentlichen solcher Erzählungen (der sich meistens auch f<strong>in</strong>den lässt).<br />
Nicht wenige Kirchenmitglieder, darunter auch Theologen, halten die bis heute tradierten<br />
und im Kirchenvolk verankerten Gottesbilder, also die vorwiegend anthropomorphen<br />
Vorstellungen von Gott, mit unserem heutigen Weltbild nicht mehr vere<strong>in</strong>bar, so auch der<br />
Theologe und Physiker H.R. Stadelmann: Er fragt, „ob e<strong>in</strong>ige der traditionellen christlichen<br />
Begriffe und <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halte (Tr<strong>in</strong>ität, Heiliger Geist, Reich Gottes, Ewiges Leben usw.),<br />
allenfalls neu <strong>in</strong>terpretiert, beibehalten werden können oder ob sie als heute nicht mehr<br />
verständlich und im Widerspruch zu unserem Weltbild stehend fallen zu lassen s<strong>in</strong>d.<br />
Die E<strong>in</strong>stellungen zu den jeweils anderen <strong>Glaubens</strong>weisen s<strong>in</strong>d meist mehr oder weniger<br />
kritisch oder abwertend. Die Erfahrung von Hilfe von Gott, Jesus oder – für Katholiken –<br />
auch von Maria wird von Kritikern als altertümlich, E<strong>in</strong>bildung oder sogar als Aberglauben<br />
abgelehnt. Wundergläubige mit direkter, persönlicher Gotteserfahrung dagegen sehen<br />
Wesentliches <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> aufgegeben, wenn Aussagen der Bibel nicht mit allen<br />
E<strong>in</strong>zelheiten wörtlich verstanden werden – was den Ausschluss vom ewigen Heil zur Folge<br />
haben kann.<br />
Erfreulicherweise nimmt aber die Bereitschaft zu, anderen Menschen ihre eigenen<br />
<strong>Glaubens</strong>formen zuzugestehen und sich trotzdem mit ihnen im Glauben verbunden zu<br />
fühlen. Die Frage nach der Wahrheit e<strong>in</strong>es <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halts führt bei ihnen nicht zur<br />
Aufgabe oder zum Ausschluss von Geme<strong>in</strong>schaft, sondern zu gegenseitigem Respekt und<br />
Interesse. Wenn Glaube als Geschenk (Gottes) verstanden wird, kann auch bei großen<br />
Unterschieden das Wesentliche z.B. <strong>des</strong> christlichen <strong>Glaubens</strong> bei anderen als vorhanden<br />
und wirksam vorausgesetzt und gesehen werden. Dabei ist auch daran zu er<strong>in</strong>nern, dass<br />
<strong>in</strong> vielen Religionen und auch im christlichen Glauben nicht die Wahrheitsbehauptung für<br />
e<strong>in</strong>e Lehre das Wichtigste ist, sondern die Liebe (nach Paulus), die im Vergleich zu<br />
Glaube und Hoffnung die größte ist!<br />
Wenn das beachtet wird, können sowohl die Rechtgläubigen wie auch die Offenen für<br />
neue <strong>Glaubens</strong>formen ihre eigenen Auffassungen nicht nur selbstbewusst praktizieren<br />
und vertreten, sondern dürfen diese durchaus auch Anhängern anderer <strong>Glaubens</strong>formen<br />
zeigen und erklären – ohne allerd<strong>in</strong>gs deren Überzeugungen herabzusetzen. Das zu<br />
vermeiden br<strong>in</strong>gt auch für die eigene <strong>Glaubens</strong>form Fortschritte. (Ausprobieren lohnt sich!)<br />
Das Entstehen von Glauben wird als Geschenk erfahren<br />
Glaube ist e<strong>in</strong>e menschliche Fähigkeit, transzendente Wirklichkeiten zu erahnen, zu<br />
erkennen und danach zu handeln. („Religiöse Erfahrung ist ‚Gedeutete Wahrnehmung’ “):<br />
Das Wort „Glaube“ wird <strong>in</strong> den meisten Aussagen und Texten unseres Kulturkreises ganz<br />
selbstverständlich verstanden als Glaube an den christlichen Gott, als se<strong>in</strong> Geschenk. Es<br />
gibt Berichte und Erklärungen von eigener Entscheidung zum Glauben: Bei e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> der<br />
Bibel berichteten Dämonenaustreibung kommt der Vater <strong>des</strong> kranken Jungen nach der an<br />
11
Jesus gerichteten Bitte „.... hilf me<strong>in</strong>em Unglauben!“ zum heilenden Glauben. Und der<br />
Ausruf Jesu „Ihr ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch se<strong>in</strong>, wie lange soll<br />
ich euch ertragen?“ kl<strong>in</strong>gt vorwurfsvoll. Dass e<strong>in</strong> Mensch zum Glauben kommt, ist also<br />
nicht selbstverständlich, sondern hängt von se<strong>in</strong>er Offenheit dafür ab.<br />
Aber nicht nur <strong>in</strong> der Geschichte von der Heilung e<strong>in</strong>es Kranken durch Jesus kommt der<br />
Glaube als Geschenk, auch <strong>in</strong> vielen anderen Bibelstellen und nicht zuletzt bei Mart<strong>in</strong><br />
Luther ist das so: „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus<br />
Christus, me<strong>in</strong>en Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann .......“<br />
Gott hat per def<strong>in</strong>itionem vor menschlichen Möglichkeiten zu glauben existiert. Demgemäß<br />
verdanken die meisten „Gläubigen“ ihren Glauben nicht der eigenen Anstrengung,<br />
Begabung oder F<strong>in</strong>digkeit, sondern er ist ihnen zugekommen. Dar<strong>in</strong> wird persönliche und<br />
<strong>in</strong>dividuelle Zuwendung und Fürsorge Gottes erfahren. Diese kann unter anderem <strong>in</strong> der<br />
Erziehung, der Begegnung mit dem Nächsten, auch <strong>in</strong> besonderen Erlebnissen gesehen<br />
werden. Zunehmend wird aber heute die Entscheidung für oder gegen die Annahme bzw.<br />
Beibehaltung e<strong>in</strong>es religiösen <strong>Glaubens</strong> vom e<strong>in</strong>zelnen Menschen selbst getroffen.<br />
Der eigene Glaube unterscheidet sich wie das Gesicht e<strong>in</strong>es Menschen von allen<br />
anderen. Ist es nicht so, dass das Neugeborene durch die Eltern Vertrauen lernt - das von<br />
glaubender E<strong>in</strong>stellung geprägt se<strong>in</strong> kann? Auf diesem Fundament begegnet es der<br />
Umwelt und f<strong>in</strong>det se<strong>in</strong>en Platz <strong>in</strong> der Welt: behütet oder verloren „je nach se<strong>in</strong>em<br />
Glauben“ im selbstzentrierten Denken oder im Erkennen <strong>des</strong> Anderen, Nächsten. Aber<br />
viele gehen schon früh eigene Wege und werden anders, mehr oder weniger gläubig als<br />
ihre Eltern.<br />
Wenn es Veränderungen beim Glauben gibt, kommt das auch von weiter her, im positiven<br />
Fall aus der größeren Wirklichkeit Gottes. Also nicht nur von <strong>in</strong>nen, vom Ich. Von vielen<br />
Seiten, <strong>in</strong> vielen Formen, <strong>in</strong> vielen Zumutungen. Gott eröffnet neue Möglichkeiten <strong>des</strong><br />
<strong>Glaubens</strong>, <strong>in</strong>dem er sich selbst verändert und damit uns, nicht erst mit dem Auftreten<br />
Jesu, nicht nur <strong>in</strong> der Vergangenheit, sondern bis heute. Gott ist jener Vertrauensraum, <strong>in</strong><br />
dem Menschen wachsen und gedeihen können, weil sie sich von der Macht <strong>des</strong> Lebens<br />
selbst getragen, gehalten und bejaht fühlen.<br />
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12
2. Glaube und Wissen<br />
In welchem Verhältnis stehen Glaube und Wissen? Nicht erst seit der Aufklärung wird<br />
Wissenschaft und Wissen als die überlegene Erkenntnisform gegenüber dem Glauben<br />
angesehen. Wissenschaft und <strong>in</strong>sbesondere Naturwissenschaft wird für den besten Weg<br />
zur Erkenntnis der Wirklichkeit gehalten, auch weil er zur Verbesserung der menschlichen<br />
Lebensbed<strong>in</strong>gungen beiträgt. Wird der Glaube demgegenüber zu ger<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>geschätzt?<br />
Woher lassen sich heute und <strong>in</strong> Zukunft Lebenss<strong>in</strong>n und Wertbewusstse<strong>in</strong> empfangen?<br />
Es ist notwendig, Glaube und Wissen zutreffend zu unterscheiden und e<strong>in</strong>e Vermischung<br />
zu vermeiden.<br />
In der Umgangssprache wird „glauben“ meistens im S<strong>in</strong>ne von vermuten, erwarten,<br />
me<strong>in</strong>en, für wahr halten gebraucht. Kritiker setzen das Wort gerne gleich mit „Nicht-<br />
Wissen“.<br />
Nach religiösem Verständnis bedeutet glauben (als Verb) vertrauen auf ..., sich verlassen<br />
auf, ... Sich-richten-nach, Offense<strong>in</strong> für ... Offenbarung, Übernatürliches, Transzendentes<br />
....<br />
Als Substantiv (Glauben) bezeichnet das Wort meist bestimmte (Lehr-)Inhalte e<strong>in</strong>er<br />
Religion, also z.B. e<strong>in</strong> Verständnis von Gott, Jesus oder der Kirche. In e<strong>in</strong>em <strong>Glaubens</strong>bekenntnis<br />
s<strong>in</strong>d solche wesentlichen Inhalte zusammengefasst, zur eigenen<br />
Vergewisserung, aber auch gegenüber „Andersgläubigen“: „Ich glaube an Gott, den Vater,<br />
den Allmächtigen, den Schöpfer <strong>des</strong> Himmels und der Erde.“<br />
Wissen ist das Bewusstse<strong>in</strong> (die Kenntnis, die Berücksichtigung) von Fakten, Theorien<br />
und Regeln und wird auch als Substantiv für deren Dokumentation verwendet.<br />
Qualifiziertes Wissen wird als nachweisbar wahre und gerechtfertigte Me<strong>in</strong>ung def<strong>in</strong>iert<br />
und unterscheidet sich von Begriffen wie Überzeugung und Glauben.<br />
Der Inhalt von Wissen kann wahr oder falsch se<strong>in</strong>. Dabei gründet e<strong>in</strong>e wissenschaftlich<br />
„wahre“ Erkenntnis auf den def<strong>in</strong>ierten Axiomen, der <strong>in</strong>ternen Widerspruchsfreiheit, der<br />
Wiederholbarkeit im Experiment und der Überprüfbarkeit (verifizierbar oder falsifizierbar).<br />
Vieles im menschlichen Leben ist entsprechend se<strong>in</strong>er Eigenart nicht (oder jedenfalls nicht<br />
ganz) als Wissen zu erfassen, so z.B. der S<strong>in</strong>n <strong>des</strong> Lebens, Krankheit und Schmerzen,<br />
Geburt und Tod, das Gefühl, Gott und das Jenseits.<br />
Glauben und Wissen s<strong>in</strong>d vone<strong>in</strong>ander zu unterscheiden, was bei Aussagen <strong>des</strong><br />
<strong>Glaubens</strong> und <strong>des</strong> Wissens schwierig, aber notwendig ist, um ihre Vermischung zu<br />
vermeiden.<br />
Wissenschaft strebt durch e<strong>in</strong>e hochentwickelte Theoriebildung und Methodik den<br />
größtmöglichen Grad von objektiver Wahrheit <strong>in</strong> ihren Aussagen und<br />
Untersuchungsergebnisse frei von Widersprüchen an. Das gilt für alle<br />
Wissenschaftszweige, also für Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften und<br />
Sozialwissenschaften. Auch die Theologie arbeitet mit wissenschaftlichen Methoden und<br />
hat ihre eigenen Vorgaben. Notwendig (wenn auch nicht immer leicht) ist die<br />
Unterscheidung zwischen den verschiedenen Wissenschaftsgebieten.<br />
Wissen hat auch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle Dimension. Nach gedanklicher Beschäftigung mit<br />
13
wichtigen Fragen glaubt man meistens, für sich e<strong>in</strong> Verständnis und Konzepte erarbeitet<br />
zu haben, die nicht objektivierbar zu se<strong>in</strong> brauchen, aber für e<strong>in</strong>en selber verb<strong>in</strong>dlich s<strong>in</strong>d.<br />
Glauben steht auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er dynamischen Beziehung zum Unterbewusstse<strong>in</strong>, <strong>in</strong> dem<br />
Gefühle, Wünsche, Vorstellungen, Ideen verarbeitet und dann <strong>in</strong> unser Bewusstse<strong>in</strong><br />
gehoben werden.<br />
Das Verhältnis von Glauben und Wissen, aber auch von Wissen und Glauben verändert<br />
sich dauernd sowohl <strong>in</strong>dividuell als auch generell. Dabei kann es abwechselnd und mehr<br />
oder weniger stark von Widersprüchen, Gegensätzen, Ergänzung oder analoger<br />
Übere<strong>in</strong>stimmung bestimmt se<strong>in</strong>.<br />
Ken Wilders unterscheidet zwischen prärationalen und transrationalen religiösen<br />
Erfahrungen (zitiert <strong>in</strong> Küstenmacher u.a. „Gott 9.0“). Beide s<strong>in</strong>d nicht-rational,<br />
entsprechen also nicht dem Bewusstse<strong>in</strong> aufgeklärter Vernunft. Im Bereich prärationaler<br />
Erfahrung kann es sich um Mythen, Animismus, Magie, Aberglauben oder auch um den<br />
e<strong>in</strong>fachen „K<strong>in</strong>derglauben“ handeln, die nicht <strong>in</strong> rationales Verstehen <strong>in</strong>tegriert oder damit<br />
verbunden s<strong>in</strong>d, (aber ke<strong>in</strong>eswegs durch die kritische Vernunft wertlos oder s<strong>in</strong>nlos<br />
gemacht werden, wie z.B. der Religionskritiker Feuerbach me<strong>in</strong>te). Transrational s<strong>in</strong>d<br />
dagegen Erfahrungen, die über die Grenzen rationaler Erkenntnis h<strong>in</strong>ausreichen. Sie<br />
werden auch von Christen <strong>in</strong> kontemplativer Spiritualität, Mystik und Offenheit für<br />
Transzendenz erlebt.<br />
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4. Naturwissenschaft und Glauben<br />
Gibt es e<strong>in</strong>e Konkurrenz zwischen Naturwissenschaft und Glauben? Haben manche<br />
naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> der Physik, Vorstellungen <strong>des</strong><br />
<strong>Glaubens</strong> verdrängt – wie z.B. beim Verständnis der Entstehung der Welt und <strong>des</strong><br />
Lebens? S<strong>in</strong>d naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>greifen Gottes <strong>in</strong> den<br />
Geschehensablauf zu vere<strong>in</strong>baren? Oder ist vielmehr das Verhältnis der beiden<br />
Erkenntnisformen neu zu bestimmen? Können sie sich gegenseitig ergänzen und fördern?<br />
Unterschiede sollen nicht verwischt werden. Aber es gibt Berührungspunkte zwischen<br />
Naturwissenschaft und Glauben, die bis zur gegenseitigen Ergänzung führen können. Die<br />
Begrenztheit beider Erkenntniswelten ist offenkundig. Ke<strong>in</strong>e kann e<strong>in</strong>en berechtigten<br />
Anspruch auf die Erfassung der Gesamtwirklichkeit erheben.<br />
Von großer Bedeutung für den Glauben ist heute se<strong>in</strong> Verhältnis zu den<br />
Naturwissenschaften. Ist es das e<strong>in</strong>er Konkurrenz oder ergänzen sich beide gegenseitig?<br />
Die Natur ist der Gegenstand der Erforschung durch die Naturwissenschaften. Unter Natur<br />
versteht man alles, was mit den Mitteln und den Messgeräten der Naturwissenschaften<br />
beobachtet, gemessen und beschrieben werden kann. Beobachtungen, die beliebig oft<br />
und von jedermann <strong>in</strong> gleicher Weise reproduziert werden können, werden mit Hilfe der<br />
Mathematik <strong>in</strong> Form von Gesetzen beschrieben. So wurde, ausgehend von der<br />
Beobachtung e<strong>in</strong>es fallenden Apfels und der Bewegungsbahnen der Gestirne, mit Hilfe<br />
von Messungen fallender Gegenstände das Gravitationsgesetz abgeleitet.<br />
Alle e<strong>in</strong>maligen (historischen) Prozesse können nicht reproduziert werden und entziehen<br />
sich somit e<strong>in</strong>er physikalischen Untersuchung. Die Entstehung <strong>des</strong> Kosmos und se<strong>in</strong>e<br />
Entwicklung s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Beispiel hierfür. Modellvorstellungen über die Entstehung <strong>des</strong><br />
Kosmos werden aber die Gültigkeit der Naturgesetze berücksichtigen, um nicht von<br />
vornhere<strong>in</strong> unglaubwürdig zu se<strong>in</strong>.<br />
Mit Hilfe der naturwissenschaftlichen Gesetze s<strong>in</strong>d Vorhersagen von Ereignissen <strong>in</strong> der<br />
Zukunft und rückblickende Beschreibungen von Ereignissen <strong>in</strong> der Vergangenheit<br />
möglich.<br />
Gegenstand der Naturwissenschaften ist die Beschreibung der Gegenstände und<br />
Ereignisse und von Beziehungen wie Ursache und Wirkung, nicht der Versuch e<strong>in</strong>er<br />
S<strong>in</strong>nf<strong>in</strong>dung oder S<strong>in</strong>ngebung. Wenn logisch aus der Erkenntnis, dass alles „zeitlich“<br />
geschieht, folgt, es gäbe generell nur „historische“ Feststellungen, werden auch alle mit<br />
streng naturwissenschaftlichen Methoden gewonnenen Ergebnisse relativiert. Mit der<br />
antiken Welt<strong>in</strong>terpretation (nach Heraklit und Platon): „Man kann nicht zweimal <strong>in</strong><br />
denselben Fluss steigen“ ist auch die Grenze jedweder „Wissenschaft“ markiert. Alles Se<strong>in</strong><br />
ist demnach nicht statisch, sondern im ewigen Wandel als dynamisch zu denken.<br />
Theologie ist (nach überwiegendem Selbstverständnis) die durch göttliche Offenbarung<br />
begründete Lehre von Gott. Sie befasst sich mit der wissenschaftlichen Analyse der<br />
Inhalte von <strong>Glaubens</strong>dokumenten und der praktischen Ausübung e<strong>in</strong>er Religion und ihrer<br />
Unterschiede zu anderen <strong>Glaubens</strong>richtungen.<br />
Theologie kann dem Ganzen der Evolution e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n zuschreiben. Sie kann die Evolution<br />
15
als Schöpfung <strong>in</strong>terpretieren.<br />
Jeder Mensch kann aufgrund von religiösen Erfahrungen und mithilfe verschiedener<br />
Wissenschaften se<strong>in</strong>en Glauben entwickeln. E<strong>in</strong>e evolutionäre Veränderung <strong>in</strong>dividuellen<br />
und geme<strong>in</strong>samen <strong>Glaubens</strong> vollzieht sich aber auch ohne erkennbare eigene Aktivität.<br />
Widersprüche zwischen Naturwissenschaft und Glauben?<br />
.<br />
Die Naturwissenschaften s<strong>in</strong>d heute frei von Theologie. Sie machen ke<strong>in</strong>e Aussagen über<br />
Gott. Und die Theologie formuliert ke<strong>in</strong>e Naturgesetze und steht <strong>in</strong> ihren Aussagen <strong>in</strong><br />
ke<strong>in</strong>em Widerspruch zu den plausiblen und reproduzierbaren Aussagen der<br />
Naturwissenschaften. Es handelt sich um verschiedene Erkenntniswege, die von uns je<br />
e<strong>in</strong>zeln wahrgenommen und nicht nur akzeptiert, sondern fruchtbar für unser Leben <strong>in</strong><br />
Verb<strong>in</strong>dung gebracht werden sollten.<br />
„Dass es zwischen Naturwissenschaft und Glauben ke<strong>in</strong>en Widerspruch gibt, ist die<br />
wichtigste Aussage <strong>in</strong> unserer Diskussion: Die naturwissenschaftliche Welt <strong>des</strong><br />
experimentellen Wissens und die religiöse Welt <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> können sich per<br />
def<strong>in</strong>itionem nicht widersprechen, weil sie es mit zwei verschiedenen Bereichen und<br />
unterschiedliche Erkenntnismethoden zu tun haben.“<br />
Mit ke<strong>in</strong>er der beiden Erkenntniswelten alle<strong>in</strong>, mit ke<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zelnen Wissenschaft alle<strong>in</strong><br />
kann die existierende Wirklichkeit h<strong>in</strong>reichend erklärt werden. Ihre jeweiligen<br />
Beschränktheiten s<strong>in</strong>d offenkundig. Zum Beispiel beim Hören von Musik von Bach, der<br />
auch der fünfte Evangelist genannt wird, obliegt der Physik und Technik die Konstruktion<br />
der Instrumente, die Steuerung der Erzeugung und die Weiterleitung der Schallwellen, die<br />
Erzeugung der Schw<strong>in</strong>gungen im Trommelfell und Signalübertragung <strong>in</strong> das Gehirn. Das<br />
eigentliche Hören der Musik und die damit verbundenen Empf<strong>in</strong>dungen werden auf diese<br />
Weise aber nicht erfasst. Hier werden Wahrnehmungen angestoßen, die über die<br />
materiellen Abläufe h<strong>in</strong>aus gehen. Das wahrnehmende Hören mit se<strong>in</strong>en<br />
S<strong>in</strong>nesassoziationen ist ebenso Teil der Wirklichkeit, wie auch die den Ton abstrahlende<br />
schw<strong>in</strong>gende Saite oder e<strong>in</strong>e Orgelpfeife. Erst die messbaren Abläufe und die<br />
emotionalen Empf<strong>in</strong>dungen zusammen ergeben die Realität der Musik.<br />
Texte <strong>in</strong> der Bibel, die sche<strong>in</strong>bar im Widerspruch zu unserer Naturerfahrung stehen, s<strong>in</strong>d<br />
ke<strong>in</strong>e historisch oder gar naturwissenschaftlich beschreibende Darstellungen, sondern<br />
re<strong>in</strong>e <strong>Glaubens</strong>bezeugungen <strong>in</strong> der Sprache der damaligen Zeit. Zum Beispiel heißt es <strong>in</strong><br />
der Bibel bei Lukas <strong>in</strong> der Geburtsankündigung (Lk 1,35): „Der heilige Geist wird über dich<br />
kommen, und die Kraft <strong>des</strong> Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das<br />
Heilige, das von dir geboren wird, Gottes Sohn genannt werden.“<br />
Nach antikem Glauben wurden Herakles und Alexander durch Zeus’ „göttlichen Geist“<br />
gezeugt und somit zu Gottessöhnen. E<strong>in</strong>e Frau konnte durch „Besehen“ e<strong>in</strong>es Gottes<br />
schwanger werden. Die Mutter <strong>des</strong> vergöttlichten Kaiser Nero trug den Titel<br />
Gottesgebärer<strong>in</strong>.<br />
Wie damals <strong>in</strong> der griechisch-mythologische Sprache, <strong>in</strong> der zur Zeit der Entstehung <strong>des</strong><br />
Neuen Testaments über Gottessöhne und deren Mütter würdigend und anbetend<br />
gesprochen wurde, bee<strong>in</strong>flusst auch modernes Denken, heutige unterschiedliche<br />
Gottesvorstellungen.<br />
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Dementsprechend wird die Besonderheit Jesu nicht (mehr wie früher weith<strong>in</strong> verbreitet) <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er Schwangerschaft ohne männlichen Zeugungsakt gesehen, sondern <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />
unvergleichlichen engen Verhältnis zu Gott, von dem er mehr und anders erfüllt und<br />
bestimmt geglaubt wurde als andere Menschen; weshalb er auch mit e<strong>in</strong>em schon<br />
damals gebräuchlichen Ausdruck „Gottes Sohn“ genannt und als solcher verehrt wurde.<br />
Es gibt ke<strong>in</strong>en Widerspruch zwischen Naturwissenschaften und Glauben, auch wenn sie<br />
sich der gleichen Sprache bedienen, die im Spiegel der jeweiligen Zeit verstanden<br />
werden muss. Naturwissenschaften und Theologie befassen sich mit unterschiedlichen<br />
Aspekten der Wirklichkeit, die für sich genommen ke<strong>in</strong>en berechtigten Anspruch auf die<br />
Erfassung der Gesamtwirklichkeit dieser Welt erheben können. Erst das Zusammenwirken<br />
beider Bereiche <strong>in</strong> Kenntnis ihrer jeweiligen Begrenztheit br<strong>in</strong>gt uns weiter im Verstehen<br />
und Gestalten unserer Lebenswirklichkeit.<br />
Diese Unterscheidung von Naturwissenschaft und Glaube ermöglicht es (und fordert!) ,<br />
Aussagen wie die über Weltentstehung und Schöpfung sowie von Evolution und Leben<br />
als Gabe Gottes, eigenständig mit den jeweils anerkannten Methoden zu erfassen und<br />
nach den Grundpr<strong>in</strong>zipien der eigenen Betrachtungsweise zu <strong>in</strong>terpretieren. Wer sich für<br />
den Glauben an Gott entscheidet, gew<strong>in</strong>nt nach Hans Küng e<strong>in</strong>e Art archimedischen<br />
Punkt, von dem aus grundsätzliche Antworten auf die drei Fragen Kants gesucht werden<br />
können: Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen?<br />
Die metaempirische, philosophisch-theologische Betrachtung ist gleichberechtigt mit der<br />
naturwissenschaftlichen. E<strong>in</strong>e Monopolisierung im S<strong>in</strong>ne der Erkenntnis auf Seiten der<br />
Naturwissenschaften oder der Religionen führt zur Verabsolutierung von Teilwahrheiten,<br />
zu Intoleranz und zur E<strong>in</strong>schränkung der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten.<br />
Zwischen Naturwissenschaft und Religion gibt es Berührungspunkte<br />
Zurück zum Inhaltsverzeichnis<br />
Kann die Frage nach dem E<strong>in</strong>wirken Gottes <strong>in</strong> die physikalisch-naturwissenschaftliche<br />
Weltvorstellung dadurch beantwortet werden, dass man <strong>in</strong> der Quantentheorie,<br />
Chaostheorie oder den Zufällen der Evolution nach „Fugen“ für Gottes E<strong>in</strong>griff sucht?<br />
Unzweifelhaft üben die heutigen Naturwissenschaften und die auf ihnen fußende Technik<br />
e<strong>in</strong>en dom<strong>in</strong>ierenden E<strong>in</strong>fluss auf unser Leben aus. Das darf aber nicht zu dem<br />
Trugschluss führen, dass wir mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild die ganze<br />
Wirklichkeit oder die wichtigsten Teile davon erfasst hätten. Wir leben nicht nur <strong>in</strong><br />
derjenigen Welt, die wir durch naturwissenschaftliche Methoden untersuchen und<br />
beschreiben. Da gibt es die erfahrbare Welt der Musik, der Poesie, der Schönheit, der<br />
Grausamkeit, usw., <strong>in</strong> der naturwissenschaftliche Untersuchungsmethoden versagen. Die<br />
eigentliche Frage ist: Welche Wirklichkeit haben wir bei der naturwissenschaftlichen<br />
Erforschung dieser Welt erfasst?<br />
E<strong>in</strong>e Antwort ist, dass e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nerhalb der methodischen Grenzen erworbene<br />
Welterkenntnis herauskommt, die vor allem für technische Verwertungszusammenhänge<br />
bedeutsam ist. Die Folgerung lautet, dass dieses Ergebnis nicht im Widerspruch zu e<strong>in</strong>em<br />
Schöpfer-Gott steht, denn die Erkenntnisse <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> basieren zwar auf anderen,<br />
aber ebenso legitimierten S<strong>in</strong>nerfahrungen.<br />
Die Naturwissenschaften befassen sich per def<strong>in</strong>itionem nicht mit der Erforschung von<br />
Gott. Aber es gibt naturwissenschaftliche Inhalte, die aus nichtnaturwissenschaftlicher<br />
17
Sicht beschrieben und gedeutet wurden. Beim Erkenntnisfortschritt der<br />
Naturwissenschaften wurden hier Abgrenzungen und Klarstellungen von naturwissenschaftlicher<br />
und z.B. theologischer Aussage notwendig und vorgenommen. (Schöpfung,<br />
Erde im Zentrum <strong>des</strong> Kosmos, Körper/Seele)<br />
Es gibt Begriffe, die <strong>in</strong> den Naturwissenschaften und <strong>in</strong> der Theologie (und <strong>in</strong> anderen<br />
Geisteswissenschaften) benutzt werden, als ob ihre Bedeutungen identisch wären. Die<br />
Diskussion der Reichweite und Bedeutung der jeweiligen Begriffe <strong>in</strong> ihrem Bezugsrahmen<br />
dient der Klärung von Missverständnissen und der Schaffung von E<strong>in</strong>sichten. Dies ist das<br />
Feld <strong>des</strong> Dialoges zwischen der Theologie und den Naturwissenschaften (Begriffe wie:<br />
Zufall, Wirklichkeit, Zeit, Wahrheit, Kausalität, Gesetz, usw.)<br />
Neben der Welterfassung gibt es immer die Frage nach dem S<strong>in</strong>n <strong>des</strong> Lebens <strong>in</strong> jedem<br />
Menschen, wenn man akzeptiert, dass es ke<strong>in</strong>en areligiösen Menschen gibt. Diese<br />
Trennl<strong>in</strong>ie zwischen Denken <strong>in</strong> dem wissenschaftlichen Bereich und dem emotionalen<br />
Wirklichkeitsverständnis tritt nicht immer klar zu Tage und existiert Seite an Seite.<br />
E<strong>in</strong>e Vermischung zwischen Naturwissenschaft und Glauben passiert zwar immer, denn<br />
selbstverständlich gleicht jeder Mensch, bewusst oder unbewusst, se<strong>in</strong> Welt- und se<strong>in</strong><br />
Gottesbild, aufe<strong>in</strong>ander ab. So besteht nicht nur die Gefahr von Vermischung, ne<strong>in</strong>: e<strong>in</strong><br />
bestimmter Grad von Vermischung ist gar nicht zu vermeiden.<br />
Denn der Biologe denkt wie andere Wissenschaftler selbstverständlich auch über se<strong>in</strong><br />
Fachgebiet h<strong>in</strong>aus über die Voraussetzungen nach, die h<strong>in</strong>ter dem Wissen se<strong>in</strong>es Faches<br />
liegen.<br />
Jede Naturwissenschaft hat e<strong>in</strong>e Wertebasis, Werte also die für ihr Forschen maßgeblich<br />
s<strong>in</strong>d. Besonders deutlich wurde dies <strong>in</strong> der Atomphysik, als klar wurde, welche Folgen für<br />
die Menschheit daraus resultieren können (Atombombe, zerstörerische Radioaktivität,<br />
positiv Stromgew<strong>in</strong>nung). Hier ist die Verb<strong>in</strong>dung der Naturwissenschaft zur Theologie<br />
unbed<strong>in</strong>gt gegeben, weil, ob gewollt oder nicht, Verantwortung für sich und andere<br />
übernommen werden muß<br />
Und der Theologe denkt selbstverständlich auch über se<strong>in</strong> Fachgebiet h<strong>in</strong>aus die D<strong>in</strong>ge<br />
mit, die h<strong>in</strong>ter den <strong>Glaubens</strong>-Inhalten se<strong>in</strong>es Faches liegen.<br />
Bei<strong>des</strong> muss erlaubt bleiben, ohne dass es als Legitimation für Spekulationen mit<br />
Gültigkeits- oder Wahrheitsanspruch dienen darf.<br />
Wenn Theologen jenseits ihres Fachgebiets <strong>in</strong> der Naturwissenschaft nach Beweisen für<br />
ihre Vorstellungen suchen und diese Beweise entweder über Analogien oder über<br />
hypothetische Behauptungen oder über bei<strong>des</strong> konstruieren, kann der Verdacht<br />
entstehen, dass sie dies tun, um ihre Nicht-Naturwissenschaft wissenschaftlich aussehen<br />
zu lassen.<br />
Gibt es e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>wirken Gottes auf das Weltgeschehen?<br />
Zurück zum Inhaltsverzeichnis<br />
18
Die Physik denkt <strong>in</strong> nachweisbaren Ursachen und Wirkungen. Die Ursachen bewirken<br />
gemäß den Naturgesetzen die Wirkungen, und die Wirkungen lassen sich zurückführen<br />
auf Ursachen. Dass das immer so se<strong>in</strong> muss, kann nicht bewiesen werden, entspricht<br />
aber der Erfahrung und behält se<strong>in</strong>e Gültigkeit bis zum Auftreten e<strong>in</strong>er Wirkung ohne<br />
Ursache. Somit glauben die Physiker an dieses Wechselwirkungspr<strong>in</strong>zip. Auf Grund<br />
dieses „<strong>Glaubens</strong>“ s<strong>in</strong>d sie nicht bereit, e<strong>in</strong>e Wirkung, deren Ursache sie nicht kennen, als<br />
Wirkung ohne Ursache anzuerkennen oder e<strong>in</strong>en nicht physikalischen Wirkgrund, wie e<strong>in</strong><br />
E<strong>in</strong>greifen Gottes, zu akzeptieren. Dies würde sie <strong>in</strong> ihrer Erforschung der Welt nicht<br />
weiter br<strong>in</strong>gen.<br />
H<strong>in</strong>gegen hat der „Glaube“ an die allgeme<strong>in</strong>e Gültigkeit <strong>des</strong> Wechselwirkungspr<strong>in</strong>zips e<strong>in</strong>e<br />
Vielzahl von neuen Erkenntnissen gebracht.<br />
Der Naturwissenschaftler Jürgen Schnackenberg hält e<strong>in</strong> Gottesbild, das die Vorstellung<br />
e<strong>in</strong>es von außen auf unsere Welt e<strong>in</strong>wirkenden Gottes enthält, für unvere<strong>in</strong>bar mit dem<br />
Wechselwirkungspr<strong>in</strong>zip, also mit e<strong>in</strong>er elementaren, bis jetzt empirisch zweifelsfrei<br />
begründeten physikalischen Aussage. „Wer dennoch e<strong>in</strong> solches, traditionelles Gottesbild<br />
zu e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>tegralen Bestandteil <strong>des</strong> christlichen <strong>Glaubens</strong> erklärt, nötigt damit die ohneh<strong>in</strong><br />
kle<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit von Naturwissenschaftlern, die sich überhaupt noch zu e<strong>in</strong>em<br />
christlichen Glauben bekennen, ihren Glauben aufzugeben oder ihr Bewusstse<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />
christlichen und e<strong>in</strong>en wissenschaftlichen Teil zu spalten oder gar e<strong>in</strong>e elementare<br />
Aussage ihrer eigenen Wissenschaft nicht mehr ernst zu nehmen.“<br />
„Die bescheidene, aber präzise Antwort <strong>des</strong> Physikers auf die Frage <strong>in</strong> der Überschrift<br />
dieses Abschnitts lautet also: Ne<strong>in</strong>! Mit dem Zusatz. Dieses Ne<strong>in</strong> gilt, es sei denn, wir<br />
könnten das Wirken Gottes im Experiment objektiv und reproduzierbar nachweisen.“<br />
Im übertragenen S<strong>in</strong>ne <strong>des</strong> Wortes „E<strong>in</strong>wirken“ gibt es gar vielfältige Möglichkeiten, das<br />
Verhältnis Gottes zur Welt zu beschreiben. Der Physiker Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> war von der<br />
E<strong>in</strong>fachheit der die Natur beschreibenden Gesetze überzeugt, denn Gott, der die Welt<br />
erschaffen hat, sei e<strong>in</strong> großer Physiker. „Gott würfelt nicht.“ Diese Gottesüberzeugungen<br />
haben se<strong>in</strong>e Forschung beflügelt und auch gehemmt.<br />
Viele Menschen glauben wie Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> auf Grund ihrer Erfahrungen <strong>in</strong> dieser Welt,<br />
der Begegnung mit dem Nächsten, <strong>des</strong> Erlebens <strong>des</strong> Entstehens von neuem Leben, der<br />
Vielfalt der entstehenden Gedanken und durchlebten Emotionen, dass Gott die Welt<br />
erhält.<br />
Die Antwort dieser Menschen auf die Frage <strong>in</strong> der Überschrift lautet „Ja. Ich erlebe immer<br />
wieder, dass ich mich im Glauben an das Wirken Gottes beschützt und geborgen fühle.<br />
Für mich ist dies e<strong>in</strong>e Gewissheit.“<br />
Leider kann diese subjektive Gewissheit nicht so objektiviert werden, dass sie im Pr<strong>in</strong>zip<br />
für jedermann/jedefrau, zu jeder Zeit, an jedem Ort im Großen oder Kle<strong>in</strong>en<br />
nachempfunden werden könnte. Der Glaube bleibt e<strong>in</strong> Geschenk, das man sich weder<br />
erarbeiten, erkämpfen oder beschaffen, das man aber immer wieder erneut erbitten kann.<br />
(Aber wen man darum bittet, glaubt man ja doch schon....)<br />
Auch für den Theologen Hans Küng stellt sich (vgl. se<strong>in</strong> Buch „Was ich glaube“) auf dem<br />
H<strong>in</strong>tergrund se<strong>in</strong>er Kenntnis der Naturwissenschaften die Frage: Können wir <strong>in</strong> dieser Welt<br />
der Evolution überhaupt noch an Wunder durch E<strong>in</strong>greifen Gottes <strong>in</strong> den<br />
Geschehensablauf glauben? Die Bibel ist voll davon, von Anfang bis Ende. Wie br<strong>in</strong>ge ich<br />
diese Wundergeschichten mit dem streng kausalen Entwicklungsprozess zusammen,<br />
19
wenn da elementare Naturgesetze durch “Naturwunder” durchbrochen werden?<br />
H. Küng hat „selbstverständlich Verständnis dafür, dass auch heute noch Menschen, die<br />
von den Ergebnissen der Naturwissenschaft wenig berührt s<strong>in</strong>d, solche biblischen<br />
‚Naturwunder’, die den lückenlosen Kausalzusammenhang verletzen, wortwörtlich nehmen<br />
wollen. .... Doch aufgeklärte Gottgläubige brauchen Erzählungen von ‚Naturwundern’ nicht<br />
wörtlich zu nehmen oder gekünstelte naturwissenschaftliche Erklärungen dafür zu suchen.<br />
Schon die Ergebnisse der modernen Bibelwissenschaft bieten andere<br />
Verständnismöglichkeiten im übertragenen S<strong>in</strong>n. Wunder s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den Evangelien als<br />
Modellgeschichten für das Verhältnis von Jesus zu den Menschen und zur Welt erzählt.<br />
Diese Zeichen s<strong>in</strong>d heute im übertragenen S<strong>in</strong>n verständlich: so zum Beispiel die<br />
Wunderheilungen als gelebte Nächstenliebe oder die Auferstehung Jesu als Beg<strong>in</strong>n und<br />
Ersche<strong>in</strong>ungsform se<strong>in</strong>es Weiterwirkens nach se<strong>in</strong>em Tod bis heute (was ja auch nicht<br />
weniger als e<strong>in</strong> „Wunder“ ist!).<br />
L<strong>in</strong>k zum Download der Stellungnahme <strong>des</strong> theol Arbeitskreises zu Hans Küngs<br />
Gottesverständnis<br />
H.R. Stadelmann schreibt zu den Wundergeschichten <strong>in</strong> der Bibel: „Im Neuen Testament<br />
werden Erlösungserfahrungen der Jünger und der urchristlichen Geme<strong>in</strong>de häufig <strong>in</strong> Form<br />
von Wundergeschichten weitergegeben. Dass es sich bei solchen Wundern oder Zeichen<br />
nicht um Ereignisse handelte, <strong>in</strong> denen Jesus unter Zuhilfenahme übernatürlicher<br />
Fähigkeiten Naturgesetze außer Kraft setzte, versteht sich im evolutionären Welt- und<br />
Gottesbild von selbst. Die Menschen der damaligen Zeit dachten aber nicht<br />
naturwissenschaftlich und kannten auch ke<strong>in</strong>e Naturgesetze im heutigen S<strong>in</strong>n, sondern<br />
erklärten ihre Erfahrungen im Rahmen <strong>des</strong> herrschenden dualistischen Weltbilds: Je<strong>des</strong><br />
Geschehen, auch je<strong>des</strong> Naturgeschehen, wurde entweder der Macht Gottes oder e<strong>in</strong>er<br />
bösen dämonischen Macht zugeschrieben. In der ganzen antiken Welt waren<br />
Dämonenglaube und Dämonenfurcht weit verbreitet, so dass gerade Geschichten über<br />
Dämonenaustreibungen den ersten Christen besonders geeignet erschienen, um ihre zum<br />
Leben befreienden Erfahrungen mit Jesus bildhaft <strong>in</strong> Worte zu kleiden und sie den <strong>in</strong> jener<br />
Zeit ohneh<strong>in</strong> auf Wunder aller Art begierigen Mitmenschen weiterzugeben. Die zu<br />
Wundergeschichten überhöhten und verklärten Erfahrungen sollten also zum Glauben an<br />
den „Gottessohn" aufrufen. Dies gilt auch für die mit Sicherheit unhistorischen<br />
Naturwunder Jesu, wie die Stillung e<strong>in</strong>es Seesturms oder die Verwandlung von Wasser <strong>in</strong><br />
We<strong>in</strong>.“<br />
Kann Gott <strong>in</strong> der Zukunft wirken?<br />
Die Physik kann nur über Vergangenes berichten. Da gibt es Erklärtes und Unerklärtes.<br />
Göttliches kommt nicht vor, weder im Experiment noch <strong>in</strong> der Theorie. Die Physik ist frei<br />
von Theologie. Der Erkenntnisweg der Physik hat aber die Begrifflichkeit der Kausalität<br />
e<strong>in</strong>geführt, die die offene Zeit voraussetzt. Was <strong>in</strong> dieser offenen Zeit passieren kann,<br />
darüber kann die Physik ke<strong>in</strong>e Aussage machen. Der Theologe sieht hier aber deutliche<br />
H<strong>in</strong>weise auf ihr Welt- und Gottesverständnis und auf die Offenbarungsschriften. Im<br />
Vertrauen auf Gottes Wirken und se<strong>in</strong>er Gegenwart wendet sich der Beter an ihn mit der<br />
Bitte, das Beste für sie/ihn zu schaffen, ihr/ihm zu neuen Möglichkeiten und E<strong>in</strong>sichten zu<br />
verhelfen und ihn schützend zu begleiten. Dies sollte nicht als e<strong>in</strong> Gottesbeweis<br />
missverstanden werden, sondern als Verdeutlichung, dass es zwischen<br />
20
Naturwissenschaften und Religion ke<strong>in</strong>en Widerspruch gibt. Sie vertreten zwei<br />
unterschiedliche Erkenntniswege e<strong>in</strong>er Wirklichkeit. Zwei Wege, die sich hier im Zeitbegriff<br />
begegnen.<br />
Nach neueren theologischen Auffassungen war Gott als „Schöpfer“ nicht nur am Anfang<br />
<strong>des</strong> Kosmos (als Auslöser <strong>des</strong> „Urknalls“) aktiv, sondern er ist dies dauernd <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
„creatio cont<strong>in</strong>ua“ als Schöpfer von Neuem und Erhaltes <strong>des</strong> Bestehenden. Stadelmann<br />
spricht z.B. von Gott als e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wirksamen<br />
„Weltgeist“, <strong>des</strong>sen Möglichkeiten nicht im Widerspruch zu naturwissenschaftlichem<br />
Verständnis stehen.<br />
Fügung oder Zufall?<br />
In der Physik ist der „Zufall“ e<strong>in</strong> Ereignis, das e<strong>in</strong>treten kann, weil die Randbed<strong>in</strong>gungen<br />
nicht h<strong>in</strong>reichend eng gewählt oder bestimmt worden s<strong>in</strong>d. Die hochgeworfene Münze fällt<br />
auf „Wappen oder Zahl“, wenn der Wurf diese Möglichkeiten zulässt. Man möchte z.B.<br />
durch e<strong>in</strong>e Zufallsentscheidung die Platzwahl am Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>es Fußballspiels treffen.<br />
Wenn ich aber die Versuchsbed<strong>in</strong>gungen so wähle, dass die Münze immer nur auf e<strong>in</strong>e<br />
Seite fallen kann, dann ist der Zufall weg. Auch der experimentelle Aufbau entscheidet<br />
z.B. über die Ersche<strong>in</strong>ungsform <strong>des</strong> Lichtes als Welle oder Korpuskel.<br />
Den Begriff der Fügung gibt es <strong>in</strong> der Physik nicht, wohl aber <strong>in</strong> der Religion. Wenn<br />
Ereignisse, die an sich unabhängig von e<strong>in</strong>ander s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>nzusammenhang<br />
gebracht werden oder als auf e<strong>in</strong> Ziel gerichtet e<strong>in</strong>geordnet werden, dann spricht man von<br />
Fügung. Fügung passiert nicht objektiv, sie wird subjektiv entdeckt und entspricht e<strong>in</strong>em<br />
Deutungszusammenhang, der auf Gottes E<strong>in</strong>greifen bezogen se<strong>in</strong> kann.<br />
5. Religion und Naturwissenschaft im Licht der modernen Physik.<br />
Zurück zum Inhaltsverzeichnis<br />
Wenn Rationalität gründlich und adäquat analysiert wird, werden sich<br />
Naturwissenschaftler und Theologen als Partner <strong>in</strong> der Suche nach Verstehen erweisen.<br />
Die immer weiter gehende Suche nach der Wahrheit der Wirklichkeit ist letzten En<strong>des</strong> die<br />
Suche nach Gott. Zu dieser E<strong>in</strong>schätzung gelangt der britische Physiker und Theologe<br />
John Polk<strong>in</strong>ghorne, und er liefert dafür zahlreiche Beispiele aus der Physik und Theologie.<br />
Ihm kommt es darauf an, dass sich Analogien zwischen der Entwicklungsgeschichte<br />
physikalischer Theorien und theologischen Aussagen aufstellen lassen. Er weicht dabei<br />
auch so schwierigen Fragen nicht aus wie „Können ‚Wunder’ als Ereignisse e<strong>in</strong>es<br />
E<strong>in</strong>greifens <strong>in</strong> den von Gott selbst geschaffenen Kausalzusammenhang gelten?“. Manche<br />
Physiker und Theologen übernehmen aus der Quantentheorie e<strong>in</strong> neues Verständnis der<br />
Wirklichkeit, <strong>in</strong>dem <strong>in</strong> der subatomaren Dimension nicht mehr von e<strong>in</strong>er Summe von<br />
mechanisch bee<strong>in</strong>flussbaren Teilchen ausgegangen wird, sondern von e<strong>in</strong>er totalen<br />
Ganzheit von Beziehungen. Diese neuen Deutungen haben zu der Frage geführt, ob dem<br />
Verständnis der Gott-Welt-Beziehung im Unterschied zu e<strong>in</strong>em naturalistischen<br />
Materialismus nicht auch Gedanken e<strong>in</strong>er philosophischen Theologie mit<br />
naturwissenschaftlichen Analogien zugrunde zu legen wären, (wie das bei Autoren wie<br />
21
H.P. Dürr, H. Primas, Whitehead, Zeil<strong>in</strong>ger und H.R. Stadelmann ankl<strong>in</strong>gt, auf die im<br />
Nachfolgenden kurz e<strong>in</strong>gegangen wird.)<br />
Mit dem Verhältnis von Erkenntnissen der modernen Physik zu der Frage nach Gottes<br />
Wirken <strong>in</strong> der Welt hat sich der britische Physiker und Theologe John Polk<strong>in</strong>ghorne<br />
befasst, zu <strong>des</strong>sen Gedanken der theol. Arbeitskreis der <strong>Evangelische</strong>n <strong>Akademikerschaft</strong><br />
e<strong>in</strong>e ausführliche Stellungnahme veröffentlicht hat. (www.evangelischeakademiker.de/publikationen)<br />
Für Polk<strong>in</strong>ghorne gilt als Fazit:<br />
Wenn die Realität gründlich und adäquat analysiert wird, dann wird unser Wissen von ihr<br />
sich als e<strong>in</strong>heitlich herausstellen. Wenn Rationalität gründlich und adäquat analysiert wird,<br />
werden sich Naturwissenschaftler und Theologen als Partner <strong>in</strong> der Suche nach<br />
Verstehen erweisen.<br />
Die letztliche Integrität und E<strong>in</strong>heit allen Wissens erlaubt es und fordert dazu heraus,<br />
e<strong>in</strong>en realistischen Standpunkt über die Naturwissenschaften h<strong>in</strong>aus auszuweiten, um mit<br />
vielen anderen Forschungsfeldern auch die theologische Reflexion unserer Begegnung<br />
mit dem Göttlichen e<strong>in</strong>zuschließen. Die immer weiter gehende Suche nach der Wahrheit<br />
der Wirklichkeit ist letzten En<strong>des</strong> (theologisch gesehen) die Suche nach Gott.<br />
Theologie und Naturwissenschaft können jede auf ihre Weise verkünden, dass man e<strong>in</strong><br />
wahrheitsgemäßes Verständnis der Realität gew<strong>in</strong>nen kann, das letzten En<strong>des</strong> nicht durch<br />
logische Demonstration, sondern durch unsere kreativen Intuitionen geschaffen wird.<br />
Gesucht wird der metaphysische Ansatz, der mit gleichem Ernst sowohl den mentalen als<br />
auch den materiellen Pol <strong>des</strong> Se<strong>in</strong>s – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em „komplementären“ Verständnis e<strong>in</strong>er<br />
e<strong>in</strong>zigen Realität – aufgreift. Wenn dies als Spekulation ersche<strong>in</strong>t, so mangelt es ihr doch<br />
nicht an Begründung.<br />
Polk<strong>in</strong>ghorne stellt <strong>in</strong> Abrede, dass die Theologie e<strong>in</strong>e ganz andere Art von Theoretizität<br />
aufzuweisen habe wie die Naturwissenschaft, weil ihr Gegenstand e<strong>in</strong> ganz anderer sei.<br />
(Wobei die Physik im Übrigen durchaus e<strong>in</strong>e andere Form der Theoretizität, nämlich der<br />
mathematischen, zugrunde legt, als etwa die Chemie und die neue Leitwissenschaft der<br />
Biologie)..<br />
Es kommt ihm auf den Erweis an, dass wir uns fundamental gleicher Denkweisen<br />
bedienen müssen, wenn wir über göttliche und weltliche D<strong>in</strong>ge reden. Konzepte mit hoher<br />
Erklärungskraft weisen e<strong>in</strong>en ontologischen Bezug auf, gleich ob sie sich auf sichtbare<br />
oder unsichtbare Entitäten beziehen, auf „Quarks, Gluonen oder Gott“. Ihre Existenz bildet<br />
die Basis dafür, dass wir verstehen können, was vor sich geht. Ihm kommt es darauf an,<br />
dass sich nach dem Gesagten Analogien zwischen der Entwicklungsgeschichte<br />
physikalischer Theorien und theologischen Aussagen aufstellen lassen.<br />
Ihm geht es um die Analogie zwischen Physik und Theologie. Wissenschaftstheoretisch<br />
gesprochen, gibt es <strong>in</strong> beiden Bereichen Momente radikaler Revision, <strong>in</strong> denen<br />
Erkenntnisse der Vergangenheit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en neuen <strong>in</strong>tellektuellen Zusammenhang gestellt<br />
werden.<br />
22
Das alte Verständnis wird „transzendiert“. Die ungelösten Probleme der neuen Theorie<br />
verlangen nach e<strong>in</strong>em fortgesetzten R<strong>in</strong>gen um e<strong>in</strong> umfassen<strong>des</strong> Verständnis. Dies führt<br />
wiederum zu Implikationen, die bei der Formulierung der neuen Theorie überhaupt nicht<br />
zu erwarten waren.<br />
In der christlichen Theologie sieht Polk<strong>in</strong>ghorne diese „Theoriendynamik“ <strong>in</strong> den Lehren<br />
von der wesentlichen Göttlichkeit Jesu und se<strong>in</strong>er Auferweckung und Erhöhung<br />
exemplifiziert.<br />
Auch das traditionelle christliche Gottesbild ist für ihn durch rationale Reflexion<br />
entstanden.<br />
Sehr ernst nimmt Polk<strong>in</strong>ghorne aber die Frage, ob es <strong>in</strong>tellektuell redlich se<strong>in</strong> kann, vom<br />
Handeln Gottes <strong>in</strong> der Welt zu sprechen, angesichts der Aussagen der<br />
Naturwissenschaften über die gesetzmäßige Entwicklung der Welt. Können etwa Wunder<br />
als Ereignisse e<strong>in</strong>es solchen E<strong>in</strong>greifens <strong>in</strong> den von Gott selbst geschaffenen<br />
Kausalzusammenhang gelten?<br />
Nach se<strong>in</strong>em Ergebnis ist jedenfalls die christliche Überzeugung gerechtfertigt, dass Gott<br />
den D<strong>in</strong>gen nicht e<strong>in</strong>fach ihren Lauf lassen muss.<br />
Schon unser Gebrauch personaler Sprache im Reden von Gott zeigt an, dass wir ihn nicht<br />
für <strong>in</strong>different halten, dass er kategorial etwas anderes repräsentiert als etwa das Gesetz<br />
der Schwerkraft, dass er auch etwas anderes ist als der deistische Erhalter.<br />
Hypothetisch nimmt Polk<strong>in</strong>ghornes Gottesverständnis se<strong>in</strong>en Ausgang von der Existenz<br />
theoretisch begründeter Unvorhersagbarkeiten <strong>in</strong> der Welt. Doch bezieht er sich dabei<br />
nicht auf die Quantentheorie. Mit der Unschärfe ihrer Ereignisse bildet diese e<strong>in</strong>en<br />
populären Anknüpfungspunkt dafür. Aber atomare und subatomare, quantentheoretisch<br />
gedeutete Ereignisse sche<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>fach nicht der geeignete Anknüpfungspunkt für<br />
holistische Kausalität, weil der zugrundeliegende Prozess e<strong>in</strong>e Offenheit auf der Ebene<br />
der klassischen Physik makroskopischer Phänomene generieren muss. Wir verstehen<br />
aber bis heute nicht h<strong>in</strong>reichend, wie die Ebenen der Mikrowelt und der Makrowelt<br />
<strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander greifen. (Die ungelöste Schwierigkeit liegt vor allem dar<strong>in</strong>, dass die Abgrenzung<br />
der Quantenwelt von der Welt der klassischen Physik nicht e<strong>in</strong>deutig an e<strong>in</strong>en<br />
Größenmaßstab gebunden ist. Heute gel<strong>in</strong>gt es etwa, Quantenphänomene an<br />
Vielteilchensystemen nachzuweisen, die man bereits der Makrowelt zuordnen kann,<br />
während andrerseits selbst e<strong>in</strong>zelne Atome <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise manipuliert werden können, als<br />
wären sie der durch die klassische Physik beschreibbaren Welt zuzuordnen).<br />
Polk<strong>in</strong>ghorne hält dementsprechend nach makroskopischen Phänomenen Ausschau, die<br />
als „kausale Fugen“, als E<strong>in</strong>griffsstellen für außernatürliches Wirken <strong>in</strong> die lückenlosen<br />
Kausalketten der natürlichen Abläufe gelten könnten.<br />
So können etwa <strong>in</strong> den sogenannten dissipativen Systemen kle<strong>in</strong>e Auslöser weitreichende<br />
Muster hervorbr<strong>in</strong>gen. Auf diese Weise entstehen im Reich <strong>des</strong> Lebendigen haltbare<br />
Strukturen, wenn den offenen Systemen der Organismen Energie zugeführt wird, die<br />
ihnen erlaubt, „gegen die Entropieflut anzuschwimmen“. Doch bleiben für Polk<strong>in</strong>ghorne<br />
Zweifel, ob solche Systeme Beispiele für e<strong>in</strong> „von oben nach unten“ (top-down)<br />
gerichtetes Wirken s<strong>in</strong>d.<br />
23
Er wendet sich <strong>des</strong>halb den sogenannten „chaotischen Systemen“ zu, die den<br />
überwiegenden Teil der natürlichen Abläufe beherrschen. Sie s<strong>in</strong>d von Karl Popper als<br />
e<strong>in</strong>em der ersten im Bild von „Wolken und Uhren“ charakterisiert worden. Es stellt sehr<br />
anschaulich vor Augen, dass „wolkige“ Systeme im Unterschied zu „uhrwerksmäßigen“<br />
sich ihrem Wesen nach unvorhersagbar verhalten. Nicht, weil wir zu wenig über sie<br />
wissen, sondern weil sie gleichsam auf der Kippe stehen, von wo aus sie sich bei<br />
ger<strong>in</strong>gfügigstem Anlass <strong>in</strong> die e<strong>in</strong>e oder andere Richtung , aber nicht <strong>in</strong> jede beliebige,<br />
entwickeln können. (Die E<strong>in</strong>schränkung der Beliebigkeit rührt daher, dass diese Systeme,<br />
<strong>in</strong> der Formulierung der Chaostheorie, nur den Raum ihres jeweiligen „seltsamen<br />
Attraktors“ durchqueren können. Dieser repräsentiert die Fülle aller möglichen Zustände<br />
<strong>des</strong> Systems, die derselben totalen Energie korrespondieren).<br />
Entscheidend ist nach Polk<strong>in</strong>ghorne für diesen Gedankengang, dass zwischen dem, was<br />
wir von den D<strong>in</strong>gen wissen (Epistemologie) und dem, was sie s<strong>in</strong>d (Ontologie) e<strong>in</strong><br />
logischer Zusammenhang besteht, dass sich also epistemologische Unschärfe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
kritisch-realistischen Interpretation als ontologische Offenheit verstehen lässt. Dann kann<br />
e<strong>in</strong> neues kausales Pr<strong>in</strong>zip die künftige Entwicklung bestimmen.<br />
Und das ist ke<strong>in</strong>e neue Art energetischer Kausalität. Der Energiehaushalt <strong>des</strong> Systems<br />
bleibt unbetroffen. Bee<strong>in</strong>flusst werden nur die Muster der sich entfaltenden dynamischen<br />
Entwicklung. Das aber kann nach Polk<strong>in</strong>ghorne e<strong>in</strong>em Verständnis „göttlichen Handelns<br />
von oben durch aktive Information“ korrespondieren.<br />
Diese Offenheit <strong>des</strong> Weltprozesses bedeutet auch, dass nicht e<strong>in</strong>mal Gott die Zukunft<br />
vorauswissen kann, weil er e<strong>in</strong>e offene Welt im Werden schuf. E<strong>in</strong> deutlicher Unterschied<br />
zum Bild <strong>des</strong> klassischen Theismus.<br />
Dieser metaphysische Ansatz erfasst mit gleichem Ernst sowohl den mentalen/geistigen<br />
als auch den naturalen Pol <strong>des</strong> Se<strong>in</strong>s, beide verstanden als komplementäre Bestandteile<br />
e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Realität. Er berücksichtigt nun noch nicht die dramatische Entwicklung der<br />
Forschung der letzten Jahrzehnte unter den Stichworten der quantenphysikalischen<br />
„Verschränkung“ (entanglement). Polk<strong>in</strong>ghorne nimmt auf sie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em 1998<br />
erschienenen Werk „Belief <strong>in</strong> Gold <strong>in</strong> an Age of Sciences“, das den Diskussionen im<br />
Arbeitskreis zugrunde lag, ausdrücklich ke<strong>in</strong>en Bezug. Heute sche<strong>in</strong>t dies unumgänglich,<br />
wenn man auf dem Stand argumentieren will, den die Wissenschaft seit der immer noch<br />
umstrittenen Kopenhagener Deutung <strong>des</strong> Welle-Teilchen-Dualismus der<br />
Quantenmechanik erreicht hat. Dieser ist ke<strong>in</strong>eswegs mehr die e<strong>in</strong>zige Zumutung der<br />
Quantentheorie an unseren Verstand.<br />
Im Mittelpunkt der Diskussion steht jetzt die „Nichtlokalität der Welt“, die sich aus der<br />
realistischen Deutung <strong>des</strong> sogenannten EPR(E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>-Podolsky-Rosen)-Paradoxes von<br />
1935 ergibt, der „spukhaften Fernwirkung“ zwischen verschränkten Elementarteilchen.<br />
Die Experimente seit den 60er Jahren haben gezeigt, dass diese Phänomene, ersonnen<br />
als Gedankenexperiment zum Nachweis der Unvollständigkeit der Quantenmechanik, <strong>in</strong><br />
der Realität fundiert s<strong>in</strong>d.<br />
24
Denn die materielle Welt lässt sich heute nicht mehr als e<strong>in</strong>e Summe von Teilen, sondern<br />
nur noch als e<strong>in</strong> Ganzes begreifen, <strong>in</strong> dem alles mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> Wechselbeziehung steht.<br />
Moleküle, Atome, Elektronen Quarks oder Str<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d nicht eigenständige Bauste<strong>in</strong>e der<br />
Materie, sondern existieren nur dank ihrer Wechselwirkung mit der Umgebung.<br />
Anton Zeil<strong>in</strong>ger (e<strong>in</strong>er der führenden Physiker auf dem Gebiet der<br />
„Quantenverschränkung) hat mit se<strong>in</strong>em Team, parallel zu anderen Forschergruppen,<br />
den experimentellen Nachweis für die Verschränkung von Photonen erbracht, zuletzt <strong>in</strong><br />
Freilandversuchen auf den Kanarischen Inseln, <strong>in</strong> denen die Eigenschaften von<br />
Lichtquanten über mehr als 140 km teleportiert wurden. Man spricht bereits davon, dass<br />
damit der Weg <strong>in</strong> die praktische Anwendung der „Quantenkryptographie“ offenstehe. Das<br />
könnte bedeuten, dass das von den meisten Physikern verfolgte Standardmodell der<br />
Kosmologie nicht ohne weiteres mit e<strong>in</strong>er holistischen-nichtlokalen Weltvorstellung<br />
vere<strong>in</strong>bar ist. Und wir können andererseits nach der Erkenntnistragweite solcher<br />
unterschiedlichen theoretischen Befunde fragen, statt uns umstandslos dem<br />
Welterklärungsmonopol e<strong>in</strong>er für homogen gehaltenen Naturwissenschaft zu unterwerfen.<br />
Denn offenbar muss man davon reden, dass die Quantenphysik nicht nur das<br />
mechanistische Weltbild überwunden hat, sondern auch die Grenzen e<strong>in</strong>er materialistisch<br />
<strong>in</strong>terpretierten Vielkörper-Welt überschreitet.<br />
Wie der Physiker H.-P. Dürr <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch „Das Lebendige lebendiger werden lassen“<br />
darlegt, war und ist das Weltbild der klassischen Physik, <strong>des</strong>sen Fundamente durch<br />
Galilei, Descartes und Newton gelegt wurden, mechanistisch, e<strong>in</strong>e Welt unabhängiger<br />
Objekte. Die Inhalte dieser Welt s<strong>in</strong>d begreifbar im doppelten S<strong>in</strong>n. Im Denken s<strong>in</strong>d sie<br />
durch Begriffe deutbar. Und diese Natur ist stofflich, materiell. Man kann sie zerlegen,<br />
ohne dass ihre materiellen Eigenschaften verloren gehen. Man konnte also die re<strong>in</strong>e<br />
Materie, das Unteilbare, das Atom suchen, das im Lauf der Zeit immer mit sich selber<br />
identisch bleibt. Diese zeitliche Kont<strong>in</strong>uität der Materie gewährleistete die Kont<strong>in</strong>uität der<br />
Welt. Veränderung entstand aus der Umordnung der kle<strong>in</strong>sten Teile. (Das war schon die<br />
große Denkleistung Demokrits gewesen, die zwischen der permanenten Veränderlichkeit<br />
Heraklits und dem ewig und unveränderlich E<strong>in</strong>en <strong>des</strong> Parmeni<strong>des</strong> vermitteln wollte).<br />
Diese Physik war <strong>in</strong> ihrer Anwendung auf die Welt äußerst erfolgreich. In ihrem Weltbild<br />
gilt Materie als das Grundlegende, die Form ist e<strong>in</strong>e aus ihrer Anordnung abgeleitete<br />
Eigenschaft. Ihre kle<strong>in</strong>sten Teile, die Atome, sollten formlose Materie se<strong>in</strong>. Weil wir gelernt<br />
haben, dass sie sich noch weiter <strong>in</strong> „Elementarteilchen“ zerlegen lassen, verdichtet sich<br />
der Verdacht, dass damit noch ke<strong>in</strong> Ende erreicht ist und auch nicht erreicht werden kann.<br />
Zum Ende kommen wir aber auf ganz unerwartete Weise: In der Erwartung kle<strong>in</strong>ster,<br />
gestaltloser, re<strong>in</strong>er Materie bleibt am Ende nichts mehr übrig, was an Materie er<strong>in</strong>nert. Im<br />
Grunde gibt es nur den Geist. Die Physik sagt nunmehr: Materie ist nicht aus Materie<br />
aufgebaut.<br />
Am Schluss ist ke<strong>in</strong> Stoff mehr, nur noch Form, Gestalt, Symmetrie, Beziehung.<br />
Das heißt aber auch, die moderne Physik ist für unsere Sprache gar nicht geschaffen. Wie<br />
e<strong>in</strong>e Analogie zum gläubigen Reden von den göttlichen D<strong>in</strong>gen mutet an, was Heisenberg<br />
25
festgestellt hat: Die QT ist e<strong>in</strong> wunderbares Beispiel dafür, dass man e<strong>in</strong>en Sachverhalt <strong>in</strong><br />
völliger Klarheit verstanden haben kann und gleichzeitig doch weiß, dass man nur <strong>in</strong><br />
Bildern und Gleichnissen von ihm reden kann.<br />
Die Physiker aber erzielen die Genauigkeit e<strong>in</strong>es Verständnisses von nicht unmittelbar<br />
Vorstellbarem durch höhere Abstraktion und mit der flexibleren Sprache der Mathematik.<br />
Die Weiterung dieser Gedanken führt bei Dürr dah<strong>in</strong>, dass es nur das geistig Lebendige<br />
gibt, nur Wandel, Veränderung, Operationen, Prozesse. In jedem Augenblick wird die Welt<br />
neu geschaffen, jedoch im Erwartungsfeld der ständig abtretenden Welt. Darum bleibt uns<br />
auch die Zukunft verschlossen. Sie existiert überhaupt nicht. Die gesamte alte Potentialität<br />
gebiert die neue und prägt dabei neue Realisierungen, ohne sie e<strong>in</strong>deutig festzulegen.<br />
Das ist nicht e<strong>in</strong>fach Entwicklung, Entfaltung. Noch nie Dagewesenes wird geschaffen, <strong>in</strong><br />
echter Kreation.<br />
Es gibt nur Gestaltveränderung, Metamorphose. Als offene Beziehungsstrukturen lassen<br />
sich solche Veränderungen nicht isolieren.<br />
Folgen wir Dürr und Zeil<strong>in</strong>ger et al., so ergibt sich e<strong>in</strong> „modernes Weltbild“, das zu ganz<br />
anderen Vorstellungen vom Gottesglauben führen wird, als wenn wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
naturalistischen Materialismus befangen bleiben.<br />
Auch die Physiker s<strong>in</strong>d freilich <strong>in</strong> der überwiegenden Mehrzahl bis heute bei der<br />
Beschreibung der materiellen Welt im Mikrokosmos, der Welt der Atome<br />
hängengeblieben. Das moderne Paradigma dieser Physik ist das sogen. Standardmodell.<br />
Deshalb sche<strong>in</strong>t die Frage wichtig, ob man sich auf Dürres folgenreiche Neudeutung der<br />
QT überhaupt e<strong>in</strong>lassen will.<br />
Denn wenn es Teilchen im alten S<strong>in</strong>n nicht mehr gibt, dann, wie Dürr ausführt, auch ke<strong>in</strong>e<br />
zeitlich mit sich selbst identischen Objekte, also auch ke<strong>in</strong>e zeitlich durchgängig<br />
existierende objekthafte Welt – dann kann man auch durch noch so genaues<br />
Faktensammeln die Zukunft nicht vorhersagen.<br />
Man öffnet durch die Beobachtung lediglich e<strong>in</strong> Erwartungsfeld von Möglichkeiten.<br />
Die Zukunft bleibt offen, wenn auch nicht beliebig und zufällig, weil sie noch durch<br />
Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>geengt ist, die mit den physikalischen Erhaltungssätzen<br />
zusammenhängen und aus den Symmetrieeigenschaften der Dynamik resultieren. Sie<br />
sorgen dafür, dass im Großen überhaupt die <strong>in</strong> der Physik verwendeten Kenngrößen<br />
erhalten bleiben.<br />
Das kann wie e<strong>in</strong> Teil der Antwort auf die Frage kl<strong>in</strong>gen, wie es denn um die auffallende<br />
Beständigkeit der uns handgreiflich entgegentretenden Welt bestellt ist, mit der Vielfalt und<br />
Dauerhaftigkeit ihrer Elemente, deren Manipulation den Wirkungsbereich der Chemie<br />
ausmacht und die auch die biologischen und neurologischen Wissenschaften wie<br />
selbstverständlich zugrundelegen, ohne nach ihrer „letztlichen Eigentlichkeit“ zu fragen.<br />
Dürres Ausführungen erwecken allerd<strong>in</strong>gs den E<strong>in</strong>druck, als werde das bisher nicht<br />
Begriffene, dass sich die Materie bei höchster Auflösung der Beobachtung entzieht und<br />
26
gleichsam verdunstet, nur <strong>in</strong> anderer Weise wortreich umschrieben, ohne dass sich für e<strong>in</strong><br />
ontologisches Verständnis Neues ergibt. Er zieht sich ansche<strong>in</strong>end auf die von der<br />
evolutionären Erkenntnistheorie bekannte Feststellung zurück, dass unser am<br />
Mesokosmos tra<strong>in</strong>iertes Gehirn nicht darauf programmiert ist, die QT zu verstehen. Der<br />
Anschluss <strong>des</strong> quantenmechanischen Mikrokosmos an die makroskopische Welt der<br />
klassischen Physik, den Polk<strong>in</strong>ghorne vermisst, bleibt letzten En<strong>des</strong> der Vermutung<br />
anheimgestellt.<br />
Die mikroskopische Naturgesetzlichkeit ist demnach so verfasst, dass makroskopisch die<br />
uns bekannten Naturgesetze ersche<strong>in</strong>en. Es sieht dann so aus als hätten wir das<br />
Kausalgesetz und als sei die Zukunft von daher aus der Vergangenheit determ<strong>in</strong>iert. Dann<br />
formiert sich auch so etwas wie Materie, die sich teilen lässt und dabei Materie bleibt.<br />
Wenn diese Ausführungen als zu weit über die ursprünglich vom Arbeitskreis anvisierte<br />
Thematik h<strong>in</strong>auszuweisen sche<strong>in</strong>en, so kann „Im Herzen der Materie – Glaube im Zeitalter<br />
der Naturwissenschaften“ (WBG, Darmstadt) von Hans-Rudolf Stadelmann, <strong>in</strong> gewisser<br />
Weise auf die ursprünglichen Intentionen zurückführen.<br />
Stadelmann hat als Atomphysiker gearbeitet und ist nach dem Studium der evangelischen<br />
Theologie Geme<strong>in</strong>depfarrer <strong>in</strong> der Schweiz geworden.<br />
Im Zentrum se<strong>in</strong>er Betrachtungen stehen e<strong>in</strong> evolutionäres Weltbild und daran<br />
anknüpfende Überlegungen zur evolutionären Erkenntnistheorie.<br />
Was er e<strong>in</strong>leitend (gleichsam als „Kroeger light“) über die Defizite kirchlicher Verkündigung<br />
auf der Grundlage e<strong>in</strong>es antiquierten Weltbilds und über die Auswirkungen auf<br />
Kirchenb<strong>in</strong>dung und <strong>Glaubens</strong>treue sagt, geht über <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e schlüssige Darstellung <strong>des</strong><br />
Weltbilds der modernen, von der Quantenmechanik dom<strong>in</strong>ierten Physik.<br />
Nicht zu kurz kommt im Anschluss daran aus theologischer Sicht das, was wir „<strong>Kernfragen</strong><br />
<strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“ genannt haben, d.h. das , was angesichts <strong>des</strong> neuen Weltbil<strong>des</strong> vom<br />
christlichen <strong>Glaubens</strong>bestand bleibt und was fallen muss, also Fragen nach Jesus<br />
Christus, Schöpfung, Offenbarung, Erlösung usw..<br />
Stadelmann sche<strong>in</strong>t auch im Nachgang zu den Stellungnahmen <strong>des</strong> theol. Arbeitskreises<br />
<strong>in</strong>teressant, weil sich bei ihm die kontroversen Fragestellungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er evolutionären<br />
Deutung <strong>des</strong> Weltgeschehens zusammenf<strong>in</strong>den. Wer das alte Weltbild für<br />
dekonstruktionsreif hält, erhält ebenso e<strong>in</strong>e Antwort wie theistisch Denkende und<br />
Fühlende.<br />
Stadelmann bemüht dazu ke<strong>in</strong>en Synkretismus, sondern nimmt, wie Polk<strong>in</strong>ghorne, zu<br />
<strong>des</strong>sen Thesen sich ke<strong>in</strong> Widerspruch ergibt, die E<strong>in</strong>heit der Welt und die E<strong>in</strong>heit der<br />
Vernunft zum Ausgangspunkt.<br />
Diese E<strong>in</strong>heit f<strong>in</strong>det er begründet <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kosmischen Evolutionismus und <strong>in</strong> der<br />
evolutionären Erkenntnistheorie. Er beruft sich dabei vor allem H. Ditfurth, H.P. Dürr, G.<br />
Vollmer, neben e<strong>in</strong>er respektablen Reihe anderer. Unter se<strong>in</strong>en theologischen<br />
Gewährsleuten f<strong>in</strong>det sich H. Küng, aber auch M. Welker. Er setzt sich mit der<br />
psychoanalytischen Theologie Drewermanns ause<strong>in</strong>ander und nimmt die Psychologie von<br />
C.G. Jung ernst. Im H<strong>in</strong>tergrund stehen Teilhard de Chard<strong>in</strong> und der Erkenntnisweg der<br />
Mystik.<br />
27
Besondere Sympathie hegt Stadelmann für H. Ditfurths These von der Entwicklung <strong>des</strong><br />
menschlichen Bewusstse<strong>in</strong>s im Feld <strong>des</strong> primordialen (göttlichen) Weltgeistes, die<br />
eigentlich der Schlussste<strong>in</strong> der evolutionären Erkenntnistheorie genannt werden kann:<br />
„Die Naturwissenschaft hat über das Sammeln von Fakten und Daten längst<br />
h<strong>in</strong>ausgegriffen. Sie ist die Fortsetzung der Metaphysik mit anderen Mitteln“. (Hoimar von<br />
Ditfurth).<br />
Auf diese Weise lassen sich also viele Themenstellungen und „<strong>Kernfragen</strong>“ <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />
Zusammenhang br<strong>in</strong>gen, die <strong>in</strong> den bisherigen Betrachtungen nur als e<strong>in</strong>zelne Elemente<br />
aufgetaucht s<strong>in</strong>d.<br />
Was aus theologischer Sicht und der Perspektive <strong>in</strong>dividueller Gläubigkeit <strong>in</strong> großer Breite<br />
beigetragen und erarbeitet wurde und im Folgenden dargestellt wird, ist <strong>in</strong> stetem H<strong>in</strong>blick<br />
auf die Skizzierung e<strong>in</strong>es neuen Weltbild der Naturwissenschaften, vor allem der<br />
Quantenphysik und der Kosmologie, zu bewerten.<br />
Zurück zum Inhaltsverzeichnis<br />
6. Kommunikation mit Gott<br />
Ist es möglich, Verb<strong>in</strong>dung mit Gott aufzunehmen – ihm etwas mitzuteilen oder etwas von<br />
ihm zu empfangen? Für betende Gläubige ist das selbstverständlich. Aber nicht nur im<br />
Blick auf neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse ist zu fragen, was mit „Offenbarung“<br />
geme<strong>in</strong>t ist und mit der Bezeichnung der Bibel als „Gottes Wort“. Auch <strong>in</strong> der Theologie<br />
verändert sich die Kommunikation mit Gott, wenn es von ihm auch andere Vorstellungen<br />
gibt als die e<strong>in</strong>er – wie e<strong>in</strong>en Menschen anzusprechenden – Person . Wie wirkt es sich <strong>in</strong><br />
der Kommunikation mit Gott aus, wenn mehr als früher daran gedacht wird, dass Gott<br />
größer und anders ist als unsere Vorstellungen von ihm? Ist er dann auch anders und auf<br />
verschiedene Weise ansprechbar?<br />
Wenn Gott nicht nur (wie vom frühaufklärerischen Universalgelehrten G.W. Leibniz) als e<strong>in</strong><br />
Uhrmacher dargestellt wird, der die Welt mit Raum und Zeit geschaffen hat – sie läuft<br />
seitdem, ohne dass er e<strong>in</strong>greift, von selbst – , dann gibt es auch verschiedene und<br />
wechselnde Verb<strong>in</strong>dungen zu ihm. Die häufigste Art der Kommunikation mit Gott ist das<br />
Gebet. Aber auch das Denken an ihn, besondere Erfahrungen (z.B. als „Offenbarung“)<br />
oder Rituale und Symbole können mehr oder weniger <strong>in</strong>tensive Kontakte mit Gott<br />
vermitteln. Die Erwähnung Gottes <strong>in</strong> täglicher Rede („Ach du lieber Gott...“) ist zwar fast<br />
immer nur noch e<strong>in</strong>e entleerte Formel, enthält aber doch e<strong>in</strong>en Bezug zu der damit<br />
bezeichneten größeren Wirklichkeit (obwohl sie gegen das Gebot „Du sollst den Namen<br />
Gottes nicht missbrauchen“ verstößt). .<br />
Die Welt, wie wir sie mit dem Verstand und naturwissenschaftlichen Methoden erkennen<br />
können, lässt die Dimension der Transzendenz meist unbeachtet. Fragen nach dem S<strong>in</strong>n<br />
<strong>des</strong> Lebens s<strong>in</strong>d aber nur beantwortbar, wenn auch der spirituelle Zugang anerkannt wird.<br />
Kommunikation mit Gott kann direkt oder <strong>in</strong>direkt, bewusst oder unbewusst stattf<strong>in</strong>den. Ihr<br />
Verständnis ergibt sich aus den Aussagen von Gläubigen. Danach ist e<strong>in</strong>e Kommunikation<br />
mit Gott <strong>in</strong> allen <strong>Glaubens</strong>formen möglich. Die Form und der Inhalt s<strong>in</strong>d abhängig von dem<br />
28
Gottesbild <strong>des</strong> oder der Gläubigen. Aktuelle Aussagen über Gott (und se<strong>in</strong>en Willen, se<strong>in</strong>e<br />
Hilfe, se<strong>in</strong>e Wertungen, Pläne, Warnungen) erwecken oft den E<strong>in</strong>druck, dass sie <strong>in</strong><br />
besonderer Kommunikation mit Gott begründet s<strong>in</strong>d.<br />
E<strong>in</strong>e Kommunikation mit Gott ist für viele selbstverständlich und unbed<strong>in</strong>gt erforderlich, sei<br />
es mit e<strong>in</strong>em persönlichen Gott oder mit e<strong>in</strong>em non-theistischen Gott oder „Urgrund allen<br />
Se<strong>in</strong>s“. Sie ist besonders notwendig und oft auch hilfreich <strong>in</strong> schweren Lebenslagen,<br />
besonders wenn man auf frühe religiöse Prägungen zurückgreifen kann.<br />
Viele Namen und Vergleiche für Gott legen es nahe, von ihm unter Verwendung <strong>des</strong><br />
Feldbegriffs zu sprechen. Kommunikation mit Gott wird dann als mehrfache Beziehung<br />
wahrgenommen. Das Wort Feld deutet auf den Zusammenhang <strong>des</strong> Wirkens von Gott als<br />
Geist und Kraft h<strong>in</strong>. Wie das Bildwort vom „Reich Gottes“ oder „Himmelreich“ reicht es weit<br />
über das kle<strong>in</strong>e Umfeld von e<strong>in</strong>zelnen Menschen und Gruppen h<strong>in</strong>aus und kann e<strong>in</strong>e<br />
Metapher für die überpersönliche All-Gegenwart Gottes /der größeren Wirklichkeit se<strong>in</strong>. In<br />
den Naturwissenschaften wurde e<strong>in</strong> Feldbegriff entwickelt, der Erkenntnisse generiert, die<br />
e<strong>in</strong> Zusammenwirken von geistigen und physikalischen Kräften möglich ersche<strong>in</strong>en<br />
lassen.<br />
Gott wird auch oft als Kraft erlebt, erfahren und benannt. Das kann das verbreitete<br />
Gottesverständnis als Person ergänzen und erweitern.<br />
Nach M. Kroeger ist Gott „e<strong>in</strong>e Kraft, die schafft, beschenkt, fordert, vernichtet, zu der<br />
anbeten<strong>des</strong> In-Beziehung-Treten ohne Festlegung auf wie auch immer geartete<br />
theologische oder philosophische Begriffe möglich und lebensdienlich ist.“<br />
Der Theologe G. Theißen hat (<strong>in</strong> „<strong>Glaubens</strong>sätzen“ S. 58) e<strong>in</strong>e Vielzahl neuerer<br />
Bezeichnungen für Gott aufgeführt, die auch e<strong>in</strong>e andere Art der Beziehung zu dieser<br />
größeren Wirklichkeit ermöglichen und erfordern:<br />
Gott ist das Geheimnis der Wirklichkeit.<br />
Gott ist die alles bestimmende Wirklichkeit.<br />
Gott ist etwas, über das h<strong>in</strong>aus nichts Größeres gedacht werden kann<br />
Gott ist das, was die Welt im Innersten zusammenhält.8?<br />
Gott ist der Grund <strong>des</strong> Se<strong>in</strong>s.<br />
Gott ist die Tiefe <strong>des</strong> Se<strong>in</strong>s.<br />
Gott ist das Ewig E<strong>in</strong>e.<br />
Gott ist die e<strong>in</strong>e Substanz <strong>in</strong> allen D<strong>in</strong>gen: deus sive natura.<br />
Gott ist Unendlichkeit.<br />
Gott ist das Umgreifende.<br />
Gott ist das Woher schlechth<strong>in</strong>niger Abhängigkeit<br />
und unseres empfänglichen und selbsttätigen Dase<strong>in</strong>s.<br />
Gott ist Postulat moralischen Handelns,<br />
Gott ist die moralische Weltordnung,<br />
Gott ist, worauf Du De<strong>in</strong> Herz hängest und verlässt.<br />
Gott ist das, was e<strong>in</strong>en Menschen unbed<strong>in</strong>gt angeht.<br />
Gott ist Wille zum Leben.<br />
Gott ist das Woher me<strong>in</strong>es >Du sollst!< und >Du darfst!<<br />
Gott ist das ewige DU.<br />
Gott ist das Umhergetriebense<strong>in</strong> vom andern Menschen her.<br />
Gott ist Letztpunkt lebensweltlicher Orientierung.<br />
Gott ist E<strong>in</strong>heit von Gegensätzen,<br />
29
co<strong>in</strong>cidentia oppositorum:<br />
»die absolut-relative,<br />
diesseitig-jenseitige,<br />
transzendent-immanente,<br />
allesumgreifend-allesdurchwaltende<br />
wirklichste Wirklichkeit<br />
im Herzen der D<strong>in</strong>ge,<br />
im Menschen,<br />
<strong>in</strong> der Menschheitsgeschichte,<br />
<strong>in</strong> der Welt.«<br />
Die Vielzahl der Formeln erklärt, dass es ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige gibt, die alle<strong>in</strong> und überhaupt<br />
annähernd Gott bezeichnen könnte. Es ist kaum noch möglich und auch nicht nötig, sich<br />
Gott nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er überhöhten anthropomorphen Art vorzustellen. Die bisherigen religiösen<br />
Kommunikationsformen s<strong>in</strong>d zu erweitern und z.T. neu zu entwickeln.<br />
Gott als Person erfahren<br />
Christen sehen sich <strong>in</strong> der Beziehung zu Gott, der ihren letzten Grund <strong>des</strong> Se<strong>in</strong>s darstellt.<br />
Ganz überwiegend wird Gott im Glauben als Ansprechpartner erlebt, der menschliche<br />
Züge trägt, der (e<strong>in</strong>zelne und viele, alle!) Menschen hört, sieht, ihnen antwortet, hilft, zürnt.<br />
Dabei wird selbstverständlich das „Du“ auf der anderen Seite vorausgesetzt. Jede/r<br />
Gläubige kann ihrer/se<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ganz persönlichen Beziehung (mit all den Details<br />
der <strong>in</strong>dividuellen Situation) zu Gott stehen. B. v.Weizsäcker glaubt zwar erklärtermaßen<br />
nicht an e<strong>in</strong>en Gott als Person, spricht ihn aber doch ganz <strong>in</strong>dividuell und wie e<strong>in</strong>e<br />
hörende Person an (<strong>in</strong>: „Ist da jemand?“).<br />
„Es ist der Gott, mit dem ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Sprache, mit der ich auch mit Menschen<br />
kommuniziere, <strong>in</strong> Gebet und Meditation sprechen kann. Alle<strong>in</strong> oder mit anderen<br />
zusammen. Laut oder nur <strong>in</strong> Gedanken. Ich werde es mit Worten tun, die Respekt und<br />
Ehrfurcht ausdrücken. In der Not und <strong>in</strong> der Verzweiflung werde ich das vergessen und<br />
hoffen, dass Gott mich trotzdem hören will. Ohne dass ich mir e<strong>in</strong> persönliches Gegenüber<br />
vorstelle, werden mir die rechten Worte fehlen. Von kle<strong>in</strong> auf habe ich immer nur mit<br />
e<strong>in</strong>em persönlichen Gegenüber geredet und dabei auch gelernt, was Bitten, was<br />
Vertrauen, was Enttäuschung und alle<strong>in</strong> gelassen bleiben heißt.“<br />
Wir s<strong>in</strong>d immer angewiesen auf andere. Wir benennen die D<strong>in</strong>ge und Personen. Damit<br />
setzen wir uns immer <strong>in</strong> Beziehung zu e<strong>in</strong>em Gegenüber. Und wie immer Menschen sich<br />
das Göttliche vorstellen, sie sprechen es an als Gegenüber. (Nur die mystische<br />
Frömmigkeit macht da e<strong>in</strong>e Ausnahme).<br />
Wer aber glaubt – und vom Glauben sollten wir nur reden, wenn der Glaube an „Gott“/ an<br />
e<strong>in</strong>e größere Wirklichkeit geme<strong>in</strong>t ist, denn der Glaube ist diese „Offenheit für MEHR“ –<br />
der vertraut darauf, von diesem verborgenen Gegenüber gehört zu werden <strong>in</strong> Gebet und<br />
Meditation. Und er vertraut oder hofft darauf Antwort zu erfahren, deren Ausbleiben der<br />
Glaubende angstvoll als Gott-Verlassenheit deutet.<br />
Die Mystik vertritt das Ine<strong>in</strong>ander von persönlichen und überpersönlichen Zügen Gottes.<br />
30
Gott ist größer und anders als unsere Vorstellungen von ihm<br />
Gott ist für viele christliche Gläubige e<strong>in</strong>e ansprechbare Person, für manche e<strong>in</strong>e alle<br />
menschliche Vorstellungen und Namen überschreitende größere Wirklichkeit. „Nontheistisch“<br />
(d.h. anders als Gott-Person mit vergleichbar menschlichen Eigenschaften<br />
verstanden) bedeutet nicht e<strong>in</strong> „Weniger von Gott“, als vielmehr das ehrfürchtige Staunen<br />
vor dem unfassbar großen Geheimnis <strong>des</strong> Se<strong>in</strong>s, vor der allumfassenden Macht, die mit<br />
dem Urwort „Gott“ geme<strong>in</strong>t ist. Diese Macht, dieses Geheimnis ist nicht nur als<br />
supranaturale „Gottperson“ mit gesteigerten menschlichen Eigenschaften angemessen<br />
beschrieben. Sie wird zunehmend auch mit Namen wie Kraft, Feld, Grund <strong>des</strong> Se<strong>in</strong>s, das<br />
Unbed<strong>in</strong>gte, größere Wirklichkeit bezeichnet und angesprochen. (Die Verwendung<br />
personaler Gottesnamen ist weiterh<strong>in</strong> möglich, sie werden – wie schon bisher alle anderen<br />
symbolischen und bildhaften Namen für Gott – im übertragenen S<strong>in</strong>n gebraucht.)<br />
Auf diese Weise kann versucht werden zu vermeiden, dass eigene Vorstellungen von Gott<br />
zu dem Glauben verleiten, Gott sei wirklich und ganz genau so, wie das Bild von ihm, das<br />
wir uns machen, etwa das e<strong>in</strong>es Übermenschen im Himmel.<br />
Unser Vorstellungsvermögen kann Gott aber nicht fassen. Menschen haben<br />
Schwierigkeiten, sich etwas vorzustellen, was sie aus unserer Umwelt nicht schon kennen.<br />
Die Vorstellungskraft reicht nur so weit, dass sie beschreibt und neu zusammensortiert, was<br />
wir irgendwo schon e<strong>in</strong>mal gesehen oder erlebt haben.<br />
Der Mensch redet von Gott und setzt dabei, bewusst oder unbewusst, ständig se<strong>in</strong>e<br />
eigenen Verhältnisse und Möglichkeiten voraus. Somit wird je<strong>des</strong> Bild, das wir uns von<br />
Gott machen, falsch, denn Mensch bleibt Mensch. Es mag ärgerlich und beunruhigend<br />
se<strong>in</strong>, dass unsere menschlichen Möglichkeiten, nicht ausreichen, um uns Gott<br />
vorzustellen. Vielleicht ist es aber auch e<strong>in</strong> gutes Gefühl, dass Gott so ganz anders ist als<br />
alles, was wir e<strong>in</strong>ordnen können.<br />
Gott ist auf verschiedene Weise ansprechbar, nicht nur wie e<strong>in</strong>e Person.<br />
„Es ist durchaus möglich, verschiedene Gottesvorstellungen abwechselnd zu gebrauchen.<br />
z.B. auch mal beim Zähneputzen danke zu sagen, ohne Gott anzusprechen – und dann<br />
auch wieder DU zu ihm zu sagen. Er oder sie oder es umgibt mich ja von allen Seiten und<br />
ist <strong>in</strong> allen Zusammenhängen als größere Wirklichkeit da: Das kann Anlass se<strong>in</strong>, mehr und<br />
anderes von Gott zu erleben und zu entdecken, als bei e<strong>in</strong>er stark anthropomorph<br />
bestimmten Vorstellung.<br />
Dank kann z.B. auch mal gedacht werden, wenn das Korrekturprogramm im Computer so<br />
super f<strong>in</strong>dig und fähig ist; da muss schon viel und von weiter her zusammenkommen an<br />
Geist und Liebe zur Sache. Das kann man mit Du und Gott (Vater, Herr) ansprechen oder<br />
nicht – oder e<strong>in</strong>fach wie <strong>in</strong> Facebook die geistige Taste „Gefällt mir“ antippen und sich<br />
etwas MEHR dabei zu denken als sonst – es gibt viele ungewohnte und neue Formen und<br />
Möglichkeiten für den Gottesglauben: Offenwerden für größere Wirklichkeit und das<br />
Ganze – für das „Wunder“ <strong>des</strong> Lebens und der Welt, im Kle<strong>in</strong>en, Nächstliegenden, und im<br />
weiten Raum.“<br />
„Das Bekenntnis zum E<strong>in</strong>en Gott <strong>in</strong> „drei Personen“ übersteigt zudem e<strong>in</strong>en allzu<br />
gegenständlichen Personbegriff.“ Im Unterschied zu Stadelmann, der das Bild von e<strong>in</strong>em<br />
dreie<strong>in</strong>igen Gott als mythologisch und mit dem evolutionären Weltbild nicht vere<strong>in</strong>bar<br />
aufgeben will, sehen wir dar<strong>in</strong> brauchbare Variationsmöglichkeiten für die Kommunikation<br />
31
mit dieser vielfältigen höheren Wirklichkeit. (Praktische Vorschläge dafür s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Gott 9.0<br />
enthalten.)<br />
7. Gott <strong>in</strong> der Mystik erfahren?<br />
Zurück zum Inhaltsverzeichnis<br />
Mystische <strong>Glaubens</strong>formen f<strong>in</strong>den zunehmen<strong>des</strong> Interesse. Bieten sie andere,<br />
tiefergehende Erfahrungen an als die traditionelle kirchliche Frömmigkeit? Lässt sich<br />
durch besondere Arten von Meditation e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>swerden mit Gott erreichen? Wie verändert<br />
sich das Gottesbild durch mystische <strong>Glaubens</strong>praxis? Gel<strong>in</strong>gt es, „das Unsagbare zu<br />
sagen“?<br />
Mystik vertritt das Ine<strong>in</strong>ander von persönlichen und überpersönlichen Zügen Gottes. Gott<br />
kommt nahe: Im Alltäglichen gibt es e<strong>in</strong> Leben <strong>in</strong> der Gegenwart Gottes. Er ist ebenso<br />
radikal immanent wie transzendent. Gott „<strong>in</strong> uns“ und „über uns“ gehören zue<strong>in</strong>ander.<br />
Aber auch kritische Fragen s<strong>in</strong>d zu stellen: Ist die Überschreitung e<strong>in</strong>es personalen<br />
Gottesbilds möglich, ohne Christus als „Angesicht“ <strong>des</strong> unsichtbaren Gottes aufzugeben?<br />
Zahlreiche Methoden der Kontemplation bieten auch den Interessierten Zugang zu<br />
mystischer Erfahrung, die sich nicht gerade besonders begabt dafür fühlen. E<strong>in</strong>ige davon<br />
werden kurz <strong>in</strong> der Anlage aufgeführt.<br />
Die neue Fasz<strong>in</strong>ation<br />
Themen der Mystik s<strong>in</strong>d populär geworden. Fast sieht es nach e<strong>in</strong>er vor kurzem kaum<br />
vorstellbaren Mystik-Mode aus. Wohl hatte der katholische Theologe Karl Rahner (1904-<br />
1984) schon vor 1970 vermutet: „Der Fromme von morgen wird ‚e<strong>in</strong> Mystiker’ se<strong>in</strong>.“<br />
(Gesammelte Schriften 7,22) Aber das klang damals, nicht nur für protestantische Ohren,<br />
fast verwegen. Die evangelische Theologie vor allem <strong>des</strong> deutschen Sprachraums blieb<br />
sich lange „weitgehend e<strong>in</strong>ig, dass Protestantismus und Mystik unvere<strong>in</strong>bar seien.“(Volker<br />
Lepp<strong>in</strong> 2007,118) Pioniere <strong>des</strong> mystischen Weges galten als Außenseiter. Heute sche<strong>in</strong>en<br />
die konfessionellen Vorbehalte, außerhalb der universitären Theologie, so gut wie<br />
verschwunden. Wer sich <strong>in</strong> Buchhandlungen umschaut, trifft auf gut gefüllte Religions- und<br />
Esoterik- Abteilungen, mit e<strong>in</strong>er Fülle von Mystik-Titeln. Digitale Portale öffnen unabsehbare<br />
religiöse Weiten.<br />
Woher diese enorme Anziehungskraft rührt, verdient e<strong>in</strong>e gründliche Untersuchung. Hier<br />
seien nur e<strong>in</strong>ige Andeutungen gewagt. Längst s<strong>in</strong>d Europäern im Zug der wirtschaftlichen<br />
Globalisierung auch andere religiöse Welten nahe gekommen. Touristen nehmen Tänze<br />
moslemischer Derwische wahr; <strong>in</strong> Thailand treffen sie auf buddhistische Tempel, <strong>in</strong> Indien<br />
auf die komplexe religiöse Welt der H<strong>in</strong>dus. Jüdische und moslemische Geme<strong>in</strong>den<br />
gehören zur Nachbarschaft im eigenen Land. Dabei stellt sich heraus, dass „Mystik“<br />
ke<strong>in</strong>eswegs bloß e<strong>in</strong> christliches Phänomen ist. Das Themenheft „Mystik“ <strong>in</strong> „evangelische<br />
aspekte“ hat sich schon 2006 weiten Horizonten geöffnet. Die großartige Ausstellung <strong>in</strong><br />
Zürich „MYSTIK- Die Sehnsucht nach dem Absoluten“ rückte 2011/2012 mystische<br />
32
Welten im Christentum, Judentum und Islam, aber auch <strong>in</strong> H<strong>in</strong>duismus, Buddhismus und<br />
Daoismus gleichermaßen <strong>in</strong>s Blickfeld.<br />
Aber nicht nur die Nahbegegnung religiöser Kulturen trägt zu dem neuen Mystik-Interesse<br />
bei. Wichtig ist auch der offensichtliche Schwund profilierter christlicher Inhalte und<br />
biblisch fundierter Lehre. Mystik verspricht e<strong>in</strong>e Weite, die von traditioneller Dogmatik<br />
frei ist. Gerade diese Unbestimmtheit erweckt Zutrauen bei vielen, denen fixierte<br />
<strong>Glaubens</strong>bekenntnisse fragwürdig geworden s<strong>in</strong>d. Ja, Mystik ersche<strong>in</strong>t als anschlussfähig<br />
für e<strong>in</strong>e postreligiöse Kultur und manche Formen <strong>des</strong> Atheismus. Denn hier sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e<br />
Verwurzelung, e<strong>in</strong>e Beheimatung angeboten, die ke<strong>in</strong>e Kirchenb<strong>in</strong>dung und ke<strong>in</strong>e<br />
konfessionelle Festlegung abverlangt.<br />
Für Christen hat die Attraktivität der Mystik mit der Chance e<strong>in</strong>es neuen Gottesbilds zu<br />
tun. Die „Sehnsucht nach dem Absoluten“, so sche<strong>in</strong>t Mystik zu versprechen, muss nicht<br />
<strong>in</strong> die Gefangenschaft begrenzter oder metaphysischer Gottesvorstellungen<br />
h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>führen. Aber wer ist „der Gott der Mystik“? Dieser Leitfrage folgt die hier vorgelegte<br />
Skizze. Sie geht von den Ersche<strong>in</strong>ungsformen christlicher Mystik aus. Die knappe<br />
Übersicht „Christliche Mystik“ von Volker Lepp<strong>in</strong> (2007), aber auch Dorothee Sölles Buch<br />
„Mystik und Widerstand“ (1997) haben dazu angeregt; auch das Werk „Gott 9.0“ von<br />
Marion und Werner Küstenmacher (2010, 3.Auflage 2011) soll mit bedacht werden.<br />
E<strong>in</strong>ige Grundzüge mystischer Spiritualität im Christentum<br />
In der christlichen Tradition tritt das Substantiv „Mystik“ erst als „Kunstwort“ im Frankreich<br />
<strong>des</strong> 17.Jahrhunderts <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung. (Lepp<strong>in</strong> 7) Gewiss s<strong>in</strong>d das Verbum „Mye<strong>in</strong>“<br />
(schließen) und das Adjektiv „Mystikos“ schon <strong>in</strong> der griechischen Antike geläufig. Damit<br />
s<strong>in</strong>d erste Anhaltspunkte geboten. Mystisch leben bedeute: die Augen schließen vor<br />
e<strong>in</strong>em Gewirr der S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücke, sich sammeln, um so dem <strong>in</strong>neren Lebenszentrum<br />
näher zu kommen. Und: Mystik hat es mit den Geheimnissen zu tun, mit dem, was sich<br />
dem Augensche<strong>in</strong> und dem Hörensagen <strong>des</strong> Alltags entzieht.<br />
Aber was christliche Mystik <strong>in</strong> den Jahrhunderten <strong>des</strong> ersten und zweiten Jahrtausends<br />
besagte, kann nicht aus dieser Sprachherkunft herausgesponnen werden. Es führt weiter,<br />
auf e<strong>in</strong>ige der mystischen Lehrer<strong>in</strong>nen und Lehrer vor der Reformation zu blicken, die sich<br />
als maßgebend und stilbildend e<strong>in</strong>geprägt haben. Volker Lepp<strong>in</strong> verweist im Osten auf das<br />
Werk <strong>des</strong> Unbekannten, der sich als „Dionysius“ vom Areopag vorstellt (Apostelgeschichte<br />
17,34) und doch erst <strong>in</strong>s 5. Jahrhundert gehört; dann auf die geistlichen Meister von<br />
Evagrius Pontikus bis zu Gregorius Palmas (1296-1359). Im Westen Bernhard von<br />
Clairvaux, dann die Franziskaner wie Bonaventura, Dom<strong>in</strong>ikaner wie Meister Eckhart und<br />
Johannes Tauber und He<strong>in</strong>rich Sause. Nicht zu vergessen die Frauen seit Hildegard von<br />
B<strong>in</strong>gen, Mechthild von Magdeburg und Margarete Porete. Doch der „mystische Strom“<br />
(Otto Karrer) geht weiter durch alle Jahrhunderte der Neuzeit. Auch Edith Ste<strong>in</strong> (1891-<br />
1942), Dag Hammarskjöld (!905-1961), Roger Schutz (1915-2005) gehören zu ihnen,<br />
wenn „Mystik“ nicht pr<strong>in</strong>zipiell von „Spiritualität“ abgehoben werden soll. Gibt es<br />
geme<strong>in</strong>same Züge, die diese geistlichen Gestalten mystischer Provenienz verb<strong>in</strong>det?<br />
33
Ihnen allen geht es um die <strong>in</strong>nige Verbundenheit und Geme<strong>in</strong>schaft mit dem, der Ziel ihrer<br />
Sehnsucht ist: mit der Wirklichkeit Gottes, der Nähe Jesu Christi, der Lebenskraft <strong>des</strong><br />
Geistes. Aber Verbundenheit sagt noch zu wenig: die Mystiker me<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e reale E<strong>in</strong>heit,<br />
e<strong>in</strong>e wirkliche Vere<strong>in</strong>igung mit der Wirklichkeit Gottes. Sie ist ke<strong>in</strong> Ergebnis<br />
leidenschaftlicher Suche. Zuerst und zuletzt bedeutet Gott suchen die Entdeckung: von<br />
Ihm gefunden se<strong>in</strong>. Also pures Geschenk, Gnade für die <strong>in</strong> Widersprüche verstrickte<br />
Menschenseele. Die Mystik bezeugt: das Heilsziel der Gottesgeme<strong>in</strong>schaft wird schon auf<br />
dem Weg geschenkt. Psalm 63,9 heißt es von dieser Geme<strong>in</strong>schaft: „Me<strong>in</strong>e Seele hängt<br />
an dir; de<strong>in</strong>e rechte Hand hält mich.“ Und Christus, auf den wir zu hoffen wagen, kommt<br />
unvorstellbar nahe. „Christus lebt <strong>in</strong> mir“. (Galater 2,20)<br />
Was die Mystiker zur Sprache br<strong>in</strong>gen, ersche<strong>in</strong>t ihnen als unfassbares Geschenk. Aber<br />
sie sehen dar<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> Privileg. Weder was ihren sozialen Stand angeht, noch ihre<br />
persönliche Bildung. Gott auf Wegen der Mystik begegnen, schließt niemanden aus.<br />
Immer deutlicher wird <strong>in</strong> der Geschichte der Christenheit: der mystische Weg ist nicht den<br />
Klöstern vorbehalten. Neben der monastischen Mystik wird schon bei der franziskanischen<br />
und dom<strong>in</strong>ikanischen Bewegung immer stärker die weltliche Christusnachfolge wichtig.<br />
Die Reformation, aber auch katholische Erneuerungsbewegungen knüpfen seit dem<br />
16.Jahrhundert daran an. Und vor allem: <strong>in</strong> der patriarchalischen Gesellschaft kommen<br />
ganz unverwechselbar Frauen zu Wort, e<strong>in</strong>e weibliche Mystik mit ihren eigenen<br />
Erlebniswelten. Die Mystik rüttelt an den festgefügten hierarchischen und ständischen<br />
Ordnungen.<br />
Erfahrungen auf dem Weg führen <strong>in</strong> das Zentrum der Mystik<br />
Zentral gehört zur Mystik das Thema der Erfahrung. Bernhard von Clairvaux sprach<br />
geradezu von der „Lehrmeister<strong>in</strong> Erfahrung“, „magistra experientia“ (6. Predigt zum Hohen<br />
Lied). Mart<strong>in</strong> Luther rühmt die „sapientia experimentalis“ e<strong>in</strong>er Erfahrungs-Weisheit.<br />
(Anmerkung zu Tauber 1516). Die Mystiker wissen sich auf e<strong>in</strong>en unabsehbaren Weg,<br />
e<strong>in</strong>e Lebens-Fahrt geschickt. Das biblische Grundbild der Wüsten-Wanderung Israels<br />
steht dabei ebenso im H<strong>in</strong>tergrund wie das Weg-Motiv <strong>in</strong> den Evangelien, besonders beim<br />
Evangelisten Lukas. Bei anderen geistlichen Lehren dom<strong>in</strong>iert das Bild der „Leiter“ oder<br />
das der Treppe. Neun „Stufen“ stellt Küstenmacher dar. Johannes Klimakus<br />
(7.Jahrhundert) zeigte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er „scala paradisi“, der „Leiter zum Paradies“, dreißig Stufen<br />
auf. Äußere Erkenntnisse <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> können ke<strong>in</strong> Ziel festlegen. Erfahrung bedeutet:<br />
auf weitere <strong>in</strong>dividuelle Wege gefasst bleiben, aber auch: das Äußere <strong>in</strong>s Innere, <strong>in</strong>s<br />
„Herz“ h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>wirken lassen. Ekstase und Unmittelbarkeit gehören zu diesem Weg.<br />
Innen die Mitte f<strong>in</strong>den<br />
Erfahrungen der Mystik führen nach <strong>in</strong>nen. Sie lassen e<strong>in</strong>en weiten Innenbereich<br />
entdecken, e<strong>in</strong>e Seelenwelt. Es geht darum, die Mitte zu f<strong>in</strong>den, den „Grund“ der Seele,<br />
„das Herz“, das „Gemüt“. Ohne die <strong>in</strong>nerliche Resonanz führen alle Außen- Erfahrungen<br />
nicht vorwärts. Es bedarf der <strong>in</strong>neren „Vertiefung“ oder „Versenkung“. Das bedeutet ke<strong>in</strong>e<br />
Gleichgültigkeit gegenüber der Welt und den andern Menschen. In authentischer Mystik<br />
lässt sich Kontemplation nicht von Arbeit und Ethos trennen. Aber Innerlichkeit gehört zur<br />
Erfahrung <strong>des</strong> Weges. Darum hat auch das Gebet e<strong>in</strong>e zentrale Bedeutung: nicht nur als<br />
Bitte, Lob oder Klage. Sondern auch als „Herzensgebet“, das der Gegenwart Gottes im<br />
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Herzen <strong>in</strong>ne wird und bleibt. Luther hat das Jesus-Wort Lukas 17,20 übersetzt: „das Reich<br />
Gottes ist <strong>in</strong>wendig <strong>in</strong> euch.“ Darauf haben sich mystische Autoren evangelischer<br />
Herkunft immer wieder berufen.<br />
Damit wird ke<strong>in</strong>eswegs das vorf<strong>in</strong>dliche Ego mit se<strong>in</strong>en triebhaften und süchtigen Seiten<br />
sanktioniert. E<strong>in</strong>es der zentralen Worte heißt Wandlung. Die Mystik ist angetrieben von<br />
dem Verlangen, das oberflächliche Ich überw<strong>in</strong>den zu lassen. Es gilt, das Herz zu<br />
re<strong>in</strong>igen, die Augen der Seele zu läutern, um empfänglich zu werden für die schöpferische<br />
E<strong>in</strong>wirkung und Anrede von oben. Ohne schmerzliche Selbsterkenntnis, ohne<br />
Konfrontation mit den eigenen Schatten und Süchten, bleibt alle verme<strong>in</strong>tliche Erhebung<br />
zu Gott nichts als Illusion. Der Prozess solcher Wandlung kommt dabei niemals zum<br />
Abschluss. Wann immer die Seligkeit der Gottesgeme<strong>in</strong>schaft erfahren wird, – die Schau<br />
<strong>des</strong> „Taborlichtes“ – , Mystiker<strong>in</strong>nen und Mystiker wissen dann um den befristeten und<br />
vorläufigen Charakter. Es gilt, immer neu vom Berg der Verklärung herabzusteigen und<br />
den Aufgaben am Fuße <strong>des</strong> Bergs standzuhalten. (Matthäus 17).<br />
Unsagbares sagen<br />
Schließlich treffen wir <strong>in</strong> den mystischen Texten auf e<strong>in</strong>e gewagte Sprache. Sie versuchen<br />
Zeugnis zu geben von dem, was eigentlich die übliche Verständigung übersteigt. Sie<br />
sprechen vom Unsagbaren. Darum gehen sie ständig über die konventionelle<br />
Kirchensprache h<strong>in</strong>aus. Sie verirren sich dabei <strong>in</strong> Paradoxien: e<strong>in</strong> „stilles Geschrei“, „e<strong>in</strong><br />
namenloses Nichts“. Meister Eckhart me<strong>in</strong>t: „Da hörte ich ohne Laut, da sah ich ohne<br />
Licht, da roch ich ohne Bewegen, da schmeckte ich das, was nicht war, da spürte ich das,<br />
was nicht bestand“. E<strong>in</strong>e ekstatische, entrückte, zuweilen wie stammelnde Rede. Das<br />
zeigt sich auch <strong>in</strong> der Präsenz e<strong>in</strong>er gewagten „Liebessprache“, die sich vor allem am<br />
Hohen Lied Salomos entzündet. Diese Sammlung irdischer Liebeslieder lesen Mystiker,<br />
seit Origenes (gestorben 254), auch als Zwiegespräch Gottes mit se<strong>in</strong>em Volk, ja der<br />
e<strong>in</strong>zelnen Seele. Bernhard von Clairvaux hat darüber 86 Predigten gehalten und kam<br />
dabei nur bis zum Beg<strong>in</strong>n <strong>des</strong> dritten Kapitels <strong>des</strong> Hohen Lieds. Mechthild von Magdeburg<br />
(1210-1282) und Johannes vom Kreuz (1542-1591) bezeugen e<strong>in</strong>e Vitalität solcher<br />
Liebespoesie. Sie f<strong>in</strong>det immer neue Sprachgestaltungen bis zur Gegenwart.<br />
Wandlungen im Gottesbild<br />
Was kann Mystik bedeuten für e<strong>in</strong>e Erneuerung <strong>des</strong> Gottesbil<strong>des</strong>? Das ist e<strong>in</strong>e riskante<br />
Frage. Gehört es doch zu den Grundgeboten Israels: „Du sollst dir ke<strong>in</strong> Bildnis noch irgend<br />
e<strong>in</strong> Gleichnis machen.“ (2. Morse 20,4) Die Rede von „Gottesbildern“ sche<strong>in</strong>t so durch die<br />
zehn Gebote von vornehere<strong>in</strong> <strong>in</strong> Frage gestellt. Der Gott, der Morse am Dornbusch<br />
anredet, entzieht sich mit se<strong>in</strong>em „Ich werde se<strong>in</strong>, der ich se<strong>in</strong> werde“ aller bildhaften<br />
Fixierung. (2. Mose 3,14) So geht durch das alte Testament selber, <strong>in</strong> der Tora wie bei den<br />
Propheten, e<strong>in</strong> „Bildersturm“, der die menschlichen Wunschbilder als „Götzen“ entlarvt und<br />
kritisiert. Die frühe Christenheit folgt dieser bildkritischen Spur. Sie lässt sich eher als<br />
„atheistisch“ schmähen als dem religiösen Kaiserkult zu folgen. Auch die Aufnahme der<br />
kritischen Philosophie der Griechen dient der Überw<strong>in</strong>dung anthropomorpher Gottesbilder.<br />
Das Bekenntnis zum E<strong>in</strong>en Gott <strong>in</strong> „drei Personen“ übersteigt zudem e<strong>in</strong>en allzu<br />
gegenständlichen Personbegriff.<br />
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Auf der andern Seite spricht die Bibel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Vielzahl von Bildern von Gott. Gerade die<br />
Propheten br<strong>in</strong>gen den unverfügbar heiligen Gott <strong>in</strong> Gleichnissen zur Sprache. Jesus lehrt<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Grundgebet, den Gott <strong>des</strong> Himmels als unsern „Vater“ anzusprechen. Im<br />
apostolischen <strong>Glaubens</strong>bekenntnis werden wir ermutigt, den „Schöpfer <strong>des</strong> Himmels und<br />
der Erde“ als „Gott den Vater“ zu verehren. Die orthodoxe Kirche hat nach langen<br />
Kämpfen, auch im Gegenüber zum Islam, 787 das Recht der Ikonenverehrung<br />
ausdrücklich verteidigt.<br />
So f<strong>in</strong>den wir <strong>in</strong> der Geschichte der Christenheit e<strong>in</strong> komplexes Mite<strong>in</strong>ander von Bilderkritik<br />
und Bildgebrauch. In der frühen Neuzeit widersetzt sich Luther weniger den äußern<br />
Bildern und Skulpturen <strong>in</strong> den Kirchenräumen. Um so radikaler trifft se<strong>in</strong>e Kritik die <strong>in</strong>neren<br />
Angstvorstellungen e<strong>in</strong>es fordernd-strafenden Gottes, der den Menschen von se<strong>in</strong>en<br />
religiösen Leistungen her betrachtet; dagegen setzt er von neuem den Gott der<br />
bed<strong>in</strong>gungslosen Gnade. Die Provokationen der Aufklärung führen auch <strong>in</strong> der christlichen<br />
Theologie zu e<strong>in</strong>er neuen Vorsicht gegenüber unbedachten Gottesbildern. Schleiermacher<br />
zeigt, wie im frommen Selbstbewusstse<strong>in</strong> „das eigne Se<strong>in</strong> und das unendliche Se<strong>in</strong> Gottes<br />
E<strong>in</strong>es se<strong>in</strong> kann.“(Der christliche Glaube,1830, §32) Die Theologien Karl Barths, Rudolf<br />
Bultmanns, Paul Tillichs lassen sich als Versuche lesen, der neuzeitlichen Bildkritik am<br />
Gottesglauben überzeugend zu antworten. So wäre es e<strong>in</strong>e Preisgabe theologischer<br />
Erkenntnis, wenn erst von mystischer Gottesbegegnung der entscheidende Durchbruch zu<br />
e<strong>in</strong>em verantwortbaren Gottesbild erwartet würde. Trotzdem wird die Fragestellung künftig<br />
noch dr<strong>in</strong>glicher werden: Welchen besonderen Beitrag kann die Mystik zur Rede und zum<br />
Bild von Gott h<strong>in</strong>zufügen?<br />
Mystik vertritt das Ine<strong>in</strong>ander von persönlichen und überpersönlichen Zügen<br />
Gottes.<br />
E<strong>in</strong> wichtiger Beitrag ist vor allem, dass die Mystik das Ine<strong>in</strong>ander von persönlichen und<br />
überpersönlichen Zügen Gottes vertritt. Gott ist nie nur das väterlich-mütterliche Du,<br />
sondern begegnet auch <strong>in</strong> der Metaphorik von Licht und Feuer, von Quelle und Meer, von<br />
Grund und Abgrund. Das lässt sich sogar bis <strong>in</strong> Lieder verfolgen, die <strong>in</strong> unser Gesangbuch<br />
E<strong>in</strong>gang gefunden haben: „Luft, die alles füllet, dr<strong>in</strong> wir immer schweben, aller D<strong>in</strong>ge<br />
Grund und Leben,/ Meer ohn’ Grund und Ende, Wunder aller Wunder: ich senk mich <strong>in</strong><br />
dich h<strong>in</strong>unter.“(Gerhard Tersteegen EG 165,5) Aber die variantenreiche nichtpersonale<br />
Bilder-Symbolik muss überstiegen werden. Schon „Dionysius“ konnte herausarbeiten,<br />
dass Gott über die direkten Bildaussagen h<strong>in</strong>aus treibt: auf e<strong>in</strong>e “via negationis und<br />
„em<strong>in</strong>entiae“.<br />
„Mystiker s<strong>in</strong>d Tiefseetaucher <strong>des</strong> Bewusstse<strong>in</strong>s“.(Küstenmacher <strong>in</strong> Gott 9.0) Gewiss s<strong>in</strong>d<br />
solche Weiterführungen immer wieder auch Erkenntnisse der Theologie geworden, auch<br />
<strong>in</strong> den großen Entwürfen <strong>des</strong> 20.Jahrhunderts. Doch die Zeugen der Mystik haben ihre<br />
Erkenntnis mit dem Gewicht und der Leidenschaft eigener Erfahrung sozusagen<br />
beglaubigt.<br />
Die mystische Erfahrung spricht von der Gegenwart, der puren Präsenz Gottes und von<br />
dem „Heute“ Christi. Der Zeitabstand zwischen dem Glauben heute und den biblischen<br />
Zeugnissen damals hat ke<strong>in</strong>e letzte Beunruhigung. „Es kommt e<strong>in</strong> Schiff geladen bis an<br />
se<strong>in</strong> höchsten Bord“. So heißt es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Lied <strong>in</strong> der Tradition Johannes Taulers.<br />
36
(<strong>Evangelische</strong>s Gesangbuch 12) „Der garstige Graben“ zwischen Vergangenheit und<br />
Gegenwart, der Less<strong>in</strong>g quälte, ist für das mystischen Bewusstse<strong>in</strong> immer überw<strong>in</strong>dbar.<br />
Der wahre Gott muss nicht mühsam aus vergangenen Erzählungen verbürgt werden; er<br />
lässt sich immer im Heute, im Jetzt, im Alltäglichen erfahren. Der gegenwärtige Augenblick<br />
wird zum Tor für die Wirklichkeit Gottes. Zugleich hat diese Gegenwart e<strong>in</strong>en „räumlichen“<br />
S<strong>in</strong>n. Gott lässt sich nicht erst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er himmlischen Überwelt, sondern ganz nahe, <strong>in</strong> den<br />
gewöhnlichen D<strong>in</strong>gen, <strong>in</strong> nächster Nähe erfahren. So ermuntern die Mystiker zu e<strong>in</strong>em<br />
Leben <strong>in</strong> der Gegenwart Gottes.<br />
Sie s<strong>in</strong>d es, die e<strong>in</strong>erseits mit der radikalen Transzendenz der Gottheit ernst machen und<br />
an der ebenso radikalen Immanenz festhalten. Gott entzieht sich den höchsten<br />
Zuschreibungen und kann doch <strong>in</strong> nächster Nähe erspürt werden. Dort, wo alle Bilder<br />
versagen und die schönsten Vorstellungen zerbrechen, halten die Mystiker dem<br />
„unbekannten,“ dem „dunklen“, dem „verborgenen“ und „sich entziehenden“ Gott die<br />
Treue. In e<strong>in</strong>er Liebe, die nichts für sich selber profitieren will, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em “Umsonst”, das<br />
aber radikal dem “Umsonst” der Liebe Gottes Recht gibt. Dem entspricht auch der Primat<br />
<strong>des</strong> Gotteslobs, der Rühmung Christi, über alle erlittenen und auferlegten Kalamitäten<br />
h<strong>in</strong>weg. Die Karmelit<strong>in</strong> Therese von Lisieux (1873-1897) wiederholte bis zu ihrem frühen<br />
Sterben den Satz: „Ich bereue es nicht, mich der Liebe ausgeliefert zu haben.“. Ja: In der<br />
Spannung von Liebe und Macht Gottes, zwischen Erbarmen und heiliger Souveränität<br />
halten sich die Mystiker an den Primat der Liebe und <strong>des</strong> Erbarmens. Das zeigt nicht nur<br />
die Dom<strong>in</strong>anz e<strong>in</strong>er riskanten Liebessprache, die sich vor den erotischen Bildern <strong>des</strong><br />
Hohen Lie<strong>des</strong> nicht scheut. Gerade die Bereitschaft, Gott „<strong>in</strong> allen D<strong>in</strong>gen“ zu suchen,<br />
macht nicht nur die Freude, sondern auch das unverständliche Leiden zum Ort möglicher<br />
mystischer Erfahrung. (Sölle)<br />
Die E<strong>in</strong>heit mit Gott, mit Christus, die Mystiker ersehnen und erfahren, stellt das<br />
Gegenüber von menschlichem Ich und göttlichem Du <strong>in</strong> Frage. Sie widerspricht e<strong>in</strong>er<br />
„Objektivierung“, e<strong>in</strong>er Vergegenständlichung Gottes. Gott „<strong>in</strong> uns“ und „über uns“<br />
.gehören zue<strong>in</strong>ander. Die menschliche Seele „<strong>in</strong> Gott“ glaubt sich <strong>in</strong> die göttliche Sphäre<br />
h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gezogen, erlebt sich als „gottfarben“ oder „gottförmig“. Ja, noch mehr: In den<br />
mystischen Texten begegnen Aussagen, die nach e<strong>in</strong>er teilweisen Identifikation von Gott<br />
und Mensch kl<strong>in</strong>gen. Gott sche<strong>in</strong>t sich von der Zuneigung <strong>des</strong> Menschen abhängig zu<br />
machen. Angelus Silesius formulierte: „Ich weiß, dass ohne mich Gott nicht e<strong>in</strong> Nu kann<br />
leben./ Werd ich zunichte, er muss vor Not den Geist aufgeben.“ Das muss nicht als<br />
blasphemisch abgewehrt werden. Man darf dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ungeheure Aufrichtung und<br />
Erhöhung <strong>des</strong> Menschen sehen.<br />
Gefahren und Rückfragen<br />
Wer dem mystischen Zeugnis offen begegnet, muss Fragen nicht unterdrücken. Immer<br />
wieder waren im Mittelalter mystische Bewegungen unter Verdacht gestellt. Meister<br />
Eckhart wurde verurteilt, Margarete Porete gar h<strong>in</strong>gerichtet. Solche Widerstände haben <strong>in</strong><br />
der Moderne die Mystik eher aufgewertet. Aber auch e<strong>in</strong>e reformatorisch orientierte<br />
Theologie richtete an die mystische Gottesrede kritische Fragen. Auch dann, wenn e<strong>in</strong>e<br />
Nähe zur Mystik ganz offenkundig bestand. Luther selber war von mystischen Anliegen,<br />
besonders <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Frühzeit, durchdrungen. Er war fasz<strong>in</strong>iert von den Predigten Johannes<br />
37
Taulers; selbst das Bild von „Braut und Bräutigam“ konnte er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Freiheitstraktat von<br />
1520 positiv aufgreifen. Um so gewichtiger werden se<strong>in</strong>e Anfragen an e<strong>in</strong>e Mystik mit<br />
Zügen der „theologia gloriae“. Auch Schleiermacher ist die Mystik bei Novalis nahe<br />
vertraut. Trotzdem vertrat er e<strong>in</strong>e radikale Neu-Reflexion <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>. Karl Barth kannte<br />
e<strong>in</strong>e liberale Erlebnisfrömmigkeit, die er kritisch vom Wort Gottes <strong>in</strong> Frage stellte,<br />
durchaus aus der Nähe.<br />
Fragen können an alle Grundthesen mystischer Spiritualität gerichtet werden:<br />
Kann wirklich auf dieser Erde die bleibende Gott-Vere<strong>in</strong>igung versprochen werden?<br />
Genügt es, auf eigene Erfahrung zu bauen, statt im Glauben auch gegen die Erfahrung<br />
auszuharren?<br />
Reicht der Rekurs auf die <strong>in</strong>dividuelle Innerlichkeit aus, ohne die geschichtlichen<br />
Vorgaben <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> zu achten?<br />
Bedeutet der Wandlungsweg e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>deutigen Aufstieg, der die vorher durchlaufenen<br />
Stufen entbehrlich macht?<br />
Kann das Wagnis e<strong>in</strong>er riskanten Liebessprache den vernünftigen Diskurs und die<br />
argumentative Verantwortung ersetzen?<br />
Solche Fragen verschärfen sich gerade bei den Beiträgen, <strong>in</strong> denen von der Mystik e<strong>in</strong>e<br />
Erneuerung <strong>des</strong> Gottesbil<strong>des</strong> erwartet wird. Jörg Z<strong>in</strong>k, der so hilfreich die Offenheit zu<br />
anderen mystischen Erfahrungen vertritt, betont gleichwohl: „Es ist Gott. Der Heilige, der<br />
Ferne, der unendlich Nahe, der nie mit mir zusammenfließt, auch wenn er ‚<strong>in</strong> mir wohnt’.<br />
Der Krug wird nie zu Wasser. Er kann mit Wasser gefüllt und von Wasser umgeben se<strong>in</strong>,<br />
er wird nie etwas anderes se<strong>in</strong> als der Krug.“ (Die goldene Schnur, 2008,237) Kann die<br />
pr<strong>in</strong>zipielle Überschreitung e<strong>in</strong>es personalen Gottesbilds möglich se<strong>in</strong>, ohne Christus als<br />
„Angesicht“ <strong>des</strong> unsichtbaren Gottes, als Zentrum und Quelle aufzugeben? Und kann die<br />
Erfahrung <strong>des</strong> „Christus <strong>in</strong> uns“, der “Vere<strong>in</strong>igung mit Gott“ jemals den Unterschied von<br />
Schöpfer und Geschöpf, von Versöhner und Sünder preisgeben?<br />
Neue Chancen mystischen <strong>Glaubens</strong><br />
Mit solchen nur angedeuteten Rückfragen ist die mystische Bewegung ke<strong>in</strong>eswegs<br />
beiseite geschoben. Im besten S<strong>in</strong>n verstanden hilft sie, die überlieferten Gottesbilder zu<br />
entlasten, zu läutern und neu zu entdecken. Das sei <strong>in</strong> vier Thesen knapp zur Diskussion<br />
gestellt.<br />
•<br />
Mystik bewahrt davor, sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Aktivismus <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> zu verlieren.<br />
Erst aus <strong>in</strong>nerer Ruhe und e<strong>in</strong>er gründlichen Gott-Verbundenheit heraus kann christliches<br />
Handeln der Selbstüberforderung und dem Leerlauf entgehen- Ohne dem Auftrag zur<br />
Arbeit an der politischen Befreiung abzuschwören, nimmt D. Sölle „Mystik“ zum<br />
Widerstand h<strong>in</strong>zu, ja deutet „Mystik“ als Kraft <strong>des</strong> gebotenen Widerstands. Damit bleibt die<br />
Mystik auch sehr nahe bei dem, was die Reformation, gegen alle Leistungsgerechtigkeit,<br />
neu ans Licht brachte: die Rechtfertigung aus Gnade. Mystik ermutigt „Gelassenheit“ und<br />
38
e<strong>in</strong> „Gebet der Ruhe“. So hat es e<strong>in</strong>e tiefe Bedeutung, dass das ostkirchliche<br />
„Herzensgebet“ im Westen so weite Verbreitung f<strong>in</strong>det.<br />
•<br />
Mystik kann aber auch davor schützen, dass die notwendigen Klärungen im Gottesbild<br />
an der <strong>in</strong>tellektuellen Oberfläche bleiben.<br />
„Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an e<strong>in</strong>em gedachten Gott; denn wenn der<br />
Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott.“ (Meister Eckart, Reden der Unterweisung,<br />
Qu<strong>in</strong>t S.60) Es ist e<strong>in</strong>e der anregendsten Seiten <strong>in</strong> dem Buch „Gott 9.0“, dass es die<br />
Stufen gewandelter Gottesbilder <strong>in</strong> Kontakt hält mit mystischen Erfahrungen und<br />
Zuständen. Neben die neun Stufen solcher Gottesbilder werden vier Zustände der<br />
Selbsterfahrung <strong>in</strong> „Achtsamkeit“, „Meditation“, „Kontemplation“ und „Verklärung“ gestellt<br />
und das Ziel <strong>des</strong> Buches wird auf die Formel gebracht: „Religiös aufgeklärt dank Stufen,<br />
spirituell erfahren dank Zuständen“. Die geistige, die theologische Debatte um tragfähige<br />
Gottesbilder bleibt unentbehrlich; die Mystik gibt ihnen das Gewicht der eigenen<br />
Erfahrung. Dabei bleibt der Mystik mehr, als Küstenmacher u.a. zeigen, bewusst, dass<br />
frühe Stufen <strong>des</strong> Gottesbil<strong>des</strong> nicht e<strong>in</strong>fach überholbar s<strong>in</strong>d. Das Grundvertrauen und die<br />
Allverbundenheit <strong>des</strong> kle<strong>in</strong>en K<strong>in</strong><strong>des</strong> bleiben <strong>in</strong> gewandelter Form auch für den kritischen<br />
erwachsenen Gottesbezug wesentlich. Darauf deutet e<strong>in</strong> mehrfach bezeugtes Wort<br />
Jesu:„Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, der wird nicht<br />
h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>kommen.“(Markus 10,15) E<strong>in</strong> erwachsener Glaube hat es nicht nötig, die<br />
Geborgenheit im „Grund <strong>des</strong> Lebens“ zu verleugnen.<br />
•<br />
Mystik er<strong>in</strong>nert an die dem Menschen geschenkte Hoheit und Würde.<br />
Was kann größer se<strong>in</strong>, als mit dem vere<strong>in</strong>igt se<strong>in</strong>, der Quelle und Grund alles Lebens ist?<br />
Was führt höher h<strong>in</strong>auf als zu vertrauen: „Christus lebt <strong>in</strong> mir“? Was alle als Ziel <strong>des</strong><br />
<strong>Glaubens</strong> erhoffen und ersehnen, wird Mystiker<strong>in</strong>nen und Mystikern schon auf dem Weg<br />
geschenkt: die Gegenwart der „Verklärung“, der <strong>in</strong>nersten Ruhe und Stille. Freilich nicht<br />
ohne schmerzhafte Wandlungs- und Umkehrprozesse, die gerade <strong>in</strong> der besonders<br />
glaubhaften Mystik nicht aufhören. Insofern gibt authentische Mystik nichts anderes als<br />
was F. Steffensky „Schwarzbrot Spiritualität“ nennt. Johannes Tauber bleibt denen nah,<br />
die sich mit den Widrigkeiten auf dem Weg plagen und immer wieder <strong>in</strong> „getrenge“<br />
h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geraten. Luther setzt bei se<strong>in</strong>en Weisen <strong>des</strong> Bibelumgangs nach „meditatio“ und<br />
„oratio“, gegen alle übliche Tradition, an die höchste Stelle nicht „contemplatio“, sondern<br />
„tentatio“, die Anfechtung, die Bedrängnis. Mystik hält es aus, mit dem „unbegreiflichen“,<br />
dem „dunklen“ Gott zu leben.<br />
•<br />
Mystik ist e<strong>in</strong>e Schule der Weitherzigkeit, der religiösen Toleranz.<br />
Hier war bisher vor allem von christlichen Traditionen der Mystik die Rede. Hier s<strong>in</strong>d<br />
Schätze zu entdecken, die immer noch weith<strong>in</strong> nicht bekannt s<strong>in</strong>d. Sie können im<br />
21.Jahrhundert neu gehoben werden. Aber wer die mystische Dynamik im christlichen<br />
Glauben kennen lernt, wird auch frei und unvore<strong>in</strong>genommen den mystischen<br />
Bewegungen <strong>in</strong> andern Religionen begegnen. Er wird Ähnlichkeiten entdecken und nicht<br />
voreilig abstreiten, dass der Gott Israels derselbe ist, den Christen als Vater Jesu Christi<br />
bekennen. Gerade den östlichen Religionen gegenüber gilt es aber auch, behutsam zu<br />
se<strong>in</strong> mit der Behauptung e<strong>in</strong>er identischen Erfahrung. Der <strong>in</strong> <strong>in</strong>terreligiöser Spiritualität so<br />
39
erfahrene Benedikt<strong>in</strong>er Emmanuel Jungclaussen fasst zusammen: „Ich glaube, dass wir<br />
zu e<strong>in</strong>em überraschend großen Kernbestand an Geme<strong>in</strong>samkeiten vordr<strong>in</strong>gen können.“ Er<br />
me<strong>in</strong>t aber auch: „die Besonderheit <strong>des</strong> Christentums darf dabei nicht auf der Strecke<br />
bleiben...wo ke<strong>in</strong>e Reibung entsteht, kann auch ke<strong>in</strong> Funke überspr<strong>in</strong>gen. Und das<br />
herausstehende Merkmal <strong>des</strong> Christentums ist für mich die Gestalt Jesu Christi.“ (Der<br />
Strom <strong>des</strong> Lebens, 2010,217) Den christlichen Glauben bis zur Inhaltslosigkeit entwerten,<br />
wird ke<strong>in</strong>e Vision für die Zukunft se<strong>in</strong>. Aber e<strong>in</strong> Weg, der uns lehrt, Gott „<strong>in</strong> allen D<strong>in</strong>gen“<br />
zu suchen, <strong>in</strong> der Gestalt Jesu Christi als Liebe zu f<strong>in</strong>den, wird auch imstande se<strong>in</strong>, Ihn <strong>in</strong><br />
andern Religionen zu suchen und für Ihn offen zu werden. Der <strong>in</strong>terreligiöse Dialog<br />
braucht den Austausch der Spiritualität, der mystischen Wege.<br />
Wege und Methoden zu mystischer Erfahrung<br />
Mystik ist ke<strong>in</strong>e Lehre, sondern Praxis und Zustand. Wahrsche<strong>in</strong>lich auch <strong>des</strong>halb<br />
gelangen nur wenige Gläubige <strong>in</strong> die Nähe mystischen Erlebens, weil die Methoden der<br />
Kontemplation und Meditation schwer zu erlernen und zu praktizieren s<strong>in</strong>d und viel Zeit<br />
kosten. Sie s<strong>in</strong>d aber ke<strong>in</strong>eswegs auf Klöster und Räucherstäbchen beschränkt. Diese<br />
<strong>Glaubens</strong>form steht nicht <strong>in</strong> der Gefahr, zu e<strong>in</strong>er exklusiven Esoterik zu werden. Vielmehr<br />
gibt es zahlreiche Methoden und Wege zu mystischer Erfahrung, die auch ohne<br />
e<strong>in</strong>schlägige Begabung ausprobiert werden können. Und die auch der sonstigen<br />
Lebensgestaltung neue Impulse geben können. Sie dienen (nach Berichten<br />
praktizierender Mystiker) der Selbstwahrnehmung und Gotteserfahrung und lassen höhere<br />
Wahrheit unmittelbar erfahren. Mystische Praxis vermittelt Bewusstse<strong>in</strong>serweiterung und<br />
Ahnung höherer Wirklichkeit, die über die Grenzen <strong>des</strong> Denkens h<strong>in</strong>ausreicht. Sie ergänzt<br />
das rationale Bewusstse<strong>in</strong> und die traditionelle Gläubigkeit. Genannt werden häufig<br />
Methoden der “Meditation”, der “Entspannung”, “Verwunderung und Staunen”, “<strong>in</strong>nere<br />
Bilder erfahren”, “den <strong>in</strong>neren Spiegel re<strong>in</strong>igen”, die “Bilderlose Schau”, “Nicht-Gott und<br />
Nicht-Bild erfahren”, “Das Ich verschw<strong>in</strong>det”, “Gottes Auge ist me<strong>in</strong> Auge”, “E<strong>in</strong>sse<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />
Christus”.<br />
In e<strong>in</strong>er Anlage Zur Praxis mystischer Erfahrung wird versucht, diese und weitere<br />
Methoden aus der mystischen Praxis kurz darzustellen. Dafür werden (stark verkürzt, ab<br />
Seite 272) Auszüge und Zitate von Mystikern aus dem schon mehrfach benutzten Buch<br />
„Gott 9.0“ zusammengestellt, die dazu beitragen können, etwas von den vier genannten<br />
Chancen mystischen <strong>Glaubens</strong> zu realisieren (oder wenigstens etwas Information darüber<br />
zu bieten.)<br />
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40
8, Funktionen und Wirkungen <strong>des</strong> Betens<br />
Gerade weil es so viele unterschiedliche Arten, Formen und Bewertungen <strong>des</strong> Betens gibt,<br />
ist es wichtig, e<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition <strong>des</strong> Gebets zu versuchen. Auch nach den (zahlreichen!)<br />
Funktionen und Auswirkungen <strong>des</strong> Gebets ist zu fragen. Dazu gehören auch die<br />
Rückwirkungen <strong>des</strong> Gebets auf das Individuum und auf e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft. Zu welchem<br />
Gott wird gebetet? Die Antwort darauf fällt bei K<strong>in</strong>dern anders aus als bei Erwachsenen<br />
und alten Menschen. Die Berücksichtigung der Kritik am Gebet muss das Beten nicht<br />
erschweren oder verh<strong>in</strong>dern, sondern kann es bewusster werden lassen. Dafür gibt es<br />
e<strong>in</strong>en Praxisvorschlag.<br />
Was ist e<strong>in</strong> Gebet?<br />
Hier zunächst der Versuch e<strong>in</strong>er kurzen beschreibenden Antwort, danach noch zu e<strong>in</strong>igen<br />
religiösen Aspekten etwas ausführlicher:<br />
Gebet gibt es <strong>in</strong> allen Religionen, zu Gott, Göttern oder zu jenseitig gedachten Personen<br />
(z.B. Heiligen, Maria, Jesus); auch ohne Ansprechen e<strong>in</strong>es Gegenübers.<br />
Grundlage <strong>des</strong> Gebetes ist der Glaube, dass der Mensch mit Gott, das heißt mit e<strong>in</strong>er<br />
größeren Wirklichkeit lebt, <strong>in</strong> der er aufgehoben ist und die ihm helfen kann. Betende<br />
glauben, dass Gott sie hört und auf das Gebet reagiert.<br />
Im Gebet überschreitet der Mensch se<strong>in</strong> Ich und die Grenzen se<strong>in</strong>es Verstehens. Es ist<br />
Ausdruck von Freiheit, Offenheit und Verantwortung für me<strong>in</strong> Tun und Lassen.<br />
E<strong>in</strong>zelheiten <strong>des</strong> Lebens werden im Gebet er<strong>in</strong>nert und <strong>in</strong> den Zusammenhang <strong>des</strong><br />
<strong>Glaubens</strong> gebracht.<br />
Durch Beten gew<strong>in</strong>nen Gläubige Abstand von sich selbst und vom Druck der Situation. Sie<br />
sammeln Kraft und pflegen auf diese Weise langfristig Wünsche und Bedürfnisse, die<br />
auch ziemlich häufig zunächst unerfüllbar ersche<strong>in</strong>en (z. B. Frieden, Gerechtigkeit).<br />
Betende f<strong>in</strong>den sich nicht mit der Wirklichkeit ab, sondern glauben, dass sie veränderbar<br />
ist.<br />
So dient das Gebet auch der Vorbereitung, Ausrichtung und Reflexion <strong>des</strong> Handelns.<br />
Gebet ist realistisch, weil der Mensch dar<strong>in</strong> unterscheidet zwischen dem, was er selbst tun<br />
kann, und dem, was nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Macht steht.<br />
Jesus hat zum Gebet ermutigt ("Bittet, so wird euch gegeben", Matthäus 7,7). Aber daraus<br />
lässt sich ke<strong>in</strong> Anspruch auf Erfüllung aller Gebete ableiten. Ohnmacht wird weniger als<br />
vernichtend, sondern durch Beten als erträglich erlebt.<br />
An den Gebeten e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen oder e<strong>in</strong>er Gruppe lässt sich erkennen, wonach das<br />
Leben ausgerichtet wird, am Erwerb von persönlichem Besitz, beruflichem Erfolg oder an<br />
humanitären Werten.<br />
Gebet kann viele Formen haben, von der kurzen, spontan selbstformulierten Bitte (früher<br />
"Stoßgebet" genannt) bis h<strong>in</strong> zu längeren und durch Gebrauch bekannten Gebeten, still für<br />
sich oder <strong>in</strong> Familie, Kirche und Gruppen, laut und alle<strong>in</strong> oder zusammen mit anderen.<br />
41
In feststehenden Formeln können Betende sich mit anderen treffen und sich selbst mit<br />
ihren eigenen Anliegen e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen. Auch Meditation, Gesang und Plakate bei<br />
Demonstrationen s<strong>in</strong>d oft Gebete.<br />
Zum (Anlass und) Inhalt <strong>des</strong> Betens kann fast alles werden: Bitte um kle<strong>in</strong>e und große<br />
D<strong>in</strong>ge, für andere und für alle, Dank, Gedenken, Klage, Bekenntnis, Frage, Antwort,<br />
Zugeben von Schuld, Staunen, Lob, Anerkennung (nicht aber Anweisung oder Belehrung).<br />
Als Vorlage für Gebete dienen das Vaterunser, Psalmen und Liederverse, Bücher mit<br />
Gebeten für besondere Situationen und Altersstufen, vom e<strong>in</strong>fachen K<strong>in</strong>dergebet bis zur<br />
kunstvollen Dichtung.<br />
Die Fähigkeit zu beten wird am besten zusammen mit anderen (z.B. den Eltern) als K<strong>in</strong>d<br />
gelernt, aber auch später kann es e<strong>in</strong>geübt und auch von jemandem probiert werden, der<br />
sich Gott nicht als Person vorstellt. Feste Zeiten oder Regeln haben sich als hilfreich<br />
erwiesen (z.B. am Morgen oder Abend, beim Essen oder zu Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Reise). Aber<br />
ihre E<strong>in</strong>haltung ist ebenso wenig wie Händefalten oder Knien e<strong>in</strong> sicheres Kennzeichen für<br />
christliches Beten. Dieses muss sich vielmehr immer wieder neu aus dem ergeben,<br />
woraus der Glaube lebt.<br />
Wer den Wert <strong>des</strong> Gebetes für sich erfahren hat, wird andere dazu e<strong>in</strong>laden oder<br />
teilnehmen lassen.<br />
Zu welchem Gott wird gebetet?<br />
Jede Überlegung zum Gebet muss die Gottesvorstellung dah<strong>in</strong>ter klären. Gott wird oft<br />
als Ansprechpartner verstanden, der menschliche Züge trägt. Aber Gott ist für den<br />
Glauben auch die Macht, die außerhalb und zugleich <strong>in</strong> dieser Welt als<br />
letztbestimmende Instanz existiert. Unsere Vorstellungskraft, unsere Gedanken,<br />
können Gott nicht fassen.<br />
Mit dem Wort Gott wird die Überzeugung bezeichnet, dass e<strong>in</strong>e größere Wirklichkeit weit<br />
über unser Denken und Tun h<strong>in</strong>aus existiert. An sie richten sich unsere Erwartungen,<br />
unser Glaube, dass er/sie Möglichkeiten der Hilfe, Ergänzung und Erkenntnis bereithält.<br />
Das hat dann praktisch zur Folge, dass man sich auch wirklich auf se<strong>in</strong>en Glauben<br />
e<strong>in</strong>lässt. Diese Funktion <strong>des</strong> Gebetes ist jedenfalls nicht <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie davon abhängig,<br />
ob das Wort Gott <strong>in</strong> der Anrede gebraucht wird oder nicht.<br />
Gott wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuzeitlichen Weltbild nicht als e<strong>in</strong>e willkürlich von außen <strong>in</strong>s Leben<br />
e<strong>in</strong>greifende Kraft angesehen. Deshalb darf e<strong>in</strong> Gebet nicht magisch missverstanden<br />
werden als wortreiches Bemühen <strong>des</strong> Beters, Gott zu e<strong>in</strong>em gewünschten „Handeln" zu<br />
veranlassen. E<strong>in</strong> Gebet setzt also nicht Gott <strong>in</strong> Bewegung, kann ihn nicht <strong>in</strong> Bewegung<br />
versetzen, sondern den Beter selbst (so der Theologe und Physiker Stadelmann; vgl. auch<br />
den Abschnitt „Gibt es e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>wirken Gottes auf das Weltgeschehen?“ Seite .??..16).<br />
Die Sprache <strong>des</strong> Gebets mit dem Urgrund, der abgründigen Liebe, dem Umgreifenden<br />
und wie die Versuche alle lauten mögen, das Unsagbare zu benennen, ist uns noch gar<br />
nicht gegeben. Wir kennen nur die Sprache <strong>des</strong> Gebets <strong>in</strong> Worten, mit der wir auch<br />
untere<strong>in</strong>ander als Personen kommunizieren. Kann e<strong>in</strong>e Bitte wie „Und erlöse uns von dem<br />
Bösen“ an e<strong>in</strong>en „Urgrund“ gerichtet werden, ohne <strong>in</strong>s Bodenlose zu fallen? Manche tun<br />
das bereits und erfahren bei diesem Wunsch, dass zu se<strong>in</strong>er Erfüllung mehr helfen muss<br />
– und hilft! – als das im eigenen Lebenskreis da ist). Viele sprechen diese Bitte im<br />
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Vaterunser aus und hoffen dabei auf den Beistand e<strong>in</strong>er größeren Macht, die ihnen die<br />
Kraft gibt selbst dem Bösen zu widerstehen! So kann das Vaterunser auch gebetet<br />
werden, wenn man nicht an e<strong>in</strong>en persönlichen Gott analog zur Vaterfigur Michelangelos<br />
<strong>in</strong> der Sixt<strong>in</strong>ischen Kapelle glaubt, (Das muss nicht im Gegensatz und Widerspruch zur<br />
Kommunikation mit Gott als e<strong>in</strong>em persönlichen Wesen stehen).<br />
Wie immer Menschen sich das Göttliche, die größere Wirklichkeit vorstellen, sie sprechen<br />
es an als Gegenüber und vertrauen darauf, von diesem verborgenen Gegenüber gehört<br />
zu werden v.a. <strong>in</strong> Gebet und Meditation. Und sie hoffen darauf Antwort zu erfahren – und<br />
erleben dies auch.<br />
Unsere Sprache ermöglicht uns die persönliche Kommunikation. Wir erlernen sie als<br />
K<strong>in</strong>der im Aufnehmen persönlicher Beziehung. Das prägt auch unsere vertrauende<br />
Kommunikation mit der Gottheit und legt uns e<strong>in</strong> Bild von ihr als Person nahe, die sich um<br />
jeden e<strong>in</strong>zelnen Menschen kümmert und <strong>in</strong> das Geschehen e<strong>in</strong>greift. „Den<br />
K<strong>in</strong>dheitsglauben verlieren“ kann darum e<strong>in</strong>em wirklichen Verlust gleichkommen, weil uns<br />
die natürlich erworbene Sprache versagt, sich an e<strong>in</strong> Gegenüber zu wenden, das wir uns<br />
als unpersönlich vorstellen wollen oder müssen. Das Idiom dafür erwerben wir nicht wie<br />
die Muttersprache, sondern müssen es wie e<strong>in</strong>e Fremdsprache erlernen, wenn nicht sogar<br />
der Vergleich mit dem Erlernen der Sprache der Mathematik angebracht ist. Wo und wie<br />
können wir diese Sprachform so gut erwerben, dass wir als Glaubende uns dar<strong>in</strong><br />
glaubwürdig ausdrücken können? („K<strong>in</strong>derglaube“ kann aber auch Erkenntnisfortschritte<br />
verh<strong>in</strong>dern. Deshalb sollte er behutsam zu e<strong>in</strong>em erwachsenen Verständnis<br />
weiterentwickelt werden, <strong>in</strong> dem er nicht abgeschafft, sondern gleichsam <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Kern<br />
aufgehoben ist.)<br />
Beten als Ausdruck <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> – me<strong>in</strong>es <strong>Glaubens</strong><br />
Das Gebet ist für Gläubige e<strong>in</strong> Sprechen zu Gott, Gespräch mit Gott. Alles darf gesagt<br />
werden. Gott hört.<br />
E<strong>in</strong> Gebet kann e<strong>in</strong>e Bitte oder e<strong>in</strong> Wunsch se<strong>in</strong>, aber ist das alles? E<strong>in</strong> Gebet kann alles<br />
se<strong>in</strong>: E<strong>in</strong> Lied, e<strong>in</strong>e Anrede, festgefügte oder freie Worte, sogar das ganze Leben kann e<strong>in</strong><br />
Gebet se<strong>in</strong>. Es kommt auf die Haltung, auf die E<strong>in</strong>stellung zum Leben an. Glaube ich<br />
alle<strong>in</strong>iger Manager me<strong>in</strong>es Lebens zu se<strong>in</strong> und verstehe ich mich als autonome,<br />
selbstgenügsame Entität, dann wird es mir schwer fallen zu beten. Wenn ich me<strong>in</strong> Leben<br />
jedoch als Geschenk verstehe, entsteht e<strong>in</strong> Gefühl der Dankbarkeit. Ich will dem danken,<br />
der es mir geschenkt hat. Ich setze damit Gott voraus, egal wie ich ihn mir vorstelle.<br />
Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, was e<strong>in</strong> Gebet ist. Das wirkt sich auf die<br />
Praxis <strong>des</strong> Beten aus.<br />
Der e<strong>in</strong>zelne Mensch oder die Geme<strong>in</strong>schaft setzt sich <strong>in</strong> Beziehung zu Gott, dem letzten<br />
Grund <strong>des</strong> Se<strong>in</strong>s. Die Rede zu Gott setzt das „Du“ auf der anderen Seite voraus. Gott wird<br />
dabei häufig menschlich gedacht. Er wird als Gesprächspartner verstanden, der auch um<br />
entsprechende Reaktionen gebeten werden kann. Dieses eng geführte personale<br />
Gebetsverständnis hat jedoch häufig zu Missverständnissen geführt. Für die Leistung<br />
e<strong>in</strong>es Gebetes erwarten viele genau die Gegengabe, die man sich wünscht. E<strong>in</strong> Gebet ist<br />
aber ke<strong>in</strong> Geschäft auf Gegenseitigkeit. Denn Gott, den wir mit dem Gebet auffordern oder<br />
bitten, dass er uns etwas gibt oder sich bei uns etwas ändert, ist ja auch der Geber der<br />
Situation, die wir verändern wollen. Auch das, was der Betende unangenehm erlebt und<br />
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‘wegbitten’ will, ist nicht ohne Gott zu denken. Wenn wir beten, verlassen wir uns auf Gott.<br />
Vielleicht können wir sowohl die Erfüllung der Bitte als auch die Nichterfüllung als Aufgabe<br />
im Leben annehmen. Das Gebet hat uns dann dabei gestärkt und die Richtung für unser<br />
Denken und Handeln gezeigt.<br />
Im Gebet suchen wir die persönliche Nähe zu Gott beispielsweise <strong>in</strong> den Worten <strong>des</strong><br />
Vaterunsers. Hier wird Gott als der Schöpfer, der Vater <strong>des</strong> Lebens angesprochen. Wir<br />
können aber auch zu Jesus beten. In ihm, dem Sohn, zeigt sich die menschliche Seite<br />
Gottes. In beiden Fällen ist jedoch die direkte Beziehung zu Gott entscheidend für den<br />
Glauben.<br />
Arten und Formen <strong>des</strong> Gebets<br />
Arten <strong>des</strong> Gebets<br />
Es gibt beim Gebet die Bitte, den Dank, die Fürbitte und das Lob, die Anbetung, aber<br />
auch die Klage..<br />
Die Bitte setzt (mehr oder weniger selbstverständlich) voraus, dass Gott daraufh<strong>in</strong> etwas<br />
tut, <strong>in</strong> den Geschehensablauf e<strong>in</strong>greift, etwas ändert. Es wird nach Erklärungen gesucht,<br />
wenn das nicht der Fall ist oder zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t. Wer nicht mit e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>greifen Gottes<br />
rechnet wird sich eher selbst etwas wünschen als Gott darum zu bitten.<br />
Das Dankgebet br<strong>in</strong>gt zum Ausdruck, dass viele Ereignisse, Lebens<strong>in</strong>halte, Menschen<br />
und D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> ihrem Dase<strong>in</strong> und Wert Gabe und Geschenk Gottes s<strong>in</strong>d, aus e<strong>in</strong>er größeren<br />
Wirklichkeit heraus entstanden und ke<strong>in</strong>eswegs vom Betenden selbst gemacht oder<br />
geschaffen.<br />
Fürbitte ist e<strong>in</strong> mitfühlen<strong>des</strong> Gedenken an andere Menschen mit dem Wunsch, dass ihnen<br />
aus dem größeren Zusammenhang <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> heraus Hilfe, Hoffnung und Gutes<br />
zukommt und zuteil wird.<br />
Das Gebet wird zur Klage über verme<strong>in</strong>tlich oder tatsächlich als unzumutbar erfahrenes<br />
Leid <strong>in</strong> der Zuversicht, dass auch im Leiden die Verb<strong>in</strong>dung zur größeren Wirklichkeit, zu<br />
Gott nicht abreißen muss (wie es vor allem auch Jesus selbst gezeigt hat.).<br />
Anbetung ist Wahrnehmung und Anerkennung der Größe und Macht Gottes, aber auch<br />
se<strong>in</strong>er Schöpfung und se<strong>in</strong>er Liebe. Dank für eigenes Wohlergehen und Schicksal, Bitte,<br />
eigene Wünsche und Fürbitte treten dabei <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund.<br />
Das Gebet hat Rückwirkungen auf die Betenden. So zeigt sich z.B. an den Gebeten e<strong>in</strong>er<br />
Geme<strong>in</strong>schaft, worauf es ihr ankommt, was ihr wichtig ist.<br />
Zum Beispiel wird beim Tischgebet bewusst, erkannt und anerkannt, dass Essen und<br />
Lebensbed<strong>in</strong>gungen von weiter her kommen und durch e<strong>in</strong>en größeren Zusammenhang<br />
bed<strong>in</strong>gt s<strong>in</strong>d (vielleicht fällt dann auch manche Kritik am Essen oder am Personal anders<br />
aus).<br />
Außerdem wird angedeutet, dass Essen, Aufnehmen und Annehmen auch e<strong>in</strong>en Zweck<br />
haben: Kraft zu bekommen für die eigenen Aufgaben und dazu auch e<strong>in</strong>en Beitrag zur<br />
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Erschließung der größeren Wirklichkeit zu leisten und diese damit selbst zu f<strong>in</strong>den:<br />
„Segne, Vater, diese Speise, uns zur Kraft und dir zum Preise". Das heißt übersetzt: Wie<br />
ist eigentlich das zu bewerten, was wir aus den uns zur Verfügung stehenden<br />
Lebensmitteln machen? Natürlich haben wir dafür gearbeitet — aber Dankbarkeit und<br />
Offenheit für den größeren Zusammenhang lässt noch MEHR erkennen. Das Essen wird<br />
durch das Gebet zum Modell; die hier angefangene Offenheit kann auf viele andere<br />
Stellen übertragen werden, z. B. wenn man sich nach dem Essen wieder <strong>in</strong> das Auto<br />
setzt, e<strong>in</strong>e Masch<strong>in</strong>e bedient oder e<strong>in</strong>kaufen geht - auch da kommt MEHR auf uns zu als<br />
uns im Alltagsbetrieb bewusst wird (aber doch dann, wenn es dafür Anregung und<br />
Er<strong>in</strong>nerung gibt).<br />
Bei Feiern und Festen repräsentiert das Gebet die Offenheit für den größeren<br />
Zusammenhang. Man muss dafür nicht unbed<strong>in</strong>gt die gewohnte Form <strong>des</strong> Gebetes, also<br />
die ausdrückliche Anrede Gottes, wählen. Wer bei der Vorbereitung der üblichen<br />
Ansprachen daran denkt, welche Aussagen In Gebeten vorkommen und wie sie auch hier<br />
entsprechend berücksichtigt werden können, der bietet den Zuhörern möglicherweise mit<br />
H<strong>in</strong>weisen auf H<strong>in</strong>tergrund und Zusammenhang <strong>des</strong> Anlasses Anregung zu tieferer<br />
Erkenntnis und Empf<strong>in</strong>dung.<br />
Formen <strong>des</strong> Gebetes:<br />
Wie die Inhalte so s<strong>in</strong>d auch die Formen <strong>des</strong> Gebetes vielfältig. Um nur e<strong>in</strong>ige zu nennen:<br />
Es gibt das Freie Gebet, alle<strong>in</strong> oder mit anderen, nach Vorlagen (aus der Literatur, der<br />
Bibel, <strong>in</strong> der Liturgie), im Lied, <strong>in</strong> Kunstwerken, <strong>in</strong> Gesten und Demonstrationen.<br />
In der Liturgie <strong>des</strong> Gottesdienstes hat das Gebet e<strong>in</strong>en festen Platz. Das wird bei positiver<br />
Wertschätzung von Gebet und Gottesdienst etwa so gesehen:<br />
„Zu Beg<strong>in</strong>n <strong>des</strong> Gottesdienstes im E<strong>in</strong>gangsgebet spiegelt sich die Kirchenjahreszeit und<br />
ich werde persönlich aus me<strong>in</strong>em Alltag zu Gott geholt.<br />
Der anschließend gebetete Psalm beheimatet mich <strong>in</strong> der biblischen Gebetstradition mit<br />
den festgefügten Worten und Bildern.<br />
Das Fürbittengebet, nach der Predigt, verb<strong>in</strong>det mich mit me<strong>in</strong>en Nächsten und der<br />
ganzen Welt, ich bete mit anderen für Andere.“<br />
Funktionen <strong>des</strong> Gebets:<br />
Hier ist zu unterscheiden zwischen möglichen Wirkungen von Gebeten auf den<br />
Adressaten, auf die Beter selbst oder auf deren Umgebung.<br />
In der Religions- und Kirchengeschichte wurden zwar häufig Ereignissen im<br />
politischen, gesellschaftlichen und <strong>in</strong>dividuellen Bereich auf die Bitten an Gott<br />
zurückgeführt. Die Erwartung konkreter Hilfe Gottes durch E<strong>in</strong>wirken auf den<br />
Geschehensablauf als Reaktion auf Gebete ist aber nicht das Hauptkennzeichen und<br />
Motiv <strong>des</strong> christlichen Gebetes. Sie wird zudem auch durch die zunehmenden<br />
naturwissenschaftlichen Erkenntnisse verdrängt.<br />
Dagegen lassen sich aber sehr wohl Wirkungen <strong>des</strong> Gebets auf die Beter selbst und<br />
deren Umgebung nennen:<br />
45
Entlastung<br />
Das Gebet hilft im Alltag. Es entlastet und ist Lebensbewältigung. Das Gebet kann<br />
dazu dienen, schwer überschaubare Situationen, Hoffnungen und Befürchtungen<br />
auszusprechen. Es wirkt dann entlastend. E<strong>in</strong> lautes oder stilles Vortragen verworrener<br />
oder schwieriger Gedanken ermöglicht Distanz zu sich selbst und verh<strong>in</strong>dert nutzloses<br />
Grübeln. Ordnung der Gedanken wird geschaffen. Im Gebet kommt es zu e<strong>in</strong>em<br />
<strong>in</strong>neren Klärungsprozess, <strong>in</strong>dem neue Handlungsalternativen gesehen werden können.<br />
Es eröffnet e<strong>in</strong>e neue Welt.<br />
Im Gebet kann ich auch das eigene Ich zurücktreten lassen. Ich kann mir deutlich<br />
machen, dass fast alles, was geschieht, nicht von mir selbst gemacht wird.<br />
Durch Beten bekommt man Distanz zum Alltag und zu se<strong>in</strong>en Sorgen und Problemen.<br />
Es gel<strong>in</strong>gt, <strong>in</strong>nerlich e<strong>in</strong>en Schritt aus diesem Alltag herauszutreten und ihn aus e<strong>in</strong>er<br />
Außenperspektive zu betrachten. Damit verliert er die Macht uns zu vere<strong>in</strong>nahmen.<br />
Handlungshilfe<br />
Das Gebet befähigt zum Handeln. Es wird erzählt, dass zwei Bauern mit vollgeladenen<br />
Karren e<strong>in</strong>her kamen. Die Wege waren verschlammt und beide Karren fuhren sich fest.<br />
E<strong>in</strong>er der beiden Bauern war sehr fromm, er fiel sofort im Schlamm auf die Knie nieder<br />
und begann, Gott zu bitten, ihm zu helfen. Er betete und betete ohne Unterlass. Der<br />
andere schimpfte entsetzlich über das Unglück, versuchte aber, den Karren aus dem<br />
Dreck zu ziehen. Er betete leise, Gott möge ihm die Kraft geben, den Karren<br />
herauszuziehen. Er suchte sich Zweige und Blätter und Erde zusammen, legte sie<br />
unter die Räder und versuchte dann, den Karren herauszuziehen. Da stieg e<strong>in</strong> Engel<br />
aus der Höhe nieder. Zur Überraschung der beiden, g<strong>in</strong>g er zu dem Menschen, der<br />
geschimpft und gearbeitet hatte. Darauf wendete der andere verwirrt e<strong>in</strong>:<br />
,,Entschuldige, das muss e<strong>in</strong> Irrtum se<strong>in</strong>! Ich habe dich doch hernieder gebetet, komm<br />
mir zu Hilfe!" Aber der Engel sagte: ,,Ne<strong>in</strong> - die Hilfe gilt dem anderen. Gott hilft dem,<br />
der betet und arbeitet." Das Gebet ersetzt das eigene Handeln nicht. Es regt Handeln<br />
an – soweit möglich.<br />
So können Gläubige im Gebet ihr Handeln planen, korrigieren und an den Maßstäben<br />
und Erfordernissen e<strong>in</strong>er größeren Wirklichkeit orientieren.<br />
Dialog<br />
In der Psychologie wird die Bedeutung <strong>des</strong> „<strong>in</strong>neren Dialogs“ <strong>in</strong>sbesondere bei K<strong>in</strong>dern<br />
hervorgehoben. Gebete können den „<strong>in</strong>neren Dialog“ verstärken und <strong>in</strong>haltlich füllen.<br />
Die persönliche Wertorientierung und das Selbstbewusstse<strong>in</strong> wird durch solche<br />
Reflexionen entscheidend gefördert.<br />
Aneignung<br />
Das Gebet bietet den Gläubigen die Möglichkeit, die aus der Predigt oder sonstiger<br />
Verkündigung aufgenommenen Worte auch selbst zu verwenden und sich damit bis zu<br />
e<strong>in</strong>em gewissen Grad anzueignen. Dadurch wurde es zur e<strong>in</strong>er der wichtigsten<br />
Übungen <strong>des</strong> (z. T. allerd<strong>in</strong>gs nur mitvollziehenden) Formulierens und Verbalisierens<br />
von <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halten, die es <strong>in</strong> früheren Zeiten ohne Bücher, Zeitungen und<br />
Massenmedien gab.<br />
46
Bewusstse<strong>in</strong>ssteigerung<br />
Das Gebet ist somit e<strong>in</strong>e umfangreiche, exemplarische Hervorhebung und<br />
Bewusstmachung von Ereignissen, Gedanken und Möglichkeiten. Wenn dabei auch<br />
e<strong>in</strong>e Auswahl getroffen werden muss, so gibt es doch grundsätzlich nichts, worum und<br />
wozu nicht gebetet werden könnte.<br />
Schließlich vertieft und variiert das Gebet Erfahrungen, Ereignisse und Gedanken.<br />
Dadurch werden sie auch für zukünftige Verwendung bereitgestellt.<br />
Besonders deutlich wird das beim Dankgebet. Die Funktion <strong>des</strong> Dankes ist ja auch bei<br />
den zwischenmenschlichen Beziehungen nicht nur dar<strong>in</strong> zu sehen, dass dadurch gute<br />
Beziehungen zur Außenwelt, etwa zu den Gebern der empfangenen Gaben gepflegt<br />
werden. Vielmehr erlaubt Dankbarkeit auch e<strong>in</strong>e bewusste und unterscheidende<br />
Aufnahme der Ereignisse und Erfahrungen, um sie richtig e<strong>in</strong>zuordnen.<br />
Abstand durch Gebet<br />
Das Gebet ermöglicht dem Menschen auch e<strong>in</strong>en gewissen Abstand zu se<strong>in</strong>er<br />
Situation e<strong>in</strong>zunehmen. Er wird von e<strong>in</strong>em entstandenen Handlungs- und<br />
Ambivalenzdruck entlastet, <strong>in</strong>dem er e<strong>in</strong>iges davon sozusagen Gott zuschiebt. Das<br />
mag <strong>in</strong> manchen Fällen als e<strong>in</strong>e Flucht vor der Realität <strong>in</strong> Verantwortungslosigkeit und<br />
Untätigkeit (Quietismus) ersche<strong>in</strong>en. Man sollte aber nicht übersehen, welche<br />
Bedeutung Beten — Händefalten! — <strong>in</strong> früheren Zeiten hatte, <strong>in</strong> denen die Menschen<br />
unter e<strong>in</strong>em ungeheuren Leistungsdruck standen. Der Existenzkampf g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Welt vor sich, die zu arm war, um die menschlichen Bedürfnisse ohne ständige<br />
E<strong>in</strong>schränkungen, Verzichte und Verzögerungen zu erfüllen und die meist leibeigene<br />
Bauern nur das Nötigste zum Leben für sich und ihre Familien beschaffen konnten.“<br />
Man kann das Beten mit der Arbeit e<strong>in</strong>es Ballonfahrers vergleichen. Will er an Höhe<br />
gew<strong>in</strong>nen, muss er Ballast abwerfen. Und genau das können wir im Gebet tun: Ballast<br />
abwerfen! Alles loslassen: Alle Bilder, alle Gedanken, alles, was uns heute geschehen<br />
ist, können wir loslassen, abgeben, zu Gott h<strong>in</strong>. Dann werden wir frei: Die Gedanken,<br />
die Erlebnisse von gestern können unseren Geist nun nicht mehr besetzen, so wie sie<br />
das immer getan haben.<br />
Realismus<br />
Wenn e<strong>in</strong> Mensch betet, dann unterscheidet er damit zunächst e<strong>in</strong>mal zwischen dem,<br />
was er selbst tun kann und dem, was nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Macht steht. Das ist im Grunde<br />
nichts anderes als Realismus und nüchterne Sachlichkeit. Es ist schon viel gewonnen,<br />
wenn das Unverfügbare im Gebet wenigstens benannt und abgegrenzt ist.<br />
Im Gebet wird jedenfalls — wie <strong>in</strong> der Wissenschaft — die Grenze <strong>des</strong>sen, was völlig<br />
unmöglich ersche<strong>in</strong>t, sehr weit h<strong>in</strong>ausgeschoben. Wenn Bitten an Gott gerichtet<br />
werden, so beziehen sie sich <strong>in</strong> der Regel auf etwas, das der Mensch nach<br />
vernünftiger E<strong>in</strong>schätzung der Lage mit den ihm zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln<br />
47
zur Zeit oder auf lange Sicht h<strong>in</strong> nicht realisieren kann, was er aber auch nicht<br />
aufgeben will.<br />
Willensbildung und Entscheidungsvorbereitung<br />
Wird im Zusammenhang mit wichtigen Entscheidungen gebetet, so kommt dies e<strong>in</strong>er<br />
längeren Offenhaltung gleich, was die E<strong>in</strong>beziehung weiterer Aspekte ermöglicht.<br />
Wenn für Notleidende gebetet wird, so wirkt das als Selbstverpflichtung auf die<br />
Betenden zurück. Das Fürbittengebet für Kranke und Gefangene zeigt und verstärkt<br />
die durch den Glauben begründete Geme<strong>in</strong>schaft. „Das Gebet bereitet den Menschen<br />
darauf vor, die Verantwortung für se<strong>in</strong>e Welt zu übernehmen"-<br />
Wenn das Beten helfen würde.....<br />
Hoffnung auf Hilfe ist immer noch e<strong>in</strong> starkes religiöses und psychologisches Motiv <strong>des</strong><br />
Betens. Das Gebet ist <strong>in</strong> vielen Notlagen die e<strong>in</strong>zige Möglichkeit, wenigstens etwas zu<br />
tun, wenn es auch nicht sofortige Abhilfe zur Folge hat. Hier wird Gott verstanden als<br />
e<strong>in</strong>er, der mehr oder weniger direkt <strong>in</strong> den Ablauf der Geschehnisse e<strong>in</strong>greift.<br />
Für den christlichen Glauben ist aber, wie oben schon erwähnt, die Hoffnung auf<br />
Erfüllung von Wünschen nicht das Hauptmotiv für das Beten. Es gibt andere<br />
gleichwertige und überzeugende Funktionen.<br />
So ist das Gebet e<strong>in</strong>e Möglichkeit, Form und Übung, von sich selbst weg zu denken,<br />
sich zu öffnen und offenzuhalten für den größeren Zusammenhang und die größere<br />
Wirklichkeit. Als Verhaltensweise ist das Gebet weitgehend unabhängig von äußeren<br />
Anlässen und Ereignissen und zu jeder Zeit und fast unter allen Umständen<br />
praktizierbar. Der Mensch gew<strong>in</strong>nt dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Abstand von sich selbst und von der<br />
Situation, <strong>in</strong> der er sich bef<strong>in</strong>det. Auf dem Umweg über das Gebet sieht der Mensch<br />
sich selbst im größeren Zusammenhang. Es hat für ihn die Wirkung e<strong>in</strong>es religiösen<br />
archimedischen Punktes. Jederzeit und ohne Begrenzung kann so mit e<strong>in</strong>em<br />
unendlichen Gesprächspartner geredet werden, dass jede Bewertung von Ereignissen,<br />
jede konkrete Situation und je<strong>des</strong> eigene Empf<strong>in</strong>den <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen Licht ersche<strong>in</strong>t.<br />
Dadurch entsteht Freiheit.<br />
Der Betende wendet sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Bewusstse<strong>in</strong> und Reden dem zu, was jenseits<br />
se<strong>in</strong>er Grenzen liegt, was se<strong>in</strong>em Wesen nach nicht erreichbar ersche<strong>in</strong>t.<br />
In der christlichen Gebetspraxis kommt deutlich zum Ausdruck, dass das Gebet<br />
vielfach auch Reaktion auf etwas Erfahrenes, Gehörtes oder Gelesenes dar. Es stellt<br />
also e<strong>in</strong>e Wechselbeziehung zur Außenwelt her und <strong>in</strong>stitutionalisiert sie geradezu.<br />
Rückwirkungen <strong>des</strong> Gebetes auf e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft<br />
Zu beachten (und zu beobachten!) ist, dass das Gebet Rückwirkungen auf die<br />
Betenden hat. So zeigt sich z.B. an den Gebeten e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft, worauf es ihr<br />
ankommt, was ihr wichtig ist.<br />
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So wird e<strong>in</strong>e zu politischen Zielen oder gegen Ungerechtigkeit betende Gruppe nur<br />
gewaltfrei agieren können.<br />
Geme<strong>in</strong>sam zum gleichen Gott betende Menschen haben normalerweise ke<strong>in</strong>e großen<br />
Unterschiede <strong>in</strong> ihrer gegenseitigen Wertschätzung.<br />
Gebetete Fürbitte kann die Bereitschaft zur Hilfe verstärken.<br />
7. Beten mit K<strong>in</strong>dern – warum und wie<br />
Mit Vorschlägen für die Praxis <strong>in</strong> der Anlage<br />
Beim Beten erlebt das K<strong>in</strong>d, dass es außer den Erwachsenen noch jemanden gibt, der<br />
<strong>in</strong> ihrem Leben wichtig ist. Dem man alles anvertrauen kann - gute und schlechte<br />
Erlebnisse. Das kann K<strong>in</strong>dern im Leben helfen und entlastet sie. Gott ist sogar jemand,<br />
zu dem man reden kann, wenn e<strong>in</strong>en ke<strong>in</strong> Erwachsener versteht. Durch Beten erleben<br />
K<strong>in</strong>der die Gewissheit, nie alle<strong>in</strong>e zu se<strong>in</strong>: Gott ist da, zu ihm kann ich beten, mit ihm<br />
kann ich reden, ihn kann ich mit <strong>in</strong>s Leben h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> nehmen.<br />
Erwachsene, die mit ihren K<strong>in</strong>dern beten, vermitteln ihnen e<strong>in</strong>e Geborgenheit, die das<br />
ganze Leben tragen kann. Gleichzeitig erziehen sie ihre K<strong>in</strong>der aber auch zur<br />
Selbstständigkeit, denn das Gebet kann zu e<strong>in</strong>em Ort werden, an dem sich das K<strong>in</strong>d<br />
eigenständig und unabhängig von den Erwachsenen fühlt.<br />
8. Kritik am Gebet<br />
Folgende Argumente werden <strong>in</strong> der Kritik am Gebet häufig genannt:<br />
Durch das Gebet kann e<strong>in</strong>e Flucht vor der Realität versucht werden. Man f<strong>in</strong>det sich<br />
allzu leicht damit ab, dass die Welt nicht verändert werden kann. Das Gebet wird dann<br />
zur Ersatzhandlung.<br />
Das Gebet ist e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derung <strong>des</strong> Kräftepotentials, das für die Bewältigung<br />
anstehender Aufgaben verfügbar ist. Selbst e<strong>in</strong> möglicher psychologischer Erfolg<br />
entspricht nicht dem dafür notwendigen Aufwand.<br />
Durch das Vertrauen auf die Hilfe Gottes wird möglicherweise die Entwicklung von<br />
Wissen und Erkenntnis beh<strong>in</strong>dert, bis h<strong>in</strong> zum Beharren auf abergläubischen<br />
Vorurteilen (z. B. dass Gott direkt <strong>in</strong> den Ablauf <strong>des</strong> Naturgeschehens e<strong>in</strong>greifen könne<br />
bzw. wolle).<br />
Durch vorformulierte Gebete wird e<strong>in</strong>e vorgeformte Wertordnung übernommen und<br />
damit die geltende Herrschaftsstruktur anerkannt und verfestigt. Extreme Beispiele:<br />
Fürbitte für Diktatoren und Bitte um Kriegsgew<strong>in</strong>n.<br />
Durch die im Gebet vorausgesetzte Haltung der Demut und Unterordnung wird der<br />
Mensch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dividuellen und sozialen Entfaltung geh<strong>in</strong>dert.<br />
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Durch die Fixierung auf das Gebet werden ke<strong>in</strong>e anderen, zeitgemäßen Ausdrucks-<br />
und Verhaltensformen entwickelt, welche ähnliche Funktionen wie das Gebet haben<br />
könnten.<br />
Diese Kritik ist für Christen e<strong>in</strong> willkommener Anlass, Theorie und Praxis <strong>des</strong> Gebetes<br />
immer wieder kritisch zu überprüfen. Das Gebet hat zu sehr den Charakter <strong>des</strong><br />
Sakralen, Intimen und <strong>des</strong>halb Nicht-kritisierbaren bekommen. Aber ebenso wenig wie<br />
der Glaube nicht nur Sache e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen Menschen se<strong>in</strong> kann, so auch nicht das<br />
Gebet. Worum gerade gebetet wird und werden kann, muss zur Diskussion gestellt<br />
werden oder sich aus der umfassenden (und <strong>des</strong>halb notwendig auch geme<strong>in</strong>samen)<br />
Orientierung <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> ergeben.<br />
Andererseits kann darauf h<strong>in</strong>gewiesen werden, dass die kritisierten Folgen e<strong>in</strong>er<br />
bestimmten Gebetspraxis auch bei anderen, vergleichbaren Verhaltensformen<br />
auftreten können. Der Besuch e<strong>in</strong>es Filmes kann Flucht vor der Realität und<br />
Ersatzhandlung se<strong>in</strong>, ebenso die Lektüre e<strong>in</strong>er Zeitung oder das unverb<strong>in</strong>dliche<br />
Gespräch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft.<br />
9. Die Zukunft <strong>des</strong> Gebetes<br />
Die Zukunft <strong>des</strong> Gebetes ist offen: Hat das Gebet unter diesen Aspekten e<strong>in</strong>e<br />
unaufgebbare Bedeutung für den Glauben und e<strong>in</strong>e Chance für die Zukunft? Die<br />
Zukunft <strong>des</strong> Gebetes ist—wie das Gebet selbst – offen<br />
Vielleicht werden sich auch die Funktionen <strong>des</strong> Gebetes zum Teil auf andere Formen<br />
und Möglichkeiten verteilen. So erlauben z. B. Telefon und Verkehrsmittel oder auch<br />
soziale Netze heute die Wahl e<strong>in</strong>es realen und passenden Gesprächspartners, wo der<br />
Mensch früher auf sich selbst zurückgeworfen war (die Qualität der Offenheit kann<br />
ebenso <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gebet wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gespräch mit e<strong>in</strong>em anderen Menschen<br />
bestimmend se<strong>in</strong>; der Glaube rechnet ja damit, dass Gott uns im Menschen begegnet).<br />
Tatsächlich ist festzustellen, dass es heute Menschen gibt, die den christlichen<br />
Glauben bejahen ohne ausdrücklich zu beten. Und Menschen, die beten und dem<br />
Christentum skeptisch gegenüberstehen.<br />
Gebetet wird heute außer <strong>in</strong>dividuell und <strong>in</strong> Gruppen auch öffentlich, bei<br />
E<strong>in</strong>weihungen, Gedenkfeiern u,ä., meist aber <strong>in</strong> der Kirche und bei kirchlichen Feiern.<br />
Auch <strong>in</strong> Zukunft?<br />
10. Praktischer Vorschlag:<br />
In e<strong>in</strong>er Gruppe aus den folgenden Karten, von denen jede/r e<strong>in</strong> Päckchen bekommt,<br />
jeweils e<strong>in</strong>e für Zustimmung oder Ablehnung auswählen und darüber diskutieren:<br />
1. Gebet ist Ausdruck für den 7. Beten verhilft zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tensiven<br />
50
Glauben, dass über mich selbst und<br />
andere Menschen h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>e<br />
größere Wirklichkeit da ist, <strong>in</strong> der ich<br />
aufgehoben b<strong>in</strong>.<br />
2. Gebet ist vergleichbar mit der<br />
Erfahrung, dass, so wie das überall<br />
vorhandene und wirksame<br />
Magnetfeld der Erde die Nadel e<strong>in</strong>es<br />
Kompasses an e<strong>in</strong>em konkreten Ort<br />
bee<strong>in</strong>flusst und ausrichtet, auch e<strong>in</strong>e<br />
größere Wirklichkeit existiert, an der<br />
Menschen ihr Leben ausrichten<br />
können und sollen.<br />
3. Wer betet, denkt von sich weg<br />
und über das h<strong>in</strong>aus, was ihm<br />
bekannt ist und möglich ersche<strong>in</strong>t.<br />
4. Beten ist Ausdruck von<br />
Realitätss<strong>in</strong>n, weil es hilft zu<br />
unterscheiden zwischen dem, was<br />
e<strong>in</strong> Mensch selbst tun kann und<br />
dem, was nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Macht<br />
steht.<br />
5. Wer betet f<strong>in</strong>det sich nicht mit<br />
der Welt so ab, wie sie ist, sondern<br />
versteht sie als veränderbar.<br />
11. Das Gebet kann Wünsche und<br />
Wertungen korrigieren, weil sich<br />
durch die Beziehung auf Gott und<br />
den Zusammenhang <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong><br />
der subjektive Stellenwert der<br />
Wünsche verändert. Gegenüber Gott<br />
kann nach dem christlichen Glauben<br />
nicht egoistisch gebetet werden.<br />
14. E<strong>in</strong>e Gefahr <strong>des</strong> Gebetes kann<br />
dar<strong>in</strong> liegen, dass es Flucht vor der<br />
Wirklichkeit se<strong>in</strong> kann und die<br />
eigenen Anstrengungen verm<strong>in</strong>dert.<br />
16. Man kann auch ohne Gebet e<strong>in</strong><br />
guter Christ se<strong>in</strong>.<br />
Erlebnis- und Bewusstse<strong>in</strong>ssteigerung.<br />
Die zurückliegenden<br />
Ereignisse werden dar<strong>in</strong> noch e<strong>in</strong>mal<br />
vergegenwärtigt, <strong>in</strong> ihrem Wert<br />
erkannt und fester <strong>in</strong> der Er<strong>in</strong>nerung<br />
verankert.<br />
8. Das Gebet hilft, E<strong>in</strong>zelerfahrungen<br />
und -probleme <strong>in</strong> den<br />
Zusammenhang <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> zu<br />
br<strong>in</strong>gen. Auf diese Weise dient es<br />
auch der E<strong>in</strong>heit der Persönlichkeit.<br />
9. Vorformulierte Gebete s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong><br />
Rahmen, der zum E<strong>in</strong>tragen eigener<br />
Erfahrungen und Gefühle anregt.<br />
10. Geme<strong>in</strong>sames Gebet ist Anlass<br />
und Ausdruck der Willensbildung<br />
e<strong>in</strong>er Gruppe. Es zeigt, woran e<strong>in</strong>er<br />
Geme<strong>in</strong>schaft liegt, wofür sie sich<br />
e<strong>in</strong>setzt.<br />
12. Das Gebet hilft, Abstand von<br />
sich selbst und vom Druck e<strong>in</strong>er<br />
Situation zu gew<strong>in</strong>nen.<br />
13. Das Dankgebet hält offen für<br />
die Tatsache, dass der überwiegende<br />
Teil me<strong>in</strong>es Lebens von<br />
außen kommt und nicht aus me<strong>in</strong>er<br />
eigenen Leistung. Es ist lebenswichtig,<br />
sich darauf immer wieder<br />
e<strong>in</strong>zustellen. Die Qualität <strong>des</strong><br />
Lebens liegt dar<strong>in</strong>, dass es nicht<br />
selbstverständlich ist.<br />
15. Formulierungen von vielen<br />
Gebeten orientieren sich an<br />
überholten Weltordnungen (z.B.<br />
Obrigkeitsdenken, Glauben an<br />
Wunder).<br />
17. Die Möglichkeit zu beten ist<br />
nicht abhängig von der Anrede bzw.<br />
Annahme e<strong>in</strong>er persönlichen Gottes.<br />
51
Zurück zum Inhaltsverzeichnis<br />
9. Jesus – wer war und wer ist das?<br />
Woher kommt das eigene Verständnis von Jesus? Es gibt Romane und historische<br />
Darstellungen über ihn, Filme, Musik, und das Neue Testament <strong>in</strong> der Bibel, nicht zu<br />
vergessen die vielen Abbildungen und Kreuze <strong>in</strong> den Kirchen und die kirchliche Lehre.<br />
Aus all dem kann ausgewählt und das eigene Jesusbild geformt werden, das von „Jesus<br />
der Mensch“ bis h<strong>in</strong> zu „Gottes Sohn“ und Weltenrichter am Ende der Zeit reicht. Welche<br />
Bedeutung hat Jesus für den Glauben <strong>in</strong> dieser Zeit? Ist hauptsächlich se<strong>in</strong>e Lehre und<br />
das Vorbild se<strong>in</strong>es Lebens wichtig oder se<strong>in</strong> Tod als Opfer zur Vergebung der Sünden und<br />
se<strong>in</strong>e Auferstehung als Beg<strong>in</strong>n neuen Lebens?<br />
Jesus der Mensch<br />
Jesus war der Sohn von Maria und Josef, er hatte vier Brüder und e<strong>in</strong>ige Schwestern, se<strong>in</strong><br />
Leben und Sterben s<strong>in</strong>d historisch belegt. Er war Jude und wurde während der letzten<br />
Regierungsjahre Hero<strong>des</strong>’ <strong>des</strong> Großen geboren, <strong>in</strong> den Jahren 7 - 5 unserer Zeitrechnung.<br />
Er war von Beruf Bauarbeiter. Er kam <strong>in</strong> Kontakt mit der Taufbewegung (26/28 n. Chr.)<br />
und ließ sich taufen. Dieses Ereignis kam für ihn e<strong>in</strong>er Berufung gleich. Er wirkte ca. 3<br />
Jahre und wurde vermutlich im Jahr 30 gekreuzigt.<br />
Jesus wurde als Lehrer, Wundertäter, Heiler gesehen. Er hat viele Menschen nachhaltig<br />
bee<strong>in</strong>druckt und bee<strong>in</strong>flusst. Er brachte den Menschen die Nähe Gottes und die<br />
Grundsätze se<strong>in</strong>es Willens (bei<strong>des</strong> zusammen wird auch als „Reich Gottes“ bezeichnet).<br />
Jesus, der Mensch, stand <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er besonderen, e<strong>in</strong>zigartigen Beziehung zu Gott, er stand<br />
Gott nahe. („Gesicht“ Gottes, Konzil von Chalcedon im Jahre 451 n.Chr.) Er war e<strong>in</strong> von<br />
der Urmacht Gottes erfüllter, e<strong>in</strong> gottesgeistbeseelter Mensch.<br />
Er ließ erkennen, wie gutes, gottgefälliges Leben für Menschen aussieht und möglich ist.<br />
Wie Gott ganz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Menschen da se<strong>in</strong> und wirken kann.<br />
„Jesus rief zu e<strong>in</strong>er Umkehrung der gewohnten Maßstäbe auf, nach denen die Macht über<br />
andere e<strong>in</strong> Ausdruck der eigenen Wichtigkeit und anderen zu dienen erniedrigend ist, zu<br />
e<strong>in</strong>em Verhalten also, das dem <strong>in</strong> der biologischen Evolution geltenden „survival of the<br />
fittest" diametral widerspricht: ‚Wer groß se<strong>in</strong> will unter euch, der soll euer Diener se<strong>in</strong>; und<br />
wer unter euch der Erste se<strong>in</strong> will, der soll aller Knecht se<strong>in</strong>’ (Mk 10,43.44“. Stadelmann).<br />
Viele haben damals se<strong>in</strong>e Botschaft nicht aufnehmen können und wollen. Heute würde<br />
man von Überforderung sprechen. Se<strong>in</strong>en Gegnern machte sie Angst.<br />
Jesus g<strong>in</strong>g davon aus, dass die Gottesherrschaft (Lk 17,20f) schon begonnen hat und ihre<br />
endgültige Durchsetzung kurz bevor stand. Er hat sich wohl als Repräsentant <strong>des</strong> Gottes-<br />
Reiches verstanden. Menschen spürten dies, weil sie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Nähe Heilung und Heil<br />
erfuhren. Er behandelte Frauen und K<strong>in</strong>der gleichwertig. Er setzte sich mit Frauen über<br />
<strong>Glaubens</strong>fragen ause<strong>in</strong>ander (Maria und Martha). Se<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>wendung zu Ausgegrenzten<br />
(Zachäus, der Steuere<strong>in</strong>nehmer) verwirrte viele, die das miterlebten. Se<strong>in</strong>e Nähe war für<br />
viele heilsam. Die Menschen erlebten, was es heißt, geliebte K<strong>in</strong>der Gottes zu se<strong>in</strong>. Das<br />
bedeutete gleichzeitig, dass die Menschen sich untere<strong>in</strong>ander als Geschwister<br />
annahmen. Sich gegenseitig helfen, wenn Not ist, sich beistehen, wenn e<strong>in</strong>er scheitert<br />
(Gleichnis verlorener Sohn), war jetzt das angemessene Tun.<br />
52
Das Reich Gottes ist mit Jesus auf der Welt angebrochen. Es br<strong>in</strong>gt Gottes Nähe und<br />
se<strong>in</strong>en Willen. Das bedeutet, dass der Mensch wichtiger ist als die E<strong>in</strong>haltung von<br />
speziellen Gesetzen. Jesus verteidigte das Ährenraufen (d.h. arbeiten) am Sabbat, weil<br />
die Jünger Hunger hatten. Er heilte am Sabbat um der Menschen willen. Diese Haltung<br />
macht außer der Kritik an menschenfe<strong>in</strong>dlichen Gesetzen deutlich, was gute Gesetze<br />
bewirken sollen, nämlich, dass sie dem Menschen nützen und dienlich s<strong>in</strong>d. Die<br />
Gesetzesbeachtung war im damaligen Judentum durch rigi<strong>des</strong> Buchstabenverständnis<br />
verfälscht worden.<br />
Das Besondere und E<strong>in</strong>zigartige an Jesus war, dass er Leben und Welt als Geschenk und<br />
Gnade verstand und dies besonders den Armen und Benachteiligten verkündete.<br />
Bezeichnungen für Jesus wie z.B. „Sohn Gottes“ sowie „Messias“ und „Christus“ s<strong>in</strong>d<br />
Hoheitstitel, die die Menschen Jesus gegeben haben, um se<strong>in</strong>e Würde und Bedeutung für<br />
die Gläubigen hervorzuheben. Nicht alle hat Jesus selbst gebraucht. Mit „Christus“ und<br />
„Messias“ wurde die Hoffnung auf e<strong>in</strong>en neuen und gerechten König, e<strong>in</strong>en neuen David<br />
verbunden. Der Titel „Sohn Gottes“ ist analog den Würdetiteln im alten Orient zu<br />
verstehen, dort, u.a. <strong>in</strong> Ägypten, wurden die Herrscher so bezeichnet. Heute werden<br />
weitere Bezeichnungen für Jesus gefunden, z.B. nennt ihn B. v. Weizsäcker <strong>in</strong> ihrem<br />
<strong>Glaubens</strong>bekenntnis e<strong>in</strong>en „Aktivisten <strong>in</strong> Sachen Gott“:<br />
Jesu Tod<br />
„Ich glaube an Jesus –<br />
Als Aktivisten <strong>in</strong> Sachen Gott;<br />
Dessen Worte mir Ansporn,<br />
<strong>des</strong>sen Taten mir Vorbild,<br />
<strong>des</strong>sen Werte mir wichtig s<strong>in</strong>d,<br />
auch wenn Nichtchristen für sie streiten.<br />
Zu dem man beten kann, aber nicht muss.<br />
Denn an e<strong>in</strong>en persönlichen Gott glaube ich nicht.“<br />
Der gewaltsame Tod Jesu war die Konsequenz se<strong>in</strong>es gottgeleiteten und gotterfüllten<br />
Lebens. Für die e<strong>in</strong>en war er e<strong>in</strong> neuer irdischer Herrscher, für andere der<br />
Hoffnungsträger e<strong>in</strong>er Revolution. E<strong>in</strong>er vorwiegend gottlosen Welt wird der Spiegel<br />
vorgehalten. Menschen, die das tun, leben gefährlich, weil die Welt, die Menschen, nicht<br />
wirklich wissen wollen, wie sie sich verhalten.<br />
Jesus ist nicht für, sondern an den Menschen gestorben. Aber für den Glauben war se<strong>in</strong><br />
Tod nicht das letzte Wort. Die tödliche Kraft <strong>in</strong> den Menschen, die Jesus umgebracht hat,<br />
ist nicht das Letzte. Der Glaube an Gott eröffnet Größeres als alles endgültige Tun der<br />
Menschen. Jesus scheitert an der Macht <strong>des</strong> Bösen. Aber Jesu Scheitern wird – e<strong>in</strong><br />
wahres Wunder! - zum Triumph <strong>des</strong> Lebens über den Tod und das Böse. „Der Tod am<br />
Kreuz ist die Offenbarung realer Menschlichkeit: so s<strong>in</strong>d wir; so gehen wir mite<strong>in</strong>ander<br />
um.“ (Joachim Kunstmann, Die Rückkehr der Religion, S. 265)<br />
Jesus bleibt bis <strong>in</strong> den Tod h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> dabei, dass Gott selbst h<strong>in</strong>ter ihm steht und sich <strong>in</strong><br />
Verb<strong>in</strong>dung mit se<strong>in</strong>er Person den Menschen zeigt. Wie sich schon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben die<br />
53
Kraft und die Liebe Gottes zeigte, so ist im Scheitern und Sterben Jesu e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zigartige<br />
Nähe Gottes zum Menschen hergestellt worden. Im Glauben an Jesus erkennen viele<br />
Menschen Gott, wie er für sie <strong>in</strong> Jesus ihr eigenes Schicksal miterleidet. Im Sterben Jesus<br />
geschieht die größtmögliche Solidarisierung Gottes mit Menschen. Weil Jesu Scheitern,<br />
se<strong>in</strong> Tod ke<strong>in</strong> Scheitern bleibt, erfährt der Mensch <strong>in</strong> der Auferweckung Jesu e<strong>in</strong>e nicht<br />
fassbare Intensität der Gottesnähe. Die Menschen haben sie als Heiligen Geist<br />
beschrieben.<br />
Jesu Tod ist ke<strong>in</strong> Opfer für die Menschen, wie sie <strong>in</strong> antiken Religionen bezeugt s<strong>in</strong>d.<br />
Trotzdem ist Jesu Tod <strong>in</strong> diesem Verständnis e<strong>in</strong> Tod für die Menschen, ke<strong>in</strong> Opfer, weil<br />
den Menschen e<strong>in</strong>e neue Dimension über den Tod h<strong>in</strong>aus eröffnet wurde. Damit geschieht<br />
e<strong>in</strong>e Neubewertung <strong>des</strong> To<strong>des</strong>, die e<strong>in</strong>er Überw<strong>in</strong>dung gleichkommt.<br />
Gott vergibt den Menschen, dass Jesus an ihnen starb. Sie waren nicht <strong>in</strong> der Lage, se<strong>in</strong>e<br />
Botschaft zu verstehen und aufzunehmen. Die Auferweckung besagt, dass es weitergeht<br />
mit Gott und den Menschen, er versöhnt sich mit ihnen. Das wurde von den Christen <strong>in</strong><br />
der Kirche als gleichbedeutend mit Erlösung und Vergebung von Schuld aufgenommen.<br />
Die Auferweckung (Entrückung)<br />
Die Auferweckung Jesus ist nicht als historisches Ereignis zu verstehen. So auch Hans<br />
Küng: „„Auferweckung ist ke<strong>in</strong> raum-zeitlicher Akt. Auferweckung me<strong>in</strong>t nicht e<strong>in</strong><br />
Naturgesetze durchbrechen<strong>des</strong>, <strong>in</strong>nerweltlich konstatierbares Mirakel, nicht e<strong>in</strong>en<br />
lozierbaren und datierbaren supranaturalistischen E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> Raum und Zeit.<br />
Auferweckung bezieht sich auf e<strong>in</strong>e völlig neue Dase<strong>in</strong>sweise <strong>in</strong> der ganz anderen<br />
Dimension <strong>des</strong> Ewigen, umschrieben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bilderschrift, die <strong>in</strong>terpretiert werden muss."<br />
Die Jünger und Jünger<strong>in</strong>nen, se<strong>in</strong>e Anhänger haben den Tod Jesu schmerzlich erlebt und<br />
erfahren, gleichzeitig aber se<strong>in</strong>e wirkmächtige Gegenwart gespürt: Er ist tot – doch er lebt!<br />
Wie kann mit dieser Erfahrung umgegangen werden? Man kann e<strong>in</strong>e der beiden<br />
Erfahrungen bestreiten, man kann versuchen, diesen Widerspruch rational aufzulösen.<br />
Oder die eigene Wirklichkeit und das Wirklichkeitsverständnis verändern sich. Es wird<br />
vere<strong>in</strong>bar, was unvere<strong>in</strong>bar ersche<strong>in</strong>t, weil der Glaubende sich als Teil <strong>des</strong> Geschehens,<br />
<strong>in</strong> dem Gott wirkt, versteht.<br />
Im Neuen Testament werden überwältigende Erfahrungen mit Jesus nach se<strong>in</strong>em Tod<br />
geschildert. In den älteren Texten ist zunächst nur ohne Interpretation von Ersche<strong>in</strong>ungen<br />
Jesu die Rede, die besagen, dass Jesus, <strong>in</strong> welcher Form auch immer, weiterlebt. Spätere<br />
Ausgestaltungen „berichten“ dann von e<strong>in</strong>em leeren Grab oder e<strong>in</strong>em wiederbelebten<br />
Toten, der isst und tr<strong>in</strong>kt und <strong>des</strong>sen Wunden noch erkennbar s<strong>in</strong>d. Zur Glaubwürdigkeit<br />
dieser Berichte trägt bei, dass Jesus nicht nur Menschen begegnet, die schon zu glauben<br />
angefangen hatten, sondern auch solchen, die sich von ihm abgewandt hatten. Die<br />
Auferweckung Jesu ist e<strong>in</strong> alles übergreifen<strong>des</strong> und über sich h<strong>in</strong>ausweisen<strong>des</strong> Ereignis,<br />
er ist nicht <strong>in</strong> dieses geschichtliche Leben, sondern <strong>in</strong> e<strong>in</strong> anderes, größeres Leben h<strong>in</strong>e<strong>in</strong><br />
auferweckt worden. Dies zeigt sich vor allem an der Kraft se<strong>in</strong>er zuvor wankelmütigen und<br />
schwachen Anhänger (Petrus), die unerschütterlich, ja freudig ihren römischen und<br />
anderen Verfolgern standhielten.<br />
Ob Jesus (mit e<strong>in</strong>em Auftrag an Petrus) e<strong>in</strong>e (die!) Kirche selbst gegründet hat ist fraglich.<br />
Jedenfalls ist e<strong>in</strong>e/s<strong>in</strong>d viele Kirche/n aus der von ihm begonnenen Bewegung entstanden.<br />
54
Nach Jesu Lebens-Zeit g<strong>in</strong>g es weiter – bis zur Gegenwart<br />
Die Interpretation der Jesusersche<strong>in</strong>ungen nach se<strong>in</strong>em Tod am Kreuz als leibliche<br />
Auferstehung ließ weitere Erzählungen dieser Art wie z. B. „Himmelfahrt“ entstehen, und<br />
Jesus wurde mehr und mehr zu e<strong>in</strong>er göttlichen Person. Diese Entwicklung hatte bereits<br />
im Johannesevangelium begonnnen, an <strong>des</strong>sen Anfang Jesus als göttlicher Logos<br />
verkündet wird, der vom Urbeg<strong>in</strong>n der Welt an schon bei Gott gewesen war, von Gott als<br />
das erlösende Licht auf die Erde gesandt, um dann wieder zu Gott zurückzukehren. Das<br />
alles folgt aus dem <strong>Glaubens</strong>satz, dass Gott <strong>in</strong> Jesus Mensch geworden ist. Tatsächlich ist<br />
heute das Weihnachtsfest so hochrangig wie das Osterfest. Beide <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halte<br />
br<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>e alles übersteigende Wertschätzung Jesu zum Ausdruck. Aber das muss<br />
nicht dazu führen, dass Jesus Gott gleich gesetzt wird (wie das auch <strong>in</strong> der Vorstellung<br />
vom dreie<strong>in</strong>igen Gott so ersche<strong>in</strong>t). Christen mit eigenen <strong>Glaubens</strong>vorstellungen (wie z.B.<br />
Beatrice v. Weizsäcker <strong>in</strong> „ist da jemand?) lehnen es ab, den Menschen Jesus als Gott<br />
anzusehen und zu ihm zu beten.<br />
Die weitere Entwicklung zeigt – bis heute: Gott ist im weitererzählten Zeugnis von Jesus<br />
präsent. Jesus ist trotz Leiden und Tod nicht gescheitert, im Heiligen Geist begleitet er bis<br />
heute se<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>de. Der Heilige Geist ist die Kraft Gottes, die die Weiterexistenz Jesu<br />
auf der Erde garantiert. E<strong>in</strong> Grund, an die Überw<strong>in</strong>dung <strong>des</strong> To<strong>des</strong> durch Gott zu<br />
glauben.<br />
E<strong>in</strong> Gedicht dazu:<br />
Passion<br />
Dem Leiden und Sterben Jesu hilflos ausgesetzt,<br />
fragten sie nach dem Wozu und Warum.<br />
Wo ist der S<strong>in</strong>n?<br />
So starb er, wie sie me<strong>in</strong>ten: Für unsre Sünden,<br />
Er litt für uns, anstelle von uns,<br />
versöhnte Gott.<br />
War das der Gott Jesu?<br />
Der Gott, den er Abba, Papi nennt?<br />
Dem er vertraute?<br />
Unergründlich: Warum und Wozu.<br />
Viel erklärt und wenig gewusst.<br />
Und doch: er hat durchlitten,<br />
alles, was e<strong>in</strong>em Menschen blühen kann,<br />
bis <strong>in</strong> die f<strong>in</strong>steren Tiefen <strong>des</strong> To<strong>des</strong>.<br />
Wozu und Warum? Unergründlich?<br />
In ihm aber zeigte sich der Grund<br />
Im Grund <strong>des</strong> anderen Gott zu sehen.<br />
55
(Heiderose Gärtner)<br />
Dazu als Beispiel für die Bedeutung Jesu für den Glauben e<strong>in</strong> persönliches Theologisches<br />
Statement von Arbeitskreismitglied Re<strong>in</strong>hard Cramer <strong>in</strong> der Anlage<br />
19. „Me<strong>in</strong>e“? Kirche<br />
Zurück zum Inhaltsverzeichnis<br />
Auch das Verständnis der Kirche hat sich gewandelt. Ist das e<strong>in</strong>e Organisation, e<strong>in</strong>e von<br />
Jesus gegründete (Lebens-? <strong>Glaubens</strong>-?)Geme<strong>in</strong>schaft, die Verwalter<strong>in</strong> göttlicher Gnade<br />
oder die Vertreter<strong>in</strong> und Interpret<strong>in</strong> <strong>des</strong> göttlichen Willens hier auf Erden? Für die eigene<br />
Antwort auf solche Fragen s<strong>in</strong>d nicht nur die Kirchengeschichte, die kirchliche Lehre und<br />
das christliche <strong>Glaubens</strong>bekenntnis zu berücksichtigen, sondern auch die Kritik an der<br />
Kirche und das zunehmende Auftreten anderer Religionen. Ist auch die Frage „Was habe<br />
ich von e<strong>in</strong>er Mitgliedschaft <strong>in</strong> der christlichen Kirche?“ berechtigt? Welchen Wert hat die<br />
Lebensbegleitung der Kirche (u.a. mit Taufe, Konfirmation, Eheschließung, Bestattung)?<br />
Wie wirkt sich Kirche auf den eigenen Glauben aus?<br />
Das Nachdenken darüber kann das eigene Verhältnis zu dieser Organisation bewusster,<br />
ergiebiger und aktiver werden lassen.<br />
Viele Begriffe und Inhalte <strong>des</strong> christlichen <strong>Glaubens</strong> sche<strong>in</strong>en heute nicht mehr zeitgemäß<br />
und nicht mehr der spirituellen Realität und Praxis zu entsprechen. Die Frage „Me<strong>in</strong>e<br />
Kirche?“ lässt sich nicht mehr zufriedenstellend und angemessen nur mit Sätzen aus<br />
Luthers Katechismus beantworten.<br />
Deshalb muss neu über die Funktion und die Struktur von Kirche heute nachgedacht<br />
werden.<br />
Kirche: Geme<strong>in</strong>schaft im Glauben<br />
Me<strong>in</strong>e Kirche, unsere, evangelische, christliche Kirche: Am e<strong>in</strong>fachsten lässt sie sich als<br />
„Geme<strong>in</strong>schaft im Glauben“ benennen – dann aber bleiben viele andere Bezeichnungen<br />
von Kirche außen vor: Kirche Jesu Christi, Kirche von unten, Volkskirche, Amtskirche, etc.<br />
Dazu kommen noch viele Etiketten, <strong>in</strong> denen das Wort Kirche gar nicht vorkommt, <strong>in</strong><br />
denen es aber dr<strong>in</strong>steckt: Geme<strong>in</strong>de, Gottesvolk, Gottesdienst, Konfession, Ökumene;<br />
oder <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit anderen Namen steht und mit diesen zusammen den Begriff<br />
Kirche erweitert: Kirchentag, Kirchenjahr, Kirchengeschichte, Kirchensteuer. Schwer zu<br />
sagen also, was Kirche (für mich!) ist.<br />
Trotzdem, sprechen wir von „Kirche“, ganz e<strong>in</strong>fach so. Von dem, was wichtig ist zum<br />
Verständnis von Kirche – auch ganz persönlich: von me<strong>in</strong>er Kirche. Me<strong>in</strong>er? E<strong>in</strong>ige der<br />
folgenden Abschnitten sprechen – meist am Anfang nach e<strong>in</strong>er Überschrift – <strong>in</strong> der Ich-<br />
Form. Sie sprechen damit aber doch auch für andere mit. (Vielleicht wollen Sie mal<br />
ausprobieren, ob und wie sie sich mitsprechen und mitdenken lassen?)<br />
56
Von Jesus g<strong>in</strong>g es aus.<br />
„Diese Kirche – ich bewundere sie wie e<strong>in</strong> Wunderwerk. Nur Religion lässt Derartiges<br />
wachsen. Dabei hat für mich die christliche Religion etwas Besonderes, ja E<strong>in</strong>zigartiges:<br />
ihre Schöpfungsfreude, ihre Menschennähe und ihre Zukunftshoffnung. Es war e<strong>in</strong> weiter<br />
und langer Weg von Paläst<strong>in</strong>a zu ‚me<strong>in</strong>er Kirche’ gegenüber. “<br />
Jesus, e<strong>in</strong> Wanderprediger <strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a, hatte geredet und gehandelt als e<strong>in</strong>er, der Gott<br />
den Menschen nahebrachte („offenbarte“). Dabei me<strong>in</strong>te die Bezeichnung „Gott“ den Gott<br />
Israels, dem sich e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Volk im Vorderen Orient anvertraut hatte, von dem es über<br />
tausend Jahre geführt wurde und <strong>des</strong>sen Willen – ständig aktualisiert – <strong>in</strong> heiligen<br />
Schriften niedergelegt war.<br />
Jesus sammelte „Jünger“, Frauen gehörten auch dazu. Die Schar wurde die von Jesus<br />
überzeugte, ihm vertrauende Lebensgeme<strong>in</strong>schaft. Jesus wollte etwas Bestimmtes,<br />
nämlich den Willen <strong>des</strong> Gottes Israels „erfüllen“ und das Gottesreich bauen. Er wurde von<br />
se<strong>in</strong>en Leuten als Inkarnation dieses Gottes, als „Christus“ gesehen, als der langerwartete<br />
Befreier, Lehrer und Heiler <strong>des</strong> Gottesvolkes. In se<strong>in</strong>em Geist kam es zu e<strong>in</strong>er neuen<br />
Geme<strong>in</strong>schaftsbildung <strong>in</strong>mitten <strong>des</strong> jüdischen Umfel<strong>des</strong>, aus dem diese M<strong>in</strong>derheit der<br />
Christus-Leute ausgegrenzt wurde. Für sie wurde im Anschluss an die Bezeichnung <strong>des</strong><br />
Volkes Israel der Name „Ekklesia“ gebräuchlich – das profan-griechische Wort der<br />
Volksversammlung. Die Herausgerufenen. Dieses Wort steckt <strong>in</strong> „Kirche“.<br />
Diese Gruppe hatte vom Jesusgeist den universellen Auftrag übernommen, die ethnische<br />
Grenze zu durchbrechen. So war die Christus-Geme<strong>in</strong>schaft, die christliche Kirche, von<br />
Anfang an <strong>in</strong>ternational globalisiert. Ihre Gründungsgeschichte von Pf<strong>in</strong>gsten ist die e<strong>in</strong>er<br />
charismatischen Verkündigung, die von e<strong>in</strong>er die ethnischen und sprachlichen Grenzen<br />
durchbrechenden Verständigung erzählt.<br />
E<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Samen wuchs zu e<strong>in</strong>em weitverzweigten Baum.<br />
Für „Kirche“ – Gottesvolk und Christus-Geme<strong>in</strong>schaft – f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> der Bibel viele<br />
Bildworte oder Umschreibungen, die Facetten <strong>des</strong> Wesentlichen aufgreifen:<br />
das geistliche Haus, auf Petrus-Bekenntnis-Fels gebaut,<br />
der Leib Christi, die Heiligen,<br />
Versammlung im Namen Jesu (synagoge), Später sagte man auch<br />
Familie Gottes, Liebesgeme<strong>in</strong>schaft, civitas dei –<br />
im Bekenntnis ausgesprochen als die e<strong>in</strong>e, heilige, katholische (allgeme<strong>in</strong>e /<br />
christliche) und apostolische Kirche.<br />
Für die Reformation formulierte der Artikel 7 <strong>des</strong> Augsburger Bekenntnisses:<br />
„Es müsse allezeit e<strong>in</strong>e christliche Kirche se<strong>in</strong> und bleiben, „die die Versammlung aller<br />
Gläubigen ist, bei denen das Evangelium re<strong>in</strong> gepredigt und die heiligen Sakramente laut<br />
dem Evangelium gereicht werden. Denn das genügt zur wahren E<strong>in</strong>heit der christlichen<br />
Kirche [...] Und es ist nicht zur wahren E<strong>in</strong>heit der christlichen Kirche nötig, dass überall<br />
die gleichen, von den Menschen e<strong>in</strong>gesetzten Zeremonien e<strong>in</strong>gehalten werden [...]“<br />
Wort und Sakrament, verstanden als Gottes Handeln, begründet und erhält die Kirche.<br />
Manche Texte der Gesangbuchlieder s<strong>in</strong>d für das Kirchenverständnis der Laien<br />
nachhaltiger als die der universitären Theologie, allerd<strong>in</strong>gs gegenüber neuzeitlichem<br />
<strong>Glaubens</strong>verständnis oft veraltet.<br />
57
Der unterschiedliche Sprachgebrauch von „Kirche“ ist zu beachten: „Kirche“ kann sowohl<br />
den Gesamtkörper als auch se<strong>in</strong>e Teile, also die E<strong>in</strong>zelgeme<strong>in</strong>de und Teile der<br />
Organisation me<strong>in</strong>en. Man sagt „Zur Kirche gehen“ und me<strong>in</strong>t damit die Teilnahme an<br />
allem Gottesdienstlichen, das Verhältnis zur E<strong>in</strong>zelgeme<strong>in</strong>de. Man sagt auch: „Zur Kirche<br />
gehören“ und me<strong>in</strong>t das <strong>in</strong> welcher Form auch immer geäußerte Bekenntnis zur<br />
Mitgliedschaft, das Verhältnis zur christlichen Religion. Doch bedenke: „Kirche“ <strong>in</strong> der<br />
E<strong>in</strong>zahl gibt es heutzutage nur <strong>in</strong> der <strong>Glaubens</strong>wirklichkeit. Ansonsten reden wir von<br />
Kirche gewöhnlich im S<strong>in</strong>ne von unserer Kirche, die sich immer nur als e<strong>in</strong>e Teilgruppe<br />
verstehen kann oder ganz allgeme<strong>in</strong> von dieser Geme<strong>in</strong>schaft und Organisation.<br />
Kirche kommt also von weit her, <strong>in</strong> und mit der Tradition. Dies prägt sie und wird sie auch<br />
<strong>in</strong> Zukunft prägen trotz der berechtigten Aufforderung zu Aktualität.<br />
Wechselnde Geschichte, Entwicklung zur Organisation und Institution<br />
„Ich habe gelernt, dass die Kirche e<strong>in</strong>er wechselvollen Geschichte ausgeliefert war und<br />
immer ist. Sie zeigt diverse Schwächen, sogar Abscheulichkeiten, beweist aber auch e<strong>in</strong>e<br />
erstaunliche Wandlungsfähigkeit und Erneuerungsstärke.“<br />
Schon <strong>in</strong> den Anfängen ist <strong>in</strong> den Christengeme<strong>in</strong>den erkennbar, wie festere Strukturen<br />
wachsen. In den folgenden drei Jahrhunderten und im Kampf um ihre Legitimation<br />
gegenüber dem Judentum und der hellenistischen Umwelt bildete sich aus Orts- und<br />
Regionalkirchen e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Kirche aus, deren Führung Rom übernahm. Aus<br />
unterschiedlichem Kontext s<strong>in</strong>d uns aus der Anfangszeit die Paulusbriefe, die vier<br />
Jesusgeschichten, die Apostelgeschichte und andere Briefen und Schriften überliefert, die<br />
E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die Entstehung der erste Geme<strong>in</strong>den geben. Es s<strong>in</strong>d auch Schriften erhalten,<br />
die die Existenz von Gruppen mit spezieller Überlieferung beweisen, doch <strong>in</strong> der größeren<br />
Kirchengeme<strong>in</strong>schaft ke<strong>in</strong>e Anerkennung fanden. Die Großkirche e<strong>in</strong>igte sich auf e<strong>in</strong>e<br />
Gruppe von Schriften, den „Kanon“, der das „Neue Testament“ genannt wurde. Das wurde<br />
die Grundlage <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>bekenntnisses. Bibeltexte wurden oft als „Wort Gottes“<br />
bezeichnet; sogar die Erklärungen e<strong>in</strong>zelner Stellen <strong>in</strong> Predigten wurden so genannt. Das<br />
Wertbewusstse<strong>in</strong> der eigenen Tradition steigerte sich bis h<strong>in</strong> zu der Aussage, dass es<br />
außerhalb der Kirche ke<strong>in</strong> Heil gebe. (Cyprian, ca 200 – 258 n.Chr,)<br />
Die Auffassung <strong>des</strong> Neuen Testaments bildete auch die Auslegungskriterien für das<br />
jüdische Alte Testament, das nach christlichem Verständnis fest an das „Neue“ gebunden<br />
ist. Diese „Bibel“ erlangte Verb<strong>in</strong>dlichkeit, sie formte die christliche Identität; sie<br />
ermöglichte auch e<strong>in</strong>e differenzierte Vielfalt der Jesusauslegung.<br />
So entstand die Kirche als ausgeformte Institution, die aber <strong>in</strong>nerlich charismatischspirituell<br />
von der Jesus<strong>in</strong>terpretation bestimmt war. Geme<strong>in</strong>sam war allen der Glaube an<br />
den Jesus, der gekreuzigt und auferstanden war und se<strong>in</strong>en Gruppen e<strong>in</strong>en universalen<br />
Auftrag zur Mission h<strong>in</strong>terlassen hatte.<br />
Historisch s<strong>in</strong>d die Lebensr<strong>in</strong>ge der wachsenden Kirche zu erkennen: die Urgeme<strong>in</strong>de, die<br />
Kirche vor der konstant<strong>in</strong>ischen Anerkennung, die Staatskirchen <strong>in</strong> Rom und Byzanz, die<br />
Kirchen der Reformationen, charismatische Geme<strong>in</strong>schaften der Neuzeit. Nicht zu<br />
übersehen ist, wie die Kirchen durch politische bzw. gesellschaftliche Kräfte geprägt<br />
wurden; schon <strong>in</strong> der Frühzeit passte sich die Kirche an die Umwelt an. Das heutige<br />
Gesicht bekam die Kirche im Zusammenhang mit der Aufklärung, der Säkularisierung und<br />
der Postmoderne.<br />
58
„Wie viel Kirche braucht der Staat“ lautete der Titel e<strong>in</strong>es Vortrags von Kirchenpräsident<br />
Christian Schad (Speyer) Anfang Juli 2012. In unserem Zusammenhang hier könnte sie<br />
lauten: Wie viel Geschichte, wie viel Jesus braucht die Kirche? Oft haben Kirchenleute mit<br />
Berufung auf die Tradition und die Quellen der <strong>Glaubens</strong>geme<strong>in</strong>schaft versucht, (nach<br />
ihrem eigenen Verständnis aber, immerh<strong>in</strong>) durch Er<strong>in</strong>nerung an die Geschichte die<br />
Kirchenmitglieder zusammen und beim Wesentlichen zu halten. Das geschah leider nicht<br />
selten mit Gewalt und mit wenig Offenheit für neue Entwicklungen. Wie viel und welche<br />
Kirchengeschichte und Berufung auf die Tradition braucht die Kirche? – Das muss e<strong>in</strong>e<br />
ständig neu zu stellende Frage bleiben.<br />
Von der E<strong>in</strong>heit der Jesusgeme<strong>in</strong>schaft h<strong>in</strong> zur konfessionellen Vielfalt<br />
„Mich schmerzt, dass die E<strong>in</strong>heit der Jesusgeme<strong>in</strong>schaft nicht gehalten hat. Aber ich<br />
verstehe mehr und mehr, dass e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> allen Weltteilen existierende Geme<strong>in</strong>schaft<br />
schwerlich <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er monarchischen, organisierten Weise zusammengehalten werden<br />
kann. E<strong>in</strong>heit ist auch <strong>in</strong> der Vielfalt möglich. “<br />
Der kritische Wahrheitsdrang (auch im Blick auf Fehlentwicklungen <strong>in</strong> der Kirche wie<br />
Ablasshandel, Inquisition, Hexenverfolgung Missionierungseifer, Kriegsunterstützung,<br />
usw.), die Erfahrungen und die Erfordernisse <strong>in</strong> unterschiedlichen Situationen äußerten<br />
sich <strong>in</strong> konfessioneller Differenzierung und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Vielfalt, <strong>in</strong> der der e<strong>in</strong>e Geist als<br />
schöpferisch tätig gesehen werden kann. Die Entfaltung <strong>des</strong> Christentums sollte als Stärke<br />
anerkannt werden, so schmerzlich oder ärgerlich sich Trennungen oder Spaltungen<br />
vollzogen.<br />
Die mittelalterliche Spaltung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Ost- und e<strong>in</strong>e Westkirche hatte politische, aber auch<br />
theologisch-spirituelle Gründe. Aus den Großkirchen heraus entstanden Freikirchen.<br />
Mennoniten, Methodisten, Baptisten, Adventisten, Pf<strong>in</strong>gstkirchen zeigten, wie Kirchenkritik<br />
und Wahrheitsüberzeugungen Lebensformen bildeten. Was anfangs sektenähnlich<br />
aussah, konnte zur großen Bewegung werden. Mit ursächlich für die großen europäischen<br />
Auswanderungswellen (z.B. <strong>in</strong> die USA) gelangten sie zu großer politischer und<br />
gesellschaftlicher Bedeutung. Andere, wie „Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der<br />
Letzten Tage“ (die Mormonen) vertreten ernsthaft trennende Sonderme<strong>in</strong>ungen.<br />
Man wird das als Folge <strong>des</strong> Zeitgeistes verstehen müssen. Das Patchwork-Phänomen ist<br />
zwar beschwerlich, andererseits haftet dem oft und lebhaft geäußerten E<strong>in</strong>heitsbedürfnis<br />
im Grunde etwas Unrealistisches an. Ist e<strong>in</strong>e Kirche mit mehr E<strong>in</strong>heit glaubwürdiger als<br />
e<strong>in</strong>e Vielzahl sich mehr oder weniger gegene<strong>in</strong>ander abgrenzender „Konfessionen“? Das<br />
kommt doch hauptsächlich darauf an, wie man mite<strong>in</strong>ander umgeht! Der Glaube kann<br />
viele Formen haben (Joh. 14,1).<br />
Die E<strong>in</strong>e Kirche ist <strong>in</strong> ihrem Grund verbunden durch ihren im Wesentlichen gleichen e<strong>in</strong>en<br />
Glauben. Der E<strong>in</strong>heitsbitte Jesu gehorsam zu se<strong>in</strong> und Trennung zu überw<strong>in</strong>den, hat nicht<br />
zuletzt auch e<strong>in</strong> tieferes Wahrheitsverständnis ermöglicht. Der christlichen E<strong>in</strong>heit zu<br />
entsprechen, hat zur Ökumenischen Bewegung und <strong>in</strong> unseren Breiten zu e<strong>in</strong>em<br />
verheißungsvollen ökumenischen Bewusstse<strong>in</strong> geführt. Auf der Ebene der Ortsgeme<strong>in</strong>den<br />
geschieht viel Ermutigen<strong>des</strong>, was „Oben“ noch nicht statthaft ist.<br />
Was im Großen geschieht, zeigt sich auch im Kle<strong>in</strong>en. Auch <strong>in</strong>nerhalb der E<strong>in</strong>zelkirchen ist<br />
Platz dafür, l<strong>in</strong>ks oder rechts, orthodox/fundamentalistisch oder liberal orientiert zu se<strong>in</strong>.<br />
59
Im Bemühen um mehr ökumenische E<strong>in</strong>heit brauchen wir den konservativen Kirchen nicht<br />
h<strong>in</strong>terher zu laufen. Eher liberale Kirchen können es aushalten, von anderen als nicht voll<br />
„Kirche“ e<strong>in</strong>gestuft zu werden. Verbote der Kommunikation werden schon umgangen (z.B.<br />
bei der Zulassung zum katholischen Abendmahl) , Gehorsam und „Fraktionszwang“<br />
stehen nicht mehr hoch im Kurs. Die unsichtbare („unsere“! geglaubte) Kirche aller<br />
Gläubigen ist schon und immer noch da und wird erlebt und erfahren. Allerd<strong>in</strong>gs:<br />
Heutige Probleme der Kirche<br />
„Bei den Problemen, die die Kirchen heute zu tragen und vor allem zu lösen haben, sehe<br />
ich e<strong>in</strong>e zeittypische Undeutlichkeit <strong>des</strong> Kirchenbil<strong>des</strong>.“<br />
In e<strong>in</strong>er Ecke ist „Kirche“ e<strong>in</strong>e verdächtige E<strong>in</strong>richtung: staatsabhängig, mit<br />
Machtcharakter, verhärtet dogmatisch denkend. In e<strong>in</strong>er anderen wird beklagt, dass<br />
„Kirche“ an Autoritätsverlust leidet, Mitglieder verliert, religionsarm ersche<strong>in</strong>t. An dritter<br />
Stelle sieht man „Kirche“ im Modernisierungsbemühen Fronten zurücknehmend,<br />
Wesentliches opfernd. Anderswo zeigt sich „Kirche“ konservativ, kämpferisch<br />
entschlossen, ke<strong>in</strong>en Fußbreit der Tradition aufzugeben.<br />
Dazu kommt das Problem der Verbürgerlichung, was mehr bedeutet als den Verlust <strong>des</strong><br />
Kontakts zur Breite der Bevölkerung. Die heute schwer herzustellende Verb<strong>in</strong>dung der<br />
Jugend mit der Kirche droht zu e<strong>in</strong>em Traditionsabbruch zu führen. Zu schwach gegen die<br />
Vorherrschaft der Medien über Lebensstil und Konsum haben es die Kirchen schwer mit<br />
ihren Denkanforderungen und Riten. Selbst bei den noch funktionierenden<br />
Amtshandlungen gel<strong>in</strong>gt es nicht, vorhandenes religiöses Bedürfnis <strong>in</strong> <strong>in</strong>tellektuelle<br />
Überzeugung zu verwandeln.<br />
Auch wenn Zeitgenossen es oft fordern – Kirche kann nicht untadelig se<strong>in</strong> und für alles die<br />
perfekten Rezepte vorweisen. Dazu ist sie zu menschlich, dazu h<strong>in</strong>kt die große<br />
Organisation immer h<strong>in</strong>ter den Veränderungen der Lebenswirklichkeit her.<br />
Vom Auftrag Jesus’ her ist die Kirche als Arbeitsgruppe zu verstehen, die Gerechtigkeit,<br />
Frieden und Erhaltung der Schöpfung zum Ziel hat. Diese ethisch-soziale Dimension ist<br />
verbunden mit der vertikalen <strong>des</strong> Gottesglaubens. Beide zeigen sich im lebendigen<br />
Gottesdienst, der weith<strong>in</strong> als das Kernstück der Kirche angesehen wird. In spirituellen<br />
Ausdrucksformen wie Lob Gottes, Dank und Bitte im Gebet, Wort und Sakrament, hält sich<br />
Kirche offen für Wirkungen <strong>des</strong> Gottesgeistes. Veranstaltungen verschiedener Art lassen<br />
die Ziele der Kirche und die Methoden, sie erreichen zu wollen, erkennen.<br />
Damit präsentiert Kirche ihren Gott als belebende Macht <strong>in</strong> der Öffentlichkeit. Im<br />
demokratischen Gefüge Westeuropas verfügt sie dank Mitgliederstärke und dem<br />
ethischem Potenzial (Zehn Gebote und Bergpredigt) über e<strong>in</strong>en erheblichen politischen<br />
E<strong>in</strong>fluss. Als Institution oder mit der Stimme e<strong>in</strong>zelner Christen mischt sie sich e<strong>in</strong>. Ihre<br />
politische Verantwortung kann sie <strong>in</strong> Parteien, aber auch gegen die herrschende political<br />
correctness wahrnehmen. Persönliche Erbauung, S<strong>in</strong>nf<strong>in</strong>dung und S<strong>in</strong>npflege ist ihre<br />
Sache, die ebenso dem <strong>in</strong>neren Halt der Gesellschaft wie auch den oft Vere<strong>in</strong>zelten dient.<br />
Die <strong>in</strong> der Gesellschaft stark verankerten sogen. Amtshandlungen bieten<br />
Lebensbegleitung (deren Form und Verständnis s<strong>in</strong>d stark erneuerungsbedürftig). Die<br />
Kirche ist, stabilisierend oder kritisch, e<strong>in</strong>e dienstleistende E<strong>in</strong>richtung für <strong>in</strong>dividuelle und<br />
kollektive Bewusstse<strong>in</strong>sorganisation – nicht nur für Mitglieder (die <strong>in</strong> der Sprache <strong>des</strong><br />
<strong>Glaubens</strong> „Glieder“ genannt – also als lebendiger Organismus gesehen werden). Die<br />
diakonische Arbeit ist weitgefächert und immer noch bzw. immer wieder auch im Blick auf<br />
60
die elementarsten Nöte <strong>in</strong> den Krisengebieten aller Welt e<strong>in</strong>er der wichtigsten Dienste, die<br />
Kirche <strong>in</strong> unserer Gesellschaft leistet.<br />
Religiöser Pluralismus – gut für die Kirche. Und ihre Mitglieder.<br />
„Neu herausgefordert werden die Christen und die christlichen Kirchen durch die anderen<br />
Weltreligionen, <strong>in</strong> unserem Land nicht nur durch das Judentum und den Islam.“<br />
Der Buddhismus gew<strong>in</strong>nt Freunde, der H<strong>in</strong>duismus auch. Der Konfuzianismus wird<br />
kommen. Ist der Missionsauftrag dialogisch möglich? Das Wahrheitswissen hat sich<br />
gewandelt, und die Bibelforschung erklärt die Behauptung von der Exklusivität <strong>des</strong><br />
Christusanspruchs als e<strong>in</strong>en Versuch (unter vielen), von Gott zu reden. In ihrer Sprache<br />
und ihrem Anspruch wird die Kirche sich <strong>des</strong>wegen bescheidener und vorsichtiger<br />
verhalten.<br />
Mit Hoffnung und Interesse ist zu beobachten, dass sich <strong>in</strong> der Kirche selbst neue Formen<br />
von <strong>Glaubens</strong>erfahrung und –ausdrucke entwickeln. Es geht auch ohne mythologische<br />
und sehr menschlich gedachte Gottesvorstellungen; neue religiöse Lieder s<strong>in</strong>d<br />
entstanden, es gibt Gottesdienste für Motorradfahrer, Bergsteiger und Senner hoch <strong>in</strong> den<br />
Alpen usw. . Kirche ist <strong>in</strong> Facebook, Twitter und Internet präsent und Konfirmanden lernen,<br />
was Kirche ist, nicht mehr über auswendig hergesagte Katechismusstücke, sondern<br />
(auch) <strong>in</strong> Praktika z.B. <strong>in</strong> diakonischen E<strong>in</strong>richtungen kennen. Das ersche<strong>in</strong>t vielen<br />
ungewohnt, ist aber e<strong>in</strong>e Bereicherung, Anregung und E<strong>in</strong>übung, Pluralität auch<br />
außerhalb der Kirche wahrzunehmen und wertzuschätzen.<br />
Beziehungen zu Kirche<br />
„Ich halte die Frage „Was habe ich von der Kirche?“ für durchaus berechtigt. Sie kann zu<br />
e<strong>in</strong>em weiterführenden Verständnis ihres Wesens führen und e<strong>in</strong>e Verbesserung der<br />
Qualität kirchlicher Arbeit bewirken.“<br />
Das Verhältnis von Individuen und Gruppen zu Kirche ist schwer zu bestimmen. Es ist<br />
zunächst danach zu fragen, ob Kirche (theologisch) als geistiges Großsystem oder als<br />
E<strong>in</strong>zelorganisation (Denom<strong>in</strong>ation) verstanden wird. Zur Klärung der eigenen (mehr oder<br />
weniger formalen) Beziehung zur Kirche ist dann zu unterscheiden zwischen Formen der<br />
Zugehörigkeit und den damit verbundenen Rechten und Pflichten bzw. Nutzen und<br />
Abhängigkeiten. Beziehungen zu Kirche kommen auf unterschiedliche Art zustande<br />
(Tradition, Taufe, Erziehung, Theologie, Information, Bildung, E<strong>in</strong>tritt, u.a.) und bestehen<br />
aktuell <strong>in</strong> Teilnahme an kirchlichen Aktivitäten, Bekenntnis, Kritik, materieller<br />
Unterstützung, u.a. . Die Frage „Was habe ich von der Kirche?“ ist durchaus berechtigt<br />
und führt zu e<strong>in</strong>em weiterführenden Verständnis ihres Wesens (zu dem auch die religiöse<br />
Dimension gehört, die sich nicht <strong>in</strong> Kategorien wie Nutzen und Nachteil erfassen lässt).<br />
Wenn sie <strong>in</strong> der kirchlichen Praxis ausführlicher vorkommen würde, könnte das auch e<strong>in</strong>e<br />
Verbesserung der Qualität kirchlicher Arbeit bewirken und e<strong>in</strong>e gute Werbung für aktive<br />
Beteiligung se<strong>in</strong>.<br />
An neue und verschiedene Formen der Beziehung zur Kirche ist zu denken wie z.B.<br />
Teilmitgliedschaften, zeitliche und/oder <strong>in</strong>haltliche Begrenzung, Kooperation mit anderen<br />
Gruppen oder Angehörigen anderer Religionen.<br />
61
In der geistigen Beziehung zur geglaubten Kirche s<strong>in</strong>d mehr <strong>in</strong>dividuelle<br />
Verständnisweisen möglich als früher. Bei entsprechender Offenheit, Toleranz und<br />
Verständigung würden sie kreativ wirken.<br />
„Kirche begegnet den Menschen als Raum. Als weiter, offener Raum der größeren<br />
Wirklichkeit.“<br />
Für das Verständnis von Kirche war <strong>in</strong> den Großkirchen immer der Geme<strong>in</strong>deraum<br />
wichtig. In der Öffentlichkeit steht der Kirchenbau als städtebauliches Zeichen.<br />
Architektonisch geprägt von der Praxis <strong>des</strong> Gottesdienstes, der Liturgie, bildet der<br />
Versammlungsort „Kirche“ nicht nur <strong>in</strong> den Groß-Städten e<strong>in</strong>en öffentlich zugänglichen<br />
Ort, der zwanglos e<strong>in</strong>e Gegenwelt der Stille und <strong>in</strong>neren Konzentration anbietet. Er<strong>in</strong>nernd<br />
und bergend ist er Schutzraum, <strong>des</strong>sen künstlerische Innengestaltung den Worten der<br />
Kirche e<strong>in</strong>e Sprache eigener Art verleiht. Die Kosten dafür wurden und werden<br />
aufgebracht, auch wenn die Kirchen heute viele neue Räume und praxisorientierte<br />
Raumformen dazu bekommen haben (nicht nur sog. Geme<strong>in</strong>dehäuser).<br />
Vielversprechend, manchmal auch problematisch ist der vor allem <strong>in</strong> den neuen<br />
Bun<strong>des</strong>ländern unternommene Versuch, herkömmliche Kirchen geme<strong>in</strong>sam mit der<br />
Ortsgeme<strong>in</strong>de (z.B. als Rathaus) und Verbänden bzw. Vere<strong>in</strong>en zu nutzen und dafür<br />
umzubauen.<br />
Im übertragenen S<strong>in</strong>n eröffnet die Kirche nicht nur ihren Mitgliedern „Raum“ <strong>in</strong><br />
Betätigungsfeldern, <strong>in</strong> denen (<strong>in</strong>sbesondere ehrenamtlich) viel Hilfreiches geleistet werden<br />
kann.<br />
Aber auch Ämter gibt es <strong>in</strong> der Kirche als Organisation und großer Arbeitgeber<strong>in</strong> („danke,<br />
für me<strong>in</strong>e Arbeitsstelle“ heißt es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em vielgesungenen Lied). Manchmal werden sie,<br />
dem Verständnis der Kirche entsprechend, Dienste genannt, auch wenn es sich um<br />
Leitungsaufgaben handelt. Bei deren Ausübung wird nicht immer (ausreichend) daran<br />
gedacht, dass auch Priester und Oberkirchenräte me<strong>in</strong>e Brüder s<strong>in</strong>d und die Bischöf<strong>in</strong><br />
me<strong>in</strong>e Schwester ist. Das Amtsverständnis der katholischen Kirche ist ziemlich exklusiv<br />
(nur der Priester kann die Eucharistie gültig darbr<strong>in</strong>gen), aber glücklicherweise nicht<br />
überall.<br />
„Die Außensicht auf Kirche ist zu beachten!“<br />
„Ich sehe Kirche auch selbst oft von außen: Historisch, soziologisch, rechtlich,<br />
organisatorisch, politisch, ... Aus der Distanz. Kritisch. (Das mag und kann nicht jede/r).<br />
Auch aus dieser Sicht zeigt sich mir Wesentliches und Liebenswürdiges, Menschlich-<br />
Allzumenschliches. Ich nehme mit <strong>in</strong> die Kirche h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, was ich von außen sehe.“<br />
Soziologisch ist Kirche e<strong>in</strong>e stark strukturierte Organisation mit Personal von beamteten<br />
und freien Mitgliedern, Pastoren und Laien, mit e<strong>in</strong>er Hierarchie, mit Machtgefälle,<br />
Kirchensteuer, Kirchenzucht, unterschiedlichen Betätigungsfeldern, Mitgliederbewegung.<br />
Politisch-gesellschaftlich wird sie kritisch als Machtrelikt verdammt oder als Wertegeber<strong>in</strong><br />
anerkannt und gerne für Eigen<strong>in</strong>teressen <strong>in</strong>strumentalisiert (Thron und Altar).<br />
Über „Kirche“ wird je nach Kontext und Interesse geredet. E<strong>in</strong> Liebhaber redet anders von<br />
ihr als e<strong>in</strong> Fe<strong>in</strong>d oder e<strong>in</strong>er, der sie kühl analytisch untersucht.<br />
Das Reden von „der“ Kirche bedarf also jeweils genauer Beobachtung. Die Ortskirche ist<br />
abhängig von dem Bild, das die Gesamtkirche abgibt (das ist nicht anders als <strong>in</strong> der<br />
62
Politik). Mancher tritt aus „der“ evangelischen Kirche aus, weil ihm der Papst missfällt...<br />
Der Austritt ist e<strong>in</strong> Indiz für die B<strong>in</strong>dungsschwäche der Ortsgeme<strong>in</strong>de und weist auf<br />
Bildungslücken h<strong>in</strong>.<br />
Mitglied e<strong>in</strong>er Kirche ist, bleibt oder wird man nicht nur oder hauptsächlich wegen der<br />
Zustimmung zu ihrem <strong>Glaubens</strong>bekenntnis, sondern zur Fortsetzug der Tradition, um der<br />
Kasualien willen (Bestattung!) und der K<strong>in</strong>der wegen. Die Wertschätzung ihrer<br />
Dienstleistung (Seelsorge, Stärkung der Spiritualität, ethisches Engagement, Diakonie) ist<br />
nicht nur bei den aktiven Mitgliedern hoch.<br />
Kritik an der Kirche wird zunehmend Ernst genommen, führt aber kaum zu<br />
entsprechenden Veränderungen.<br />
Hauptargumente der gegenwärtigen Kritik an der Kirche s<strong>in</strong>d u.a.:<br />
Lehre und Predigt der Kirche seien veraltet und weltfremd.<br />
Die Dienstleistungen der Kirche werden von vielen Menschen nicht mehr <strong>in</strong><br />
Anspruch genommen, weil sie durch Wissenschaft und Technik überholt und z. T.<br />
von anderen Organisationen übernommen worden s<strong>in</strong>d.<br />
Die Kirchen haben Kriege nicht verh<strong>in</strong>dert und statt <strong>des</strong>sen Waffen gesegnet.<br />
Die Kirchen mischen sich zuviel <strong>in</strong> Politik e<strong>in</strong>.<br />
In manchen Gruppen: In den Großkirchen ist die „re<strong>in</strong>e Lehre“ nicht mehr <strong>in</strong><br />
Geltung<br />
„Gründe für und gegen e<strong>in</strong>en Austritt aus der Kirche<br />
zeigen viel vom Verständnis der Kirche als e<strong>in</strong>er religiösen und weltlichen Organisation.“<br />
(Nachfolgend auch e<strong>in</strong>ige, die seltener genannt werden):<br />
Gründe für e<strong>in</strong>en Austritt Gründe gegen e<strong>in</strong>en Austritt<br />
E<strong>in</strong>sparung der Kirchensteuer.<br />
Was geglaubt werden soll ist<br />
<strong>in</strong>tellektuell obsolet.<br />
Ehrlichkeit, die <strong>in</strong>nere E<strong>in</strong>stellung<br />
auch durch formale<br />
Konsequenzen zum Ausdruck<br />
zu br<strong>in</strong>gen.<br />
Freie Verfügung über den<br />
bisher gezahlten Betrag der<br />
Kirchensteuer für ähnliche<br />
Zwecke z.B. auf lokaler<br />
Ebene.<br />
Druck auf die Kirche, um<br />
Reformen und Anpassung an<br />
Der Kirchenaustritt bedeutet<br />
zwangsläufig auch e<strong>in</strong>e Absage an<br />
die von der Kirche vertretenen<br />
Werte und Ziele.<br />
Die Leistungsfähigkeit der Kirche<br />
wird dadurch verr<strong>in</strong>gert, möglicherweise<br />
so weit, dass wesentliche<br />
Funktionen für den e<strong>in</strong>zelnen und<br />
für die Gesellschaft unterhalb e<strong>in</strong>er<br />
gewissen Größenordnung<br />
überhaupt nicht mehr erfüllt<br />
werden können.<br />
Verlust der wirksamen Vertretung<br />
religiöser, ethischer Aussagen und<br />
63
die gesellschaftlichen Veränderungen<br />
zu erreichen.<br />
Verr<strong>in</strong>gerung <strong>des</strong> kirchlichen<br />
E<strong>in</strong>flusses auf Gebieten, wo<br />
er für h<strong>in</strong>derlich gehalten wird<br />
(z. B. <strong>in</strong> der Erziehung).<br />
E<strong>in</strong>e Inanspruchnahme der<br />
Kirche ersche<strong>in</strong>t auch ohne<br />
Mitgliedschaft möglich und<br />
gerechtfertigt.<br />
Demonstration der<br />
Abwendung vom christlichen<br />
Glauben bzw. se<strong>in</strong>en<br />
Ausprägungen als H<strong>in</strong>weis auf<br />
die Notwendigkeit neuer<br />
Orientierungsformen, die der<br />
veränderten Situation entsprechen.<br />
Zu wenig Möglichkeiten für<br />
direkte Mitarbeit im Entscheidungsbereich.<br />
Man will nicht<br />
immer nur Konsument se<strong>in</strong>.<br />
„Glaube Ja, Kirche Ne<strong>in</strong>!“<br />
Die Kirche wird nicht mehr<br />
gebraucht. Andere E<strong>in</strong>richtungen<br />
haben ihre Funktion<br />
übernommen.<br />
Die Kirche ist alles andere als<br />
e<strong>in</strong>e „Geme<strong>in</strong>schaft der<br />
Heiligen“.<br />
Kirche zwischen Tradition und Vision<br />
Fragen auf lange Sicht. Es besteht<br />
die Gefahr, dass bestimmte Werte<br />
und Ziele von e<strong>in</strong>er mitgliederreduzierten<br />
Kirche nicht mehr<br />
wirksam vertreten werden können.<br />
Verlust e<strong>in</strong>er Beziehung zu dieser<br />
Geme<strong>in</strong>schaft.<br />
Verlust <strong>des</strong> Anrechtes auf<br />
Amtshandlungen.<br />
Die bisher von der Kirche erbrachten<br />
Leistungen auf sozialem und<br />
gesellschaftspolitischem Gebiet<br />
(Erziehung, Diakonie) müssten<br />
unter erheblichem Aufwand von<br />
der Gesellschaft übernommen<br />
werden.<br />
Verantwortung für das Personal<br />
und die E<strong>in</strong>richtungen der Kirche.<br />
Unterstützung der Fortschrittlichen<br />
oder der Konservativen, wenn man<br />
als Vertreter e<strong>in</strong>er der beiden<br />
Positionen <strong>in</strong> der Kirche bleibt.<br />
Die jetzige Krise der Kirche kann<br />
vorübergehend se<strong>in</strong>. Erneuerung<br />
ist möglich. Man traut sich zu, an<br />
der Erneuerung mitzuarbeiten.<br />
Die Vor- und Nachteile der jetzigen<br />
Kirche s<strong>in</strong>d bekannt, die e<strong>in</strong>er<br />
anderen Organisationsform<br />
ähnlicher Größe nicht.<br />
Die Kirche ist noch nicht genügend<br />
auf e<strong>in</strong>e Mitgliederreduktion<br />
vorbereitet.<br />
„Kirche, die Geme<strong>in</strong>schaft der Glaubenden, ist im Blick auf die Vergangenheit wichtig als<br />
Hüter<strong>in</strong> ihrer beachtlichen Tradition, im Blick auf die Gegenwart als Reservoir von<br />
Lebensnotwendigem und Lebensdienlichem, im Blick auf die Zukunft als Schlüssel für<br />
Hoffnung und Glück.“<br />
In ihrem Ritus feiert die Kirche Gott und die Geme<strong>in</strong>schaft mit ihm. Hier ist das Band der<br />
Geme<strong>in</strong>samkeit zu pflegen, <strong>in</strong> „Wort und Sakrament“, <strong>in</strong> Grundtexten, Liedern und dem<br />
Raum, der Gott- und Selbstf<strong>in</strong>dung bietet. Dabei wird heute der Spitzensatz „Wort und<br />
Sakrament“ nicht mehr exklusiv christologisch verstanden. Entdeckt wird und Gehör f<strong>in</strong>det<br />
die Sprache <strong>des</strong> Schöpfers auch <strong>in</strong> der Natur. Die Kunst, besonders die Musik und das<br />
Bild, hatten immer e<strong>in</strong>e unmittelbare Beziehung zur Gottesnähe. Der moderne Mensch mit<br />
64
se<strong>in</strong>er Sehnsucht lebt aus verschiedenen Zugängen zum Religiösen. Indem die Kirche<br />
diese zum Teil diffusen E<strong>in</strong>drücke aufnimmt und bearbeitet, erweitert sie ihren<br />
Deutungsbereich erheblich.<br />
Die Tradition darf die Offenheit für Erneuerung nicht e<strong>in</strong>schränken. Visionen s<strong>in</strong>d<br />
überlebensnotwendig für die Kirche als Organisation und Geme<strong>in</strong>schaft von Glaubenden.<br />
Neues <strong>in</strong> der Kirche gibt es – <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>schaft <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong><br />
„Kirche ist e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft, <strong>in</strong> der es vor allem anderen um den Glauben und die ihm<br />
entsprechende Lebensgestaltung geht. Im Glauben erfahre ich sowohl die Nähe Gottes<br />
als auch se<strong>in</strong>e Fremdheit. Glaube geht oft gegen me<strong>in</strong> eigenes Wünschen und Me<strong>in</strong>en.“<br />
„Ich glaube an Gott“ heißt: Ich glaube e<strong>in</strong> Paradox. Denn Kreuz und Auferstehung haben<br />
im Kern etwas, das uns gegenüber quer steht. Glaube zielt auf das kommende „Reich“,<br />
doch das schließt den Wüstenmarsch e<strong>in</strong>. Wir tun vielleicht nichts Gutes, wenn wir dem<br />
von Glaube und Kirche distanzierten modernen Menschen das Christliche leichter machen<br />
wollen. Die traditionellen Antworten auf die Gottesfrage mögen abgegriffen sche<strong>in</strong>en, doch<br />
neue s<strong>in</strong>d schwer zu geben, wenn sie denn die Fremdheit Gottes nicht verlieren wollen.<br />
Die Folgen von entgegenkommender Vere<strong>in</strong>fachung s<strong>in</strong>d nicht abzusehen. Die Kirche nur<br />
als Humanitätspfleger<strong>in</strong> <strong>des</strong> 21. Jahrhunderts zu sehen, greift zu kurz.<br />
Welcher Zukunft die Kirche – <strong>in</strong> welcher Form immer – entgegengeht, ist ungewiss.<br />
Religion wird es immer geben, das Offense<strong>in</strong> für e<strong>in</strong>e Transzendenz ist e<strong>in</strong> Existential, ihre<br />
Existenz <strong>in</strong> der Gestalt heutiger Kirchen jedoch nicht. Aber „christliche Religion ohne<br />
Kirche“ ersche<strong>in</strong>t religionspsychologisch als unwahrsche<strong>in</strong>lich. In der Jesus-Botschaft<br />
steckt soviel Salz und Licht, dass an dem Bestand nicht gezweifelt werden muss. Nur: Der<br />
Ausprägung von Kirche als öffentlich anerkannter Gruppierung stehen viele Kräfte<br />
entgegen, und verheißen ist den Christen diese Lebensform nicht.<br />
Letzten En<strong>des</strong> wird sich die Weiterexistenz der Kirche daran entscheiden, ob sie dem, was<br />
Jesus Christus <strong>in</strong> Rede und Tat lebte, treu bleibt und Jesu Gottesglauben verständlich und<br />
glaubhaft ihrem Umfeld mitteilen kann. Das ist e<strong>in</strong> Sprach-, aber vor allem e<strong>in</strong><br />
Haltungsproblem.<br />
„Ist Träumen erlaubt? Von Christen verschiedener Berufe und jeden Alters, die gegen<br />
die Vere<strong>in</strong>zelung der Moderne angehen, sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Stadtviertel konzentrieren und<br />
locker e<strong>in</strong>e Wohngeme<strong>in</strong>schaft praktizieren. Es ist der Versuch, das Christentum im<br />
21. Jahrhundert deutlicher zu leben. Der Mut zu e<strong>in</strong>er gewissen Entweltlichung gehört<br />
dazu. Aus sozialistischen oder Ordens-Modellen nahmen sie Realisierbares, vielleicht<br />
ist der Kibbuz e<strong>in</strong> brauchbares Beispiel, aus dem Beamtensystem der Großkirche<br />
haben sie sich freundlich ausgekl<strong>in</strong>kt. Ihr Lebensstil ist weltoffen und partizipativ,<br />
ke<strong>in</strong>esfalls ghettoartig, doch s<strong>in</strong>d sie erkennbar. Sie haben e<strong>in</strong>e Insel gegründet, nicht<br />
mehr, die aber über Brücken zugänglich ist.“<br />
Nur e<strong>in</strong> gelebtes Christentum ist überzeugend, weshalb auch von christlichen Märtyrern<br />
oder gar „Heiligen“ zu erzählen ist. Die simple Frage: „Was habe ich von (der<br />
Mitgliedschaft <strong>in</strong>) e<strong>in</strong>er Kirche“ braucht e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache Antwort, die die<br />
Kirchengeme<strong>in</strong>schaft, aber mehr noch die e<strong>in</strong>zelnen Christen zu geben <strong>in</strong> der Lage se<strong>in</strong><br />
sollten, auch auf die Zweifel und die Kritik, und das nicht zuletzt beim Thema „Kirche“.<br />
Dafür brauchen wir wieder Versuche, die den eigenen Glauben zeitgemäß formulieren.<br />
(Die Texte dieser „<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“ wollen dazu beitragen). Die Schärfe der<br />
Gebote und das Befreiende der Jesusbotschaft brauchen nachsprechbare<br />
65
Formulierungen. E<strong>in</strong>s sollte dabei deutlich gemacht werden: Jeden Kirchenaustritt<br />
respektiert die Kirche. Aber sie sieht ihn nicht als unwiderruflich an.<br />
Die Kirche lebt von Jesus<strong>in</strong>terpretationen, seien sie kanonisch oder nicht. So ist das<br />
christliche Wahrheitsangebot zu verstehen. Grundsätzlich ergibt das nur Vorläufiges. Das<br />
jedoch als Schwäche oder Unsicherheit e<strong>in</strong>zuschätzen, wäre falsch. Die Vorläufigkeit hat<br />
e<strong>in</strong>e eigentümliche Stärke: sie ist offen für den Dialog und ermöglicht Lernfähigkeit. Die<br />
Unmöglichkeit, das Jesusbild scharf zu stellen, macht es kommunikativ. Unsere<br />
hergebrachte Dogmatik mit den fixierten Bekenntnisformeln hat uns das geme<strong>in</strong>same<br />
Glauben schwer gemacht. Wir brauchen Toleranz, müssen Unterschiede aushalten,<br />
Grenzen verhandeln.<br />
E<strong>in</strong>e neue Art von Kirchengeme<strong>in</strong>schaft muss sich durchsetzen, die e<strong>in</strong>e breite Vielfalt<br />
erlaubt, weil sie Individuation respektiert. So global sie zu denken versteht, so<br />
persönlichkeitsbezogen ist sie lokal. Ihre „Geme<strong>in</strong>den“ s<strong>in</strong>d offene Geme<strong>in</strong>schaften. Das<br />
Missverständnis, nur e<strong>in</strong>e private religiöse Sekte zu se<strong>in</strong>, wird dann nicht aufkommen.<br />
Ihre Verantwortung ist bei allem, Brückenbau zu betreiben, nach <strong>in</strong>nen und nach außen.<br />
Dies ist <strong>in</strong> ihrer Verkündigung, ihrer Seelsorge, ihrer Diakonie und ihrer ökumenischen<br />
E<strong>in</strong>stellung auszuarbeiten und e<strong>in</strong>zuüben. Ihr Wesen aber hält <strong>in</strong> ihr e<strong>in</strong>e positive<br />
Grundhaltung aufrecht, die fröhliche Überzeugung ihres <strong>Glaubens</strong>. Das heißt also, wie<br />
schon immer, ihre Orientierung an Jesus, dem Weg <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e neue Zukunft auch für die<br />
Kirche.<br />
Zurück zum Inhaltsverzeichnis<br />
11. Schuld / Sünde / Vergebung<br />
Für den Stand und die Entwicklung der gesellschaftlichen Schuldkultur ist das<br />
Verständnis der Begriffe Schuld, Sünde und Vergebung grundlegend. Sowohl e<strong>in</strong>e<br />
Def<strong>in</strong>ition wie auch das Verhältnis der Begriffe zue<strong>in</strong>ander ist schwierig. Es stellen<br />
sich u.a. folgende Fragen:<br />
• Wie gehen wir verantwortungsvoll mit unserem täglichen Schuldigwerden um?<br />
• Was br<strong>in</strong>gt die Ausweitung <strong>des</strong> Schuldbegriffs auf das religiöse<br />
Sündenverständnis?<br />
• Welchen Wert hat und was bewirkt Vergebung?<br />
• Wie br<strong>in</strong>gen wir die Bereitschaft auf, Schuld anderer zu verzeihen?<br />
• Kann der persönliche Glaube dabei helfen?<br />
• Welche Bedeutung hat Jesus für Christen bei dieser Frage ?<br />
E<strong>in</strong>e Vertiefung beim Verständnis von Schuld und Sünde kann zu mehr Gerechtigkeit<br />
führen und neue Chancen auch bei schwerer Schuld eröffnen.<br />
Schuld zugeben? Um Gottes willen!<br />
Brauchen wir e<strong>in</strong>e neue Schuldkultur?<br />
Alle Menschen wurden, s<strong>in</strong>d oder werden <strong>in</strong> ihrem Leben schuldig.<br />
(Dagegen wird oft gesagt: „Ich b<strong>in</strong> mir ke<strong>in</strong>er Schuld bewusst.“)<br />
Größe und Art von Schuld s<strong>in</strong>d oft schwer zu bestimmen.<br />
66
Sie wird meist nicht, nur teilweise und ungern zugegeben, weil das Nachteile und<br />
Strafe br<strong>in</strong>gt.<br />
Von Christen wird Schuld auch als Sünde gegen Gottes Liebe und Gebote<br />
verstanden.<br />
Schuld – was ist das?<br />
Schuld und Sünde kann vergeben werden.<br />
Subjektiv ist Schuld das Gefühl und die E<strong>in</strong>sicht, etwas Falsches, Unerlaubtes,<br />
Schädliches (Schändliches) getan oder Pflichten versäumt zu haben.<br />
Objektiv ist Schuld die feststellbare Vorwerfbarkeit von und die Verantwortung für<br />
moralisch oder gesetzlich Verbotenes. In Politik und Wirtschaft werden oft Fehler<br />
den Verursachern als Schuld zugerechnet.<br />
Das Wort wird auch für f<strong>in</strong>anzielle und juristische Leistungsverpflichtungen<br />
verschiedener Art gebraucht („Anderen etwas schuldig bleiben“).<br />
Für menschliche Geme<strong>in</strong>schaft ist es lebensnotwendig, Schuld möglichst zu<br />
vermeiden und zu regulieren, wenn sie e<strong>in</strong>getreten ist oder besteht.<br />
Gründe für die Feststellung oder das Empf<strong>in</strong>den von Schuld ergeben sich aus der<br />
Vernunft (z.B. im Blick auf die Folgen e<strong>in</strong>es Verhaltens), aus den <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Gesellschaft geltenden Regeln und aus dem Glauben an Gott. Die Bewertung<br />
von Schuld und der Umgang damit ist weitgehend klar geregelt, aber doch im<br />
e<strong>in</strong>zelnen oft sehr schwierig. Es ist häufig strittig, was als Schuld angesehen wird<br />
und wie schwer sie wiegt („Ich b<strong>in</strong> mir ke<strong>in</strong>er Schuld bewusst.“)<br />
So problematisch die Feststellung und damit Abgrenzung von Schuld auch ist, so<br />
hat sie doch den Vorteil, dass zwischen dem Menschen und se<strong>in</strong>er Schuld<br />
unterschieden werden kann. Ke<strong>in</strong> Mensch ist ganz schlecht.<br />
Schuldgefühle können Menschen erheblich belasten und werden <strong>des</strong>halb oft <strong>in</strong><br />
das Unbewusste verdrängt. Schuldzuweisung soll die Verantwortlichkeit für<br />
verbotenes oder auch nur unerwünschtes Verhalten feststellen, um durch<br />
entsprechende Strafen e<strong>in</strong>e Wiederholung zu verh<strong>in</strong>dern oder, wenn möglich,<br />
e<strong>in</strong>e Wiedergutmachung herbei zu führen.<br />
Schuldfeststellung wird aber nicht nur rückwärts wirksam, sondern sie zeigt e<strong>in</strong>e<br />
Richtung für die beabsichtigte oder geforderte weitere Entwicklung auf<br />
(„Bewährung“). Als schuldhaft bewertetes Handeln soll <strong>in</strong> Zukunft vermieden<br />
werden. Diesen S<strong>in</strong>n hat auch die oft gebrauchte Formel "Entschuldigung" .<br />
Sünde ist Schuld aus der Sicht <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong><br />
Das Wort Sünde stammt aus religiösem Sprachgebrauch und wird heute<br />
neben dem Bezug auf Gott auch benutzt, um e<strong>in</strong>en Frevel gegenüber<br />
der Natur oder der Menschlichkeit zu benennen Es bezeichnet e<strong>in</strong>en<br />
Verstoß gegen Gebote bzw. Verbote Gottes, die über menschliches<br />
Recht und Gesetz h<strong>in</strong>ausgehen. Das Verständnis e<strong>in</strong>er Handlung oder<br />
e<strong>in</strong>es Unterlassens als Sünde macht e<strong>in</strong>e größere Dimension bewusst<br />
67
als durch Moral oder Rechtsprechung erfasst wird. Darüber h<strong>in</strong>aus<br />
sehen und fühlen sich viele Christen (wie vor fast 500 Jahren Mart<strong>in</strong><br />
Luther) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em dauernden und totalen Zustand <strong>des</strong> Sündig- oder<br />
Sünder-Se<strong>in</strong>s gegenüber Gott.<br />
Umgangssprachlich wird oft als „Sünde“ bezeichnet, was zwar verboten, aber<br />
doch verlockend ist.<br />
Sünde ist im religiösen S<strong>in</strong>n aber e<strong>in</strong> ziemlich umfassen<strong>des</strong> Wort. Es bezeichnet<br />
<strong>in</strong> der christlichen Religion nicht nur die e<strong>in</strong>zelne Übertretung e<strong>in</strong>es (göttlichen)<br />
Gebotes, sondern die Aufhebung der Geme<strong>in</strong>schaft mit Gott. Der Mensch will<br />
se<strong>in</strong> Leben ganz alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Hand nehmen. Der Mensch wird schuldig, weil er<br />
selbst "se<strong>in</strong> will wie Gott", er weist Gottes Liebe zurück und missachtet se<strong>in</strong>e<br />
Gebote. Diese können religiös-ethischer oder kultisch-ritueller Art se<strong>in</strong>. In<br />
anderen Religionen (ohne Glauben an e<strong>in</strong>en persönlichen Gott) entsteht religiöse<br />
Schuld auch durch Verletzung von Tabu-Gesetzen oder durch die Störung e<strong>in</strong>er<br />
Ordnung. Sünde bedeutet, dass Menschen ohne Verb<strong>in</strong>dung und<br />
Übere<strong>in</strong>stimmung mit der größeren Wirklichkeit s<strong>in</strong>d, der sie ihr Leben verdanken:<br />
ohne ihren Schöpfer, entfremdet der Natur und im Kampf aller gegen alle.<br />
In der Bibel und <strong>in</strong> der Theologie wird unter Sünde im umfassenden S<strong>in</strong>n die<br />
Trennung von Gott verstanden, die Abwendung <strong>des</strong> Geschöpfes von se<strong>in</strong>em<br />
Schöpfer und die Absage <strong>des</strong> Menschen an den ihn liebenden Gott.<br />
Das Verständnis von Sünde und Schuld als Tat und Übertretung bzw.<br />
Unterlassung f<strong>in</strong>det meist <strong>in</strong> der personalen Form und Dimension der Beziehung<br />
zu Gott se<strong>in</strong>en Ausdruck. Das grundlegende menschliche Verhältnis oder Nicht-<br />
Verhältnis zu Gott als dem Leben und der Liebe, der Wahrheit und Gerechtigkeit<br />
lässt sich aber auch mit nicht-personalen Begriffen ansprechen, obwohl das noch<br />
sehr ungewohnt ist (s.unten und Kommunikation mit Gott).<br />
Auch wenn heute bei Fehlverhalten nicht mehr oder nicht hauptsächlich an Sünde<br />
gegenüber Gott gedacht wird, haben die meisten heutigen Gesellschaften doch<br />
e<strong>in</strong>e hochentwickelte Schuldkultur. Weit über die Rechtsprechung h<strong>in</strong>aus gibt es<br />
zahlreiche Bereiche, <strong>in</strong> denen man sich nach Regeln richten und mit Sanktionen<br />
rechnen muss, wenn man dagegen verstößt. Rechtsprechung, Moral, die Medien<br />
und die Modetrends richten darüber, wie akzeptiert jemand ist bzw. se<strong>in</strong>e<br />
Handlungen s<strong>in</strong>d.<br />
Heute ist vieles, was früher als Sünde galt, liberalisiert (z.B. Homosexualität), und<br />
wahrsche<strong>in</strong>lich war das <strong>in</strong> christlich geprägten Gesellschaften nur möglich, weil<br />
und seitdem dafür ke<strong>in</strong> direkter Bezug mehr auf Gott angenommen wurde. Das<br />
Bewusstse<strong>in</strong>, dass unser Verhalten und Sose<strong>in</strong> weitere Auswirkungen und Folgen<br />
hat als wir erkennen und überblicken, ist aber nach wie vor relevant und offen.<br />
Und sei es nur die Ahnung davon, dass e<strong>in</strong> Gerichtsurteil oder die Beurteilung<br />
e<strong>in</strong>er moralischen Schuld nicht die letzte Bewertung gebracht hat. Die „Goldene<br />
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Regel“, anderen gegenüber alles zu vermeiden, was man selbst nicht will, ist als<br />
Ideal anerkannt. Aber schwer zu verwirklichen.<br />
Vor dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>es evolutionären Gottesbilds kann Sünde nicht mehr als<br />
persönlicher Ungehorsam oder als Verletzung göttlichen Willens verstanden<br />
werden, da die Vorstellung Gottes als e<strong>in</strong>er mythologischen Person im S<strong>in</strong>ne<br />
e<strong>in</strong>es göttlichen Gesetzgebers und Richters nicht mehr haltbar ist. (Stadelmann)<br />
Trotzdem kann der christliche Glaube durch die Beziehung der Schuld auf Gott<br />
dazu helfen, e<strong>in</strong>en größeren Zusammenhang <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> zu br<strong>in</strong>gen.<br />
(Sp<strong>in</strong>oza hat e<strong>in</strong>mal das Böse als "Auflösung <strong>des</strong> Zusammenhangs" bezeichnet).<br />
Wird Gott z.B. als der Richter bezeichnet, so wird damit gerechnet, dass e<strong>in</strong><br />
Schuldiger ganz anders, - d.h. aus e<strong>in</strong>er umfassenderen Perspektive - beurteilt<br />
werden kann, als e<strong>in</strong> Mensch oder e<strong>in</strong> Gericht das tut.<br />
Macht die christliche Lehre von der Sünde den Menschen schlecht?<br />
Der Mensch ersche<strong>in</strong>t im Licht der früheren kirchlichen Sündenlehre überwiegend<br />
als e<strong>in</strong> schuld- und sündenbeladenes Wesen – obwohl er andererseits bei se<strong>in</strong>er<br />
Erschaffung als das Ebenbild Gottes bezeichnet wird.<br />
Wir haben es beim christlichen Sündenverständnis mit der Unterscheidung von<br />
zwei Ebenen zu tun, mit dem weltlichen, juristisch-moralischen Schuldverständnis<br />
und se<strong>in</strong>er Begrenzung auf „Fehler“, die Menschen machen, und der größeren<br />
Dimension, wenn Sünde auf Gott bezogen wird.<br />
Dazu gehört dann auch, was wir anderen Menschen schuldig bleiben, z.B. den<br />
unterentwickelten Völkern oder Katastrophenopfern – und den kommenden<br />
Generationen! Durch Sünden kommen andere Mitmenschen immer direkt oder<br />
<strong>in</strong>direkt zu Schaden. Aber auch der „Sünder“ wird <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Persönlichkeit<br />
beschädigt und bee<strong>in</strong>trächtigt. Se<strong>in</strong>e Beziehung zu anderen Menschen und damit<br />
auch zu der größeren Wirklichkeit ersche<strong>in</strong>t gestört.<br />
Die Metapher „Jüngstes Gericht“ ist e<strong>in</strong> Symbol für die weitreichenden Wirkungen<br />
von Fehlverhalten, z.B. Umweltzerstörung, Verschwendung.<br />
Auch das Denken und Wollen wird der Prüfung auf Sünde unterzogen und das<br />
nicht nur <strong>des</strong>halb, weil dar<strong>in</strong> Motive zu schuldhaftem Tun entstehen. Vielmehr<br />
geht es dabei um die gesamte Qualität e<strong>in</strong>es Individuums oder e<strong>in</strong>er<br />
Geme<strong>in</strong>schaft. Dabei kam es <strong>in</strong> früherer Zeit besonders bei der Sexualität zu<br />
negativen Bewertungen, während z.B. nationalistisches Denken und<br />
Fremdenhass erst neuerd<strong>in</strong>gs als Sünde gelten.<br />
Die Aussage „Gott sieht alles“ (wie im „Wort zum Sonntag“ an 15.1.2012) wurde<br />
früher <strong>in</strong>sbesondere bei der Erziehung von K<strong>in</strong>dern als Angst machende Drohung<br />
dazu benutzt, unerwünschtes Verhalten zu verh<strong>in</strong>dern. Nach neuerem<br />
Gottesverständnis wird Gott nicht (mehr) als allgegenwärtiger Aufpasser<br />
gebraucht, der jeden e<strong>in</strong>zelnen Gedanken e<strong>in</strong>es Menschen bewertet. Beim Blick<br />
auf Völkermorde, unfassbare Holocaust-Gräueltaten und mehr als 55 Millionen<br />
Tote im 2. Weltkrieg kann man auf das Böse schließen, das im Menschen steckt,<br />
69
auch wenn er Jahrzehntelang ganz friedlich und bürgerlich lebt; je mehr Böses<br />
ihm zugetraut wird, <strong>des</strong>to realistischer sollten alle Möglichkeiten der Vermeidung<br />
von Sünde und Schuld bedacht werden – gerade auch mit der Offenheit für die<br />
größere Dimension Gottes. Zu der dann aber auch das Staunen über die<br />
Schönheit und den Reichtum <strong>des</strong> Lebens gehört.<br />
Altertümliche Vorstellungen von Sünde als Symbole <strong>in</strong>terpretieren<br />
E<strong>in</strong>ige biblische und altertümliche Vorstellungen von Sünde – wie Sündenfall,<br />
Erbsünde und Sünde als Ursache <strong>des</strong> To<strong>des</strong> – s<strong>in</strong>d heute nur noch von ihrem<br />
(damaligen) Symbolgehalt her zu verstehen.<br />
Wer sich für die Annahme <strong>des</strong> christlichen <strong>Glaubens</strong> und damit für Offenheit<br />
sowohl der eigenen Schuld gegenüber wie für den größeren Zusammenhang der<br />
Gerechtigkeit Gottes entschieden hat, muss auch mit dem Problem fertig werden,<br />
dass heute viele Kriterien der Schuldfeststellung <strong>in</strong>adäquat werden oder sich im<br />
Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> bestimmter H<strong>in</strong>sicht als falsch oder als überflüssig herausstellen.<br />
Als Beispiele <strong>in</strong> rechtlicher H<strong>in</strong>sicht s<strong>in</strong>d hier die Reform <strong>des</strong> Ehescheidungs- und<br />
Familienrechtes sowie die Paragraphen über die Homosexualität oder die<br />
Abtreibung zu nennen, aber auch e<strong>in</strong> verändertes nationales Selbstbewusstse<strong>in</strong>,<br />
E<strong>in</strong>stellung zu M<strong>in</strong>oritäten und das Wirtschafts- und Arbeitsrecht. Neue Kriterien<br />
werden für den Umweltschutz und für Kriegsverbrechen und Völkermord<br />
entwickelt.<br />
Der „Sündenfall“<br />
Nimmt man die Schöpfungserzählung der Bibel wörtlich, so verstieß das erste<br />
Menschenpaar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Urzustand gegen das Gebot Gottes, nicht von den<br />
Früchten <strong>des</strong> Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen. Es wurde<br />
<strong>des</strong>halb aus dem als „Paradies“ verstandenen „Garten Eden“ ausgestoßen. Die<br />
Geschichte soll erklären, wie das Böse <strong>in</strong> die Welt kam. Es ist lebensbedrohlich.<br />
Deshalb ist die Unterscheidung zwischen Gut und Böse für die Entwicklung <strong>des</strong><br />
Lebens und das Überleben grundlegend und lebenswichtig. Etwas ausführlicher<br />
soll an diesem Beispiel e<strong>in</strong>e Fehlentwicklung <strong>des</strong> christlichen <strong>Glaubens</strong><br />
dargestellt werden:<br />
Es ist e<strong>in</strong> bedauerliches, <strong>in</strong> der frühen Kirchengeschichte entstandenes Missverständnis,<br />
dass die Geschichte von der Versuchung zum Abfall von Gott, also zur<br />
Sünde, irgendetwas mit sexuellen Bedürfnissen zu tun habe. Gilt doch <strong>in</strong> der<br />
jüdischen Tradition Sexualität als hohes Gut, als gute Gabe <strong>des</strong> Schöpfers. E<strong>in</strong><br />
zölibatär lebender Rabbi ist für das Judentum e<strong>in</strong>e unmögliche Vorstellung.<br />
Sexualität zu leben, gehört sogar mit zur Feier <strong>des</strong> Sabbats.<br />
Selbstverständlich kann Sexualität missbraucht werden. Je kostbarer das<br />
Geschenk, <strong>des</strong>to schmerzlicher se<strong>in</strong> Missbrauch. Aber das alle<strong>in</strong> kann nicht der<br />
Grund se<strong>in</strong> für die katastrophale Fehl<strong>in</strong>terpretation von Genesis 3 <strong>in</strong> der<br />
70
christlichen Tradition. Schließlich steht <strong>in</strong> Gen. 3,5 expressis verbis: „Gott weiß:<br />
An dem Tag, da ihr davon esset … werdet ihr se<strong>in</strong>, wie Gott.“<br />
Das ist Sünde: Mehr se<strong>in</strong> zu wollen, als endlicher und darum gefährdeter<br />
Mensch, der gerade se<strong>in</strong>es Gefährdetse<strong>in</strong>s wegen – was bekanntlich Angst<br />
macht - den Traum von Omnipotenz und ewigem Leben träumt. Diese Hybris<br />
also: das ist Sünde!<br />
Diese Deutung <strong>des</strong> Sündenfall-Mythos wird bestätigt durch den Mythos vom Bau<br />
<strong>des</strong> Turms zu Babel. Dort, <strong>in</strong> Gen. 11,4, heißt es: “Wohlauf, lasst uns e<strong>in</strong>e Stadt<br />
und e<strong>in</strong>en Turm bauen (Sicherheitsbedürfnis!), <strong>des</strong>sen Spitze bis an den Himmel<br />
reicht (Se<strong>in</strong> wollen wie Gott!), „denn wir werden sonst zerstreut <strong>in</strong> alle Länder.“<br />
Also wieder die Angst um die eigene Existenz im Gegensatz zum Vertrauen auf<br />
die uns tragende Kraft Gottes. Mit anderen Worten: Glaube oder Unglaube.<br />
Damit ist der Begriff „Sünde“ e<strong>in</strong>deutig def<strong>in</strong>iert: Aus der Angst um sich selber<br />
erwächst die Versuchung, sich zu sichern aus eigener Kraft und damit die Hybris,<br />
se<strong>in</strong> zu wollen wie Gott.<br />
Dieser Glaube, nur durch Leistung, Kraft und Stärke der eigenen Existenz<br />
Geltung, Anerkennung und damit Sicherheit geben zu können – mit anderen<br />
Worten, se<strong>in</strong>em Leben durch eigene Kraft S<strong>in</strong>n geben zu müssen, – hat<br />
unzählige Katastrophen über die Menschheit gebracht:<br />
Aus Angst um sich selber, der Angst nämlich, vor Gott zu kurz zu kommen (<strong>in</strong><br />
der Symbolgeschichte 1.Buch Mose 4 Abels gegenüber se<strong>in</strong>em Bruder Ka<strong>in</strong>) ,<br />
ermorden Menschen ihre Mitmenschen.<br />
Aus Angst vore<strong>in</strong>ander haben der Osten gegen den Westen und der Westen<br />
gegen den Osten die Welt bis an den Abgrund <strong>des</strong> geme<strong>in</strong>samen Untergangs<br />
atomar aufgerüstet.<br />
Aus Angst um die eigene Größe („Volk ohne Raum“) hat das<br />
nationalsozialistische Deutschland gesungen: “Heute gehört uns Deutschland,<br />
morgen die ganze Welt!“ - und mit Kriegen unermessliches Leid über die Welt<br />
gebracht.<br />
Erbsünde<br />
Sündig se<strong>in</strong> und sündigen wird im früheren Gottesverständnis zur totalen<br />
Disposition <strong>des</strong> Menschen: „… me<strong>in</strong> S<strong>in</strong>d mich quälte Tag und Nacht, dar<strong>in</strong> ich<br />
war geboren. Ich fiel auch immer tiefer dre<strong>in</strong>, es war ke<strong>in</strong> Guts am Leben me<strong>in</strong>,<br />
die S<strong>in</strong>d hat mich besessen.“ (Luther im Lied EG 341, 2).<br />
Diese (aus religiöser Sicht) bei allen Menschen wirksame Grunde<strong>in</strong>stellung wurde<br />
als von Eltern „vererbt“ auf K<strong>in</strong>der und K<strong>in</strong><strong>des</strong>k<strong>in</strong>der verstanden. Niemand kann<br />
sich dem Verhängnis entziehen, schuldig zu werden und niemand kann sich <strong>in</strong><br />
eigener Kraft aus Schuld befreien. Dadurch ergab sich e<strong>in</strong>e Bedürftigkeit für<br />
Gnade und Erlösung <strong>des</strong> Menschen. Das vollzieht sich aber nicht durch<br />
natürliche Vererbung.<br />
Sünde als Ursache <strong>des</strong> To<strong>des</strong>?<br />
In der Schöpfungsgeschichte (1.Buch Mose Kap. 3) und bei Paulus (Der Tod ist<br />
71
der Sünde Sold. Röm 6,23) wird die Sünde urgeschichtlich als Ursache <strong>des</strong><br />
To<strong>des</strong> aufgefasst; sie hat nach diesem Verständnis pr<strong>in</strong>zipiell lebensfe<strong>in</strong>dliche<br />
Konsequenzen.<br />
Neuere theologische (!) Kritik an der christlichen Sündenlehre lehnt die damit<br />
meist verbundene Überbetonung der Verdorbenheit und Schlechtigkeit <strong>des</strong><br />
Menschen ab. Immerh<strong>in</strong> haben Menschen durch die „Vertreibung aus dem<br />
Paradies“ durch die Evolution auch die Erkenntnismöglichkeit <strong>des</strong> Guten und<br />
nicht nur <strong>des</strong> Bösen mitbekommen. Die vor allem durch das Gedankengut der<br />
Aufklärung <strong>in</strong> vielen Verfassungen, <strong>in</strong>sbes. auch im deutschen Grundgesetz<br />
verankerte Betonung der Würde <strong>des</strong> Menschen hat e<strong>in</strong>e positivere Sicht <strong>des</strong><br />
Menschen hervorgebracht, die auch die christliche Auffassung vom Charakter<br />
<strong>des</strong> Menschen nicht unverändert gelassen hat. Insbesondere <strong>in</strong> der Erziehung<br />
hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass es darum geht, alle guten und<br />
positiven Anlagen <strong>des</strong> K<strong>in</strong><strong>des</strong> zur Entfaltung zu br<strong>in</strong>gen und damit negativen<br />
E<strong>in</strong>flüssen und Entwicklungen von vornhere<strong>in</strong> den Boden zu entziehen, ohne<br />
aber gegenüber möglichen Fehlentwicklungen bl<strong>in</strong>d zu se<strong>in</strong>.<br />
Vergebung gegen Schuld und Sünde<br />
Die Abgrenzung, Feststellung und Annahme <strong>in</strong>dividueller oder geme<strong>in</strong>samer<br />
Schuld geschieht bei Christen <strong>in</strong> der Hoffnung bzw. Gewissheit, dass es <strong>in</strong> der<br />
größeren Wirklichkeit Gottes neuen Anfang und weiterführende Bewertungen<br />
gibt. In dem wohl bedeutsamsten Gebet Jesu heißt es: „Und vergib uns unsere<br />
Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Er hat selbst noch am<br />
Kreuz denen vergeben, die ihn getötet haben.<br />
Vergebung ist als Verzicht auf Rache und Vergeltung (nicht nur von<br />
Machthabern!) e<strong>in</strong> Zivilisationsfortschritt. Es gibt sie auch <strong>in</strong> anderen Religionen.<br />
Sie wurde schon <strong>in</strong> der antiken Philosophie hoch bewertet.<br />
Es soll und kann nicht behauptet werden, dass die Möglichkeiten und<br />
Zielsetzungen der Vergebung nur aus dem christlichen Glauben kommen können.<br />
Aber sie können und sollten aus dieser Grunde<strong>in</strong>stellung konsequenterweise<br />
folgen und auch praktiziert werden.<br />
Für manche Christen ist Vergebung ke<strong>in</strong> Vorgang, der sich im Himmel abspielt, wo<br />
Gott – auf die Bitten von Menschen h<strong>in</strong> – Vergebung gewährt. Beatrice v.<br />
Weizsäcker dazu: „Gott muss uns nicht vergeben. Er braucht unser Flehen nicht. Wir<br />
s<strong>in</strong>d es, die es brauchen.<br />
Unsere Bitte an Gott, uns zu vergeben, ist letztlich nichts anderes als die Bitte, uns<br />
dabei zu helfen, unser schlechtes Gewissen loszuwerden und uns selbst zu<br />
verzeihen, unser re<strong>in</strong>es Herz wiederzuf<strong>in</strong>den. E<strong>in</strong> re<strong>in</strong>es Herz bekommen wir nur<br />
durch uns selbst. Wenn wir ehrlich zu uns s<strong>in</strong>d, unsere Fehler bei uns suchen und zu<br />
ihnen stehen. E<strong>in</strong> Fehler wird nicht dadurch zum »Nichtfehler«, dass wir beten. E<strong>in</strong><br />
Fehler wird zum »Nichtfehler«, wenn wir ihn erkennen und abstellen. Dann ist unser<br />
Herz wieder re<strong>in</strong> - wenn natürlich auch nicht gefeit vor neuen Fehlern. E<strong>in</strong> Gebet<br />
dient zwar immer der Suche nach Gott und der Bitte um Hilfe. Es dient aber auch der<br />
72
Selbstvergewisserung, der Selbstläuterung, wenn man so will. Es dient nicht Gott,<br />
sondern uns.<br />
Wenn es stimmt, dass Gott uns nimmt, wie wir s<strong>in</strong>d, müssen wir ihn auch nicht um<br />
Vergebung bitten. Da s<strong>in</strong>d wir selbst gefragt. Denn wir s<strong>in</strong>d es, die andere<br />
verdammen, andere kränken, die <strong>in</strong> »Versuchung« geraten, die »Böses« tun. Die<br />
»schuldig« werden und »Vergebung« brauchen, um <strong>in</strong> der Sprache <strong>des</strong> Vaterunsers<br />
zu bleiben. So wenig wir das Böse <strong>in</strong> der Welt und <strong>in</strong> uns auf Gott abwälzen können,<br />
so wenig können wir ihm die Vergebung aufbürden. E<strong>in</strong> Gott, der weiß, was wir<br />
benötigen, noch ehe wir ihn darum bitten, der weiß auch, dass wir Vergebung<br />
brauchen.“<br />
Vergebung kann auch aus der Perspektive der Rechtfertigung von schuldigen bzw.<br />
sündigen Menschen betrachtet und erlebt werden. „Wie kriege ich e<strong>in</strong>en gnädigen<br />
Gott?“ war e<strong>in</strong>e existenzielle <strong>Glaubens</strong>frage Mart<strong>in</strong> Luthers, die er mit „Aus Gnade,<br />
nicht für Leistung und Werke“ beantwortete. Da geht es dann nicht mehr um Schuld<br />
und Sünde im E<strong>in</strong>zelfall, sondern um das gesamte Verhältnis von Menschen zu Gott.<br />
In diesem Zusammenhang wird die Gewährung von Vergebung mit Gnade<br />
begründet. Das widerspricht aber nicht der Beachtung von Formen der Erfahrung<br />
von Vergebung, wie sie <strong>in</strong> den folgenden Voraussetzungen für den Empfang von<br />
Vergebung dargestellt werden. (Die dafür von der Kirche entwickelte detaillierte<br />
Praxis der Gnadenverwaltung brachte allerd<strong>in</strong>gs viele Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e mit dem<br />
christlichen Glauben unvere<strong>in</strong>bare Abhängigkeit. Mart<strong>in</strong> Walser hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em 2010<br />
erschienenen Buch „Rechtfertigung“ gezeigt, dass die Rechtfertigung auch ohne<br />
e<strong>in</strong>en Glauben an Gott im traditionellen S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong> elementares humanes Problem ist).<br />
-> Hoffnung über den Tod h<strong>in</strong>aus, Neuzeitliche Verstehensansätze<br />
Voraussetzungen für den Empfang der Vergebung.<br />
Erkenntnis der Schuld bzw. der Sünde<br />
Schuld und Sünde werden im christlichen Glauben erkennbar durch die<br />
Beachtung der Gebote (Gottes), der „Goldenen Regel“ oder durch den E<strong>in</strong>fluss<br />
anderer vorbildlicher Personen, <strong>in</strong>sbesondere <strong>des</strong> Jesus von Nazaret, oder durch<br />
Begegnung mit Gott (wie es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bekenntnis der Baptisten enthalten ist: „In<br />
der Begegnung mit Jesus Christus erfahren wir das Böse <strong>in</strong> uns und <strong>in</strong><br />
gesellschaftlichen Strukturen als Sünde gegen Gott.“ (zit. nach Wikipedia).<br />
Beatrice v. Weizsäcker me<strong>in</strong>t (<strong>in</strong> „Ist da jemand?“), Vergebung von Gott sei<br />
unnötig, weil Gott niemand verdammt. Statt über Sünde gegenüber Gott<br />
nachzudenken sei es besser, die eigenen Fehler zu erkennen und abzustellen.<br />
Dazu kann auf die von Mitmenschen geübte Kritik verhelfen, auch wenn es meist<br />
schwer fällt, die anzunehmen.<br />
Schuld lässt sich häufig auch als Ursache für schädliche Wirkungen erkennen.<br />
Ohne Reue ke<strong>in</strong>e Vergebung<br />
Reue ist das Gefühl und/oder die Erkenntnis, falsch gehandelt zu haben,<br />
Unzufriedenheit, Abscheu, Schmerz und Bedauern über das eigene fehlerhafte<br />
Tun und Lassen, verbunden mit dem Bewusstse<strong>in</strong> von <strong>des</strong>sen Unwert und<br />
73
Unrecht sowie mit dem Willensvorsatz zur (wenn möglich) Wiedergutmachung<br />
und Besserung.<br />
An vielen Bibelstellen ist aber von Reue als Voraussetzung zur Vergebung nicht<br />
ausdrücklich die Rede. Sie wird <strong>in</strong> frühchristlicher Zeit <strong>in</strong> der Annahme der Taufe<br />
ihren Ausdruck erhalten haben. (Petrus antwortete ihnen: Kehrt um und jeder von<br />
euch lasse sich auf den Namen Jesu Christi taufen zur Vergebung se<strong>in</strong>er<br />
Sünden; dann werdet ihr die Gabe <strong>des</strong> Heiligen Geistes empfangen.“<br />
Apostelgeschichte 2,38)<br />
Durch die Reue wird die Schulderkenntnis <strong>in</strong> den größeren Zusammenhang <strong>des</strong><br />
<strong>Glaubens</strong> gestellt.<br />
Psychologisch gesehen kann langes und stark empfundenes Bedauern e<strong>in</strong>er als<br />
schuldhaft bewerteten Tat oder Unterlassung zu erheblichen Persönlicheitsstörungen<br />
führen.<br />
Im rechtlichen Bereich kann gezeigte (<strong>in</strong>sbesondere „tätige“) Reue das Strafmaß<br />
verr<strong>in</strong>gern.<br />
Reue wird e<strong>in</strong>geschränkt oder verh<strong>in</strong>dert durch die Neigung schuldig gewordener<br />
Menschen, sich zu ihrer Entlastung zu „entschuldigen“, <strong>in</strong>dem sie das Vergehen<br />
als nicht so schlimm, teilweise berechtigt oder gar nicht als Schuld anerkennen.<br />
Sehr oft wird auch auf e<strong>in</strong>e Mitschuld <strong>des</strong> Opfers bzw. e<strong>in</strong>es schuldhaft<br />
Geschädigten, z.B. bei sexuellem Missbrauch, h<strong>in</strong>gewiesen bzw. e<strong>in</strong>e solche<br />
behauptet (was oft zu großen seelischen Problemen bei den Opfern führt). Der<br />
Glaube wird dafür ke<strong>in</strong>e Begründung zulassen, die nur der eigenen<br />
Entschuldigung dienen soll.<br />
Im Bewusstse<strong>in</strong> größerer Wirklichkeit gibt es die Bitte um Vergebung für Schuld<br />
und Sünden, die auch Gläubigen nicht bewusst s<strong>in</strong>d oder nicht erkannt werden<br />
(„Jeder ist an allem schuld“ lautet e<strong>in</strong> Ausspruch <strong>des</strong> Dichters Dostojewski).<br />
Vergebung empfängt nur wer selbst anderen vergibt.<br />
„..und vergib uns unsere Schuld, ... wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“<br />
heißt es im Vater-unser-Gebet Jesu.<br />
Voraussetzung für den Empfang von Vergebung von Gott ist, dass e<strong>in</strong> Mensch<br />
selbst auch anderen vergibt, die an ihm/an ihr oder anderen oder an der Umwelt<br />
schuldig geworden s<strong>in</strong>d.<br />
Formen <strong>des</strong> Empfangs von Vergebung<br />
Nach evangelischem Verständnis wird <strong>in</strong> der Feier <strong>des</strong> Abendmahls Vergebung<br />
empfangen. Das zeigen die sog. E<strong>in</strong>setzungs-Worte: „...für euch gegeben und<br />
vergossen zur Vergebung der Sünden.“ Dazu Luther <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Katechismus:<br />
„Und wer diesen Worten glaubt, der hat, was sie sagen und wie sie lauten,<br />
nämlich: Vergebung der Sünden.“<br />
Es ist also für den christlichen Glauben ke<strong>in</strong> (notwendigerweise öfters<br />
erfolgender) Akt Gottes nötig, der nach e<strong>in</strong>er Prüfung, ob die Reue ausreichend<br />
ist oder nicht, über die Gabe der Vergebung im E<strong>in</strong>zelfall entscheidet.<br />
74
Diese kann vielmehr auch <strong>in</strong> der Zusage bzw. im Verhalten e<strong>in</strong>es anderen (nicht<br />
nur:!) Christen oder e<strong>in</strong>es Amtsträgers (z.B. bei e<strong>in</strong>er Beichte oder<br />
Abendmahlsfeier, im Gespräch) oder durch unmittelbare Erfahrung von Gottes<br />
Zuwendung <strong>in</strong> Gebet und Kontemplation empfangen werden.<br />
Auch durch das Lesen entsprechender Stellen <strong>in</strong> der Bibel kann die Gewissheit<br />
entstehen, Vergebung von Sünden zu empfangen; oder wenigstens deren<br />
Möglichkeit zu erkennen.<br />
Gläubige können Vergebung für alle Sünden, für alle Schuld und alle Menschen<br />
für möglich halten, obwohl es für menschliche Erkenntnis viel „Unentschuldbares“<br />
gibt. Sie sehen eigene und fremde Sünde und Schuld im größeren<br />
Zusammenhang der Wirklichkeit Gottes „aufgehoben“, auch wenn ihnen das im<br />
E<strong>in</strong>zelfall (und besonders bei großen Verbrechen) nur <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Ansätzen und<br />
Schritten möglich ist.<br />
Die Frage, wie Schuld und Sünde zu beurteilen (und damit zu leben!) ist, wenn<br />
sie vergeben und bestraft worden s<strong>in</strong>d, wird heute mehr <strong>in</strong> Talkshows behandelt<br />
als <strong>in</strong> der Kirche und Theologie. Das ist anzuerkennen, weil dadurch<br />
Möglichkeiten der Reflexion und Verarbeitung von Schuld bekannt werden und<br />
dabei meistens sowohl die Schuldigen wie auch die „Opfer“ zu Wort kommen.<br />
Zuschauer können sich im Abstand als Unbeteiligte eigene Gedanken zu diesem<br />
schwierigen Thema machen und Anregungen zu e<strong>in</strong>em verantwortungsbewussten<br />
Umgang mit eigener Schuld mitnehmen.<br />
Von der vergangenheitsorientierten E<strong>in</strong>stellung zu neuen Wegen<br />
Vergebung bedeutet die Zurückstellung e<strong>in</strong>er ichbezogenen, vergangenheits- und<br />
normorientierten E<strong>in</strong>stellung, auch dort, wo sie im Augenblick berechtigt<br />
ersche<strong>in</strong>t. Vielmehr wird e<strong>in</strong>e offene, zukunftsbezogene und<br />
zusammenhangorientierte Sachlichkeit angestrebt, die sich geme<strong>in</strong>sam mit<br />
dem/den anderen um die Lösung der anstehenden Probleme bemüht, <strong>in</strong>dem<br />
neue Wege gesucht und soviel H<strong>in</strong>dernisse wie möglich ausgeschaltet werden.<br />
Christen lassen es nicht nur bei Verurteilung, Bestrafung und Wiedergutmachung<br />
bewenden. Das ist allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e sehr anspruchsvolle E<strong>in</strong>stellung, die viel<br />
Gedankenarbeit erfordert und sicher auch oft enttäuscht wird und erfolglos bleibt.<br />
Der sündige Mensch ist nach diesem Verständnis nicht als ganzer schlecht, d.h.<br />
nicht mit se<strong>in</strong>er Schuld identisch. Das kommt auch <strong>in</strong> zahlreichen Worten der<br />
Bibel für Vergebung von Schuld zum Ausdruck, z.B. waschen, re<strong>in</strong>igen,<br />
abwaschen, bedecken, wegnehmen, wegschaffen). Der allgeme<strong>in</strong>e Begriff der<br />
Schuld erlaubt <strong>in</strong> der Anwendung auf den E<strong>in</strong>zelfall vielfache Differenzierungen.<br />
In der Offenheit <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> für MEHR und größere Wirklichkeit wächst die<br />
Fähigkeit und die Bereitschaft, Fehler zuzugeben und zu korrigieren, weil und<br />
wenn es nicht nur um die eigene Person geht. Den größeren Zusammenhang<br />
sehen – das ist schon e<strong>in</strong> Schritt im gelebten Glauben an Gott. Ob man es so<br />
nennt oder nicht.<br />
75
Auf gegenseitiges Aufrechnen von Schuld verzichten<br />
Der christliche Glaube geht davon aus, dass wir vielen anderen im Vergleich zu<br />
unseren Gaben und Möglichkeiten etwas schuldig bleiben und sie uns.<br />
Der Glaube als Offenheit br<strong>in</strong>gt aber auch die Möglichkeit, das gegenseitige<br />
Aufrechnen der größeren oder kle<strong>in</strong>eren Schuld aufzugeben, weil er die Konflikte<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em größeren Zusammenhang sieht. E<strong>in</strong>e Verständigung braucht nicht mehr<br />
daran zu scheitern, dass die Schuld <strong>des</strong> oder der anderen als etwas größer als<br />
me<strong>in</strong>e eigene angesehen wird.<br />
Vergebung ist e<strong>in</strong>e konstruktive soziale Methode<br />
Vergebung ist die Erfahrung <strong>in</strong> der Offenheit <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>, dass es e<strong>in</strong>en<br />
Ausweg aus dem ke<strong>in</strong>e kreative und weiterführende Lösung erlaubenden Zwang<br />
der Normen und Gesetze gibt. Durch Aussprache, Bereuen und Vergeben <strong>in</strong><br />
versöhnlicher, friedlicher Weise wird zur Konfliktlösung beigetragen, bis h<strong>in</strong> zur<br />
praktizierten Fe<strong>in</strong><strong>des</strong>liebe. In vielen Gleichnissen Jesu (z.B. Mt. 18,21 ff, Lk.<br />
15,11) ist die Möglichkeit dieses Verhaltens <strong>in</strong> Bildern und Modellen beschrieben.<br />
Jesus hat die Möglichkeit der "Vergebung" vertreten bis zu der Konsequenz, dass<br />
er nicht verstanden und getötet wurde. Mit Jesus ist e<strong>in</strong> Anfang gemacht, der<br />
vielen Menschen dieses Verhalten der Solidarität und Vermittlung ermöglicht. Es<br />
ist ke<strong>in</strong>e herablassende Überlegenheit damit verbunden ("Ich vergebe dir..."),<br />
vielmehr entspricht der Vergebung die sachlich und menschlich begründete Wahl<br />
e<strong>in</strong>er weiterführenden, konstruktiven, sozialen Methode, zu der auch andere<br />
e<strong>in</strong>geladen werden (<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Lexikon-Artikel wird sie als "Strategie" bezeichnet.<br />
Diese kann u.a. unterstützt werden durch die Methode der Mediation).<br />
Schuld zugeben – nur wenn es gar nicht anders geht?<br />
Der christliche Glaube befähigt zum Zugeben von Schuld<br />
Die Zusage der Vergebung Gottes erleichtert gläubigen Christen das Zugeben<br />
von Schuld – oder sollte das umso mehr dann tun, wenn die anderen Beteiligten<br />
auch Christen s<strong>in</strong>d. (Statt<strong>des</strong>sen wurden aber lange Zeit unter Christen<br />
Schuldvorhaltungen im Übermaß produziert. )<br />
Durch den exemplarischen Vollzug allgeme<strong>in</strong>er Schuldfeststellung im<br />
entspannten Feld der Geme<strong>in</strong>de bzw. <strong>des</strong> Gottesdienstes kann das Zugeben von<br />
Schuld im E<strong>in</strong>zelfall und sogar gegenüber dem Gegner vorbereitet und erleichtert<br />
werden.<br />
Für die wissenschaftliche Arbeit ist das E<strong>in</strong>geständnis von Fehlern und das<br />
"Umdenken" hochbewertete Voraussetzung, <strong>in</strong> der Praxis <strong>des</strong> Alltags (und bei<br />
kirchlichen Ause<strong>in</strong>andersetzungen!) ist es allerd<strong>in</strong>gs immer noch selten. Deshalb<br />
ist es Aufgabe der Kirche, den Funktionswert <strong>des</strong> Zugebens von Schuld<br />
allgeme<strong>in</strong> und im E<strong>in</strong>zelfall aufzuzeigen, nicht zuletzt auch durch das eigene<br />
Beispiel. Das Zugeben von Schuld kann e<strong>in</strong>e Aggressionshemmung beim<br />
Gegner, Freund und „Bruder" bewirken. Das br<strong>in</strong>gt meist auch e<strong>in</strong>e<br />
Versachlichung <strong>des</strong> Problems, welches durch das Zugeben der eigenen Schuld<br />
besser <strong>in</strong> den Blick kommt. Bei anderen kann sich auch e<strong>in</strong> Interesse für die<br />
Grundhaltung entwickeln, aus der heraus Schuld zugegeben wird (und werden<br />
kann!). Wer das Zugeben von Schuld geübt hat und das <strong>des</strong>halb auch bei<br />
76
anderen nicht als Blöße ausnutzt, wird nicht aggressiv oder angstvoll, sondern mit<br />
Interesse und offen reagieren, wenn er auf eigene Schuld angesprochen wird. Er<br />
oder sie wird gar nicht mit sich selbst alle<strong>in</strong> abmachen wollen, was eigene<br />
Schuld ist und wie sie verarbeitet oder getilgt werden kann, weil durch die<br />
Offenheit <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> größere Zusammenhänge erkennbar werden. Schwere<br />
Schuld ist allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> harter Prüfste<strong>in</strong> für die Solidarität, Geme<strong>in</strong>schaft und<br />
Kommunikation mit anderen, auch wenn Vergebung ausgesprochen wird. So wird<br />
z.B. der Verlust e<strong>in</strong>es Menschen durch Mord u.U. durch nichts zu ersetzen oder<br />
zu kompensieren se<strong>in</strong>.<br />
Die Frage nach der ethischen Disposition <strong>des</strong> Menschen für gutes und böses<br />
Handeln wird aber zunehmend ohne Bezug auf die „theologische Dimension Gott“<br />
gestellt. Dies steht im Zusammenhang mit dem Vorwurf, gerade das Christentum<br />
habe e<strong>in</strong>e Schuldkultur entwickelt, die nicht zuletzt der Kirche durch Erzeugung<br />
von übermäßigem Schuldbewusstse<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er ihr nicht zukommenden Macht<br />
über die Menschen verholfen habe.<br />
Vergebung ist nicht abhängig von Gegenleistung<br />
Es ist e<strong>in</strong>e wesentliche Besonderheit der christlichen Vergebung, dass der<br />
Glaube an diese Möglichkeit und die Wahl <strong>des</strong> entsprechenden eigenen<br />
Verhaltens nicht von der Bereitschaft der Konfliktpartner, e<strong>in</strong> Gleiches zu tun,<br />
abhängig gemacht wird. Vielmehr rechnet der Christ damit, dass e<strong>in</strong>e erhebliche<br />
Vorgabe eigenen E<strong>in</strong>satzes <strong>in</strong> dieser Richtung notwendig ist, um bei der meist<br />
tiefgehenden normativen Fixierung menschlichen Handelns auch bei anderen<br />
e<strong>in</strong>e Veränderung <strong>des</strong> Verhaltens zu ermöglichen. Dieses Verhalten entspricht<br />
der Zusage, dass die Vergebung Gottes ohne Bed<strong>in</strong>gungen oder Gegenleistung<br />
gewährt wird.<br />
Auf dem Weg zu e<strong>in</strong>er neuen Schuldkultur<br />
Schuld zugeben – wer tut das schon gerne, wenn Nachteile damit verbunden<br />
s<strong>in</strong>d?<br />
Schuldigwerden und Sündhaftigkeit gegenüber Gott war früher e<strong>in</strong> Hauptthema<br />
<strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>. Heute wird es fast immer auf Mitmenschen, auf andere, auf den<br />
Nächsten, auf die Gesellschaft bezogen, neuerd<strong>in</strong>gs aber auch auf die Natur, auf<br />
unsere Erde.<br />
Viele stellen sich aus der Sicht ihres <strong>Glaubens</strong> u.a. folgenden Fragen:<br />
Wie gehen wir verantwortungsvoll mit unserem täglichen Schuldigwerden<br />
um?<br />
Welchen Wert hat und was bewirkt Vergebung?<br />
Wie br<strong>in</strong>gen wir die Bereitschaft auf, erlebte Schuld anderer zu verzeihen?<br />
Kann der persönliche Glaube dabei helfen?<br />
Kann man Vergebung anderer mit dem H<strong>in</strong>weis auf deren hohe Bewertung<br />
im christlichen Glauben erbitten?<br />
Welche Bedeutung hat Jesus für Christen bei dieser Frage ?<br />
77
„Der Begriff Sünde“ br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>en größeren Zusammenhang <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> als<br />
der Begriff „Schuld“. Mit Schuld bezeichnet man <strong>in</strong> der Regel e<strong>in</strong> konkretes<br />
Fehlverhalten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Situation, mit Sünde e<strong>in</strong>en Zustand der<br />
Gottferne, der Isolation vom größeren Zusammenhang.<br />
Der christliche Glaube trägt durch die Beziehung der Schuld auf Gott dazu bei,<br />
e<strong>in</strong>en größeren Zusammenhang <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> zu br<strong>in</strong>gen. Wenn Gott als der<br />
Richter bezeichnet und geglaubt wird, so muss damit gerechnet werden, dass e<strong>in</strong><br />
Schuldiger ganz anders beurteilt werden kann, als ich das tue oder e<strong>in</strong> Gericht.<br />
Wenn zum Beispiel durch falsches Überholen auf der Autobahn e<strong>in</strong> schwerer<br />
Unfall passiert und die Autobahn für Stunden blockiert ist, so wird der/die<br />
Schuldige strafrechtlich und zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen. Der Verlust<br />
der fast tausend Wartenden an Zeit, verabredeten Begegnungen, Geschäften<br />
oder Erfahrungen wird dadurch nicht erfasst und meist nicht e<strong>in</strong>mal bedacht.<br />
Schuldig auch ohne Sünde<br />
Auch wenn heute bei Fehlverhalten häufig nicht mehr an Sünde gegenüber Gott<br />
gedacht wird, spielen <strong>in</strong> den meisten modernen Gesellschaften<br />
Schuldzuweisungen doch e<strong>in</strong>e große Rolle. Vor allem die Medien s<strong>in</strong>d die<br />
Rechercheure und Ankläger, die Stammtische und Talkshows s<strong>in</strong>d die<br />
gnadenlosen Richter. Schuldbekenntnisse und Rücktritt lassen das Strafmass<br />
erkennen. Meist gibt es ke<strong>in</strong>e mildernden Umstände. Viele <strong>in</strong> Ungnade Gefallene<br />
s<strong>in</strong>d aber nach kurzer Zeit wieder da und obenauf. Man hat ja se<strong>in</strong>en Spaß daran.<br />
Wem s<strong>in</strong>d schon größere Zusammenhänge zugänglich? Christen werden<br />
jedenfalls danach fragen und daran denken dass es sie gibt, auch wenn sie nur<br />
im Ansatz zugänglich s<strong>in</strong>d.<br />
Emotionale Abwertung der Gegenseite und Vergeltung vermeiden<br />
Wahrsche<strong>in</strong>lich s<strong>in</strong>d es nicht so sehr die objektiven Schwierigkeiten der durch<br />
Konflikte oder Schuld entstehenden Probleme, sondern die Fixierung auf<br />
Schuldprojektionen, die e<strong>in</strong>e für alle Beteiligten günstige geme<strong>in</strong>same Lösung<br />
verh<strong>in</strong>dern.<br />
Emotionale Abwertung von (tatsächlich oder vermutlich) "Schuldigen" bewirkt<br />
meist auch e<strong>in</strong>e Ablenkung von der Erkenntnis neuer Möglichkeiten und Wege.<br />
Auch die Vergeltung kann nicht als konstruktive Problemlösung angesehen<br />
werden. (Das zu glauben und zu realisieren fällt besonders angesichts großer<br />
und schrecklicher Verbrechen immer wieder schwer, <strong>in</strong>sbesondere gegenüber<br />
dem Terrorismus <strong>in</strong> den letzten Wochen. Was wäre nach dem 2. Weltkrieg aus<br />
Deutschland geworden, wenn von den Siegermächten nur Vergeltung geübt<br />
worden wäre?)<br />
Zurück zum Inhaltsverzeichnis<br />
78
12. Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht, Ewiges Leben<br />
Können wir aus dem <strong>Glaubens</strong>bekenntnis Passagen auslassen, nur „weil es<br />
uns heute schwer fällt, an Auferstehung und Ewiges Leben zu glauben?“ Ist<br />
e<strong>in</strong> christlicher Glaube auch ohne Auferstehung der Toten, Jüngstes<br />
Gericht, Ewiges Leben und Jenseits möglich? Es wird zwar heute<br />
weitgehend auf bildhafte Vorstellungen zu diesen <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halten<br />
verzichtet (wie z.B. <strong>in</strong> „Hoffen über den Tod h<strong>in</strong>aus?“), aber positive Aussagen<br />
und Interpretationen dazu s<strong>in</strong>d selten. Die folgende zum Thema „Jüngstes<br />
Gericht“ versucht e<strong>in</strong>e Erklärung ohne „Jenseits“.<br />
Viele neue Formulierungen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>bekenntnisses lassen die Auferstehung der<br />
Toten und das Ewige Leben bewusst aus.<br />
Können wir aus dem <strong>Glaubens</strong>bekenntnis Passagen auslassen, nur „weil es uns<br />
heute schwer fällt, an Auferstehung und Ewiges Leben zu glauben?“<br />
Viele, die den Glauben an Auferstehung und ewiges Leben unverändert beibehalten<br />
wollen, sehen <strong>in</strong> der Frage, ob „heute noch“ an dies oder jenes geglaubt werden<br />
kann oder nicht, ke<strong>in</strong>e für den Glauben relevante Kategorie.<br />
Denn für sie ist „es sehr wohl möglich, und kommt vor, dass die Vergangenheit sich<br />
e<strong>in</strong>er Wahrheit bewusst war, die von der Gegenwart vergessen wurde – und die<br />
trotzdem wahr bleibt. Ganz abgesehen von dem, was <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kollektiven<br />
Unterbewussten wirksam aufbewahrt se<strong>in</strong> mag.“ Es wird zu bedenken gegeben:<br />
„Wenn die Sünde oder das Böse heute unpopuläre und fast unverständlich<br />
gewordene Begriffe s<strong>in</strong>d, beschreiben sie gleichwohl wesentliche Realitäten, die<br />
e<strong>in</strong>er anderen Beschreibung nicht e<strong>in</strong>fach zugänglich s<strong>in</strong>d. Wenn das Heute nichts<br />
mehr mit ihnen anfangen kann, umso schlimmer für das Heute.“ Man wird es sich<br />
also nicht leicht machen können mit eigenen, neuen <strong>Glaubens</strong>weisen (wie dies z.B.<br />
Beatrice v. Weizsäcker <strong>in</strong> ihrem Buch „Ist da jemand?“ tut: „Wir brauchen Gott nicht<br />
um Vergebung zu bitten, weil er niemanden verdammt.“).<br />
Versuche mit e<strong>in</strong>er neueren Interpretation der <strong>Glaubens</strong>sätze zu „Auferstehung der<br />
Toten“ und „Ewigem Leben“ s<strong>in</strong>d auch dadurch erschwert, dass dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Infragestellung der leiblichen Auferstehung Jesu gesehen wird. Das fällt dann unter<br />
das Verdikt <strong>des</strong> Apostels Paulus: „Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist,<br />
dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube s<strong>in</strong>nlos.“<br />
Auferstehung, Ewiges Leben und auch das „Jüngste Gericht“ können aber durchaus<br />
so <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em übertragenen S<strong>in</strong>n so <strong>in</strong>terpretiert werden, dass das Wesentliche <strong>des</strong><br />
<strong>Glaubens</strong> erhalten bleibt und aktualisiert wird.<br />
In der Frage nach dem ewigen Leben waren Antike und Judentum weith<strong>in</strong><br />
illusionslos von der Vergänglichkeit und der Sterblichkeit alles Irdischen überzeugt<br />
(nicht aber das alte Ägypten, das ausgeprägte Jenseitsvorstellungen hatte und von<br />
dem sicher E<strong>in</strong>flüsse auf das Christentum ausg<strong>in</strong>gen) und setzten ke<strong>in</strong>e Hoffnung<br />
auf die allenfalls schattenhafte Existenz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Unterwelt. Trotzdem suchen viele<br />
auch heute nach e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n <strong>des</strong> Lebens, der durch die Sterblichkeit nicht zunichte<br />
gemacht wird. E<strong>in</strong> solcher ist wohl nur zu f<strong>in</strong>den, wenn e<strong>in</strong> Bezug zum „Ewigen“ als<br />
e<strong>in</strong>em wichtigen Prädikat Gottes bzw. e<strong>in</strong>er größeren Wirklichkeit gesehen wird.<br />
79
An e<strong>in</strong>e (mehr oder weniger „leibliche“) Auferstehung der Toten und Ewiges Leben<br />
zu glauben ist für e<strong>in</strong> gutes Leben <strong>in</strong> der Welt <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> und <strong>des</strong> Vertrauens<br />
nicht nötig, aber auch nicht h<strong>in</strong>derlich.<br />
Wer To<strong>des</strong>ängste durch den Glauben an Auferstehung und ewiges Leben<br />
besänftigen kann, hat damit e<strong>in</strong> wirkungsvolles Instrument gegen derartige<br />
Erfahrungen. Es bietet viele Chancen und Möglichkeiten zur (Selbst-)Reflexion und<br />
Abwehr e<strong>in</strong>er Abwertung und Bee<strong>in</strong>trächtigung <strong>des</strong> Lebens.<br />
Bilder für das Ewige?<br />
Der protestantische Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich (1886-1965)<br />
def<strong>in</strong>iert Spiritualität möglichst weit und umgreifend als das, »was auf das höchste<br />
Anliegen e<strong>in</strong>es Menschen verweist und das, was uns unbed<strong>in</strong>gt angeht«. Das Wesen<br />
der Religion besteht nach Tillich dar<strong>in</strong>, dass sie sich mit dem Ewigen befasst .<br />
Das Wort (oder der Wortteil) „Ewig“ ist dabei nicht nur unreflektiert als Zeitdauer und<br />
Zeit- und Raumüberschreiten<strong>des</strong> zu verstehen und zu gebrauchen, sondern als<br />
Bezeichnung e<strong>in</strong>er anderen Dimension <strong>des</strong> Lebens, Denkens und Fühlens. Für den<br />
christlichen Glauben ist Gott „ewig“, durch ihn gibt es die über unser Zeitempf<strong>in</strong>den<br />
h<strong>in</strong>aus gehende „Ewigkeit“. Weil Zeit- und Raumloses nicht vor- und darstellbar ist,<br />
s<strong>in</strong>d Bilder für das damit Geme<strong>in</strong>te entstanden, wie Jenseits, Auferstehung der<br />
Toten, Jüngstes Gericht, Himmel, Hölle und ewiges Leben (<strong>in</strong> vielen Kirchen<br />
anschaulich und bildhaft dargestellt). Sie werden (aber heute außer z.T. im<br />
<strong>Glaubens</strong>bekenntnis und im Vaterunser, <strong>in</strong> Gottesdiensten und bei Bestattungen),<br />
kaum oder gar nicht mehre gebraucht, lassen sich aber, zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t <strong>in</strong> ihrer früheren<br />
Funktion, erklären. Das Jenseits und die Bewertung der Lebensführung wurde von<br />
vielen Menschen sowohl als Hoffnung wie auch als Bedrohung empfunden, sehr<br />
häufig auch als ganz reales Geschehen , bzw. zu Erwarten<strong>des</strong>. Sie glaubten, dass<br />
es über, h<strong>in</strong>ter den Räumen <strong>des</strong> alltäglichen Lebens (im „Jenseits“) noch e<strong>in</strong>e<br />
andere, höhere Dimension von Zeit und Raum gibt, die zwar für Menschen<br />
unzugänglich und nicht verstehbar ist, aber die doch schon Verb<strong>in</strong>dung mit dem<br />
jetzigen Leben hat.<br />
In dieser Sammlung von „<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“ wird versucht, an zwei<br />
Beispielen zu zeigen, wie die im <strong>Glaubens</strong>bekenntnis stehende Aussage „... wird er<br />
kommen, zu richten die Lebenden und die Toten“ heute verstanden werden kann,<br />
ohne sie mit bildhaften Vorstellungen wörtlich zu nehmen.<br />
Das Jüngste Gericht – die größere Wirklichkeit<br />
Bei e<strong>in</strong>er Reise der <strong>Evangelische</strong>n <strong>Akademikerschaft</strong> durch Südburgund waren<br />
mehrfach an den E<strong>in</strong>gängen romanischer und gotischer Kirchen Darstellungen <strong>des</strong><br />
Jüngsten Gerichts zu sehen: Jesus, dem Gott nach der Bibel das am Jüngsten Tag<br />
stattf<strong>in</strong>dende Gericht über alle Lebenden und Toten übertragen hat, sitzt oder steht<br />
erhöht. Unter ihm zur Rechten diejenigen, die zur ewigen Seligkeit bestimmt s<strong>in</strong>d,<br />
zur L<strong>in</strong>ken, schon <strong>in</strong> den Fängen schrecklicher Ungeheuer, die Verdammten. Alle<br />
waren bee<strong>in</strong>druckt und dachten daran, dass Jesus zu den Ungerechten sagt: „Geht<br />
80
weg von mir, ihr Verfluchten, <strong>in</strong> das ewige Feuer“. Dagegen dürfen die Gerechten <strong>in</strong><br />
das ewige Leben e<strong>in</strong>gehen (nach Matthäus 25).<br />
Man freute sich über die Erklärung, dass im Tympanon der Kirche <strong>in</strong> Autun unten auf<br />
der rechten Seite mehr Platz für Gerechte war als auf der höllischen L<strong>in</strong>ken, und<br />
schmunzelte bei der Er<strong>in</strong>nerung daran, unter den Verdammten<br />
Foto: E. Uthke<br />
auch schon mal e<strong>in</strong>en Mann mit Bischofsmütze gesehen zu haben.<br />
Aber kaum jemand unter den Reiseteilnehmern wird heute noch e<strong>in</strong> Weltende dieser<br />
Art erwartet haben. Welche Bedeutung hat die Vorstellung vom Jüngsten Gericht<br />
noch für Gläubige unserer Zeit? Ist der Jüngste Tag der Übergang <strong>in</strong> die Ewigkeit?<br />
Wir rechnen nicht mehr oder kaum noch (wie viele Menschen im Altertum und z.T. im<br />
Mittelalter) mit e<strong>in</strong>em bald bevorstehenden Weltuntergang, verbunden mit dem<br />
Ereignis e<strong>in</strong>er Wiederkunft Christi zum Gericht.<br />
Zwar wird niemand ausschließen wollen, dass etwa nach voraussichtlich langer Zeit<br />
durch e<strong>in</strong>e Explosion der Sonne der Planet Erde zerstört und damit alles Leben<br />
unmöglich wird. Aber e<strong>in</strong> damit verbundenes reales Ende der Zeit für alles Dase<strong>in</strong><br />
(am „Jüngsten Tag“) mit dem Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er „Ewigkeit“ ist schon begrifflich<br />
unvorstellbar (wenn mit den Bezeichnungen e<strong>in</strong> verstehbarer S<strong>in</strong>n verbunden<br />
werden soll). Welche Bedeutung könnten also Vorstellungen wie das „Jüngste<br />
Gericht“ und „Ewigkeit“ für uns haben? (Es gibt Mythen vom Weltende mit mehr oder<br />
weniger apokalyptischer Ausgestaltung auch <strong>in</strong> anderen Religionen, wie z.B. im<br />
Koran).<br />
81
Lange Zeit hatte der Glaube an das Jüngste Gericht die Wirkung, dass die dadurch<br />
erzeugte Angst Menschen mehr oder weniger dazu zwang, sich nach den Geboten<br />
und Werten ihrer Religion zu richten. Die offensichtliche (und z.B. <strong>in</strong> den Psalmen<br />
beklagte) Tatsache, dass Bösewichte oft ke<strong>in</strong>e Strafe oder negative Folgen ihrer<br />
Übeltaten erfahren, auch dass gute Menschen oft (oder meistens?) <strong>in</strong> ihrer<br />
Lebenszeit ke<strong>in</strong>e Belohnung für ihre Rechtschaffenheit erhalten, wird durch e<strong>in</strong>en<br />
Ausgleich im Jenseits oder am Ende aller Tage erträglicher und hilft zum Bewahren<br />
<strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> an Gott (den Christen zum Festhalten an der Lehre Jesu).<br />
Für den Glauben haben Gott und Jesus das letzte Wort. Sie urteilen über jeden<br />
e<strong>in</strong>zelnen Menschen aufgrund ihrer umfassenden Kenntnis aller se<strong>in</strong>er Gedanken<br />
und Taten. Weil es schwer fiel zu glauben, dass der liebende und gnädige Gott<br />
Menschen wegen sogenannter Tod-Sünden zu e<strong>in</strong>er ewigen Verdammnis verurteilt,<br />
gab es durch die Vorstellung e<strong>in</strong>es Fegefeuers Abmilderungen (deren Käuflichkeit<br />
mit e<strong>in</strong> Anlass zu Luthers Reformation war). Als problematisch wurde auch die<br />
zeitweise vertretene religiöse Lehre empfunden, dass manche Menschen von<br />
vornhere<strong>in</strong> zur ewigen Verdammnis prä<strong>des</strong>t<strong>in</strong>iert se<strong>in</strong> könnten. Kritiker <strong>des</strong><br />
christlichen <strong>Glaubens</strong> bzw. der kirchlichen Lehre (das letzte Gericht über „die<br />
Lebenden und die Toten“ und die Ewigkeit – das ewige Leben – stehen immerh<strong>in</strong> im<br />
allgeme<strong>in</strong>verb<strong>in</strong>dlichen apostolischen <strong>Glaubens</strong>bekenntnis) sehen <strong>in</strong> solchen<br />
<strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halten hauptsächlich<br />
e<strong>in</strong> Instrument kirchlicher und<br />
religiöser Macht.<br />
Neuere Auffassungen von Gott<br />
führen zu vertretbaren und<br />
lebensdienlichen Interpretationen<br />
auch solcher <strong>Glaubens</strong>formen<br />
und -lehren. Dar<strong>in</strong><br />
werden Bilder und Metaphern<br />
mit ihren (zwar unangemessenen,<br />
aber kaum vermeidbaren)<br />
jenseitigen Zeit- und<br />
Raumvorstellungen auf ihren<br />
wesentlichen Gehalt h<strong>in</strong><br />
<strong>in</strong>terpretiert. Montceaux-l'Étoile: Tympanon im E<strong>in</strong>gangsfries<br />
Foto: H. Holler<br />
Gott als Richter – das bedeutet dann; alles kann auch anders beurteilt werden, selbst<br />
wenn ich das Urteil nicht kenne (sozusagen die Möglichkeit e<strong>in</strong>er religiösen<br />
Revision).<br />
Alle<strong>in</strong> schon dieses Denken an die Möglichkeit e<strong>in</strong>er anderen Beurteilung nach anderen<br />
Kriterien kann das eigene (Vor-!)Urteil relativieren und offen halten. Auch bei<br />
moralischen, religiösen oder Gerichtsurteilen, natürlich auch bei ästhetischem und<br />
politischem Ermessen. Manches Urteil würde dann nicht nur anders ausfallen, sondern<br />
auch der Umgang mite<strong>in</strong>ander wäre wahrsche<strong>in</strong>lich menschenfreundlicher.<br />
82
Das kommt <strong>in</strong> den Blick, wenn mit e<strong>in</strong>em „Mehr“ gerechnet wird, von dem schon im<br />
Textteil „Was ist Glauben“ (Kap.1) die Rede war: wenn der Glaube sich für den mit<br />
Gott vorgegebenen größeren Zusammenhang und se<strong>in</strong>e größere Wirklichkeit öffnet.<br />
Das Symbol <strong>des</strong> Jüngsten Gerichts kann bewusst machen, dass unser Verhalten,<br />
Tun und Denken sowohl zeitlich wie qualitativ-geistig (weitaus!) größere und längere<br />
Auswirkungen hat als wir erkennen können. Glauben wäre dann e<strong>in</strong>e erhöhte<br />
Offenheit dafür, wohl wissend, dass ich und wir nur e<strong>in</strong>en sehr kle<strong>in</strong>en Teil davon<br />
realisieren können.<br />
Durch die Beziehung der Schuld auf Gott hilft der christliche Glaube dazu, e<strong>in</strong>en<br />
größeren Zusammenhang <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> zu br<strong>in</strong>gen.<br />
Wenn Gott als der Richter bezeichnet, dargestellt und geglaubt wird, so wird damit<br />
gerechnet, dass Schuldige ganz anders beurteilt werden können, als ich das tue oder<br />
e<strong>in</strong> Gericht (und die Bild-Zeitung!) geurteilt hat. Wenn zum Beispiel durch falsches<br />
Fahren auf der Autobahn e<strong>in</strong> schwerer Unfall passiert und die Autobahn für Stunden<br />
blockiert ist, so wird der/die Schuldige strafrechtlich und zivilrechtlich zur<br />
Verantwortung gezogen. Der Verlust der tausend Wartenden an Zeit, verabredeten<br />
Begegnungen, Geschäften oder Erfahrungen wird dadurch nicht erfasst und meist<br />
nicht e<strong>in</strong>mal bedacht. Das religiöse Schuldwissen reicht schon hier (ansatzweise) <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>e weitere Dimension, auch zeitlich. Sie wird u.a. auch durch die Metapher „Gott ist<br />
der Richter“ und das Bild <strong>des</strong> Jüngsten Gerichts <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> gebracht.<br />
In diesem S<strong>in</strong>n bemühen sich die Gerichte, bei Straftaten möglichst viel vom<br />
H<strong>in</strong>tergrund und Entstehungszusammenhang e<strong>in</strong>er Straftat zu erheben, was oft<br />
schon bei der Rechtspflege zu „mildernden Umständen“ führt.<br />
Bei e<strong>in</strong>em tragischen Unfall während der Loveparade <strong>in</strong> Duisburg 2010 würden aus<br />
dieser Sicht nicht nur die Stadtverwaltung, der Veranstalter und die Polizei als<br />
möglicherweise Schuldige <strong>in</strong> Betracht gezogen, sondern auch die Gesellschaft, die<br />
Liebe und Lebensfreude (auch <strong>in</strong> den Medien) so feiert, dass Massen dabei <strong>in</strong><br />
Ekstase und Panik geraten. Andererseits kann die große Zahl von Menschen, die<br />
Liebe, Lebenskraft und Lebenslust zusammen feiern wollen, auch dankbar<br />
gegenüber dem tieferen Grund dafür stimmen.<br />
Auch bei der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko (2010) wird bei Offenheit für den<br />
größeren Zusammenhang nicht nur (berechtigt) an die Schuld der Ölfirma oder der<br />
amerikanischen Verwaltung gedacht, die die Bohrung mit zu ger<strong>in</strong>gen<br />
Sicherheitsauflagen genehmigt hat, sondern auch an den Druck, der von e<strong>in</strong>er<br />
verschwenderisch mit Treibstoff umgehenden Gesellschaft ausgeht. Auch hier<br />
kommt Staunen und Dankbarkeit für den großen Reichtum an „Lebensmitteln“ <strong>in</strong> den<br />
Blick, den wir <strong>in</strong> unserer Welt vorf<strong>in</strong>den. Für uns entstanden? E<strong>in</strong> sparsamer<br />
Gebrauch wäre der angemessene und geforderte Umgang damit, der nicht erst am<br />
jüngsten Tag belohnt wird.<br />
83
Aus diesem Verständnis folgt ja auch, dass nichts Gutes vergeblich geschieht, selbst<br />
wenn es unerkannt im Verborgenen und erfolglos bleibt. Das gilt leider auch für das<br />
Böse „bis <strong>in</strong> das dritte und vierte Glied“ (1.Mose 20) und wohl noch weiter. Es gibt<br />
e<strong>in</strong>e höhere und größere Wirklichkeit, <strong>in</strong> der das alles weit über unsere Erkenntnis<br />
h<strong>in</strong>aus aufgehoben und wirksam ist und bleibt. Christen und manche Religionen<br />
nennen sie Gott. Sie glauben an e<strong>in</strong>en Gesamtzusammenhang, <strong>in</strong> dem und aus dem<br />
heraus das Leben erhalten bleibt und gegen alle Schuld immer wieder neu beg<strong>in</strong>nen<br />
kann. Hierzu gehört auch die Ahnung von e<strong>in</strong>er anderen Zeitdimension als die<br />
Endlichkeit der Uhrenmessung und der Natur, die von Gläubigen Ewigkeit genannt<br />
wird.<br />
Natürlich müssen und dürfen wir urteilen und dementsprechend handeln. Und es<br />
kann auch h<strong>in</strong>derlich se<strong>in</strong> und skrupulös verunsichern, ständig mit der Möglichkeit<br />
der Aufhebung <strong>des</strong> eigenen Urteils zu rechnen. Aber die Offenheit für größere<br />
Zusammenhänge hat bei wesentlichen Lebensfragen doch lebensdienliche<br />
Wirkungen. Vor allem dann, wenn die Maßstäbe für das Urteilen berücksichtigt<br />
werden, die Jesus gepredigt und gelebt hat, im Bild gesprochen: Wenn Jesus im<br />
Gericht sitzt.<br />
Die Frage ist allerd<strong>in</strong>gs, ob solche „Übersetzung“ von Metaphern wie „Jüngstes<br />
Gericht“ und „Ewigkeit“ nicht zu umständlich ist, um die genannten Wirkungen zu<br />
erzielen, weil diese zu stark mit bildhaften Assoziationen verbunden s<strong>in</strong>d – wie mit<br />
den schönen Skulpturen an den romanischen und gotischen Kirchen <strong>in</strong> Burgund.<br />
Manche verzichten <strong>des</strong>halb lieber auf religiöse Vorstellungen zum Verständnis von<br />
Schuld und Vergebung und vom Leben überhaupt.<br />
Können wir auf die Entstehung neuer Symbole, Begriffe, Bilder und Vorstellungen für<br />
das Bewusstse<strong>in</strong> größerer Wirklichkeit und weiteren Zusammenhang beim Urteilen<br />
über sich selbst und andere hoffen, wenn die bisher und lange gebrauchten unserem<br />
Wirklichkeitsverständnis nicht mehr entsprechen? Bisherige Versuche machen Mut<br />
zu eigenen Gedanken und Aussagen <strong>in</strong> dieser Richtung, (auch wenn es bis jetzt nur<br />
e<strong>in</strong>ige wenige (brauchbar ersche<strong>in</strong>ende) s<strong>in</strong>d. Vielleicht kommen wir auch <strong>in</strong> Zukunft<br />
mit weniger (ganz wenig?) Begriffen aus, um Diesseits und Jenseits zusammengefasst<br />
zu benennen (so wie auch die Physiker auf der Suche nach der Weltformel<br />
s<strong>in</strong>d – als TOE = theory of everyth<strong>in</strong>g). Im nachfolgenden Beitrag „Hoffen über den<br />
Tod h<strong>in</strong>aus?“ wird <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n das Wort „Liebe“ verwendet, das <strong>in</strong> der Bibel sogar<br />
als Bezeichnung für Gott gebraucht wird. (1. Johannesbrief 4,16). Liebe kommt auch<br />
im Tod nicht an ihre Grenze.<br />
Zurück zum Inhaltsverzeichnis<br />
13. Hoffen über den Tod h<strong>in</strong>aus?<br />
Für e<strong>in</strong>e Hoffnung über den Tod h<strong>in</strong>aus gibt es viel Ermutigung und Zeugnis.<br />
Erstaunlich, wie viel früher Kirche, Gläubige und Künstler über das Leben nach dem<br />
Tod wussten. Wird das heute noch akzeptiert? Als Begründung hierfür wird die<br />
Berufung auf Jesus und se<strong>in</strong>e Auferstehung herangezogen; aber doch auch gefragt,<br />
ob solche antiken Formulierungen <strong>des</strong> Bekenntnisses noch die Hoffnung <strong>in</strong> Moderne<br />
84
und Postmoderne leiten kann. Und wer will schon zu e<strong>in</strong>em Endgericht auferstehen<br />
(und jetzt schon Angst davor haben), <strong>in</strong> dem das eigene Bestehen höchst ungewiss<br />
ist?<br />
Trotzdem hat die christliche Botschaft den Mut und die Zuversicht zu e<strong>in</strong>er größeren<br />
Hoffnung, <strong>in</strong>dem sie an das Gebot der Liebe anknüpft: Lieben heißt e<strong>in</strong>em<br />
Menschen sagen: du wirst immer da se<strong>in</strong>. Für mich wirst Du immer da se<strong>in</strong>! Die<br />
Hoffnung über die To<strong>des</strong>grenze h<strong>in</strong>aus wurzelt <strong>in</strong> der Zusage: „Gott ist Liebe“.(1Joh<br />
4,16)<br />
Überlieferte H<strong>in</strong>weise<br />
„Auferstehung der Toten und das ewige Leben.“ In diese doppelte positive<br />
Hoffnungsaussage mündet das apostolische <strong>Glaubens</strong>bekenntnis <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em dritten<br />
Artikel. Gegen alle Ängste ist e<strong>in</strong> großes Hoffnungsziel aufgerichtet.<br />
Aber was ist damit geme<strong>in</strong>t? Missverständnisse drängen sich auf. Die „Auferstehung<br />
der Toten“: besagt sie etwas anderes als e<strong>in</strong>e körperliche Fortsetzung der hiesigen<br />
Existenz im Jenseits? Und das „ewige Leben“: heißt das e<strong>in</strong>e endlos gedehnte<br />
irdische Zeit, eher öde als wirklich wünschbar?<br />
Das Bekenntnis verlangt danach, im Ganzen gedeutet zu werden; im Gespräch mit<br />
den biblischen Aussagen, die zu ihrem S<strong>in</strong>nhorizont gehören. Dann zeigt sich bald:<br />
e<strong>in</strong> wörtlich-äußerliches Verständnis der Hoffnung wird hier schon im Grunde<br />
aufgebrochen.<br />
Das ewige Leben: Die Hoffnung der Christen beruft sich auf den lebendigen Gott <strong>des</strong><br />
ersten Artikels. Er selber heißt biblisch der Ewige.(1 Mose 21,33) Das me<strong>in</strong>t mehr als<br />
e<strong>in</strong>e unendliche Zeitdauer. Der ewige Gott ist für den Glauben der Lebendige, der<br />
Schöpfer <strong>des</strong> Himmels und der Erde, der Abraham beruft und se<strong>in</strong> Volk durch Mose<br />
aus der Knechtschaft führt, mit ihm e<strong>in</strong>en Bund schließt und ihm se<strong>in</strong>e Gebote<br />
anvertraut. Dieser ewige Gott <strong>des</strong> Lebens gibt Zukunft. Er bricht se<strong>in</strong>e Beziehung<br />
nicht ab im Tod. Nicht die Beziehung zu se<strong>in</strong>em Volk. Se<strong>in</strong>e Treue bewahrt er, wie <strong>in</strong><br />
den Psalmen immer gewisser bekannt wird, auch gegenüber dem E<strong>in</strong>zelnen. „Wenn<br />
mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit me<strong>in</strong>es<br />
Herzens Trost und me<strong>in</strong> Teil“. (Psalm 73,26) Ewiges Leben: das me<strong>in</strong>t schon im<br />
apostolischen Bekenntnis die Geme<strong>in</strong>schaft mit dem ewigen Gott. Diese<br />
Geme<strong>in</strong>schaft ist durchaus diesseitig, an e<strong>in</strong> jenseitiges ewiges Leben zu glauben,<br />
be<strong>in</strong>haltete dies nicht – wenngleich solche Überzeugungen tröstend se<strong>in</strong> können.<br />
„Ewigkeit Gottes“ war also die Bezeichnung und die Vorstellung von erfahrener<br />
Verlässlichkeit und Dauer der Beziehung zu Gott „Jahwe“.<br />
Die Auferstehung der Toten:<br />
Das Neue Testament nimmt die Hoffnungs-L<strong>in</strong>ien Israels auf und verknüpft sie mit<br />
Jesus Christus. Der Weg <strong>des</strong> „Gottessohnes“ prägt den zweiten Artikel <strong>des</strong><br />
apostolischen Bekenntnisses. Jesus verkündet den Anbruch und die Nähe von<br />
Gottes Herrschaft. Er spricht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Heilungen, se<strong>in</strong>en Seligpreisungen dieses<br />
Reich gerade den Bedrängten und Verstörten zu. Er weicht den Konflikten nicht aus<br />
85
und geht e<strong>in</strong>en Passionsweg, der mit dem Tod am Kreuz endet. Dieser getötete<br />
Jesus kehrt nicht <strong>in</strong>s irdische Leben zurück. Er ist von den Toten auferstanden; das<br />
me<strong>in</strong>t anderes als die Rückkehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong> zeitliches Dase<strong>in</strong>. Der Auferstandene erweist<br />
sich als gegenwärtig und wirklich aus Gottes Leben. „Der Gekreuzigte lebt für immer<br />
bei Gott – als Verpflichtung und Hoffnung für uns! (H. Küng, Ewiges Leben? 140) So<br />
wird Ostern zur Quelle christlicher Hoffnungsbotschaft. „Christi Auferstehung ist für<br />
mich das Zentrum nicht nur der Ostergeschichte, vielmehr konzentrieren sich <strong>in</strong> ihr<br />
alle biblischen Texte zur Frohen Botschaft.“ (Gabriele Wohmann, E<strong>in</strong>e gewisse<br />
Zuversicht, 2012,157) An Christi Auferstehung orientiert sich alles, was mit<br />
‚Auferstehung der Toten’ für die Geme<strong>in</strong>de Christi geme<strong>in</strong>t se<strong>in</strong> kann. Schon das<br />
<strong>Glaubens</strong>bekenntnis als verdichteter Glaube öffnet die E<strong>in</strong>zelaussagen zu neuen<br />
S<strong>in</strong>ne<strong>in</strong>heiten.(vgl. auch die „Meditation zu Ostern“ von W. Grau <strong>in</strong> Persönl. Beiträge)<br />
Neue Verstehensansätze<br />
Dennoch muss radikaler gefragt werden: Lässt sich e<strong>in</strong>e solche Tod-Übersteigende<br />
Hoffnung heute mit vollziehen? Können die antiken Formulierungen <strong>des</strong><br />
Bekenntnisses noch die Hoffnung <strong>in</strong> Moderne und Postmoderne leiten? Gewiss,<br />
schon <strong>in</strong> der Welt Homers und der epikureischen Richtung war das volle Leben auf<br />
das Diesseits zwischen Geburt und Tod beschränkt. Die Überzeugung e<strong>in</strong>er<br />
Unsterblichkeit der Seele, wie sie die platonische Philosophie entwickelte, teilten<br />
vielleicht eher M<strong>in</strong>derheiten. Schon die frühchristliche Verkündigung traf auf<br />
Widerstand und Missverständnis. Und doch <strong>in</strong>spirierte der Christusglaube mit se<strong>in</strong>er<br />
Hoffnungsdynamik viele Generationen.<br />
Ke<strong>in</strong> Verlangen nach ewigem Leben<br />
Inzwischen hat e<strong>in</strong>e andere Epoche begonnen. Die Beschränkung auf das hiesige<br />
Leben zwischen Geburt und Tod hat sich <strong>in</strong> Europa, spätestens seit der Renaissance<br />
und der Aufklärung, <strong>in</strong> immer neuen Wellen ausgeprägt. Heute ist sie noch viel<br />
selbstverständlicher präsent <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em verbreiteten (nach-) religiösen Lebensgefühl.<br />
Die neuzeitliche H<strong>in</strong>wendung zu den Schönheiten und Aufgaben dieser Erde, der<br />
Kampf gegen soziales und psychisches Elend drängt, im Bewusstse<strong>in</strong> vieler, alle<br />
Jenseits-Orientierungen zurück. Die Überlebenden der Tsunami- Katastrophen und<br />
Erdbeben brauchen zunächst nichts als diesseitige Hoffnung. So gilt auch von der<br />
Hoffnung, was Bonhoeffer im Mai 1944 von allen großen christlichen Worten<br />
niedergeschrieben hat: „... wir selbst s<strong>in</strong>d wieder ganz auf die Anfänge <strong>des</strong><br />
Verstehens zurückgeworfen.“(Widerstand und Ergebung, 1977, 327).<br />
Im Europa von heute fällt zusätzlich die enorm gestiegene zeitliche Lebenserwartung<br />
<strong>in</strong>s Gewicht: hier gilt das Verlangen nach ewigem Leben als unnötig, vielleicht als<br />
undankbar. Ist es nicht Glück genug, die geschenkten Jahre mit s<strong>in</strong>nvollen Aufgaben<br />
und menschlichen Beziehungen zu erfüllen? Dann beruhigt es am Ende, zu wissen,<br />
dass man ‚alt und lebenssatt’ von diesem Dase<strong>in</strong> e<strong>in</strong>mal abtreten darf. Was quälen<br />
kann, ist eher das <strong>in</strong>sbesondere durch die moderne Mediz<strong>in</strong> verlängerte,<br />
unabsehbare Sterben, aber nicht der Tod und e<strong>in</strong> Danach. Die Hoffnung richtet sich<br />
eher auf e<strong>in</strong>en gnädigen Abschied von dieser Erde, ohne körperliches, geistiges<br />
86
Siechtum, ohne andere durch eigene Gebrechlichkeit zu überfordern. Und niemand<br />
will zu e<strong>in</strong>em Endgericht auferstehen (und jetzt schon Angst davor haben), <strong>in</strong> dem<br />
das eigene Bestehen höchst ungewiss ist.<br />
Neu nach christlicher Hoffnung fragen<br />
So ist neu zu fragen: wie kann die urchristliche Hoffnungs-Weite heute noch<br />
nachvollziehbar werden und für das Leben <strong>in</strong> der Gegenwart fruchtbar gemacht<br />
werden? An welche Interessen und Erwartungen kann sie anknüpfen, ohne dass<br />
Christen sich e<strong>in</strong>em Wunsch-Egoismus überlassen?<br />
Was die Hoffnung herausfordert, s<strong>in</strong>d die schmerzhaften Abschiede und Verluste, die<br />
uns ereilen. Marie Luise Kaschnitz schrieb ihre Hoffnungs-Meditationen nach dem<br />
Tod ihres Mannes. Eltern, die e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d durch Krankheit oder e<strong>in</strong>en Unfall verlieren,<br />
alle Opfer von Gewalt reißen die Frage auf: was können wir für sie hoffen?<br />
Für die Liebe wirst du immer da se<strong>in</strong><br />
Die christliche Botschaft von der größeren Hoffnung knüpft an das Gebot der Liebe<br />
an. Lieben heißt e<strong>in</strong>em Menschen sagen: du wirst immer da se<strong>in</strong>. Du wirst immer<br />
wichtig bleiben. Nicht nur die Lust, wie Nietzsche schrieb, auch die Liebe will<br />
Ewigkeit. Aber wir, selbst gebrechliche Menschen, können solche Ewigkeit der Liebe<br />
nicht verbürgen. Die Gewissheit, dass die Liebe soweit reicht, kann nur aus dem<br />
Glauben an den Gott kommen, der selber Liebe ist und <strong>in</strong> Christus daran teilhaben<br />
lässt. Die Hoffnung über die To<strong>des</strong>grenze h<strong>in</strong> aus wurzelt <strong>in</strong> der Zusage, die im<br />
1.Johannesbrief so zusammengefasst wird: „Gott ist Liebe“.(1Joh 4,16).<br />
Die Hoffnung hat, mit der Liebe, immer auch e<strong>in</strong>en Antrieb <strong>in</strong> der Sehnsucht nach<br />
Solidarität, nach Gerechtigkeit. “Selig s<strong>in</strong>d, die hungern und dürsten nach der<br />
Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“ (Matthäus 5,6) Christliche Hoffnung<br />
nimmt das Verlangen nach Gerechtigkeit auf, h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e größere Wirklichkeit.<br />
Gerechtigkeit gerade für alle, denen <strong>in</strong> diesem Leben Missachtung, Plage,<br />
Demütigung zuteil wird. Sollte das e<strong>in</strong> ewiges Schicksal bleiben? Gerechtigkeit für<br />
die Lebenden, Gerechtigkeit für die Toten, denen Recht auf dieser Erde nicht<br />
widerfahren ist. So verweist auch das Verlangen nach Gerechtigkeit auf den Gott,<br />
der <strong>in</strong> Jesus Christus zusagt, den Hunger nach Gerechtigkeit zu erfüllen. Wohl wird<br />
diese Leben schaffende Gerechtigkeit <strong>in</strong> Christus schon offenbart. (Römer 1,17) Als<br />
soziale Wesen, die weder vollkommene Gerechtigkeit noch unverbrüchliche Liebe<br />
sichern können, bleiben wir auf die größere Hoffnung angewiesen, die über den Tod<br />
h<strong>in</strong>ausreicht.<br />
Aber auch wir selber, als E<strong>in</strong>zelne, mit unserer e<strong>in</strong>zigartigen Geschichte von<br />
Gel<strong>in</strong>gen und Missl<strong>in</strong>gen, von großen Träumen und begrenzten Erfüllungen, können<br />
die Verheißungen der Bibel auf uns beziehen. Was bewirkt es, wenn wir (mit Paulus)<br />
unser hiesiges Leben und unser Wissen als ‚Stückwerk’ ansehen? (1 Kor 13,8). Alles<br />
„Stückwerk“ verweist die Glaubenden auf e<strong>in</strong> künftiges Ganzes. ‚Wenn aber kommen<br />
wird das Vollkommene, wird das Stückwerk aufhören.’ (1 Kor 13,9) Darauf lässt sich<br />
hoffen.<br />
87
Aber es geht nicht nur um ‚Stückwerk’, es geht um reales Scheitern: Zurückbleiben<br />
h<strong>in</strong>ter Erwartungen, eigenen und anderen, die Schuldgeschichte, die je<strong>des</strong> Leben<br />
durchzieht und bedroht. Hier entspr<strong>in</strong>gt die Suche nach e<strong>in</strong>er Anerkennung, die allen<br />
eigenen Widersprüchen zum Trotz, e<strong>in</strong> wahrhaftiges und gnädiges Ja sagt zur<br />
eigenen Existenz. Gefragt ist umfassende Vergebung, letzte Rechtfertigung von<br />
Schuldigen und Sündern, die sich nicht auf eigenen Leistungen berufen können. Der<br />
Glaube ist offen für die Aussicht auf bed<strong>in</strong>gungslose Annahme – <strong>in</strong> der Bibel als<br />
Gottes Gnade bezeichnet.<br />
Wird aber so die Hoffnung und der Glaube nicht dem Verdacht e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>fantilen, e<strong>in</strong>er<br />
illusionären Wunscherfüllung ausgeliefert? Die E<strong>in</strong>wände von Philosophen (z.B.<br />
Ludwig Feuerbach) und Psychologen (z.B. Sigmund Freud) haben misstrauisch<br />
gemacht gegen die Anknüpfung an anthropologische Interessen. E<strong>in</strong>e kritische<br />
Überprüfung, e<strong>in</strong>e Läuterung allzu ichbezogener Wünsche und Träume ist immer<br />
neu aufgetragen. Genau das geschieht <strong>in</strong> den biblischen Hoffnungsschriften: sie<br />
erweitern und h<strong>in</strong>terfragen, sie entgrenzen und verwandeln die mitgebrachten<br />
Erwartungen. Jesus selber nimmt die umlaufenden Jenseitserwartungen so auf, dass<br />
er sie korrigiert und zugleich übersteigt. Denen, die e<strong>in</strong>e knifflige Frage nach der<br />
Heirat <strong>in</strong> der anderen Welt vorbr<strong>in</strong>gen, gibt er zur Antwort: „Ihr irrt, weil ihr weder die<br />
Schrift kennt noch die Kraft Gottes“.(Markus 12,24) Die allzu irdischen Bilder gehen<br />
<strong>in</strong>s Leere. Aber wie könnte der Gott, der sich den Verlorenen zuwendet, sie wieder<br />
<strong>in</strong>s Abseits <strong>des</strong> To<strong>des</strong> fallen lassen? So entsteht mit dem Reich Gottes, mit der<br />
Lebensmacht <strong>des</strong> Auferstandenen e<strong>in</strong>e neue große Erwartung: Es kommt noch<br />
MEHR und anderes. (s. - Auferstehung im Text Jesus)<br />
Dabei treffen wir auf e<strong>in</strong>e Polarität, die sich bis zum Kontrast steigern kann.<br />
Denn das ewige Leben, das Leben jenseits <strong>des</strong> To<strong>des</strong> beg<strong>in</strong>nt ke<strong>in</strong>eswegs erst nach<br />
dem eigenen körperlichen Sterben. Die „Ewigkeit“ <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> an Gott kommt nicht<br />
erst nach der Zeit, sie wirkt <strong>in</strong> der Zeit, <strong>in</strong> die Zeit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Das Reich Gottes ist schon<br />
mitten unter uns. (Lukas 17,20) Mit Tod und Auferstehung Jesu hat e<strong>in</strong>e neue Zeit<br />
begonnen. In Christus ist die Zeit der end-gültigen Gnade angebrochen. (Römer 5).<br />
Mit dem Heiligen Geist wird schon e<strong>in</strong> Stück der erhofften Vollkommenheit<br />
Wirklichkeit: Es ergibt sich daraus Liebe, Friede, Freude, tatsächlicher Trost (wenn<br />
auch oft nur sehr unzureichend). Gerade die johanneischen Schriften legen e<strong>in</strong><br />
großes Gewicht auf die Gegenwart ewigen Lebens. Sie verkündigen das Leben, das<br />
ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist – also weitreichende Wurzeln<br />
hat und aus tiefen Quellen schöpfen kann. (1 Jäh 1,3) Das ist im Grunde schon<br />
neuzeitliches mehrdimensionales Denken. Auch die Metapher der „Wiedergeburt“<br />
zeigt auf tiefere Dimensionen und Chancen, auf wertvolle Vorgaben und unbewusste<br />
Anlagen, <strong>in</strong> biblischer Sprache: Gott hat uns bereits „wiedergeboren zu e<strong>in</strong>er<br />
lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten.“ (1 Petrus<br />
1,3) Das bedeutet aber auch: christliche Hoffnung hat sich zu bewähren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Arbeit für das Diesseits, für das Jetzt und für das Morgen. „Und wenn morgen die<br />
Welt unterg<strong>in</strong>ge, so würde ich doch heute e<strong>in</strong> Apfelbäumchen pflanzen.“ Diese<br />
Luther zugeschriebene Sentenz br<strong>in</strong>gt treffend die Verpflichtung zu den irdischen<br />
Aufgaben zum Ausdruck. Dietrich Bonhoeffer konnte gerade angesichts <strong>des</strong><br />
88
drohenden To<strong>des</strong> <strong>in</strong> der Haft 1944 „die tiefe Diesseitigkeit“ <strong>des</strong> christlichen <strong>Glaubens</strong><br />
entdecken.<br />
„Gibt es überhaupt e<strong>in</strong>e Grenze zwischen Diesseits und Jenseits? Vielleicht ist der<br />
Tod nur e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>schnitt für uns Menschen, aber ke<strong>in</strong> E<strong>in</strong>schnitt <strong>in</strong> unserem Leben,<br />
ke<strong>in</strong>e Unterbrechung <strong>des</strong> Lebens. Es ist schwer, daran zu glauben. Weil wir uns nur<br />
vorstellen können, dass das Ende, das wir sehen, auch das Ende ist. E<strong>in</strong> Ende, nach<br />
dem nichts mehr kommt, weil es nicht nur unsere Vorstellungskraft übersteigt,<br />
sondern auch unsere Kräfte.<br />
Denn es stimmt doch: E<strong>in</strong>en Toten, der beerdigt ist, kann man nicht sehen. Man<br />
kann nicht mit ihm reden. Man kann ihn nicht berühren. Er ist weg. Er kann e<strong>in</strong>em so<br />
sehr fehlen, dass es wehtut. Manchmal s<strong>in</strong>d die Sterne so verdammt weit weg!<br />
Manchmal reicht es, dass e<strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerungsstück umfällt, um wieder sicher zu se<strong>in</strong>:<br />
Man schafft es nie.<br />
Noch heute glauben viele, dass Jenseits und Diesseits verschiedene Welten seien,<br />
ohne Bezug zue<strong>in</strong>ander. Als sei die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits<br />
unüberw<strong>in</strong>dbar. Viele glauben weder an e<strong>in</strong> Diesseits und Jenseits im Leben noch an<br />
e<strong>in</strong> Diesseits und Jenseits <strong>des</strong> Lebens.“ (B. v.Weizsäcker)<br />
Die christliche Hoffnung ist aber ke<strong>in</strong>e „Vertröstung aufs Diesseits“.(Paul Zulehner)<br />
Der Apostel Paulus besteht darauf, dass das ewige Leben erst <strong>in</strong> der Gestalt der<br />
Hoffnung geschenkt ist. „Wir s<strong>in</strong>d zwar gerettet, doch auf Hoffnung (Römer 8,26).<br />
Das ‚Schon’ e<strong>in</strong>er Gegenwart <strong>des</strong> wahren Lebens („Heil“) lässt sich nicht trennen von<br />
e<strong>in</strong>em realen ‚Noch nicht’. Das gegenwärtige ‚Jenseits’ bedarf der Erfüllung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
kommenden ‚Jenseits’. So hält Luther, aller Bejahung <strong>des</strong> irdischen Lebens zum<br />
Trotz, die Hoffnung auf „den lieben Jüngsten Tag“ ungeschmälert fest. In se<strong>in</strong>em<br />
„Sermon von der Bereitung zum Sterben“ vergleicht er das Sterben mit e<strong>in</strong>er neuen<br />
Geburt. “...es gehet hie zu, gleichwie e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d aus der kle<strong>in</strong>en Wohnung se<strong>in</strong>er<br />
Mutter Leib mit Gefahren und Ängsten geboren wird <strong>in</strong> diesen weiten Himmel und<br />
Erden, das ist auf diese Welt. Also im Sterben auch muss man sich der Angst<br />
erwehren und wissen, dass darnach e<strong>in</strong> großer Raum und Freud se<strong>in</strong> wird.“<br />
(Münchner Ausgabe, 1, 356 f.). Diese Geburtsschmerzen können auch allen<br />
Glaubenden im Sterben noch bevorstehen. Wer Sterbende begleitet, wird dieser<br />
Erfahrung immer neu begegnen. Die große Hoffnung widersteht e<strong>in</strong>er Verdrängung<br />
<strong>des</strong> To<strong>des</strong>.<br />
Bilder <strong>des</strong> Kommenden<br />
„Auferstehung der Toten und das ewige Leben“. Wie dieses Jenseits <strong>des</strong> To<strong>des</strong><br />
vorzustellen ist, darüber s<strong>in</strong>d undurchdr<strong>in</strong>gliche Schleier gebreitet. „Glauben Sie<br />
fragte man mich/ An e<strong>in</strong> Leben nach dem Tode/ Und ich antwortete :ja/ Aber dann<br />
wusste ich/ Ke<strong>in</strong>e Auskunft zu geben/ Wie das aussehen sollte/ Wie ich selber/<br />
Aussehe/ Dort...“ (Marie Luise Kaschnitz, E<strong>in</strong> Leben nach dem Tode) Auch die vielen<br />
Hoffnungsbilder <strong>des</strong> Neuen Testaments können diese Undeutlichkeit nicht zur<br />
e<strong>in</strong>deutigen Klarheit br<strong>in</strong>gen.“ Wir sehen jetzt durch e<strong>in</strong>en Spiegel e<strong>in</strong> dunkles Bild“.<br />
(1 Kor 13,12) Auch die Erfahrung mit Sterbenden enthält ke<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong> gültige<br />
Wahrheit. Anderseits: „Anders als <strong>in</strong> Bildern lassen sich die Inhalte der Hoffnung gar<br />
89
nicht <strong>in</strong> Worte fassen, denn es wird unter den Bed<strong>in</strong>gungen <strong>des</strong> Anschaulichen <strong>in</strong><br />
Raum und Zeit von dem gesprochen, was diese Anschaulichkeit bei weitem<br />
übersteigt.“(Marie Luise Kaschnitz, Unsere Hoffnung auf das ewige Leben, 2006,<br />
108) (Im Grunde ist das ähnlich wie bei der Rede von Gott).<br />
Diese Undeutlichkeit kann zu e<strong>in</strong>er freudlosen Resignation führen. Dagegen kann die<br />
Frage <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> helfen: Warum sollte uns die Liebe Gottes, die uns <strong>in</strong> Christus<br />
begegnet, am Ende ärmlicher und ger<strong>in</strong>ger se<strong>in</strong> als jetzt? Er will uns ja mit ihm alles<br />
schenken.(Römer 8, 32) Wohl verzichtet das Neue Testament auf breite Jenseits-<br />
Gemälde. Aber es lässt Gläubige auch nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ‚Nacht der Bildlosigkeit’<br />
vers<strong>in</strong>ken. Ähnlich wie Jesus <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Vielzahl von Gleichnissen vom unvorstellbaren<br />
Gottesreich redet, so können wir auch e<strong>in</strong>e Vielzahl von Jenseits-Gleichnissen<br />
entdecken. Das Gleiche gilt für die religiöse Kunst, <strong>in</strong>sbesondere im Barock. Die<br />
Wahrheit der erfüllten Hoffnung begegnet uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er poetischen und künstlerischen<br />
Sprache. Sie ist darum nicht weniger wesentlich wie die reflektierte Sprache.<br />
E<strong>in</strong>erseits treffen wir auf Schöpfungs-Bilder, auf Bilder der „neuen Erde“, e<strong>in</strong>es<br />
neuen, anderen Lebens.<br />
Wir erfahren von der großen Lebens-Ernte.(Markus 4,29)<br />
‚Heute noch wirst du mit mir im Paradiese se<strong>in</strong>.“(Lukas 23,43)<br />
E<strong>in</strong> Strom lebendigen Wassers wird die Lebens-Bäume tränken.(Offenbarung 22,1-2)<br />
Es fehlt aber auch nicht an sozialen Bildern, die die Erfüllung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuen<br />
Geme<strong>in</strong>wesen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er erlösten Kommunikation mit anderen anvisieren. Dar<strong>in</strong> führt<br />
das ewige Leben <strong>in</strong> das himmlische Geme<strong>in</strong>wesen und ist bergende Heimat.<br />
(Philipper 3,21) Am Ziel kommen wir <strong>in</strong> die Ruhe <strong>des</strong> „Sabbat“ und <strong>in</strong> das<br />
Mite<strong>in</strong>ander geme<strong>in</strong>samen Lobes. Vom neuen Jerusalem ist die Rede, von der<br />
himmlischen Gottesstadt. (Hebräer 12,22) Dem entspricht die Schau e<strong>in</strong>es Fest- und<br />
Freudenmahls (Lukas 14), bei dem alle Fülle, Freude und Genüge f<strong>in</strong>den werden.<br />
Diese Bilder haben <strong>in</strong> der langen Geschichte der Kirche viele Gläubige erfreut und<br />
erfüllt. Ihre Vielfalt lässt durchaus Freiheit auch für e<strong>in</strong>e persönliche Sprache,<br />
vielleicht auch für neue eigene Sprachbilder. Angesichts der Tatsache, dass viele der<br />
früheren Metaphern und Bilder <strong>in</strong> der heutigen Vorstellungswelt kaum noch<br />
vorkommen, ersche<strong>in</strong>t die (Er-)F<strong>in</strong>dung neuer grenzüberschreitender Vergleiche und<br />
Analogien sogar als notwendig.<br />
Die Identitäts-Bilder persönlicher Vollendung s<strong>in</strong>d charakteristisch für die Sprache<br />
der Hoffnung. E<strong>in</strong>en neuen Himmel und e<strong>in</strong>e neue Erde erwarten, vernichtet<br />
ke<strong>in</strong>eswegs die Hoffnung für das eigene Leben. Auch die <strong>in</strong>dividuellen Bilder sperren<br />
sich gegen e<strong>in</strong> gegenständlich-buchstäbliches Verständnis. Wohl wird es <strong>in</strong> der<br />
Erfüllung um e<strong>in</strong>e „Identität“ der Personen gehen, aber doch über e<strong>in</strong>e radikale<br />
„Wandlung“ h<strong>in</strong>durch, die Paulus <strong>in</strong> 1 Kor<strong>in</strong>ther 15 umkreist, wenn er von e<strong>in</strong>em<br />
„geistlichen Leib“ spricht und betont: „wir werden aber alle verwandelt werden“.<br />
(1.Kor,44.51)<br />
90
Bedeutsam ersche<strong>in</strong>t: die Gleichnisse aus der Natur und aus dem sozialen<br />
Mite<strong>in</strong>ander s<strong>in</strong>d eng verbunden mit der Erfüllung <strong>in</strong> Gottes Leben selber. Die<br />
Sehnsucht <strong>des</strong> Gebets „Wann werde ich dah<strong>in</strong> kommen, dass ich Gottes Angesicht<br />
schaue?“ (Psalm 42, 3) wird gestillt werden. Die Seligpreisung der Herzens-Re<strong>in</strong>en<br />
weist darauf h<strong>in</strong>: „Selig s<strong>in</strong>d, die re<strong>in</strong>en Herzens s<strong>in</strong>d; denn sie werden Gott schauen“<br />
(Matthäus 5,8) Den schauen, an den wir irdisch nur glauben können; se<strong>in</strong>er Fülle<br />
begegnen, die wir (wenn überhaupt, dann nur) im Glauben erfahren. „Gott alle<strong>in</strong><br />
genügt“ (Dios basta): so Teresa von Avila.<br />
Diese Konzentration auf Gott selber als Erfüllungsziel aller Hoffnung begegnet<br />
zugleich als Aussage <strong>in</strong> Bezug auf Christus. Paulus fasst diese Hoffnung im ersten<br />
Brief nach Thessalonike e<strong>in</strong>fach (bildhaft räumlich) so zusammen: “und so werden<br />
wir bei dem Herrn (dem Herrn und Kyrios Jesus) se<strong>in</strong>.“(1 Thessalonicher 4,17) Noch<br />
im späten Philipperbrief bleibt se<strong>in</strong> Hoffnungsziel „bei Christus zu se<strong>in</strong>“.(Philipper<br />
1,23) Diese elementare Hoffnung, die alle Sehnsucht <strong>in</strong> die Gottes- und<br />
Christusgeme<strong>in</strong>schaft münden lässt, bewahrt vor allzu irdischen und s<strong>in</strong>nlichen<br />
Hoffnungs<strong>in</strong>halten. Die sozialen und naturhaften Bilder halten <strong>in</strong><strong>des</strong>sen fest, dass<br />
auch Christen nicht „allzu übers<strong>in</strong>nlich“ hoffen brauchen, und der neue Himmel<br />
zusammengehört mit e<strong>in</strong>er neuen Erde, so unvorstellbar uns diese Zukunft bleiben<br />
mag. (Küng, Ewiges Leben, 1981, 277)<br />
‚Ich lasse mich überraschen’. Mit dieser Kurzformel hat mancher Christ se<strong>in</strong>e<br />
Hoffnung zusammengefasst. Und auf e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>imum zurückgenommen. Christlicher<br />
Glaube ist auch denen möglich, die ke<strong>in</strong>e Hoffnungen auf e<strong>in</strong> wie immer geartetes<br />
Jenseits haben – aber aus ihrem Glauben Offenheit für größere Wirklichkeit und<br />
Transzendenz im realen Leben erhalten (etwa beim sozialen Engagement oder beim<br />
Kampf gegen Hunger und Krankheit – und im Alter). Die e<strong>in</strong>zelnen Hoffnungs<strong>in</strong>halte<br />
s<strong>in</strong>d im Wesentlichen analog verwandt und brauchen nicht gegene<strong>in</strong>ander<br />
ausgespielt zu werden, sondern können sich vielmehr ergänzen und befruchten.<br />
Ke<strong>in</strong>e Kirche kann ihren Mitgliedern vorschreiben, was am Ende <strong>des</strong> Lebens zu<br />
hoffen ist und was nicht.<br />
Christlich hoffen heißt jedenfalls auch darauf vertrauen, dass uns am Ende ke<strong>in</strong>e<br />
böse Überraschung erwartet. Auch nicht e<strong>in</strong>fach – NICHTS. Viele Christen rechnen<br />
mit e<strong>in</strong>er freudigen Überraschung, die alle kühnsten Erwartungen übertrifft. Der<br />
Theologe Jörg Z<strong>in</strong>k glaubt: „Was wir Tod nennen, ist die Rückseite e<strong>in</strong>er ganz<br />
anderen Art von Leben, und wir werden beim Überschritt dort h<strong>in</strong>über mit e<strong>in</strong>er uns<br />
hier nicht vorstellbaren Klarheit uns selbst und die größere Welt zu Gesicht<br />
bekommen...h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong> von Gottes Geist erfülltes Dase<strong>in</strong> ohne Raum und Zeit.<br />
Was uns tragen wird, wird der W<strong>in</strong>d se<strong>in</strong>, den wir den Geist Gottes nennen.“<br />
(Ufergedanken, 2007, 145)<br />
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14. Der andere Gott – damals und heute<br />
In der Bibel und <strong>in</strong> menschlichen Erfahrungen zeigt sich Gott auch anders als im<br />
alltäglichen <strong>Glaubens</strong>leben: Als gewalttätig, rätselhaft, verborgen, strafend, fe<strong>in</strong>dlich.<br />
Was ist das für e<strong>in</strong> „guter Gott“, der von e<strong>in</strong>em Vater das Opfer se<strong>in</strong>es Sohnes<br />
91
verlangt (Abraham und Isaak im Alten Testament) und dem rechtschaffenen Hiob<br />
ohne Grund alles wegnimmt?<br />
Steht das im Widerspruch zu dem Gottesbild Jesu, der oft von Gott als dem guten<br />
Vater spricht und ihn so auch im „Vaterunser“ anspricht? Christliche Verkündigung<br />
kann von e<strong>in</strong>em evolutionär verstandenen Gottesbild aus auf das Gottesverständnis<br />
Jesu h<strong>in</strong>führen und nach heutigen Formen der Rede von Gott fragen. (vgl. auch die<br />
Entwicklung der Gottesvorstellungen <strong>in</strong> „Gott 9.0“)<br />
(In der Bibel und <strong>in</strong> menschlichen Erfahrungen zeigt sich Gott auch anders als im<br />
alltäglichen <strong>Glaubens</strong>leben: Als gewalttätig, rätselhaft, verborgen, strafend, fe<strong>in</strong>dlich.<br />
Leid und Tod versuchen die Menschen zu ertragen, aber der „andere“ Gott zeigt sich<br />
als über alles Maß zerstörerisch, widersprüchlich und unglaubhaft. Ke<strong>in</strong> „guter Gott“,<br />
der von e<strong>in</strong>em Vater das Opfer se<strong>in</strong>es Sohnes verlangt (Abraham und Isaak im Alten<br />
Testament) und dem rechtschaffenen Hiob ohne Grund alles wegnimmt.<br />
Die Bezeugungen und Berichte von diesem bedrohlichen Wesen s<strong>in</strong>d überwiegend<br />
<strong>in</strong> den Frühzeiten <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> entstanden, <strong>in</strong> denen Gott wie e<strong>in</strong>e Naturgewalt<br />
oder willkürlich wie andere Götter damals erlebt wurde. In den Zeiten der<br />
Ausbreitung <strong>des</strong> Monotheismus treten die widersprüchlichen Züge im Gottesbild<br />
zurück; aber der Tod Jesu am Kreuz wurde <strong>in</strong> der ersten Zeit <strong>des</strong> Christentums auch<br />
als grausames Opfer verstanden, das zur Erlösung der Menschheit notwendig war.<br />
Jesus selbst hatte e<strong>in</strong> anderes <strong>Glaubens</strong>bild von Gott: Auch als er sich am Ende von<br />
Gott verlassen fühlte, konnte er immer noch beten „Me<strong>in</strong> Gott, ....“. Se<strong>in</strong> Gott war und<br />
blieb „Vater“, von allem und allen, ohne die allzu menschliche Begrenzung dieses<br />
Begriffs. Umfassend nahe allen, die ihn brauchen. Wirkend (auch und vor allem) <strong>in</strong><br />
denen, die ausgegrenzt s<strong>in</strong>d und denen mit Opfern nicht zu helfen ist. Dieser Gott<br />
eröffnet größere Zusammenhänge als frühere Geschichten von ihm. Er lässt auch <strong>in</strong><br />
dem, was verloren ist, Neues f<strong>in</strong>den. Er ist noch im Kommen. Auch Christen s<strong>in</strong>d frei,<br />
Gott anders und neu zu f<strong>in</strong>den – auch wenn das herkömmliche Gottesbilder<br />
unzureichend werden lässt.<br />
Wer an Gott als allmächtiges Wesen glaubt, wird es auch für möglich halten<br />
(müssen), dass er Menschen so auf die Probe stellt wie Abraham mit e<strong>in</strong>er Tötung<br />
se<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zigen Sohnes Isaak, oder wie Hiob. Das steht zwar im Widerspruch zu<br />
anderen Wesenszügen Gottes wie der Liebe zu se<strong>in</strong>en Geschöpfen, Erhaltung <strong>des</strong><br />
Lebens durch se<strong>in</strong>e Gebote und Vergebung von Schuld, aber <strong>in</strong>sbesondere der Gott<br />
<strong>des</strong> Alten Testaments ist niemandem Rechenschaft schuldig. Auch nicht <strong>in</strong> extremen<br />
Fällen wie <strong>in</strong> der aus der Frühzeit <strong>des</strong> Gottesglaubens stammenden Geschichte von<br />
der von Jahwe persönlich befohlenen Opferung Isaaks durch Abraham. Juden,<br />
Christen und Muslime, die sich dieser Tradition <strong>des</strong> Gottesglaubens verbunden<br />
fühlen, haben nach Erklärungen gesucht. Diese s<strong>in</strong>d z.T. auch <strong>in</strong> der Religionsgeschichte<br />
zu f<strong>in</strong>den, nach der sich der Gottesglaube erheblich verändert und<br />
entwickelt hat. Nicht e<strong>in</strong>mal Tieropfer s<strong>in</strong>d heute noch üblich, und („verdienstvolle“)<br />
Opfer gibt es nur noch im übertragenen S<strong>in</strong>n. Lässt sich am Beispiel der aus grauer<br />
Vorzeit stammenden Abraham-Geschichte heute noch unbed<strong>in</strong>gter Gehorsam<br />
gegenüber Gott als Vorbild predigen?<br />
92
Es geht dar<strong>in</strong> ja auch um die Zukunft und das Wachstum <strong>des</strong> nach jüdischem<br />
Glauben von Gott auserwählten Volkes Israel, die Gott zwar versprochen hatte, die<br />
aber doch oft (von ihm zugelassen?) elementar gefährdet waren. Der Zugang zum<br />
Verständnis dieser symbolischen Formen, sich an solche Gefährdungen und<br />
Bewahrungen <strong>in</strong> der geme<strong>in</strong>samen und <strong>in</strong>dividuellen Geschichte zu er<strong>in</strong>nern und<br />
(sicher nur von ferne) nachzuempf<strong>in</strong>den, ist für heutige Menschen wohl verstellt. Um<br />
Erfahrungen und Bewährungsmöglichkeiten <strong>in</strong> Problem- und Krisensituationen zu<br />
reflektieren und aufzuarbeiten gibt es andere Methoden.<br />
Christliche Predigt wird sicherlich von e<strong>in</strong>em evolutionär verstandenen Gottesbild aus<br />
auf das Gottesverständnis Jesu h<strong>in</strong>führen und nach heutigen Formen der Rede von<br />
Gott fragen – wenn denn solche Texte überhaupt noch für Sonntagsgottesdienste<br />
vorgegeben werden.<br />
Der damalige Gott war e<strong>in</strong> personal verstandener Gott, der wie andere Götter die<br />
Menschen belohnen und bestrafen konnte, sich also um sie kümmerte, viel von ihnen<br />
forderte und (im Alten Testament) e<strong>in</strong>en gnadenlosen Alle<strong>in</strong>vertretungsanspruch<br />
durchzusetzen befahl.<br />
Christlicher Glaube wird heute, wenn überhaupt, von Prüfungen, Strafen und<br />
Zerstörungen Gottes nur im übertragenen S<strong>in</strong>n reden, wenn es darum geht, lebens-<br />
und naturgefährdende Ereignisse und Entwicklungen (z.B. auch <strong>in</strong> der Evolution) <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em größeren Zusammenhang zu verstehen und zu erklären. In deren<br />
Interpretation kann dann sowohl die persönliche wie auch e<strong>in</strong>e über<strong>in</strong>dividuelle Sicht<br />
ihren Ausdruck f<strong>in</strong>den oder wenigstens versucht werden („Ich b<strong>in</strong> seit über 40 Jahren<br />
Nichtraucher und habe jetzt Lungenkrebs..“). Viel hängt davon ab, welches<br />
Sündenverständnis zugrunde liegt.<br />
Heute gibt es von Gott zahlreiche unterschiedliche Vorstellungen. Sie zeigen, dass<br />
sich das Gottesbild <strong>in</strong> den Religionen und auch im Christentum geändert und<br />
entwickelt hat. Das ist Chance und Anregung für Glaubende, das eigene Gottesbild<br />
zu überprüfen. Insbesondere die Frage, warum Gott so viel Böses bei und durch<br />
e<strong>in</strong>zelne Menschen und Völker zulässt, führt oft zu e<strong>in</strong>seitiger Profilierung <strong>des</strong><br />
Gottesbil<strong>des</strong>. Der Theologe Matthias Kroeger weist darauf h<strong>in</strong>, dass auch Mart<strong>in</strong><br />
Luthers Gottesbild dunkle Seiten hat, er aber Gott weder für ungerecht noch für<br />
willkürlich handelnd hielt. „ Erst <strong>in</strong> Schaffen und Vernichten, <strong>in</strong> Gnade und Schicksal<br />
ist die ganze helle und dunkle, gnädige und schwere Wahrheit <strong>des</strong> Göttlichen<br />
begriffen, die wir nicht nur lieben, sondern „fürchten und lieben’ sollen.“ (vgl. auch<br />
den folgenden Text „Gott entschuldigen?“ Das Problem der Theodizee.)<br />
Zurück zum Inhaltsverzeichnis<br />
15. Theodizee – Gott entschuldigen?<br />
Menschen fragen bei Verbrechen, großen Übeln, Katastrophen und schwerem Leid:<br />
Warum trifft es gerade mich? Me<strong>in</strong>e Angehörigen? Warum gibt es Leid und Böses <strong>in</strong><br />
der Welt, warum so viel? Ist es e<strong>in</strong>e Strafe (Gottes)?<br />
Philosophie und Theologie haben sich ausführlich und seit langem mit diesen Fragen<br />
beschäftigt, die starke Zweifel am Glauben an Gott auslösen können.<br />
93
Ergebnis: Die Antworten s<strong>in</strong>d unbefriedigend (s. auch „Der andere Gott“). Muss man<br />
sich dann eben damit abf<strong>in</strong>den, dass es e<strong>in</strong>e dunkle, verborgene Seite Gottes gibt,<br />
<strong>in</strong> der das Böse se<strong>in</strong>en Grund hat? Christen sollen sich im Glauben an den Gott der<br />
Liebe halten. (Luther)<br />
Nach nichtpersonalem Verständnis öffnet die größere Wirklichkeit Gottes den Blick<br />
für die Verbundenheit aller Menschen: Die Opfer von Katastrophen und<br />
Unglücksfällen, die Kranken und Beh<strong>in</strong>derten s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em größeren<br />
Zusammenhang mite<strong>in</strong>ander verbunden und wurzeln im gleichen Se<strong>in</strong>sgrund.<br />
Daraus folgt Verantwortung füre<strong>in</strong>ander, Bereitschaft und Fähigkeit zu<br />
geme<strong>in</strong>samem Leben und gegenseitiger Hilfe.<br />
Menschlich ist es, sich bei Verbrechen, großen Übeln, Katastrophen und schwerem<br />
Leid die Frage zu stellen: Warum trifft es gerade mich? Me<strong>in</strong>e Angehörigen? Warum<br />
gibt es Leid und Böses <strong>in</strong> der Welt, warum so viel? Ist es e<strong>in</strong>e Strafe (Gottes)?<br />
Philosophie und Theologie haben sich ausführlich und seit langem mit diesen Fragen<br />
beschäftigt, die starke Zweifel am Glauben an Gott auslösen können.<br />
Für e<strong>in</strong>e Mitwirkung Gottes bei Bösem und bei Leid werden meist folgende<br />
Möglichkeiten genannt:<br />
A) Gott ist gerecht: Er schickt das Böse als Strafe.<br />
B) Gott ist nicht allmächtig: Er kann das Böse nicht verh<strong>in</strong>dern.<br />
C) Gott hat dem Menschen die Freiheit gegeben, auch für das Böse.<br />
D) Gott ist nicht nur gütig und nicht gerecht; er will (auch) das Böse und schickt<br />
Katastrophen nach für Menschen nicht erkennbaren Absichten.<br />
E) Gott hat mit dem Gang der Welt nach dem Ende <strong>des</strong> Schöpfungsaktes nichts mehr<br />
zu tun (Uhrmacher-Modell).<br />
F) Es gibt gar ke<strong>in</strong>en Gott: Katastrophen als Argument für den Atheismus.<br />
Das biblische Buch Hiob ist e<strong>in</strong>e Beispielgeschichte für die Klage von Menschen,<br />
denen ohne Verschulden großes Leid widerfährt, die aber weder von Freunden noch<br />
von Gott zufriedenstellende Antworten erhalten.<br />
Die oben genannten sechs Möglichkeiten, das Böse <strong>in</strong> der Welt ohne Widerspruch<br />
zu Eigenschaften Gottes wie allmächtig und gerecht zu verstehen, wurden <strong>in</strong> vielen<br />
Versuchen zu e<strong>in</strong>er Theodizee (Rechtfertigung Gottes) aufgenommen. Sie s<strong>in</strong>d nach<br />
überwiegender Me<strong>in</strong>ung von Theologen und Philosophen nicht oder nur zu e<strong>in</strong>em<br />
ger<strong>in</strong>gen Teil stichhaltig, denn<br />
sie führen entweder zu der Überzeugung, dass das Entstehen <strong>des</strong> Bösen und<br />
<strong>des</strong> Leids mit der Güte, Gerechtigkeit und Macht Gottes unvere<strong>in</strong>bar, also se<strong>in</strong><br />
Geheimnis sei.<br />
oder kommen zu der Aussage: In der von Gott geschaffenen und nur durch ihn<br />
wirklichen Welt ist <strong>in</strong> der Freiheit zur Evolution auch das moralisch Böse und<br />
das naturhaft Lebensschädliche mit angelegt.<br />
94
Zur Überw<strong>in</strong>dung <strong>des</strong> Widerspruchs zwischen Gottes Güte und Allmacht und dem<br />
Auftreten von Übel und Leid wird auch argumentiert:<br />
Gott selbst leidet <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Sohn Jesus am Kreuz. Das Leid ist nun <strong>in</strong> Gott<br />
aufgehoben. (Bonhoeffer und Moltmann)<br />
Das Böse hat auch se<strong>in</strong>e guten Seiten (August<strong>in</strong>)<br />
Es gibt e<strong>in</strong>e dunkle, verborgene Seite Gottes, <strong>in</strong> der das Böse se<strong>in</strong>en Grund<br />
hat. Christen halten sich im Glauben an den Gott der Liebe. (Luther)<br />
Gott ist ke<strong>in</strong>e Person, die der Mensch für Böses verantwortlich machen könnte.<br />
Er ist Urgrund <strong>des</strong> Se<strong>in</strong>s und Urmacht <strong>des</strong> Lebens – zu se<strong>in</strong>er Schöpfung<br />
gehört sowohl das (für Menschen) Böse als auch das Gute. Das Universum ist<br />
(bis jetzt) lebens- und menschenfreundlich („anthrop“).<br />
Der liebende Gott ist e<strong>in</strong>s mit dem verborgenen, unergründlichen Gott. Damit entfällt<br />
die Vorstellung von e<strong>in</strong>em allmächtigen, allgütigen, allwissenden Gott. Gott als<br />
Urgrund umfasst den „guten“ Gott und den „bösen“ Gott. In diesem Zusammenhang<br />
s<strong>in</strong>d auch die für uns und die Umwelt zerstörerischen und leidvollen Ereignisse und<br />
Anlagen „aufgehoben“.<br />
Aus dieser Sicht ergeben sich weitgehende praktische Konsequenzen:<br />
„Leiden kann auch ohne e<strong>in</strong>en personal gedachten, mehr oder weniger willkürlich<br />
(und kritisch gesehen sogar <strong>des</strong>potisch) handelnden „Gott“ e<strong>in</strong> besonderer Ort der<br />
Lebensf<strong>in</strong>dung und Wahrheits- ("Gottes"-) Erfahrung se<strong>in</strong> und werden.“<br />
Individuelles Leiden ist nach diesem Verständnis ke<strong>in</strong>e Strafe Gottes, auch wenn es<br />
offensichtlich <strong>in</strong>dividuell oder gesellschaftlich verursacht wurde. Krankheiten und<br />
Fehlentwicklungen s<strong>in</strong>d meist biologisch erklärbar durch die Mutation von Zellen<br />
verursacht, die auch zur Evolution <strong>des</strong> Lebens beigetragen hat. Die davon<br />
Betroffenen erleiden stellvertretend mehr als andere die Nachteile dieser Offenheit<br />
für Entwicklung und Wachstum, was sich durch anerkennende und helfende<br />
Geme<strong>in</strong>schaft mit weniger Betroffenen zwar nicht ausgleichen, aber doch erträglicher<br />
machen lässt.<br />
Auch Erdbeben und Vulkanausbrüche s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Gottesstrafen, sondern natürlich<br />
erklärbare Ersche<strong>in</strong>ungen der Erdentwicklung, denen <strong>in</strong> Zukunft durch erdbebensichere<br />
Bauweise, Tsunamiwarnungen u.ä <strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationaler Zusammenarbeit<br />
entgegengewirkt werden kann. Das Gleiche gilt auch für Hungersnöte und<br />
Epidemien, selbst dann, wenn ihre Bekämpfung noch <strong>in</strong> den Anfängen steckt.<br />
Nach nichtpersonalem Verständnis öffnet die größere Wirklichkeit Gottes den Blick<br />
für die Verbundenheit aller Menschen: Die Opfer von Katastrophen und<br />
Unglücksfällen, die Kranken und Beh<strong>in</strong>derten s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em größeren<br />
Zusammenhang mite<strong>in</strong>ander verbunden und wurzeln im gleichen Se<strong>in</strong>sgrund.<br />
Daraus folgt Verantwortung füre<strong>in</strong>ander, Bereitschaft und Fähigkeit zu<br />
geme<strong>in</strong>samem Leben und gegenseitiger Hilfe. Daraus folgt auch e<strong>in</strong> aktives<br />
Verh<strong>in</strong>dern von Aktionen (z.B. Krieg, Verbrechen), die vorhersehbar Leiden<br />
erzeugen. Die Opfer <strong>des</strong> Bösen und die Leidenden s<strong>in</strong>d nicht Abgesonderte und<br />
defizitäre Sonderfälle, sondern haben das volle Leben mit geme<strong>in</strong>samem Nehmen<br />
95
und Geben, e<strong>in</strong>bezogen und gleichwertig, wie es ja schon mit Beh<strong>in</strong>derten praktiziert<br />
wird und dem Verständnis Gottes als e<strong>in</strong>em großen verb<strong>in</strong>denden „Reich“ entspricht.<br />
In der von Gott geschaffenen Welt ist <strong>in</strong> der Freiheit zur Evolution auch das Böse und<br />
Lebensschädliche als Möglichkeit mitangelegt.<br />
E<strong>in</strong> Verständnis <strong>des</strong> christlichen Gottes ohne diese Gegensätze stellt sich weiterh<strong>in</strong><br />
als fast unmöglich heraus: Der liebende, lebensfreundliche Gott ist auch der<br />
Strafende, Zerstörende. Neuere Gottesvorstellungen s<strong>in</strong>d daraufh<strong>in</strong> zu prüfen, ob<br />
sie etwas zur Lösung dieses Problems beitragen können. (siehe auch das<br />
vorhergehende Thema „Der andere Gott – damals und heute“.<br />
Zurück zum Inhaltsverzeichnis<br />
96
Erweitertes Inhaltsverzeichnis der „<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“ mit Anlagen<br />
H<strong>in</strong>weise zum Text: ...............................................................................................2<br />
Inhaltsverzeichnis..................................................................................................2<br />
1. Warum Kern-„Fragen“, wenn es um unseren Glauben geht? Warum nicht<br />
Kern-„Aussagen“?..............................................................................................4<br />
2. Was ist Glaube?.................................................................................................9<br />
Inhalte und Formen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> . ...............................................................................10<br />
Wenn andere anderen Glauben haben...........................................................................10<br />
3. Glaube und Wissen .........................................................................................13<br />
4. Naturwissenschaft und Glauben....................................................................15<br />
Widersprüche zwischen Naturwissenschaft und Glauben? 16<br />
Zwischen Naturwissenschaft und Religion gibt es Berührungspunkte .....................17<br />
Gibt es e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>wirken Gottes auf das Weltgeschehen? ...............................................18<br />
5. Religion und Naturwissenschaft im Licht der modernen Physik................21<br />
6. Kommunikation mit Gott?...............................................................................28<br />
Gott als Person erfahren .................................................................................................30<br />
Gott ist größer und anders als unsere Vorstellungen von ihm ...................................31<br />
Gott ist auf verschiedene Weise ansprechbar, nicht nur wie e<strong>in</strong>e Person.................31<br />
7. Gott <strong>in</strong> der Mystik erfahren?...........................................................................32<br />
Die neue Fasz<strong>in</strong>ation........................................................................................................32<br />
E<strong>in</strong>ige Grundzüge mystischer Spiritualität im Christentum ........................................33<br />
Erfahrungen auf dem Weg führen <strong>in</strong> das Zentrum der Mystik.....................................34<br />
Innen die Mitte f<strong>in</strong>den ......................................................................................................34<br />
Unsagbares sagen ...........................................................................................................35<br />
Wandlungen im Gottesbild..............................................................................................35<br />
Mystik vertritt das Ine<strong>in</strong>ander von persönlichen und überpersönlichen Zügen<br />
Gottes. ...............................................................................................................................36<br />
Gefahren und Rückfragen ..............................................................................................37<br />
Neue Chancen mystischen <strong>Glaubens</strong> ...........................................................................38<br />
8, Gebt als Kommunikation mit Gott. Funktionen und Wirkungen <strong>des</strong> Betens<br />
...............................................................................................................................41<br />
Was ist e<strong>in</strong> Gebet? ...........................................................................................................41<br />
Zu welchem Gott wird gebetet? ......................................................................................42<br />
Beten als Ausdruck <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> – me<strong>in</strong>es <strong>Glaubens</strong> .............................................43<br />
Arten und Formen <strong>des</strong> Gebets........................................................................................44<br />
Funktionen <strong>des</strong> Gebets: ..................................................................................................45<br />
7. Beten mit K<strong>in</strong>dern – warum und wie ..........................................................................49<br />
8. Kritik am Gebet.............................................................................................................49<br />
9. Die Zukunft <strong>des</strong> Gebetes .............................................................................................50<br />
9. Jesus – wer war und wer ist das?..................................................................52<br />
Jesus der Mensch ............................................................................................................52<br />
Die Auferweckung (Entrückung).....................................................................................54<br />
10. Me<strong>in</strong>e“? Kirche ..............................................................................................56<br />
Kirche: Geme<strong>in</strong>schaft im Glauben..................................................................................56<br />
11. Schuld / Sünde / Vergebung.........................................................................66<br />
Schuld zugeben? Um Gottes willen! Brauchen wir e<strong>in</strong>e neue Schuldkultur?...........66<br />
Schuld – was ist das? ......................................................................................................67<br />
Sünde ist Schuld aus der Sicht <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> ..............................................................67<br />
97
Vergebung gegen Schuld und Sünde ............................................................................72<br />
Voraussetzungen für den Empfang der Vergebung. ....................................................73<br />
Von der vergangenheitsorientierten E<strong>in</strong>stellung zu neuen Wegen.............................75<br />
Schuld zugeben – nur wenn es gar nicht anders geht? ...............................................76<br />
Auf dem Weg zu e<strong>in</strong>er neuen Schuldkultur ...................................................................77<br />
Emotionale Abwertung der Gegenseite und Vergeltung vermeiden...........................78<br />
12. Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht, Ewiges Leben.......................79<br />
Bilder für das Ewige?.......................................................................................................80<br />
Das Jüngste Gericht – die größere Wirklichkeit............................................................80<br />
13. Hoffen über den Tod h<strong>in</strong>aus?.......................................................................84<br />
Überlieferte H<strong>in</strong>weise.......................................................................................................85<br />
Neue Verstehensansätze .................................................................................................86<br />
Bilder <strong>des</strong> Kommenden ...................................................................................................89<br />
14. Der andere Gott – damals und heute...........................................................91<br />
15. Theodizee – Gott entschuldigen? ................................................................93<br />
Anlagenverzeichnis:<br />
Zum Verlauf der Arbeit und der Diskussion im theol. Arbeitskreis der<br />
<strong>Evangelische</strong>n <strong>Akademikerschaft</strong> für die „Kernfrage....................................100<br />
Alle Vorspanne...................................................................................................105<br />
Anlagen zum Gottesbild<br />
Gott im „Himmelreich“ und auf dem „Feld“ 110<br />
Gott als „Kraft“ ..................................................................................................116<br />
Gott als „Kraft“ ..................................................................................................116<br />
„Wort zum Sonntag“ 15.1.12 ....................................................................118<br />
Gottes Bild im Werden, <strong>in</strong>: Gott 9.0 von W. und M. Küstenmacher..............123<br />
E<strong>in</strong>zelzuweisungen. ..................................................................................................126<br />
Versuch e<strong>in</strong>er Bewertung .........................................................................................137<br />
Anlagen zum Verständnis <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong><br />
Darf’s e<strong>in</strong> bisschen mehr se<strong>in</strong>? Wort zum Sonntag 21.1.12..........................138<br />
Mit K<strong>in</strong>dern beten – warum und wie? Mit Vorschlägen für die Praxis..........140<br />
K<strong>in</strong>der brauchen das Gebet ......................................................................................... 140<br />
Praxisteil ........................................................................................................................ 144<br />
Methoden und Wege zu mystischer Erfahrung ..............................................148<br />
Inhalt der Anlage „Wege und Methoden zu mystischer Erfahrung“: .......................148<br />
Verwunderung und Staunen .........................................................................................148<br />
„Innere Bilder und subtile Phänomene erfahren“.......................................................149<br />
Ins Herz der Bilder e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen ......................................................................................150<br />
Formlose Zustände erfahren - die bilderlose Schau...................................................150<br />
„Das Leeren der Bilder“.................................................. Fehler! Textmarke nicht def<strong>in</strong>iert.<br />
Nicht-Gott und Nicht-Bild erfahren...............................................................................150<br />
Nonduales Se<strong>in</strong> – Das Ich verschw<strong>in</strong>det.............................................................................151<br />
Gottes Auge ist me<strong>in</strong> Auge ...........................................................................................152<br />
„E<strong>in</strong>gefaltetse<strong>in</strong> ............................................................... Fehler! Textmarke nicht def<strong>in</strong>iert.<br />
E<strong>in</strong>sse<strong>in</strong> <strong>in</strong> Christus.......................................................................................................152<br />
„Woh<strong>in</strong> nach der nondualen Erfahrung?“ ...................................................................153<br />
98
Persönliche Beiträge von Mitgliedern <strong>des</strong> theol. Arbeitskreises.................154<br />
Von Re<strong>in</strong>hard Crämer, E. Hirschler, H. Gärtner-Schultz, W. Grau, Günter Hegele,<br />
Peter Stolt 154<br />
Eberhard Hirschler: Betrachtung zum Arbeitskreis-Thema „Das Gottesbild heute“<br />
von E. Hirschler 155 144<br />
Passion. E<strong>in</strong> Gedicht von Dr. Heiderose Gärtner-Schultz<br />
146<br />
Dr. Werner Grau: Was ich glaube. Me<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Beitrag zum <strong>Glaubens</strong>pluralismus.<br />
Vom Wert der Tradition und Kirche für me<strong>in</strong>en Glauben<br />
Günter Hegele: Glaube darf sich verändern und entwickeln. (Auch im Alter). 148<br />
Klaus Schmidt: Zum Verhältnis von "Altem" Testament und "Neuem" Testament<br />
Peter Stolt: Me<strong>in</strong> Glaube im Wandel<br />
Benutzte Literatur ............................................................................................ 163152<br />
146<br />
153<br />
99
Anlagen zu „<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“ :<br />
Die Anlagen werden durch Klicken auf den Titel angezeigt.<br />
Zurück zum Inhaltsverzeichnis am Anfang<br />
Zurück zur vorigen Kursorposition mit den Tasten alt+ctrl+z, wenn nicht anders<br />
e<strong>in</strong>gestellt.<br />
Inhaltsverzeichnis der Anlagen:<br />
Zum Verlauf der Arbeit und der Diskussion im theol. Arbeitskreis der <strong>Evangelische</strong>n<br />
<strong>Akademikerschaft</strong> für die „<strong>Kernfragen</strong><br />
Alle Vorspanne<br />
Anlagen zum Bild Gottes<br />
Gott im „Himmelreich“ und auf dem „Feld“<br />
Gott als Kraft<br />
„Wort zum Sonntag“ 15.1.12<br />
Gottes Bild im Werden, <strong>in</strong>: Gott 9.0<br />
Darf’s e<strong>in</strong> bisschen mehr se<strong>in</strong>? Wort zum Sonntag 21.1.12<br />
Anlagen zum Glauben<br />
Mit K<strong>in</strong>dern beten – mit Praxisvorschlägen<br />
Methoden und Wege zu mystischer Erfahrung (nach Gott 9.0)<br />
Persönliche Beiträge von Mitgliedern <strong>des</strong> theol. Arbeitskreises<br />
Benutzte Literatur<br />
Die Anlagen:<br />
Zum Verlauf der Arbeit und der Diskussion im theol. Arbeitskreis der<br />
<strong>Evangelische</strong>n <strong>Akademikerschaft</strong> für die „<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> christlichen<br />
<strong>Glaubens</strong> heute.<br />
Nachdem der theol. Arbeitskreis der <strong>Evangelische</strong>n <strong>Akademikerschaft</strong> auf der Suche<br />
nach neuen Gottesbildern seit dem Jahr 2009 Stellungnahmen zu Veröffentlichungen<br />
der Theologen M. Kroeger, H. Küng und J. Polk<strong>in</strong>ghorne erarbeitet hatte, sollten nun<br />
ab 2011 „<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“ erarbeitet werden, <strong>in</strong> denen nach e<strong>in</strong>em<br />
Zugang zu neuen theologischen Ansätzen <strong>in</strong> den traditionellen Aussagen über (u.a.)<br />
Gott, Jesus Christus, Gebet, Bekenntnis und Kirche gefragt wurde.<br />
Auch das Verhältnis <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> zur modernen Naturwissenschaft unserer Tage<br />
wurde thematisiert, mit Beiträgen zu Fragen wie Glaube und Wissen,<br />
100
Naturwissenschaft und Religion im Licht der modernen Physik, Gottes E<strong>in</strong>wirken <strong>in</strong><br />
das Weltgeschehen, Hoffen und Gewissheit über den Tod h<strong>in</strong>aus.<br />
Letztlich g<strong>in</strong>g es um die Frage, welches Gottesbild wir mit unserem Glauben heute<br />
verb<strong>in</strong>den können und wie diese Vorstellungen noch mit den traditionellen<br />
gottesdienstlichen Formen der Verkündigung vere<strong>in</strong>bar s<strong>in</strong>d, ob und wie schließlich<br />
e<strong>in</strong> über die Tradition h<strong>in</strong>aus weisen<strong>des</strong> Verständnis <strong>des</strong> christlichen <strong>Glaubens</strong> <strong>in</strong><br />
unserer Kirche E<strong>in</strong>gang f<strong>in</strong>den kann.<br />
Ausgangspunkt war für den Arbeitskreis der Aufruf zu e<strong>in</strong>em „Ruck <strong>in</strong> den Köpfen der<br />
Kirche“ durch den Protestantischen Theologen Matthias Kroeger, der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch<br />
e<strong>in</strong>e zunehmende Unvere<strong>in</strong>barkeit traditioneller Verkündigung, Bekenntnisse und<br />
gottesdienstlicher Formen mit den Weltbildvorstellungen der Christen <strong>in</strong> unserem<br />
Land und <strong>in</strong> Europa feststellt und diese als wichtige Ursache der Entfremdung vieler<br />
Christen von ihrer Kirche benennt.<br />
Deren neues Weltbild sei von naturwissenschaftlicher Erkenntnis und Praxis geprägt<br />
und mache e<strong>in</strong> biblisches Bild vom „stockwerksartigen Bau der Welt“ mit dem Oben<br />
und Unten von göttlicher und weltlicher Sphäre obsolet.<br />
Dieser Verdacht begleitete die Diskussion <strong>des</strong> Arbeitskreises und fand auch <strong>in</strong><br />
entschieden vom Apostolikum abweichenden Bekenntnissen, bzw. se<strong>in</strong>er<br />
Neu<strong>in</strong>terpretation Ausdruck, ohne dass ihm aber von allen Teilnehmern zugestimmt<br />
wurde.<br />
So entfernten sich die Gespräche schließlich vom Schwerpunkt e<strong>in</strong>er Kritik an der<br />
traditionellen Kirchenpraxis, und drehten sich mehr um e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sam zu<br />
formulieren<strong>des</strong>, neues Verständnis zentraler <strong>Glaubens</strong>aussagen und<br />
<strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halte.<br />
Im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er „pluralistischen Theologie“ sucht der Arbeitskreis seither nach<br />
Möglichkeiten, e<strong>in</strong>em erweiterten <strong>Glaubens</strong>verständnis mit neuen Formen <strong>in</strong> der<br />
kirchlichen Praxis stärkeren E<strong>in</strong>gang zu verschaffen, ohne damit die herkömmlichen<br />
<strong>Glaubens</strong>weisen diskreditieren zu wollen.<br />
Wir wollen uns auch nicht damit abf<strong>in</strong>den, dass e<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>andersetzung zwischen<br />
Naturwissenschaft und Religion nur noch als Konfrontation e<strong>in</strong>es<br />
fundamentalistischen materialistischen Naturalismus der modernen<br />
Naturwissenschaften mit e<strong>in</strong>er mehr oder weniger dogmatisch-unzeitgemäßen<br />
Religiosität und ihrem Weltbild ausgetragen werden kann.<br />
Dabei soll aber nicht vorschnell der Ausweg e<strong>in</strong>er relativierenden Koexistenz<br />
gegensätzlicher Weltauffassungen gesucht werden, e<strong>in</strong>es friedlichen oder auch<br />
gleichgültig-gleichwertigen Nebene<strong>in</strong>anders <strong>in</strong>dividueller <strong>Glaubens</strong>überzeugungen<br />
vom Göttlichen e<strong>in</strong>erseits, über<strong>in</strong>dividuell überprüfbaren Wirklichkeitsaussagen im<br />
Rahmen wissenschaftlicher Methodik andrerseits.<br />
Es sche<strong>in</strong>t, dass dieser Sichtweise e<strong>in</strong>er neutralen Koexistenz gerade der Theologe<br />
und „Weltethiker“ Hans Küng zuneigt, der sich auch <strong>in</strong> naturwissenschaftlichen<br />
Fragen beschlagen zeigt, der aber dem Versuch e<strong>in</strong>er „Synthese der<br />
Erkenntniswege“ letztlich e<strong>in</strong>e Absage erteilt. E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gehende Beschäftigung <strong>des</strong><br />
Arbeitskreises mit den neuen Veröffentlichungen Küngs ergab ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>helliges Votum<br />
für diese Position, auch wenn sie für die verfasste Kirche e<strong>in</strong>e pragmatische Option<br />
zu bieten sche<strong>in</strong>t, die vielen bereits Distanzierten wieder enger an sich zu b<strong>in</strong>den,<br />
ohne die <strong>in</strong> traditioneller Gläubigkeit sich zur Kirche Haltenden zu diskreditieren.<br />
101
Als ernst zu nehmen<strong>des</strong> Bedenken wurde <strong>in</strong> diesem Zusammenhang vorgebracht,<br />
die Behauptung, es könne ke<strong>in</strong>en Widerspruch geben zwischen gläubiger<br />
Welt<strong>in</strong>terpretation und naturwissenschaftlichen Aussagen über die Welt, zwischen<br />
Aussagen im Bereich <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> und dem <strong>des</strong> Wissens, müsse eigentlich aus<br />
e<strong>in</strong>er agnostischen Position der Naturwissenschaftler resultieren. Denn deren<br />
methodische Selbstbeschränkung führt notwendig zur Ausgrenzung <strong>des</strong> nicht<br />
über<strong>in</strong>dividuell Überprüfbaren, <strong>des</strong> „<strong>Glaubens</strong>mäßigen“ als nichtwissenschaftlich,<br />
wenn nicht als irrelevant oder falsch und uns<strong>in</strong>nig. Statt<strong>des</strong>sen wird von e<strong>in</strong>er<br />
atheistischen Fraktion der Naturwissenschaftler, ungeachtet der<br />
Grundlagenproblematik ihrer Welterklärungsmodelle, <strong>in</strong>sbesondere der<br />
physikalischen, der aggressive Anspruch auf das Monopol der Welterklärung<br />
erhoben.<br />
Das lässt ke<strong>in</strong>eswegs den Umkehrschluss zu, naturwissenschaftliche Welterkenntnis<br />
sei ihrerseits für die Frage nach Gott <strong>in</strong> der Welt irrelevant. Die Vermutung bleibt<br />
vielmehr begründet, die Naturwissenschaft sei ke<strong>in</strong>eswegs das e<strong>in</strong>zige Fenster,<br />
durch das wir auf die Wirklichkeit blicken können, dass vielmehr auch andere<br />
Fenster, wie das <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>, s<strong>in</strong>nhafte E<strong>in</strong>blicke eröffnen können und dass der<br />
Horizont unserer Erkenntnismöglichkeit nur durch das Ensemble der verschiedenen<br />
Perspektiven ausgefüllt werden kann. So legen e<strong>in</strong>ige Entdeckungen der<br />
Naturwissenschaften geradezu nahe, dass <strong>in</strong> ihnen e<strong>in</strong>e Begegnung mit dem<br />
Göttlichen stattf<strong>in</strong>det. Schon <strong>in</strong> den kreativen Möglichkeiten <strong>des</strong> sich evolutionär<br />
entfaltenden Universums kann sich für den Glauben die Anwesenheit <strong>des</strong>sen<br />
spiegeln, der es erschaffen hat und der seit Anbeg<strong>in</strong>n der Zeit <strong>in</strong> ihm und mit ihm ist.<br />
Wenn wir Sonntag für Sonntag für Sonntag, oder auch nur bei besonderen Anlässen<br />
das Apostolische <strong>Glaubens</strong>bekenntnis sprechen, ohne dass jeder von uns mit se<strong>in</strong>en<br />
Formeln noch e<strong>in</strong>en nachvollziehbaren S<strong>in</strong>n verb<strong>in</strong>den kann, weil für Viele e<strong>in</strong>e<br />
anderes Bild von der Welt maßgebend geworden ist, <strong>in</strong> dem Gott als der Drei-fe<strong>in</strong>e<br />
ke<strong>in</strong>e Funktion mehr hat, haben wir damit ke<strong>in</strong>e Antwort auf unsere Fragen<br />
gefunden. Es lohnt sich, weiter zu fragen.<br />
Für die Antworten bietet die Theologie selber neue, überraschende und<br />
weiterführende Ansätze. Sie s<strong>in</strong>d nicht nur zwischen den Gegensätzen e<strong>in</strong>es<br />
säkular-materialistischen Denkens und biblischem Fundamentalismus zu f<strong>in</strong>den.<br />
Unser Glaube an Gott und unsere „Gottesbilder“ müssen auch nicht <strong>in</strong> negativer<br />
Theologie enden. Das war die begründete Vermutung, der sich unser Arbeitskreis <strong>in</strong><br />
verschiedenen Anläufen zugewandt hat.<br />
So wandte sich e<strong>in</strong> breiter Strang der Diskussion den Beiträgen von Theologen und<br />
Naturwissenschaftlern zu, die Religion und Naturwissenschaft im Licht der modernen<br />
Physik zusammenstehen wollen:<br />
Wenn Religion und Naturwissenschaft gründlich und adäquat analysiert werden,<br />
können sich Naturwissenschaftler und Theologen als Partner <strong>in</strong> der Suche nach<br />
Verstehen erweisen. Sollten wir die immer weiter gehende Suche nach der Wahrheit<br />
der Wirklichkeit nicht letzten En<strong>des</strong> als die Suche nach Gott verstehen? Zu dieser<br />
E<strong>in</strong>schätzung gelangt der britische Physiker und Theologe John Polk<strong>in</strong>ghorne und<br />
liefert dafür (den meisten AK-Mitgliedern) e<strong>in</strong>leuchtende Beispiele aus Physik und<br />
Theologie.<br />
102
Ihm kommt es u.a. auf Analogien <strong>in</strong> der Theoriendynamik von Physik und Theologie<br />
an.<br />
Dabei stellt er sich die schwierige Frage, wie wir uns das E<strong>in</strong>greifen Gottes <strong>in</strong> den<br />
von ihm selbst geschaffenen Kausalzusammenhang der Welt vorstellen sollen. Wir<br />
könnten ganz <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n auch fragen, auf welche unserem Verstand e<strong>in</strong>sichtige<br />
Weise uns die göttliche Liebe und Gnade zu Teil werden kann, die auch für e<strong>in</strong><br />
entpersonalisiertes Gottesverständnis <strong>Glaubens</strong>kern bleibt. Wir könnten fragen, wie<br />
überhaupt die Kommunikation zwischen Schöpfer und Geschöpf sich ereignet.<br />
Polk<strong>in</strong>ghorne formuliert das als die Frage nach der „kausalen Fuge“, durch die sich<br />
e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>formativ-nichtenergetische „Kausalität von oben“ <strong>in</strong> das Weltgeschehen<br />
e<strong>in</strong>mischen kann. Viele verweisen dafür auf die rätselhaften Unbestimmtheiten der<br />
quantenmechanischen Prozesse.<br />
Polk<strong>in</strong>ghorne glaubt dagegen, angesichts der noch nicht überbrückten Kluft zwischen<br />
dem Reich subatomarer Prozesse und der Welt unserer mesokosmischen Erfahrung,<br />
den Schlüssel eher <strong>in</strong> den sogenannten chaotischen Prozessen suchen zu müssen,<br />
die e<strong>in</strong>en großen Teil aller Abläufe beherrschen.<br />
Für ihn stehen Epistemologie und Ontologie nicht getrennt vone<strong>in</strong>ander, sondern es<br />
besteht e<strong>in</strong> logischer Zusammenhang zwischen dem, was wir von den D<strong>in</strong>gen<br />
wissen und was die D<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d. Dann aber kann epistemologische Unschärfe <strong>in</strong> der<br />
kritisch-realistischen Interpretation als ontologische Offenheit verstanden werden und<br />
e<strong>in</strong> neues, nicht-energetisches kausales Pr<strong>in</strong>zip, kann die künftige Entwicklung<br />
bestimmen. Nach Polk<strong>in</strong>ghorne kann das mit e<strong>in</strong>em Verständnis“ göttlichen<br />
Handelns von oben“ durch aktive Information korrespondieren. Im AK gab es aber<br />
auch Ablehnung dieser Verb<strong>in</strong>dungen von Unterschiedlichem, die e<strong>in</strong>e Vermischung<br />
von Glauben und Naturwissenschaft sei.<br />
Nicht (mehr) zur Diskussion gelangten im Arbeitskreis die über diese Gedanken noch<br />
weit h<strong>in</strong>ausführenden neuesten Ansätze der Physiker, die den Bruch zur<br />
frühneuzeitlichen Weltauffassung der Naturwissenschaft vollenden. In diesen wird,<br />
entsprechend neuester Erkenntnisse der Quantentheorie, die sich seit der Mitte der<br />
60er Jahre angebahnt haben, e<strong>in</strong>e nicht-lokale Welt gedacht. Ihr Verständnis der<br />
Wirklichkeit <strong>in</strong> subatomaren Dimensionen geht nicht mehr von der Summe und den<br />
Beziehungen e<strong>in</strong>zelner Teilchen aus, sondern spricht, auf der Basis der dort<br />
beobachteten „Verschränkungs“-Phänomene von e<strong>in</strong>er totalen Ganzheit der<br />
Beziehungen, letzten En<strong>des</strong> von der Ganzheit der Welt, „an der“ sich alle Phänomen<br />
ereignen.<br />
Was wir nach unserer mesokosmischen Erfahrung als Materie ansprechen,<br />
verflüchtigt sich <strong>in</strong> der nanoskopischen Dimension und lässt uns mit der geradewegs<br />
neoplatonischen Vermutung zurück, dass auf dem Grund der D<strong>in</strong>ge nur dem Geist<br />
Wirklichkeit zukomme.<br />
Solche Gedanken f<strong>in</strong>den wir ausgesprochen bei dem Physiker H.P. Dürr, e<strong>in</strong>em<br />
Schüler von Werner Heisenberg, der damit die platonische Interpretation se<strong>in</strong>es<br />
großen Lehrers, dass sich auf dem Grund der D<strong>in</strong>ge alles als Symmetrie erweise,<br />
überbietet. Aber nicht auf Grund „ nur metaphysischer Spekulation“, sondern als<br />
Interpretation von Experimenten. Diese erweisen die „Quantenverschränkung“, die<br />
E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> noch als „spukhafte Fernwirkung“ ansprechen konnte, als Realität und ihre<br />
Entdecker schicken sich bereits an, sie ersten technischen Anwendungen<br />
zuzuführen.<br />
Zu ihnen gehört auch Anton Zeil<strong>in</strong>ger, e<strong>in</strong>er der führenden Forscher auf dem Gebiet<br />
der verschränkten Quantenphänomene. E<strong>in</strong>e ähnliche Interpretation vertritt der<br />
103
Chemiker H. Primas, von dem grundlegende Beiträge zur<br />
wissenschaftstheoretischen E<strong>in</strong>ordnung se<strong>in</strong>er Wissenschaft stammen und der die<br />
neuen Erkenntnisse unter der Überschrift zusammenfasst: Die Überw<strong>in</strong>dung <strong>des</strong><br />
Atomismus – Der Ganzheitsbegriff der Quantentheorie verändert unser Weltbild.<br />
Die Antwort auf die Frage, warum wir dennoch mit der Beständigkeit der uns<br />
handgreiflich entgegentretenden Welt rechnen können, wie das die meisten<br />
Physiker, Chemiker, Biologen mit unbezweifelbarem Erfolg tun, müssen wir bis auf<br />
weiteres allerd<strong>in</strong>gs wohl dar<strong>in</strong> suchen, dass die Zukunft zwar offen ist, aber nicht<br />
beliebig und re<strong>in</strong> zufällig. Vielmehr bestehen e<strong>in</strong>engende Bed<strong>in</strong>gungen der<br />
physikalischen Erhaltungssätze und Symmetrieeigenschaften der Dynamik, die dafür<br />
sorgen, dass im Großen die <strong>in</strong> der Physik verwendeten Kenngrößen erhalten<br />
bleiben.<br />
E<strong>in</strong>e gewisse Rückführung dieser über die Diskussion im Arbeitskreis weit<br />
h<strong>in</strong>ausgehenden Erörterungen auf <strong>des</strong>sen ursprüngliche Fragestellung bietet der<br />
Physiker und Theologe Hans-Rudolf Stadelmann <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch „Im Herzen der<br />
Materie – Glaube im Zeitalter der Naturwissenschaften“. Bei ihm erhält Antwort, wer<br />
das alte Weltbild für dekonstruktionsreif hält, ebenso wie der theistisch Denkende<br />
und Fühlende. Auch Stadelmann nimmt, wie Polk<strong>in</strong>ghorne, die E<strong>in</strong>heit der Vernunft<br />
zum Ausgangspunkt, begründet <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kosmischen Evolutionismus und der<br />
evolutionären Erkenntnistheorie, speziell auch mit der These H. v. Ditfurths von der<br />
Entwicklung <strong>des</strong> menschlichen Geistes und Bewusstse<strong>in</strong>s durch die Existenz und<br />
Wirkung <strong>des</strong> primordialen (göttlichen) Weltgeistes. Damit gelangt er, kurz gesagt, auf<br />
e<strong>in</strong>er breiten Straße der Plausibilität zu e<strong>in</strong>em Panentheismus (= die Auffassung,<br />
dass „Gott der Welt immanent und zugleich zu ihr transzendent ist, <strong>in</strong>sofern die Welt<br />
ihrerseits Gott immanent, <strong>in</strong> Gott, von Gott umfasst ist).<br />
Hier f<strong>in</strong>den sich viele Themenstellungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Zusammenhang gebracht, die <strong>in</strong><br />
den bisherigen Betrachtungen <strong>des</strong> Arbeitskreises nur als e<strong>in</strong>zelne Elemente und<br />
vorübergehend aufgetaucht s<strong>in</strong>d. Was dort aus theologischer Sicht und der<br />
Perspektive <strong>in</strong>dividueller Gläubigkeit <strong>in</strong> großer Breite vorgebracht wurde und im Text<br />
der „<strong>Kernfragen</strong>... auch dargestellt werden soll, kann im H<strong>in</strong>blick auf unsere<br />
Skizzierung e<strong>in</strong>es neuen Weltbilds der Naturwissenschaften, vor allem der<br />
Quantenphysik und der Kosmologie, e<strong>in</strong>er Wertung unterzogen werden.<br />
Wird hier aber nicht Physik zu Meta-Physik? Und kann der Versuch statthaft se<strong>in</strong>,<br />
zugleich die Metaphysik als die erste Philosophie wieder <strong>in</strong> ihr Recht zu setzen?<br />
Diese, aber auch vorangehende Fragestellungen, ausgehend von den Versuchen,<br />
die Erkenntnisweisen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> und der Naturwissenschaft als letztlich auf das<br />
gleiche Ziel führende Wege e<strong>in</strong>es großen Erkenntnisprojekts anzusprechen, wurden<br />
im Arbeitskreis mit Gegenfragen konfrontiert, für die stellvertretend e<strong>in</strong>e<br />
Stellungnahme angeführt wird, die Nähe zur Auffassung Küngs zeigt.<br />
Dort wird postuliert, dass es „unfair bis dilettantisch“ sei, aktuelle <strong>Glaubens</strong>schwierigkeiten<br />
im Wesentlichen den Naturwissenschaften zuzuschreiben, weil alle<br />
seriösen Wissenschaften seit der Aufklärung <strong>in</strong> ihren Welterklärungsversuchen auf<br />
Gott verzichtet haben, was aber bedeutet, <strong>in</strong> der Welt zu leben etsi deus non daretur.<br />
Entscheidend für unsere Fragestellungen wäre danach, dass es gar nicht vom Erfolg<br />
oder Misserfolg e<strong>in</strong>er Wissenschaft abhängen kann, ob wir über das Verhältnis<br />
orthodoxer <strong>Glaubens</strong>sätze zu den Ergebnissen moderner Wissenschaft nachzudenken<br />
haben. Gerade die Ergebnisse der Naturwissenschaften, die Gott aus ihrer<br />
104
Methodik ausgeschlossen haben, können den Glauben nicht erschüttern. Gott fällt,<br />
wie Schönheit, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en anderen Erkenntnisbereich. Die Probleme, die das<br />
traditionelle Weltbild, mit se<strong>in</strong>en für manch e<strong>in</strong>en befremdlichen Formeln wie der<br />
sieben-Tage-Schöpfung, Jungfrauengeburt u.dgl., bietet, rechtfertigen <strong>des</strong>halb<br />
ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>e massive Beschäftigung mit den Naturwissenschaften. Sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>er<br />
Übersetzung <strong>in</strong> moderne Sprache zugänglich und es taucht die Frage auf, die bereits<br />
<strong>in</strong> anderem Zusammenhang gestellt worden war, ob nicht bloß offene Türen<br />
e<strong>in</strong>gerannt werden.<br />
Die echten Probleme, so die kontroverse Behauptung, entstehen vielmehr im<br />
Gefolge der gesellschaftlichen Entwicklung im Zuge der Aufklärung, mit der sich das<br />
Lebensgefühl verbreitet hat, dass wir sehr gut ohne Gott, ohne den Herrn der Welt<br />
leben können. Auch als Urgrund der Welt spielt er <strong>in</strong> unserem Leben ke<strong>in</strong>e Rolle<br />
mehr.<br />
Könnte es dann nicht <strong>in</strong> der Tat sche<strong>in</strong>en, als seien wir <strong>in</strong> Fragen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> nur<br />
noch auf unsere <strong>in</strong>dividuellen, nicht-rationalen religiösen Gefühle verwiesen, wenn<br />
Naturwissenschaft und Religion getrennte Erkenntnisweisen bleiben sollen, wenn die<br />
Sachen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> von den methodisch empirische ermittelten Erkenntnissen<br />
über die Welt unterschieden bleiben müssen? So wie aber auch die Religion <strong>des</strong><br />
<strong>Glaubens</strong> an Gott von den mannigfachen Gefühlen der Religiosität und Spiritualität<br />
zu unterscheiden wären? Es blieb offen, ob und wie diese Fragen und Gegensätze<br />
im Arbeitskreis weiter behandelt werden können.<br />
Es wird von den Reaktionen auf die Veröffentlichung der „<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> christlichen<br />
<strong>Glaubens</strong>“ abhängen, ob wir uns weiter um e<strong>in</strong>e pluralistische Begründung unseres<br />
<strong>Glaubens</strong> an Gott und die Akzeptanz e<strong>in</strong>es vielfältigen Bil<strong>des</strong> von Gott, die die Sicht<br />
traditioneller Verkündigung nicht ausschließen, bemühen wollen.<br />
Zurück zum Inhaltsverzeichnis<br />
Alle Vorspanne<br />
Warum Kern-„Fragen“, wenn es um unseren Glauben geht?<br />
Warum nicht Kern-„Aussagen“?<br />
Wir s<strong>in</strong>d unsicher geworden.<br />
In den protestantischen Kirchen Europas, zumal <strong>in</strong> Deutschland breitet sich<br />
Unsicherheit aus, wie man der schw<strong>in</strong>denden B<strong>in</strong>dung ihrer Mitglieder an die<br />
Organisation und ihrer Verkündigung begegnen kann.<br />
Auch das Verständnis <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> ist unsicher geworden. Selbst Aussagen im<br />
<strong>Glaubens</strong>bekenntnis zu Gott und über den Heiligen Geist werden nicht mehr voll<br />
bejaht. Erkenntnisse der Naturwissenschaften lasen manches früher für<br />
selbstverständlich Gehaltene als fraglich und überholt ersche<strong>in</strong>en.<br />
Vieles ersche<strong>in</strong>t aber auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuen Licht. Es lohnt sich, Fragen zu stellen,<br />
auch wenn nicht gleich und nicht leicht Antworten zu f<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d. Neue Ansätze <strong>in</strong><br />
der Theologie s<strong>in</strong>d überraschend und weiterführend. Sie s<strong>in</strong>d nicht nur <strong>in</strong> der Spanne<br />
zwischen säkularisiertem Denken und Fundamentalismus zu f<strong>in</strong>den. Auch auf<br />
105
<strong>in</strong>dividueller Ebene kann ergebnisoffen nach dem Grund <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> gefragt<br />
werden. Wir stellen ke<strong>in</strong>e neuen „Kernsätze <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“ auf, sondern wir fragen<br />
nach neuen Möglichkeiten zu glauben, tun dies gerne mite<strong>in</strong>ander und auch<br />
zusammen mit anderen Interessierten. Unser Glaube an Gott und unsere<br />
„Gottesbilder“ müssen nicht <strong>in</strong> negativer Theologie enden. Neue Gottesbilder<br />
korrespondieren mit dem, was wir über die Welt wissen können.<br />
Was ist Glaube?<br />
Vom Verständnis <strong>des</strong>sen, was mit „Glaube“ geme<strong>in</strong>t ist, hängt auch se<strong>in</strong> Inhalt ab: Ist<br />
es e<strong>in</strong>e besondere Erkenntnisform, die weiter reicht als Gefühl und Verstand? Oder<br />
e<strong>in</strong>e Grundhaltung, die das Handeln bestimmt? Wor<strong>in</strong> liegt der Unterschied von<br />
Glauben und Wissen, von Religion und Naturwissenschaft? Wie kommen Menschen<br />
zum Glauben und welche Veränderungen s<strong>in</strong>d festzustellen, zu wünschen?<br />
Anerkennung <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> anderer auch bei erheblichen Unterschieden.<br />
Glaube und Wissen<br />
In welchem Verhältnis stehen Glaube und Wissen? Nicht erst seit der Aufklärung<br />
werden Wissenschaft und Wissen als die überlegene Erkenntnisform gegenüber dem<br />
Glauben angesehen. Wissenschaft und <strong>in</strong>sbesondere Naturwissenschaft wird für<br />
den besten Weg zur Erkenntnis der Wirklichkeit gehalten, auch weil er zur<br />
Verbesserung der menschlichen Lebensbed<strong>in</strong>gungen beiträgt. Wird der Glaube<br />
demgegenüber zu ger<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>geschätzt? Woher lassen sich heute und <strong>in</strong> Zukunft<br />
Lebenss<strong>in</strong>n und Wertbewusstse<strong>in</strong> empfangen? Es ist notwendig, Glaube und<br />
Wissen zutreffend zu unterscheiden und e<strong>in</strong>e Vermischung zu vermeiden.<br />
Naturwissenschaft und Glauben<br />
Gibt es e<strong>in</strong>e Konkurrenz zwischen Naturwissenschaft und Glauben? Haben manche<br />
naturwissenschaftliche Erkenntnisse Vorstellungen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> verdrängt – wie<br />
z.B. beim Verständnis der Entstehung der Welt und <strong>des</strong> Lebens? S<strong>in</strong>d<br />
naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>greifen Gottes <strong>in</strong> den<br />
Geschehensablauf zu vere<strong>in</strong>baren? Oder ist vielmehr das Verhältnis der beiden<br />
Erkenntnisformen neu zu bestimmen? Können sie sich gegenseitig ergänzen und<br />
fördern? Unterschiede sollen nicht verwischt werden. Aber es gibt Berührungspunkte<br />
zwischen Naturwissenschaft und Glauben, die bis zur gegenseitigen Ergänzung<br />
führen können. Die Begrenztheit beider Erkenntniswelten ist offenkundig. Ke<strong>in</strong>e<br />
kann e<strong>in</strong>en berechtigten Anspruch auf die Erfassung der Gesamtwirklichkeit<br />
erheben.<br />
Religion und Naturwissenschaft im Licht der modernen Physik.<br />
Wenn Rationalität gründlich und adäquat analysiert wird, werden sich<br />
Naturwissenschaftler und Theologen als Partner <strong>in</strong> der Suche nach Verstehen<br />
erweisen. Die immer weiter gehende Suche nach der Wahrheit der Wirklichkeit ist<br />
106
letzten En<strong>des</strong> die Suche nach Gott. Zu dieser E<strong>in</strong>schätzung gelangt der der britische<br />
Physiker und Theologe John Polk<strong>in</strong>ghorne, und er liefert dafür zahlreiche Beispiele<br />
aus der Physik und Theologie. Ihm kommt es darauf an, dass sich Analogien<br />
zwischen der Entwicklungsgeschichte physikalischer Theorien und theologischen<br />
Aussagen aufstellen lassen. Er weicht dabei auch so schwierigen Fragen nicht aus<br />
wie „Können ‚Wunder’ als Ereignisse e<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>greifens <strong>in</strong> den von Gott selbst<br />
geschaffenen Kausalzusammenhang gelten?“. Manche Physiker und Theologen<br />
übernehmen aus der Quantentheorie neues Verständnis der Wirklichkeit, <strong>in</strong>dem <strong>in</strong><br />
der subatomaren Dimension nicht mehr von e<strong>in</strong>er Summe von mechanisch<br />
bee<strong>in</strong>flussbaren Teilchen ausgegangen wird, sondern von e<strong>in</strong>er totalen Ganzheit von<br />
Beziehungen. Diese neuen Deutungen haben zu der Frage geführt, ob dem<br />
Verständnis der Gott-Welt-Beziehung im Unterschied zu e<strong>in</strong>em naturalistischen<br />
Materialismus nicht auch Gedanken e<strong>in</strong>er philosophischen Theologie mit<br />
naturwissenschaftlichen Analogien zugrunde zu legen wären, (wie das bei Autoren<br />
wie H.P. Dürr, H. Primas, Whitehead, Zeil<strong>in</strong>ger und H.R. Stadelmann ankl<strong>in</strong>gt, auf<br />
die im Nachfolgenden kurz e<strong>in</strong>gegangen wird. )<br />
Kommunikation mit Gott<br />
Ist es möglich, Verb<strong>in</strong>dung mit Gott aufzunehmen – ihm etwas mitzuteilen oder etwas<br />
von ihm zu empfangen? Für betende Gläubige ist das selbstverständlich. Aber nicht<br />
nur im Blick auf neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse ist zu fragen, was mit<br />
„Offenbarung“ geme<strong>in</strong>t ist und mit der Bezeichnung der Bibel als „Gottes Wort“.<br />
Auch <strong>in</strong> der Theologie verändert sich die Kommunikation mit Gott, wenn es von ihm<br />
auch andere Vorstellung gibt als die e<strong>in</strong>er – wie e<strong>in</strong>en Menschen anzusprechenden<br />
– Person . Wie wirkt es sich <strong>in</strong> der Kommunikation mit Gott aus, wenn mehr als<br />
früher daran gedacht wird, dass Gott größer und anders ist als unsere Vorstellungen<br />
von ihm? Ist er dann auch anders und auf verschiedene Weise ansprechbar?<br />
Gott <strong>in</strong> der Mystik erfahren?<br />
Mystische <strong>Glaubens</strong>formen f<strong>in</strong>den zunehmen<strong>des</strong> Interesse. Bieten sie andere,<br />
tiefergehende Erfahrungen an als die traditionelle kirchliche Frömmigkeit? Lässt<br />
sich durch besondere Arten von Meditation e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>swerden mit Gott erreichen? Wie<br />
verändert sich das Gottesbild durch mystische <strong>Glaubens</strong>praxis? Gel<strong>in</strong>gt es, „das<br />
Unsagbare zu sagen“?<br />
Mystik vertritt das Ine<strong>in</strong>ander von persönlichen und überpersönlichen Zügen Gottes.<br />
Gott kommt nahe: Im Alltäglichen gibt es e<strong>in</strong> Leben <strong>in</strong> der Gegenwart Gottes. Er ist<br />
ebenso radikal immanent wie transzendent. Gott „<strong>in</strong> uns“ und „über uns“ gehören<br />
zue<strong>in</strong>ander.<br />
Aber auch kritische Fragen s<strong>in</strong>d zu stellen: Ist die Überschreitung e<strong>in</strong>es personalen<br />
Gottesbilds möglich, ohne Christus als „Angesicht“ <strong>des</strong> unsichtbaren Gottes<br />
aufzugeben?<br />
107
Zahlreiche Methoden der Kontemplation bieten auch den Interessierten Zugang zu<br />
mystischer Erfahrung, die sich nicht gerade besonders begabt dafür fühlen. E<strong>in</strong>ige<br />
davon werden kurz <strong>in</strong> der Anlage aufgeführt.<br />
Funktionen und Wirkungen <strong>des</strong> Betens<br />
Gerade weil es so viele unterschiedliche Arten, Formen und Bewertungen <strong>des</strong><br />
Betens gibt, ist es wichtig, e<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition <strong>des</strong> Gebets zu versuchen. Auch nach den<br />
(zahlreichen!) Funktionen und Auswirkungen <strong>des</strong> Gebets ist zu fragen. Dazu<br />
gehören auch die Rückwirkungen <strong>des</strong> Gebets auf das Individuum und auf e<strong>in</strong>e<br />
Geme<strong>in</strong>schaft. Zu welchem Gott wird gebetet? Die Antwort darauf fällt bei K<strong>in</strong>dern<br />
anders aus als bei Erwachsenen und alten Menschen. Die Berücksichtigung der<br />
Kritik am Gebet muss das Beten nicht erschweren oder verh<strong>in</strong>dern, sondern kann es<br />
bewusster werden lassen. Dafür gibt es e<strong>in</strong>en Praxisvorschlag.<br />
Jesus – wer war und wer ist das?<br />
Woher kommt das eigene Verständnis von Jesus? Es gibt Romane und historische<br />
Darstellungen über ihn, Filme, Musik, und das Neue Testament <strong>in</strong> der Bibel, nicht zu<br />
vergessen die vielen Abbildungen und Kreuze <strong>in</strong> den Kirchen und die kirchliche<br />
Lehre. Aus all dem kann ausgewählt und das eigene Jesusbild geformt werden, das<br />
von „Jesus der Mensch“ bis h<strong>in</strong> zu „Gottes Sohn“ und Weltenrichter am Ende der Zeit<br />
reicht. Welche Bedeutung hat Jesus für den Glauben <strong>in</strong> dieser Zeit? Ist hauptsächlich<br />
se<strong>in</strong>e Lehre und das Vorbild se<strong>in</strong>es Lebens wichtig oder se<strong>in</strong> Tod als Opfer zur<br />
Vergebung der Sünden und se<strong>in</strong>e Auferstehung als Beg<strong>in</strong>n neuen Lebens?<br />
„Me<strong>in</strong>e“? Kirche<br />
Auch das Verständnis der Kirche hat sich gewandelt. Ist das e<strong>in</strong>e Organisation, e<strong>in</strong>e<br />
von Jesus gegründete (Lebens-? <strong>Glaubens</strong>-?)Geme<strong>in</strong>schaft, die Verwalter<strong>in</strong><br />
göttlicher Gnade oder die Vertreter<strong>in</strong> und Interpret<strong>in</strong> <strong>des</strong> göttlichen Willens hier auf<br />
Erden? Für die eigene Antwort auf solche Fragen s<strong>in</strong>d nicht nur die<br />
Kirchengeschichte, die kirchliche Lehre und das christliche <strong>Glaubens</strong>bekenntnis zu<br />
berücksichtigen, sondern auch die Kritik an der Kirche und das zunehmende<br />
Auftreten anderer Religionen. Ist auch die Frage „Was habe ich von e<strong>in</strong>er<br />
Mitgliedschaft <strong>in</strong> der christlichen Kirche?“ berechtigt? Welchen Wert hat die<br />
Lebensbegleitung der Kirche (u.a. mit Taufe, Konfirmation, Eheschließung,<br />
Bestattung)? Wie wirkt sich Kirche auf den eigenen Glauben aus?<br />
Das Nachdenken darüber kann das eigene Verhältnis zu dieser Organisation<br />
bewusster, ergiebiger und aktiver werden lassen.<br />
Schuld / Sünde / Vergebung<br />
Für den Stand und die Entwicklung der gesellschaftlichen Schuldkultur ist das<br />
Verständnis der Begriffe Schuld, Sünde und Vergebung grundlegend. Sowohl e<strong>in</strong>e<br />
Def<strong>in</strong>ition wie auch das Verhältnis der Begriffe zue<strong>in</strong>ander ist schwierig. Es stellen<br />
sich u.a. folgende Fragen:<br />
Wie gehen wir verantwortungsvoll mit unserem täglichen Schuldigwerden um?<br />
108
Was br<strong>in</strong>gt die Ausweitung <strong>des</strong> Schuldbegriffs auf das religiöse<br />
Sündenverständnis?<br />
Welchen Wert hat und was bewirkt Vergebung?<br />
Wie br<strong>in</strong>gen wir die Bereitschaft auf, Schuld anderer zu verzeihen?<br />
Kann der persönliche Glaube dabei helfen?<br />
Welche Bedeutung hat Jesus für Christen bei dieser Frage ?<br />
E<strong>in</strong>e Vertiefung beim Verständnis von Schuld und Sünde kann zu mehr Gerechtigkeit<br />
führen und neue Chancen auch bei schwerer Schuld eröffnen.<br />
Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht, Ewiges Leben<br />
Können wir aus dem <strong>Glaubens</strong>bekenntnis Passagen auslassen, nur „weil es uns<br />
heute schwer fällt, an Auferstehung und Ewiges Leben zu glauben?“ Ist e<strong>in</strong><br />
christlicher Glaube auch ohne Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht, Ewiges<br />
Leben und Jenseits möglich? Es wird zwar heute weitgehend auf bildhafte<br />
Vorstellungen zu diesen <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halten verzichtet (wie z.B. <strong>in</strong> „Hoffen über den<br />
Tod h<strong>in</strong>aus?“), aber positive Aussagen und Interpretationen dazu s<strong>in</strong>d selten. Die<br />
folgende zum Thema „Jüngstes Gericht“ versucht e<strong>in</strong>e Erklärung ohne „Jenseits“.<br />
Hoffen über den Tod h<strong>in</strong>aus?<br />
Für e<strong>in</strong>e Hoffnung über den Tod h<strong>in</strong>aus gibt es viel Ermutigung und Zeugnis.<br />
Erstaunlich, wie viel früher Kirche, Gläubige und Künstler über das Leben nach dem<br />
Tod wussten. Wird das heute noch akzeptiert? Als Begründung hierfür wird die<br />
Berufung auf Jesus und se<strong>in</strong>e Auferstehung herangezogen; aber doch auch gefragt,<br />
ob solche antiken Formulierungen <strong>des</strong> Bekenntnisses noch die Hoffnung <strong>in</strong> Moderne<br />
und Postmoderne leiten kann. Und wer will schon zu e<strong>in</strong>em Endgericht auferstehen<br />
(und jetzt schon Angst davor haben), <strong>in</strong> dem das eigene Bestehen höchst ungewiss<br />
ist?<br />
Trotzdem hat die christliche Botschaft den Mut und die Zuversicht zu e<strong>in</strong>er größeren<br />
Hoffnung, <strong>in</strong>dem sie an das Gebot der Liebe anknüpft: Lieben heißt e<strong>in</strong>em<br />
Menschen sagen: du wirst immer da se<strong>in</strong>. Die Hoffnung über die To<strong>des</strong>grenze<br />
h<strong>in</strong>aus wurzelt <strong>in</strong> der Zusage: „Gott ist Liebe“.(1Joh 4,16)<br />
Der andere Gott – damals und heute<br />
In der Bibel und <strong>in</strong> menschlichen Erfahrungen zeigt sich Gott auch anders als im<br />
alltäglichen <strong>Glaubens</strong>leben: Als gewalttätig, rätselhaft, verborgen, strafend, fe<strong>in</strong>dlich.<br />
Was ist das für e<strong>in</strong> „guter Gott“, der von e<strong>in</strong>em Vater das Opfer se<strong>in</strong>es Sohnes<br />
verlangt (Abraham und Isaak im Alten Testament) und dem rechtschaffenen Hiob<br />
ohne Grund alles wegnimmt?<br />
Steht das im Widerspruch zu dem Gottesbild Jesu, der oft von Gott als dem guten<br />
Vater spricht und ihn so auch im „Vaterunser“ anspricht? Christliche Verkündigung<br />
kann von e<strong>in</strong>em evolutionär verstandenen Gottesbild aus auf das Gottesverständnis<br />
Jesu h<strong>in</strong>führen und nach heutigen Formen der Rede von Gott fragen. (vgl. auch die<br />
Entwicklung der Gottesvorstellungen <strong>in</strong> „Gott 9.0“)<br />
109
Theodizee – Gott entschuldigen?<br />
Menschen fragen bei Verbrechen, großen Übeln, Katastrophen und schwerem Leid:<br />
Warum trifft es gerade mich? Me<strong>in</strong>e Angehörigen? Warum gibt es Leid und Böses <strong>in</strong><br />
der Welt, warum so viel? Ist es e<strong>in</strong>e Strafe (Gottes)?<br />
Philosophie und Theologie haben sich ausführlich und seit langem mit diesen Fragen<br />
beschäftigt, die starke Zweifel am Glauben an Gott auslösen können.<br />
Ergebnis: Die Antworten s<strong>in</strong>d unbefriedigend (s. auch „Der andere Gott“). Muss man<br />
sich dann eben damit abf<strong>in</strong>den, dass es e<strong>in</strong>e dunkle, verborgene Seite Gottes gibt,<br />
<strong>in</strong> der das Böse se<strong>in</strong>en Grund hat? Christen sollen sich im Glauben an den Gott der<br />
Liebe halten. (Luther)<br />
Nach nichtpersonalem Verständnis öffnet die größere Wirklichkeit Gottes den Blick<br />
für die Verbundenheit aller Menschen: Die Opfer von Katastrophen und<br />
Unglücksfällen, die Kranken und Beh<strong>in</strong>derten s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em größeren<br />
Zusammenhang mite<strong>in</strong>ander verbunden und wurzeln im gleichen Se<strong>in</strong>sgrund.<br />
Daraus folgt Verantwortung füre<strong>in</strong>ander, Bereitschaft und Fähigkeit zu<br />
geme<strong>in</strong>samem Leben und gegenseitiger Hilfe.<br />
I. Anlagen zum Verständnis Gottes<br />
Gott im „Himmelreich“ und auf dem „Feld“<br />
zurück zum Inhaltsverzeichnis der Anlagen<br />
Zurück zum Inhaltsverzeichnis<br />
Viele Namen und Vergleiche für Gott legen es nahe, von ihm als e<strong>in</strong>em Feld zu<br />
sprechen, <strong>in</strong> dem er wirkt. Das Wort Feld deutet auf den Zusammenhang <strong>des</strong><br />
Wirkens von Gott als Geist und Kraft h<strong>in</strong>. Es reicht weit über das kle<strong>in</strong>e Umfeld von<br />
e<strong>in</strong>zelnen Menschen und Gruppen h<strong>in</strong>aus und kann e<strong>in</strong>e Metapher für die<br />
überpersönliche All-Gegenwart Gottes und se<strong>in</strong>e größere Wirklichkeit se<strong>in</strong>. Nach<br />
neueren naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ist dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Zusammenwirken von<br />
geistigen und physikalischen Kräften möglich.<br />
Das Gleichnis vom Feld<br />
Mit dem Himmelreich verhält es sich wie mit e<strong>in</strong>em Kraftfeld.<br />
Wir sehen es nicht und können es auch sonst nicht s<strong>in</strong>nhaft wahrnehmen. Aber<br />
dennoch ist es da. So existiert es im Mikrokosmos - im subatomaren Bereich. Und so<br />
breitet es sich auch überall im großen Kosmos aus - <strong>in</strong> der schieren Unendlichkeit<br />
<strong>des</strong> Weltalls.<br />
Nur wenn Teilchen und Testkörper sich <strong>in</strong> ihm bewegen, zeigt sich e<strong>in</strong>e Wirkung.<br />
Und man erkennt se<strong>in</strong>e Natur und kann se<strong>in</strong>e Kräfte messen.<br />
Die Wirkungen aber s<strong>in</strong>d unterschiedlich.<br />
110
Das Gleichnis spricht vom Reich Gottes. Und es beschreibt e<strong>in</strong>e Analogie: „Mit dem<br />
Himmelreich verhält es sich wie ....". Was dann folgt, ist nicht das Himmelreich<br />
selbst. Das Himmelreich ist nicht deckungsgleich mit e<strong>in</strong>em physikalischen Kraftfeld<br />
oder dem subatomaren Bereich oder dem Kosmos. Und die Parameter der Physik<br />
s<strong>in</strong>d nicht zur Beschreibung <strong>des</strong> Reiches Gottes anzuwenden. Ja, es geht<br />
nicht e<strong>in</strong>mal um die Statik oder Struktur| dieses gleichnishaften Fel<strong>des</strong>, das dem<br />
Himmelreich ähnlich se<strong>in</strong> könnte. Vielmehr liegt der wesentliche Akzent auf<br />
Bewegung, auf Dynamik und Wirkung.<br />
So wäre also auch e<strong>in</strong>e topologische Beschreibung <strong>des</strong> Himmelreiches, hätte man<br />
sie tatsächlich vorliegen, ebenfalls umgekehrt nicht als Bild für e<strong>in</strong> abstraktes<br />
physikalisches Feld geeignet - also auch nicht für die Schöpfung, die man ja auf<br />
solche Felder reduzieren kann.<br />
Dieses Gleichnis macht es nicht anders als die berühmten Gleichnisse Jesu vom<br />
Reich Gottes: es nimmt beschreibend« Elemente aus unserer erfahrbaren<br />
Wirklichkeit, stellt Beziehungen her und konstruiert e<strong>in</strong> Geschehen. Und aus dieser<br />
Gesamtheit leiten sich Erkenntnisse ab, die ähnlich oder analog s<strong>in</strong>d Ereignissen, die<br />
mit dem Reich Gottes zu tun haben. Auf diese Weise bekommen wir also e<strong>in</strong>e<br />
Ahnung vom unsichtbaren Himmelreich.<br />
All diesen biblischen Bildern geme<strong>in</strong>sam ist, dass es sich nicht um e<strong>in</strong>e statische<br />
Beschreibung handelt - etwa: das Himmelreich bef<strong>in</strong>det sich an e<strong>in</strong>em bestimmten<br />
Ort fernab <strong>in</strong> den Tiefen <strong>des</strong> Weltalls oder gar jenseits von unserer Welt; oder: es ist<br />
ab e<strong>in</strong>em geschichtlichen Zeitpunkt t <strong>in</strong> der Zukunft zu erreichen; oder es ist auf<br />
diese oder jene Art e<strong>in</strong>gerichtet. So redet Jesus nicht, und <strong>des</strong>halb lässt sich das<br />
Himmelreich auch nur schwer bildlich darstellen. - Ne<strong>in</strong>, das Reich Gottes wird durch<br />
e<strong>in</strong>e Dynamik beschrieben. In den Gleichnissen geht es immer um Bewegung, um<br />
e<strong>in</strong>e Handlung, um Aktion. Es geschieht etwas. Das Reich Gottes ist nicht das<br />
Senfkorn, sondern der Vorgang <strong>des</strong> Wachsens aus dem Samen; es ist nicht die<br />
Ähre, sondern der Vorgang der Vervielfältigung <strong>des</strong> e<strong>in</strong>en Korns. Ähnlich ist es mit<br />
den Handlungen zwischen den Figuren, zwischen Herr und Knecht,<br />
We<strong>in</strong>bergsbesitzer und Arbeiter usw. Aus dem Ablauf <strong>des</strong> Geschehens selbst<br />
entwickelt sich e<strong>in</strong> Kraftfeld zwischen Gott und uns - se<strong>in</strong> Reich. Es ist sozusagen im<br />
H<strong>in</strong>tergrund immer da und realisiert sich je<strong>des</strong> Mal wieder neu zwischen Gott und<br />
uns oder zwischen unseren Nächsten und uns - je nachdem, ob wir es annehmen<br />
oder nicht.<br />
Das hier konstruierte „Gleichnis vom Feld" besteht aus nur vier Versen. Zu Anfang<br />
steht e<strong>in</strong>e Grundaussage, e<strong>in</strong>e Behauptung: „Mit dem Himmelreich verhält es sich<br />
....". Der Grundbezug ist hergestellt: es wird etwas über das Reich Gottes folgen.<br />
In den Versen 2 und 3 f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Qualifizierung der Gleichniselemente<br />
statt, ähnlich wie oben angedeutet. Se<strong>in</strong>e grundsätzlichen Qualitäten werden<br />
erwähnt: unsere Möglichkeiten es zu erkennen und se<strong>in</strong> Wirkungsbereich. Und im<br />
vierten und letzten Vers schließlich wird dah<strong>in</strong> geführt, worauf es eigentlich ankommt:<br />
„Die Wirkungen". Kernaussagen s<strong>in</strong>d die Verse 1 und 4 <strong>in</strong> ihrem gegenseitigen<br />
Bezug aufe<strong>in</strong>ander und ihrer Verknüpftheit untere<strong>in</strong>ander.<br />
Die zentralen Begriffe, die zur Illustration gebraucht werde| s<strong>in</strong>d: Himmelreich,<br />
Kraftfeld, Kosmos, Teilchen / Testkörper, Bewegung, Wirkung, Natur, Kraft. Bis<br />
auf das Wort „Himmelreich“ f<strong>in</strong>det sich ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger dieser Begriffe <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>em<br />
111
Gleichnis Jesu. Se<strong>in</strong>e Begriffswelt entstammt der alten agrarischen und<br />
Handelsumgebung se<strong>in</strong>er Zeit. Dennoch soll dasselbe Reich Gotte gleichnishaft mit<br />
den Vokabeln der Gegenwart erschlossen werden Deshalb ist das Wort<br />
„Himmelreich" dafür auch e<strong>in</strong>zig dasselbe geblieben.<br />
Anfragen und Analogien<br />
Im Feldgleichnis wird e<strong>in</strong>e technisch-wissenschaftliche Welt gleich im ersten Vers<br />
dem Transzendenten, dem Himmelreich oder Reich Gottes gegenübergestellt.<br />
Gleichsam als Aufforderung, aus der nachfolgenden Präzisierung Analogien für<br />
Elemente <strong>des</strong> Himmelreichs zu erschließen. Der Name Gottes kommt nicht vor.<br />
Christen wissen jedoch, dass - wenn vom Himmelreich die Rede ist - sich an diesem<br />
Ort Gott erfahren lässt. Insofern ist Gott auch im ersten Vers implizit genannt.<br />
Daraus kann gefolgert werden: Gott erzeugt so etwas wie e<strong>in</strong> Kraftfeld. Das will der<br />
Text gleich zu Anfang sagen. Oder anders ausgedrückt: Es gibt e<strong>in</strong> Himmelreich; und<br />
dieses lässt sich wie durch e<strong>in</strong>e Kraft erfahren. Sie existiert.<br />
E<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>sames hat das Himmelreich auf jeden Fall mit physikalischen<br />
Kraftfeldern: so wie sie Entfernungen überbrücken, bleiben sie zunächst unsichtbar<br />
für den Beobachter. Bis zu dem Zeitpunkt, wo aus dem passiven Beobachter e<strong>in</strong><br />
aktiv Beteiligter wird. Das gilt auf jeden Fall für Felder der Physik. Diese haben die<br />
Eigenschaft, dass sie erst real werden, wenn durch aktive Beobachtung e<strong>in</strong>e<br />
Veränderung an ihnen vorgenommen wird. Und das ist aber zugleich auch e<strong>in</strong><br />
Nachteil. Denn das bedeutet, dass sie niemals ungestört wahrgenommen werden<br />
können. Erst durch das H<strong>in</strong>zufügen e<strong>in</strong>er Dynamik, die von e<strong>in</strong>er<br />
Versuchsanordnung ausgeht, werden Eigenschaften <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> sichtbar gemacht.<br />
Das Schöne an unserem Gleichnis ist, dass für das Himmelreich Gleiches gilt. Wie<br />
wir sehen werden, ist es erfahrbar erst durch Intervention, durch handelnde Akteure -<br />
sozusagen im Rahmen e<strong>in</strong>er beschreibbaren Versuchsanordnung. Somit gibt es also<br />
vom Grundsatz her Entsprechungen zwischen physikalischer Welt und Himmelreich.<br />
- Oder sogar Überlappungen, Interferenzen, Rückkopplungen?<br />
Wir nähern uns über e<strong>in</strong>e neuzeitliche Interpretation, e<strong>in</strong>er „feldtheoretischen<br />
Analyse", uralten Manifestationen und Beobachtungen.<br />
Und schon stellen sich Unsicherheiten e<strong>in</strong>. Wie wir wissen bietet die Physik vier<br />
verschiedene Wechselwirkungen an, die durch Felder beschreibbar s<strong>in</strong>d:<br />
Gravitation<br />
Elektromagnetismua<br />
Schwache und starke Wechselwirkung.<br />
Welcher Art könnte nun die gültige Bezugsebene für uns Gleichnis se<strong>in</strong>? Oder gibt<br />
es gar beim Himmelreich auch verschiedene „Wechselwirkungen" zu<br />
berücksichtigen? Wirkt das Reich Gottes als Feld immer und überall oder nur an<br />
bestimmte Orten zu bestimmten Zeiten? - Lassen wir das im Augenblick noch offen.<br />
Vers (1) spricht nicht von e<strong>in</strong>em Feld allgeme<strong>in</strong>, sondern ganz konkret schon von<br />
e<strong>in</strong>em Kraftfeld. Bewusst ist das mystische Wort von der „Kraft" hier e<strong>in</strong>gebracht<br />
worden. Es soll auch als E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong> die im Folgenden zu entwickelnden Analogien<br />
dienen. Was sagt di« Heilige Schrift zur „Kraft"?<br />
112
Paulus schreibt im Epheserbrief: „Wie überschwänglich groß ist se<strong>in</strong>e Kraft an uns,<br />
die wir glauben, weil die Macht se<strong>in</strong>er Stärke bei uns wirksam wurde."<br />
Paulus gebraucht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Schreiben drei Begriffe, die nach unserem<br />
Sprachgebrauch ansche<strong>in</strong>end austauschbar s<strong>in</strong>d: Kraft, Macht und Stärke: „wie<br />
überschwänglich groß (ist) se<strong>in</strong>e Kraft an uns, weil die Macht se<strong>in</strong>er Stärke bei<br />
uns wirksam wurde ...."<br />
Diese Begriffe f<strong>in</strong>den wir auch sonst <strong>in</strong> der Bibel an vielen Stellen, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong><br />
den Psalmen. Aber auch im Vaterunser: „de<strong>in</strong> ist die Kraft und die Herrlichkeit". Es<br />
läuft alles auf die e<strong>in</strong>e große universale Wirksamkeit Gottes h<strong>in</strong>aus, auf die Kraft<br />
Gottes, die alles zusammenhält und alles bewegt: die Kraft, die schon ganz am<br />
Anfang wirksam war, und durch welche die Feste zwischen den Wassern errichtet<br />
wurde, um das Chaos der Urflut zu bannen, damit e<strong>in</strong> Lebensraum für die Schöpfung<br />
geschaffen werden konnte. Die Kraft, durch die Christus gewirkt hat und mit der er<br />
vom Tode erweckt wurde. E<strong>in</strong>e Kraft, die die Grenze zwischen Leben und Tod öffnen<br />
oder schließen kann. Die gleiche Kraft, die <strong>in</strong> den Menschen Resonanz f<strong>in</strong>den kann<br />
zur Stärkung <strong>des</strong> eigenen <strong>Glaubens</strong>. -<br />
Diese Kraft, diese Wechselwirkung, im Feld <strong>des</strong> Himmelreichs. Transzendent und<br />
gleichzeitig wirksam <strong>in</strong> der Gegenwart unserer Welt. Das unendlich Kle<strong>in</strong>e und das<br />
kosmische Große umfassend.<br />
Wie sieht dann die Versuchsanordnung zur Messung, zur aktiven Störung <strong>des</strong><br />
Fel<strong>des</strong> „Reich Gottes" aus? - Um diese Frage zu beantworten, müssen wir e<strong>in</strong>ige<br />
unverzichtbare Komponenten identifizieren - Komponenten, die gleichzeitig<br />
Anordnung und E<strong>in</strong>bezogene beschreiben. Wie es sich für e<strong>in</strong>e typische<br />
Feldsituation gehört:<br />
Da ist auf der e<strong>in</strong>en Seite Gott. Und da ist e<strong>in</strong> Mensch, e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner Mensch, auf der<br />
anderen Seite. Das ist die M<strong>in</strong>imalkonfiguration. Notwendig für das<br />
Zustandekommen für e<strong>in</strong>e Wechselwirkung. Die Kraft geht von Gott aus, der Mensch<br />
registriert sie, wenn er se<strong>in</strong>e Antennen e<strong>in</strong>geschaltet hat, bzw. wenn Gott <strong>des</strong><br />
Menschen Antennen so stimuliert hat, dass diese auf Empfang geschaltet s<strong>in</strong>d.<br />
Entfernungen spielen ke<strong>in</strong>e Rolle. Sie können unendlich oder gleich Null se<strong>in</strong> - also<br />
nichts mit „umgekehrt proportional zum Entfernungsquadrat". Aber durchaus auch<br />
physikalisch denkbar wie e<strong>in</strong>e Wechselwirkung.<br />
Hier haben wir also die Möglichkeit, das Potenzial für e<strong>in</strong>en Austausch über „göttliche<br />
Feldquanten" zwischen Gott und den Menschen. In dieser statischen<br />
Ausgangssituation bleibt das Reich Gottes jedoch unsichtbar.<br />
Im nächstmöglichen Schritt schiebt sich zwischen Gott und den Menschen e<strong>in</strong><br />
weiterer Mensch. Jemand dr<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> das Kraftfell <strong>des</strong> Himmelreiches e<strong>in</strong> und erzeugt<br />
sozusagen e<strong>in</strong>e Turbulenz <strong>in</strong> dem bis dah<strong>in</strong> relativ homogenen Feld. E<strong>in</strong>e<br />
Komplexität entsteht durch das Zusammenwirken von drei separaten Kraftquellen.<br />
Und jetzt ist alles völlig offen. Denn wir wissen nicht, ob der dritte Partner zunächst<br />
auf Gott zugehen möchte, ob Gott ihn anspricht, oder ob er nur e<strong>in</strong>mal mit se<strong>in</strong>em<br />
Mitmenschen kommunizieren möchte.<br />
Der „Neue" agiert so ähnlich wie e<strong>in</strong> Testpartikel, welches <strong>in</strong> e<strong>in</strong> existieren<strong>des</strong><br />
Kraftfeld h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geschoben wird - wie e<strong>in</strong>e Messsonde. Und die Messergebnisse<br />
113
hängen genauso von den existierenden Feldeigenschaften ab wie von den<br />
Qualitäten <strong>des</strong> Testkörpers. Die konkrete Wechselwirkung ist anfangs offen.<br />
Ähnlich verhält es sich, wenn anfänglich nur zwei Menscher beie<strong>in</strong>ander s<strong>in</strong>d. Ihre<br />
Interaktion kann durchaus banal se<strong>in</strong>. Sie kann aber höchste Energien mobilisieren,<br />
wenn durch irgende<strong>in</strong>en Umstand Gott <strong>in</strong>s Spiel kommt. Das kann geschehen, ohne<br />
dass Gott überhaupt benannt wird. Se<strong>in</strong> Feld wirkt beispielsweise <strong>in</strong> jedem Akt der<br />
unvore<strong>in</strong>genommenen Barmherzigkeit und der Nächstenliebe. So wird Gottes<br />
Gerechtigkeit, durch die er sich dem E<strong>in</strong>zelnen zuwendet, als menschliche<br />
Gerechtigkeit weitergegeben. So leitet sich das zweite Liebesgebot aus dem ersten<br />
ab. So wie e<strong>in</strong> Kraftfeld wirkt. Das Himmelreich.<br />
Wir halten fest: <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er statischen Feldkonstellation zwischen Gott und Mensch oder<br />
Mensch und Mensch oder Gott und Mensch und anderen Menschen baut sich e<strong>in</strong><br />
Potenzial auf, welches zunächst noch wertneutral ersche<strong>in</strong>t. Erst durch e<strong>in</strong>e<br />
Bewegung, e<strong>in</strong>e Initiative, wird etwas angestoßen, das dann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ganz bestimmte<br />
Richtung läuft. Erst dann wird entschieden, woh<strong>in</strong> die Reise geht. Vorher ist alles<br />
unsichtbar.<br />
Uns fehlen neben der alles beherrschenden Kraft noch e<strong>in</strong>ige weitere Analogien, z.<br />
B. Energien. Aber darüber haben wir schon etwas erfahren: das gerade genannte<br />
Potenzial <strong>in</strong>nerhalb der Gott-Mensch-Versuchsanordnung.<br />
Und Felddichte, Schwankungen von Kraftkonzentrationen über Fläche und Raum.<br />
Gottes Kraftfeld, se<strong>in</strong> Reich, ist entfernungsunabhängig. Grade <strong>des</strong>halb kann es<br />
gleichzeitig im unendlich Kle<strong>in</strong>en und unvorstellbar Großen wirken. Wichtig ist das<br />
Zusammenkommen der handelnden Personen. Oder die Bereitschaft <strong>des</strong> E<strong>in</strong>zelnen,<br />
mit Gott <strong>in</strong> Kontakt zu treten. Oder Gottes Ruf selbst. Die Beobachtung zeigt, dass es<br />
tatsächlich Schwankungen <strong>in</strong> der Intensität der Wirksamkeit <strong>des</strong> Reiches Gottes gibt.<br />
Faktoren, die hierbei e<strong>in</strong>e Rolle spielen, s<strong>in</strong>d z. B. Störelemente aus der Welt, die<br />
e<strong>in</strong>en guten Empfang der Zuwendung Gottes erschweren, Ablehnung e<strong>in</strong>zelner<br />
Menschen, mit Gott oder mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> positive Beziehung zu treten. Hier kommen<br />
menschliche Entscheidungsfreiheiten <strong>in</strong>s Spiel.<br />
Gott ist von ke<strong>in</strong>em Zahlensystem abhängig, und somit gibt es auch ke<strong>in</strong>e<br />
quantitativen Feldkonstanten - höchstens die Aussage Gottes selbst, dass er immer<br />
zu se<strong>in</strong>em Wort steht und se<strong>in</strong>en Bund hält. Und dass Christus das letzte Wort war<br />
und ist und somit immerwährende Garantie: Konstanten. Mathematische<br />
Formulierungen gibt es dafür nicht. Gäbe es solche, wären sie Teil <strong>des</strong> Gleichnisses<br />
selbst und damit sowohl nicht erkennbar als auch nicht notwendig zu wissen.<br />
Insofern können wir auf die Herleitung von Vektoren, Gradienten, Integrale usw.<br />
verzichten. Ebenso auf komplexe Gleichungssysteme. Und auf e<strong>in</strong>e Unterscheidung<br />
nach Arten der Wechselwirkung: Gottes Kraftfeld - se<strong>in</strong> Reich - ist e<strong>in</strong>fach und jedem<br />
Menschen ohne irgende<strong>in</strong>e Voraussetzung zugänglich und erlebbar. Nicht<br />
Mathematiker haben es zuerst erfahren, sondern Kle<strong>in</strong>viehhirten.<br />
Das kommt also zum ersten Mal aus e<strong>in</strong>er Zeit von vor vielleicht 4000 Jahren. Und<br />
ist geblieben bis heute. Und bleibt bestehen darüber h<strong>in</strong>aus. Denn .... Gott wirkt.<br />
Se<strong>in</strong>e Kraft ist da - <strong>in</strong> der Welt, auch heute. Und sie ist <strong>in</strong> uns. Die Kraft, durch die die<br />
Welt geschaffen wurde, die sie zusammenhält, und die Jesus Christus vom Tode<br />
auferweckt hat. Wir können sie erspüren, wenn wir nur empfänglich dafür s<strong>in</strong>d.<br />
Wenn wir sie erkennen wollen. Unser Trost ist, dass Gott se<strong>in</strong>e Macht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
114
zerrissenen Umfeld beweisen kann. Unsere Ermutigung ist, dass Umkehr<br />
möglich ist. Unsere Vergewisserung ist: Gott wirkt beständig fort. Unsere<br />
Befreiung ist, dass wir außerhalb der uns vorgegebenen Lebensumstände<br />
existieren können.<br />
Kommentare aus dem Arbeitskreis<br />
In se<strong>in</strong>er systematischen Theologie Band 2 (erschienen 1991) hat der Theologe<br />
Wolfhart Pannenberg an die altphilosophische Herkunft <strong>des</strong> Begriffs „Feld“ er<strong>in</strong>nert<br />
und ihn mit Bezug auf heutige Physik neu <strong>in</strong> das theologische System e<strong>in</strong>bezogen:<br />
Um Bewegung und Veränderung zu beschreiben, hat die Physik den Begriff der Kraft<br />
oder Energie entwickelt, die auf Körper e<strong>in</strong>wirkt und so deren Bewegungen hervorbr<strong>in</strong>gt.<br />
Newton rechnete im Unterschied zu Descartes auch mit nichtmateriellen<br />
Kräften, die analog zur Bewegung <strong>des</strong> Körpers durch die Seele wirken. Als e<strong>in</strong>e<br />
solche Kraft betrachtete er auch die Gravitation, die ihm als Ausdruck der Bewegung<br />
<strong>des</strong> Universums durch Gott vermittels <strong>des</strong> Raumes erschien.<br />
Kräfte wirken nach M. Faraday <strong>in</strong> raumfüllenden Feldern über Distanzen h<strong>in</strong>weg.<br />
Er hoffte, daß sich alle Kraftfelder auf letztlich e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges, umfassen<strong>des</strong> Kraftfeld<br />
zurückführen lassen.<br />
Pannenberg sieht <strong>in</strong> den immer weiter ausgreifenden Feldtheorien der modernen<br />
Physik e<strong>in</strong>e theologische Relevanz, die auch durch die metaphysische Herkunft <strong>des</strong><br />
Feldbegriffs nahegelegt wird. Insofern der Feldbegriff den alten Pneumalehren entspricht,<br />
liegt es von der Begriffs- und Geistesgeschichte her recht nahe, die<br />
Feldtheorien der modernen Physik zur christlichen Lehre von der dynamischen<br />
Wirksamkeit <strong>des</strong> göttlichen Pneuma <strong>in</strong> der Schöpfung <strong>in</strong> Beziehung zu setzen, z.B.<br />
bei der Interpretation der überlieferten Rede von Gott als Geist.<br />
Charakteristische Verschiedenheiten gegenüber ihrer naturwissenschaftlichen<br />
Verwendung s<strong>in</strong>d aber zu beachten. Die pr<strong>in</strong>zipiellen Differenzen zwischen<br />
physikalischer und theologischer Betrachtungsweise bei der Beschreibung der<br />
Weltwirklichkeit verbieten es allerd<strong>in</strong>gs, physikalische Feldtheorien direkt theologisch<br />
zu <strong>in</strong>terpretieren.<br />
Die Rede von e<strong>in</strong>em Kraftfeld <strong>des</strong> künftig Möglichen als Ursprung aller Ereignisse<br />
steht zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zusammenhang mit physikalischen Feldbegriffen, erweitert sie<br />
aber. Die Dynamik <strong>des</strong> göttlichen Geistes, die als Macht der Zukunft <strong>in</strong> allem<br />
Geschehen schöpferisch wirksam ist, steht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ausweisbaren Beziehung zu<br />
grundlegenden naturwissenschaftlichen Gegebenheiten.<br />
WG: Kann man den Feldbegriff der Physik als Metapher für Gott und se<strong>in</strong> Wirken <strong>in</strong><br />
der Welt gelten lassen? Ich selber habe diesen Gedanken immer sehr attraktiv<br />
gefunden. Gott ist Geist, den wir im Geist und <strong>in</strong> der Wahrheit anbeten sollen. Für<br />
e<strong>in</strong>e den Raum prägende Kraft, die über Distanzen wirkt, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Physik die<br />
Begriffe <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> und der Wechselwirkungs-Bosonen e<strong>in</strong>geführt. E<strong>in</strong>e Analogie<br />
zum Geist und se<strong>in</strong>em Wirken liegt nahe.<br />
Freilich wollte ich dar<strong>in</strong> immer mehr als e<strong>in</strong>e Metapher sehen, und ich habe mich<br />
gefragt, wie denn diese Kraft, dieses Feld, im Vergleich mit den von der Physik<br />
kanonisierten Grundkräften beschaffen sei und wo der Schnittpunkt der<br />
Wechselwirkung mit den materiellen D<strong>in</strong>gen liege. E<strong>in</strong>e Ähnlichkeit mit den vom<br />
115
wissenschaftlichen Außenseiter R. Sheldrake postulierten „morphogenetischen<br />
Feldern“ deutet sich an.<br />
Ansche<strong>in</strong>end können aber nur die komplexesten adaptive Systeme, Organismen wie<br />
der Mensch, Sonden für dieses Gottes-Feld se<strong>in</strong>, und das auch nur im Fall<br />
besonderer Sensitivität, die ke<strong>in</strong>eswegs vielen Menschen eignet. Mystiker s<strong>in</strong>d bis<br />
heute (und besonders heute) die Ausnahme, so wie auch Menschen mit besonderen<br />
„medialen“ Fähigkeiten. Vor Zeiten mag es mehr Aufnahmefähigkeit für die<br />
Schw<strong>in</strong>gungen <strong>des</strong> göttlichen Geistes gegeben haben, die zu deutlicheren<br />
„Zeigerauschlägen“ auf der spirituellen Empf<strong>in</strong>dsamkeitsskala geführt haben, als wir<br />
uns im „Zeitalter der Vernunft“ träumen lassen. Und ich b<strong>in</strong> mir überhaupt nicht sicher<br />
ob wir im S<strong>in</strong>n von Gott 9.0 von e<strong>in</strong>er Höherentwicklung oder auch nur<br />
Weiterentwicklung unserer Bewusstse<strong>in</strong>sstufe gerade <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht reden<br />
können. Wir sche<strong>in</strong>en eher <strong>in</strong> viel höherem Maß auf die Vermittlung spirituellen<br />
Wissens durch die heiligen Schriften und die religiös-mystisch-kirchliche Tradition<br />
angewiesen als frühere Generationen.<br />
So me<strong>in</strong>e ich nun, dass, sowenig gegen die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>er weiteren, der Feld-<br />
Metapher, für die Gottheit und ihr Wirken e<strong>in</strong>gewendet werden kann, sie doch noch<br />
ke<strong>in</strong>en Beitrag leistet zur Verständigung <strong>in</strong> der Welterklärungskontroverse zwischen<br />
Wissenschaft und Religion (Vernunft und Glauben), e<strong>in</strong>fach weil die Physik nicht <strong>in</strong><br />
Metaphern redet. Sie verwendet ihre Begriffe an bestimmten Stellen ihrer Theorien<br />
und Modelle, wo der Begriff dann e<strong>in</strong> Vorf<strong>in</strong>dliches, etwas <strong>in</strong> der Wirklichkeit<br />
Anwesen<strong>des</strong> e<strong>in</strong>deutig benennen soll.<br />
Übrigens sprechen wir bevorzugt noch mit e<strong>in</strong>er anderen Kraft-Metapher von Gott,<br />
der „Kraft der Liebe“. Dabei fällt sogleich auf, dass diese <strong>in</strong> unserer Erfahrung nicht<br />
von e<strong>in</strong>em Feld über beliebige Distanz vermittelt wird, sondern nur im Nah-Umgang,<br />
vermittelt durch Signale der Kommunikation im weiteren S<strong>in</strong>n, der von<br />
S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücken, über die Sprache bis zu den „Botenstoffen“ der Hormone reicht.<br />
Die Liebe ist <strong>in</strong> dieser Redeweise, e<strong>in</strong>e Kraft, weil wir sie spüren, aber ke<strong>in</strong> Feld.<br />
Polk<strong>in</strong>ghorne versucht e<strong>in</strong>en anderen Ansatz. Als leibliche Wesen handeln wir<br />
zugleich energetisch und <strong>in</strong>formationell. Und man mag erwarten, dass Gott als re<strong>in</strong>er<br />
Geist, alle<strong>in</strong> durch E<strong>in</strong>gabe von Informationen handelt (zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t s<strong>in</strong>d solche<br />
Vermutungen und Erwartungen nötig um Polk<strong>in</strong>ghornes Argumentation plausibel<br />
ersche<strong>in</strong>en zu lassen). Mit dieser Darstellung kann er die Idee e<strong>in</strong>er absteigenden<br />
Kausalität von oben e<strong>in</strong>sichtig machen.<br />
Dazu gehört dann freilich auch die Suche nach der „kausalen Fuge“, die dieser<br />
Gottesfeld-Kausalität das E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> die dichten materiellen Kausalketten<br />
gestattet.“<br />
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Zurück zum Inhaltsverzeichnis<br />
Gott als „Kraft“<br />
Gott wird auch oft als Kraft erlebt, erfahren und benannt. Das kann das verbreitete<br />
Gottesverständnis als Person ergänzen und erweitern.<br />
116
Nach M. Kroeger ist Gott „e<strong>in</strong>e Kraft, die schafft, beschenkt, fordert, vernichtet, zu der<br />
anbeten<strong>des</strong> In-Beziehung-Treten ohne Festlegung auf wie auch immer geartete<br />
theologische oder philosophische Begriffe möglich und lebensdienlich ist.<br />
Wolfgang Osterhage zeigt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch „Chaos. Ordnung, Harmonie. Bilder der<br />
Wissenschaft – Bilder <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“. (Fromm Verlag 2012), dass und wie auch mit<br />
Begriffen aus der Physik von Gott gesprochen werden kann.<br />
Gottes Wirken <strong>in</strong> der Welt – als Kraft auch <strong>in</strong> den Schwachen<br />
In dem Roman „Die Brüder Karamasoff" von Dostojewski äußert sich der Mönch<br />
Pater Paissij der Hauptfigur <strong>in</strong> dieser Geschichte zur Moderne gegenüber mit<br />
folgenden Worten:<br />
„Jüngl<strong>in</strong>g, denke daran, dass die weltliche Wissenschaft, die zu e<strong>in</strong>er großen Macht<br />
wurde, im letzten Jahrhundert alles niedergerissen hat, was uns an Himmlischem <strong>in</strong><br />
den Büchern der Heiligen vermacht worden ist. Nach e<strong>in</strong>er genauen Analyse sche<strong>in</strong>t<br />
bei den Gelehrten dieser Welt vom ganzen frühen Heiligtum überhaupt nichts<br />
übriggeblieben zu se<strong>in</strong>; der Geist <strong>des</strong> Ganzen ist ihnen entgangen."<br />
Das Gesagte bezieht sich auf das 19. Jahrhundert! - Daraus spricht wohl die Angst<br />
e<strong>in</strong>es gläubigen Menschen davor, von der Moderne überrollt und se<strong>in</strong>es <strong>Glaubens</strong><br />
dadurch verlustig zu werden. Daraus spricht auch das auch heute noch gängige<br />
Klischee von Gegensatz und Wettbewerb zwischen Glaube und Wissenschaft, jenen<br />
beiden akzeptierten Erkenntniswegen, die dem Menschen offen stehen. Es gibt aber<br />
doch mehr Geme<strong>in</strong>samkeit auf diesen beiden Wegen zur Erkenntnis, als geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong><br />
angenommen wird.<br />
Der Begriff der Kraft repräsentiert e<strong>in</strong>e Chiffre. Er ist mystischen Ursprungs und hat<br />
diese Aura bis heute bewahrt, sowohl <strong>in</strong> der Religion als auch <strong>in</strong> der Wissenschaft.<br />
Wesentliches Kennzeichen ist das Attribut der Fernwirkung: e<strong>in</strong>e Ursache macht<br />
über e<strong>in</strong>e Distanz, dass an e<strong>in</strong>em anderen, weiter entfernten Ort etwas geschieht.<br />
E<strong>in</strong>e solche Fernwirkung hat die Menschen von alters her fasz<strong>in</strong>iert und dieses Wort<br />
„Kraft" damit bildhaft beladen.<br />
Immer schon, seit die Wissenschaft den Begriff Kraft für sich vere<strong>in</strong>nahmt hat, hat<br />
selbige auch versucht, ihr den Mythos nehmen. Spätestens seit Newton, der die<br />
Gravitation formalisiert hat, ist sie zwar nicht sichtbar, aber durch solche Äquivalente<br />
wie Maß und Gesetzmäßigkeiten, wie Abnahme mit dem Quadrat Entfernung<br />
bildhafter geworden.<br />
Heute unterscheidet man vier Kräfte <strong>in</strong> der Natur, aus der sich alles andere herleitet:<br />
die Gravitationskraft,<br />
die elektromagnetisch Kraft,<br />
die schwache Wechselwirkung, und<br />
die starke Wechselwirkung, die Atomkerne und Quarks zusammenhält.<br />
Diese Kräfte s<strong>in</strong>d unterschiedlich stark und wirken über unterschiedliche<br />
Entfernungen. Obwohl damit alle z. Zt. beobachteten Phänomene im Kosmos<br />
beschreibbar s<strong>in</strong>d, ist den Forschern seit Generationen e<strong>in</strong> bohrender Rest von<br />
117
Unzufriedenheit geblieben. Diese Unzufriedenheit leitet sich e<strong>in</strong>mal aus der Tatsache<br />
her, dass es vier Kräfte und nicht e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Kraft gibt, zum anderen aus dem immer<br />
noch mitschw<strong>in</strong>genden mystischen Ursprung.<br />
Es hat nicht an Versuchen gefehlt, dem Abhilfe zu schaffen – und zwar aus re<strong>in</strong><br />
ästhetischen und nicht zw<strong>in</strong>gend wissenschaftlichen Gründen. Die e<strong>in</strong>e Richtung<br />
geht auf e<strong>in</strong>e Vere<strong>in</strong>igungstheorie aller Kräfte h<strong>in</strong>aus, e<strong>in</strong>er Aufgabe, der E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> den<br />
größten Teil se<strong>in</strong>es Lebens gewidmet hatte - ohne Erfolg. Die Vere<strong>in</strong>igung der<br />
elektromagnetischen mit der schwachen Wechselwirkung ist mittlerweile gelungen.<br />
Alle anderen noch nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er verifizierbaren Form.<br />
Die zweite Richtung zielte auf die Abschaffung der Kraft als solche zur Beschreibung<br />
von Naturphänomenen. Das ist E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Allgeme<strong>in</strong>en Relativitätstheorie<br />
geglückt: er setzte das Energieäquivalent auf der e<strong>in</strong>en Seite der Gravitationsgleichung<br />
mit der dadurch verursachten Krümmung <strong>des</strong> Raumes - dem Rieman-<br />
Tensor - gleich. Kraft hatte sich erübrigt und war durch Geometrie ersetzt worden,<br />
der Mythos der Fernwirkung war endgültig gebrochen.<br />
Auch die Christen bedienen sich <strong>des</strong> Bil<strong>des</strong> von der Kraft, um Wirkungen, die hier auf<br />
unserer Erde stattf<strong>in</strong>den, durch Ursachen, die <strong>in</strong> anderen Dimensionen liegen, zu<br />
beschreiben. Oder auch, um Wirkungen zwischen Menschen selbst zu beschreiben.<br />
Überall, wo e<strong>in</strong>e Intervention Gottes <strong>in</strong> Vergangenheit oder Gegenwart geglaubt wird,<br />
wird auch se<strong>in</strong>e Kraft evoziert - e<strong>in</strong>e Kraft, die nicht nur über räumliche Distanz<br />
h<strong>in</strong>weg wirkt, sondern sogar durch die Zeit h<strong>in</strong>durch, bzw. aus der Transzendenz<br />
heraus: „Wie überschwänglich groß ist se<strong>in</strong>e Kraft an uns, die wir glauben, weil die<br />
Macht se<strong>in</strong>er Stärke bei uns wirksam wurde", schreibt der Apostel Paulus an die<br />
Epheser. Es läuft alles auf die e<strong>in</strong>e große universale Wirksamkeit Gottes h<strong>in</strong>aus, auf<br />
die Kraft Gottes, die alles zusammenhält und alles bewegt: die Kraft, die schon ganz<br />
am Anfang wirksam war, und durch welche die Feste zwischen den Wassern<br />
errichtet wurde, das Chaos der Urflut zu bannen, damit e<strong>in</strong> Lebensraum für<br />
Schöpfung geschaffen werden konnte. Die Kraft der Liebe, durch die Christus gewirkt<br />
hat, und mit der er vom Tode erweckt wurde. E<strong>in</strong>e Kraft, die die Grenze zwischen<br />
Leben und Tod öffnen oder schließen kann.<br />
„Wort zum Sonntag“ 15.1.12<br />
Das Wort zum Sonntag vom 14. Januar 2012,<br />
gesprochen von Ulrich Haag<br />
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Es gibt Fehlverhalten, das darf nicht passieren. Es passiert trotzdem. Die<br />
Begebenheit ist e<strong>in</strong>ige Jahre her, aber ich er<strong>in</strong>nere mich noch genau. Ich stehe an<br />
der Kasse im Supermarkt, die Kund<strong>in</strong> vor mir nestelt am Portemonnaie, die<br />
Kassierer<strong>in</strong> lässt kurz die Hände s<strong>in</strong>ken. Ich lege das Toastbrot auf das Band, die<br />
Zeitung, zuletzt die Flasche Rotwe<strong>in</strong>. Ich hebe die E<strong>in</strong>kaufstasche an, damit die<br />
Kassierer<strong>in</strong> sieht: Der Wagen ist leer, es liegt wirklich alles auf dem Band. Alles? Ich<br />
weiß es besser.<br />
118
Das Band läuft an und schiebt me<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>kauf Richtung Scanner. In mir kreisen<br />
plötzlich die Gedanken. Was mache ich da eigentlich? Wie kommt es, dass ich mir<br />
die Vorstellung angewöhnt habe, unbeobachtet zu se<strong>in</strong>, wenn niemand h<strong>in</strong>schaut?<br />
Ich müsste es besser wissen, gerade ich, als Pfarrer! Ich müsste wissen, dass es<br />
e<strong>in</strong>en gibt, der sieht, was ke<strong>in</strong>er sonst sieht. Wie weit habe ich mich von ihm<br />
entfernt? Und wie weit von mir selbst?!<br />
Man erschrickt und man schämt sich, wenn e<strong>in</strong>em bewusst wird, wie tief man die<br />
eigenen Ansprüche hat s<strong>in</strong>ken lassen. Man nimmt zwei Rollen Klopapier aus dem<br />
Betrieb mit, e<strong>in</strong> paar Stifte aus dem Büro. Man lässt sich krankschreiben statt Urlaub<br />
zu nehmen. Man leiht sich von e<strong>in</strong>er Freund<strong>in</strong> die Monatskarte und fährt umsonst.<br />
Man legt sich Ausreden parat, "es s<strong>in</strong>d alles nur Kle<strong>in</strong>igkeiten". Doch diese<br />
entwickeln mit der Zeit e<strong>in</strong> Eigenleben. Man verliert die Übersicht. Wenn man wach<br />
wird, ist es mitunter zu spät. Man hat dann Privatkonditionen für e<strong>in</strong>en Hauskredit<br />
akzeptiert. Hat sich mit zu viel Promille h<strong>in</strong>ter das Lenkrad gesetzt. Oder man steht<br />
im Supermarkt an der Kasse und es liegt nicht alles auf dem Band.<br />
Im ersten Moment sieht es so aus, als gäbe es ke<strong>in</strong> Zurück. Das war bei mir auch so.<br />
Me<strong>in</strong> E<strong>in</strong>kauf war gescannt und die Kasse zeigte die Summe an. H<strong>in</strong>ter mir<br />
ungeduldige M<strong>in</strong>en. Jetzt aus der Manteltasche hervorkramen, was da nicht<br />
h<strong>in</strong>gehört? Es aufs Band legen, im Beise<strong>in</strong> aller? Das habe ich nicht fertig gebracht.<br />
Ich b<strong>in</strong> durch die Kasse gegangen ohne mir etwas anmerken zu lassen. Dann b<strong>in</strong> ich<br />
zurück <strong>in</strong> den Laden und habe <strong>in</strong>s Regal gestellt, was mir nicht gehörte.<br />
Es gibt Fehlverhalten, das darf nicht passieren, es passiert trotzdem.<br />
Soll man es zugeben? Soll man es als Pfarrer zugeben, öffentlich, auch wenn e<strong>in</strong>en<br />
ke<strong>in</strong>er danach fragt? Enttäusche ich damit nicht die Erwartungen, die man <strong>in</strong> mich<br />
setzt, <strong>in</strong> mich und me<strong>in</strong> Amt? ich b<strong>in</strong> mir nicht sicher. Mitunter kann man ja auch<br />
etwas schuldig bleiben, wenn man von e<strong>in</strong>er Erfahrung schweigt, die man mit sich<br />
selbst gemacht hat. Es gibt e<strong>in</strong>en, der sieht, der sieht, was sonst ke<strong>in</strong>er sieht. Er ist<br />
auch <strong>in</strong> der Lage, zu verstehen, was sonst niemand versteht. Er weiß, wie Menschen<br />
sich verstricken können. Er wartet darauf, dass sie umkehren und sich frei machen.<br />
Ich habe damals me<strong>in</strong>en gesamten Alltag e<strong>in</strong>er gründlichen Revision unterzogen.<br />
Stück für Stück habe ich mich aus e<strong>in</strong>em Dickicht von kle<strong>in</strong>en Unaufrichtigkeiten<br />
befreit, immer mit der Vorstellung: Gott sieht. Er sieht, wie ich mich anderen<br />
gegenüber verhalte, er sieht, wie ich me<strong>in</strong> Leben führe. Eigentlich banal, eigentlich<br />
K<strong>in</strong>derglaube. Aber er trägt mich. Und er hilft mir Tag für Tag, Grund <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Leben<br />
zu br<strong>in</strong>gen.<br />
Ihnen allen e<strong>in</strong>en guten Abend und e<strong>in</strong>en gesegnete Woche.<br />
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Beiträge zum „Wort zum Sonntag“ von Ulrich Hahn (UH) am 14.1..2012 .<br />
119
Fragen und Argumente aus der Diskussion e<strong>in</strong>er ea-Gruppe im Januar 2012<br />
UH kann auf diese Weise auf aktuelle Ereignisse e<strong>in</strong>gehen („Fehler“ von<br />
Bun<strong>des</strong>präsident Wulff und M. Käßmann), ohne die Namen zu nennen.<br />
Könnte es se<strong>in</strong>, dass die Geschichte von UH erfunden wurde? („E<strong>in</strong> Pfarrer tut so<br />
etwas doch nicht.....“<br />
Wäre es besser, wenn der „Ladendieb“ <strong>in</strong> der Geschichte ke<strong>in</strong> Pfarrer wäre? Es ist<br />
e<strong>in</strong> wichtiger Aspekt <strong>des</strong> Themas „Fehlverhalten“, dass es – natürlich – auch bei<br />
Pfarrern vorkommt. Aber sollte er nicht e<strong>in</strong>e Beschädigung <strong>des</strong> Ansehens von<br />
Pfarrern vermeiden?).<br />
Die Ansprache regt an zu überlegen, warum jemand im Laden stiehlt: Bedürftigkeit,<br />
Armut, weil es so leicht möglich ist, testen, auch mal über die Stränge schlagen,<br />
Kleptomanie? Ändert das etwas an der Bewertung?<br />
Das (oft zur Entschuldigung oder Abschwächung von Vorwürfen angeführte)<br />
Argument „Jeder macht mal e<strong>in</strong>en Fehler“ wird nicht verwendet. Soll gezeigt werden,<br />
dass auch Christen nicht ohne Fehler s<strong>in</strong>d?<br />
Warum und wie kommt Gott <strong>in</strong> der Ansprache vor? (auch nicht-personal?)<br />
Er ist eigentlich nicht nötig, weil die Bewertung von (Laden-) Diebstahl durch Moral<br />
und BGB geregelt ist.<br />
Ist Gott strenger als das Gesetz und die Moral, verlangt er noch mehr?<br />
Früher wirkte Gott als Verstärker von Schuldgefühlen, <strong>in</strong>sbesondere immer dann,<br />
wenn Fehlverhalten nicht bekannt wurde. Gesellschaftliche Missbilligung wurde<br />
dadurch weit über die tatsächliche Kontrolle h<strong>in</strong>aus verstärkt.<br />
Gott als Kontroll<strong>in</strong>stanz wurde besonders bei der Erziehung „benutzt“, aber es gab<br />
auch den „lieben Gott“. Auf die Aussage „Gott sieht alles“ verzichten?<br />
„K<strong>in</strong>derglaube“ ist jedenfalls nicht „banal“.<br />
In der Ansprache sieht Gott - was sonst ke<strong>in</strong>er sieht, niemand versteht – , aber er<br />
handelt nicht.<br />
Das Bewusstse<strong>in</strong> von Gottes Allgegenwart (und die Er<strong>in</strong>nerung daran) bewirkt (auch<br />
ohne se<strong>in</strong>e Anwesenheit sozusagen als Person) e<strong>in</strong> Wahrnehmen größerer<br />
Wirklichkeit, das Erkennen e<strong>in</strong>es weiteren Zusammenhangs: Es kommen mehr<br />
Aspekte und Perspektiven <strong>in</strong> den Blick: Nicht nur der Wert <strong>des</strong> gestohlenen<br />
Gegenstan<strong>des</strong>, auch die berechtigten Interessen der Supermarktbetreiber, die der<br />
anderen Kunden, die Unwirksamkeit schneller möglicher Entschuldigungen und<br />
Erklärungen,<br />
Denken an Gott kann (wie bei dem Sprecher) Anlass zu e<strong>in</strong>er gründlichen Revision<br />
<strong>des</strong> gesamten Alltags se<strong>in</strong>. . Es geht nicht mehr nur um den Wert <strong>des</strong> Gestohlenen,<br />
den e<strong>in</strong>maligen Vorfall, es zeigt sich e<strong>in</strong> größerer Zusammenhang. Das muss nicht<br />
nur mit dem Wort „Gott“ bezeichnet werden, das menschlich-persönliche<br />
Vorstellungen hervorruft (Gott sieht, hört, tut, trägt,.....); aber es anders zu sagen ist<br />
schwierig.<br />
120
Das zusammenfassende Symbolwort „Gott“ be<strong>in</strong>haltet Assoziationen wie Gott als<br />
Richter (es kann alles anders beurteilt werden als ich es tue, als wir es tun), als (nicht<br />
nur me<strong>in</strong>, sondern aller Menschen) Vater, der trotz Fehlverhalten liebt und vergibt.<br />
Davon „non-theistisch“ zu reden ist schwer, aber viele versuchen es schon und<br />
lernen es zunehmend. Das Wort zum Sonntag zeigt trotz der Kürze Ansätze dafür,<br />
<strong>in</strong>dem Wirkungen <strong>des</strong> personalen Gottesglaubens genannt werden.<br />
Um zu vermeiden, Gott <strong>in</strong> diesem Fall als Angst machende Drohperson <strong>in</strong>s Spiel zu<br />
br<strong>in</strong>gen, wäre es besser, zuerst Auswirkungen <strong>des</strong> Gottesbewusstse<strong>in</strong>s zu nennen<br />
und erst dann den Namen (Gott) zu erwähnen.<br />
Simon (16): Wenn ke<strong>in</strong> Schaden entsteht (er hat es ja zurückgelegt) sollte das<br />
genügen. Falls er aber gefragt wird, sollte er es offen zugeben. (Gott wird <strong>in</strong> diesem<br />
Kommentar nicht erwähnt, es geht nur um die ethische Bewertung).<br />
„die kle<strong>in</strong>bürgerliche gewissensbefragung, das vorbild-se<strong>in</strong>-müssen, die notlösung<br />
(zurück-geben) – das ist nur modal.<br />
Dass e<strong>in</strong> christlicher gort alles sieht, dass die christlichen glaubensvorschriften<br />
(diebstahlverbot) nicht der realität entsprechen könnten, wird nicht mal angedeutet.<br />
Was und wer begeht <strong>in</strong> unserer welt welchen diebstahl? Wo liegt die verantwortung,<br />
was wären die varianten me<strong>in</strong>es persönlichen handelns im s<strong>in</strong>ne von „welt-ethos“?<br />
Gegenüber dem k<strong>in</strong>derglauben wäre (m)e<strong>in</strong>e gesellschaftliche forderung: wort zum<br />
sonntag <strong>in</strong> den bibelkanal verlegen oder jeden samstag e<strong>in</strong>e andere<br />
religionsgeme<strong>in</strong>schaft „zu Wort“ kommen lassen.<br />
Zum „Wort zum Sonntag“ von Ulrich Haag (UH) am 14.1..2012 .<br />
von Re<strong>in</strong>hard Craemer, Nürnberg<br />
E<strong>in</strong> gutes Wort. E<strong>in</strong> Mensch – Pfarrer oder nicht Pfarrer tut nichts zur Sache – hat<br />
sich falsch verhalten. Sehr nachvollziehbar. Sicher von vielen ähnlich erlebt.<br />
Dieser Mann aber hat Gewissen.<br />
Er stellt sich se<strong>in</strong>em Gewissen.<br />
Er br<strong>in</strong>gt sogar den Mut auf, se<strong>in</strong> Fehlverhalten zu korrigieren!<br />
„NEIN: er ist nicht mutig, sondern legt das heimlich zurück: ironisch gesprochen<br />
schleicht er sich davon und macht se<strong>in</strong> (muss ja gar nicht von anderen als fehl-)<br />
„Fehlverhalten“ unsichtbar – für die Welt.“<br />
Vorbildlich, allen Respekt!<br />
Der Mann hat autonom gehandelt, sich also moralisch verhalten.<br />
Warum da noch die religiöse Metapher „Gott sieht“. Nur weil es e<strong>in</strong> „Wort zum<br />
Sonntag“, also zum Tag <strong>des</strong> Herrn ist? Da wäre e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis auf e<strong>in</strong> Wort <strong>des</strong><br />
„Herrn“ Jesus s<strong>in</strong>nvoller. Zum Beispiel Mt 7,12: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch<br />
die Leute tun sollen, das tut ihnen auch.“ Du willst nicht bestohlen werden, also lass,<br />
121
was du nicht bezahlt hast, im Geschäft liegen; oder br<strong>in</strong>g´s, wenn´s auch schwer fällt,<br />
wieder zurück.<br />
„Ich überlege / fantasiere mal e<strong>in</strong>e alternative:<br />
die kapitaleigner <strong>des</strong> supermarkts beuten weltweit aus; sie bestehlen menschen um<br />
besseres leben. Ich kaufe im supermarkt, d.h. Beteilige mich an diesen<br />
machenschaften. Gebe ich das zurück? Wäre e<strong>in</strong>e spende oder e<strong>in</strong> protest oder e<strong>in</strong>e<br />
gegenaktion e<strong>in</strong>e lösung? Vgl. sich freikaufen für flugreisen.<br />
Auf der 2. ebene klauen: o.k. Mit dem kategorischen imperativ, weiter könnte die<br />
wirkungsüberlegung führen: a) verhalte dich so, dass es dir persönlich nach der<br />
handlung besser geht. b) der supermarkt erhöht den preis auch durch umlegen der<br />
verluste aus dem klauen – also gesellschaftliche wirkungen bedenken“.<br />
Oder sollte es doch e<strong>in</strong> ernst geme<strong>in</strong>ter Rückgriff auf „Gott“ als die metaphysische<br />
Droh-Instanz der schwarzen Pädagogik se<strong>in</strong>, also das Angst machende „Wehe, Gott<br />
sieht dich!“ – Dann wäre es auf verheerende Weise falsch.<br />
Denn:<br />
Erstens haben die Kirchen den christlichen Glauben lange genug dazu missbraucht,<br />
die Menschen unter e<strong>in</strong>en völlig unchristlichen Angstdruck zu setzen mit Fegefeuer,<br />
Höllenfeuer und Jüngstem Gericht. Ke<strong>in</strong> Zweifel, dass man damit Menschen leichter<br />
manipulieren, beherrschen, notfalls ausbeuten kann.<br />
Und zweitens wäre die moralisch wertvolle Haltung <strong>des</strong> im Sonntagswort beschriebenen<br />
Menschen völlig entwertet. Er hätte nicht autonom, se<strong>in</strong> Gewissen<br />
respektierend gehandelt, sondern lediglich e<strong>in</strong>em Angstdruck nachgebend gekuscht.<br />
E<strong>in</strong>e Haltung, die zu Zeiten der schwarzen Pädagogik weit verbreitet war. Man frage<br />
sich nur, mit welchen Konsequenzen! (Von uns Deutschen leidvoll erlebt.)<br />
Abschließend e<strong>in</strong>e mehr theologisch-grundsätzliche Würdigung jenes „Wortes zum<br />
Sonntag“.<br />
Die Vorstellung e<strong>in</strong>er supranatural, also metaphysisch gedachten „Gottperson“, die<br />
strafend und belohnend <strong>in</strong> das Weltgeschehen e<strong>in</strong>greift, ist aus mehreren Gründen<br />
fragwürdig geworden. Er<strong>in</strong>nert sei an Dietrich Bonhoeffer: „E<strong>in</strong>en Gott, den es gibt,<br />
gibt es nicht“. Oder an Paul Tillich: „Gott der Urgrund <strong>des</strong> Se<strong>in</strong>s“, bzw. „das Se<strong>in</strong><br />
Selbst“, jedenfalls aber „nichts Seien<strong>des</strong>“.<br />
Im Übrigen würde e<strong>in</strong> Gott, der gouvernantenhaft über menschliches Fehlverhalten<br />
wacht, nicht dem Gott Jesu entsprechen, der nach Mt 5,45 „se<strong>in</strong>e Sonne aufgehen<br />
lässt über die Bösen und über die Guten, und lässt regnen über Gerechte und<br />
Ungerechte“.<br />
Der „Urmacht Gott“, dem Gott, „von dem wir alles haben“, den wir als „Quelle <strong>des</strong><br />
Lebens“ verehren, würden wir Menschen <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise entsprechen, würden wir<br />
nur <strong>in</strong> angstbesetztem Gehorsam vor ihm „kuschen“. Nicht erzwungener Gehorsam,<br />
sondern geschenktes und darum dankbares Vertrauen ist die ihm gegenüber<br />
angemessene Haltung. Vertrauen auf die Macht, die uns das Leben geschenkt hat<br />
und die uns – nach christlicher Hoffnung - auch im Tode nicht fallen lässt.<br />
122
Vertrauen also und Dank!<br />
„Ich danke dir, du Grund und Kraft me<strong>in</strong>es Lebens, dass du mir den Mut gegeben<br />
hast, zu me<strong>in</strong>em Fehlverhalten zu stehen und es – trotz aller Hemmungen – zu<br />
korrigieren.“ So oder ähnlich hätte das „Wort zum Sonntag“ schließen können.<br />
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Gottes Bild im Werden, <strong>in</strong>: Gott 9.0 von W. und M. Küstenmacher<br />
(„updatest“ von 1.0 bis 9.0)<br />
Zur Entwicklung von <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halten und Gottesvorstellungen<br />
dargestellt <strong>in</strong> dem Buch “Gott 9.0“ (Woh<strong>in</strong> unsere Gesellschaft spirituell wachsen<br />
wird)<br />
(von Marion und Werner Küstenmacher und Tilman Haberer,<br />
Gütersloher Verlaghaus, 2010)<br />
Überblick und Bewertung: (Im Folgenden und im Gesamttext wird auf das Buch Bezug genommen,<br />
se<strong>in</strong> Inhalt z.T. referiert und daraus, z.T ohne Angabe von Seitenzahlen und Anführungszeichen zitiert.)<br />
Nicht nur die Existenz mehrerer großer Religionen lässt erkennen, dass es<br />
Unterschiede bei den Vorstellungen von Gott und Göttern gibt. Auch Innerhalb der<br />
Religionen haben deren Gruppen und Mitglieder erheblich vone<strong>in</strong>ander<br />
abweichen<strong>des</strong> Gottesverständnis. Das geht z.T. auf die jeweiligen Gründer oder<br />
maßgeblichen Vertreter von Religionen zurück, aber es hat auch e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e<br />
Entwicklung von <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halten und Gottesvorstellungen gegeben. In dem Buch<br />
“Gott 9.0“ (von Marion und Werner Küstenmacher und Tilman Haberer, Gütersloher<br />
Verlaghaus, 2010) werden diese im Rahmen von aufe<strong>in</strong>anderfolgenden kulturellen<br />
Bewußtse<strong>in</strong>sstufen der Menschheit dargestellt, denen unterschiedliche<br />
Eigenschaften zugeordnet werden. Sie werden <strong>in</strong> vergleichbarer Weise sowohl von<br />
religiösen Gruppen wie auch von Individuen durchlaufen. Diese erklärende<br />
Übersicht kann helfen, die Unterschiede und Veränderungen beim <strong>in</strong>dividuellen und<br />
geme<strong>in</strong>samen Gottesglauben besser zu verstehen, Inhalte <strong>des</strong> eigenen <strong>Glaubens</strong><br />
weiter zu entwickeln und Missverständnisse bis h<strong>in</strong> zu Konflikten zu vermeiden.<br />
Die Zuordnung von Eigenschaften und Merkmalen zu den neun verschiedenen<br />
Bewusstse<strong>in</strong>sstufen ist zwar problematisch und die zeitliche Abgrenzung derselben<br />
nur <strong>in</strong> „etwa“ möglich; sie kann aber zur Strukturierung der religiösen<br />
menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsphasen beitragen und, wenn nötig, zu e<strong>in</strong>er<br />
Distanzierung von denselben verhelfen.<br />
In e<strong>in</strong>er Tabelle werden der menschheitsgeschichtlichen Dauer der verschiedenen<br />
Bewusstse<strong>in</strong>sstufen folgende Zeiträume (und Farben) zugeordnet:<br />
Version Stufe Beg<strong>in</strong>n etwa Merkmale<br />
123
Gott 1.0 BEIGE vor 100000<br />
Jahren<br />
Menschliche<br />
Wesen, nicht nur<br />
Tier se<strong>in</strong><br />
Gott 2.0 PURPUR vor 50000 Jahren Stammeskulturen,<br />
archaische Kunst,<br />
Magie<br />
Gott 3.0 ROT vor 10000 Jahren Truppen,<br />
Eroberungen,<br />
Königreiche<br />
Gott 4.0 BLAU vor 5 000 Jahren Staaten,<br />
Monotheismus,<br />
S<strong>in</strong>n für<br />
Transzendenz<br />
Gott 5.0 ORANGE vor 650 Jahren Mobilität,<br />
Volkswirtschaft,<br />
Forschung<br />
Gott 6.0 GRÜN vor 150 Jahren Menschenrechte,<br />
Kollektivismus,<br />
Umwelt<br />
Gott 7.0 GELB vor 60 Jahren Komplexität.<br />
Chaos,<br />
Interdependenz<br />
Gott 8.0 TÜRKIS vor 40 Jahren Globalismus,<br />
weltweite<br />
Vernetzung<br />
Gott 9.0 KORALLE heute Noch weitgehend<br />
unklar<br />
(Auch zu den Farben werden Assoziationen angegeben: e<strong>in</strong>e Anlehnung an unamerikanische<br />
Psychologen.)<br />
Das Bewusstse<strong>in</strong> aller Menschen durchläuft, so die zentrale These, ähnlich wie bei<br />
der phylogenetischen Entwicklung beim Embryo und Säugl<strong>in</strong>g, mehr oder weniger<br />
ausgeprägt diese Stufen. Es können sich dabei aber Verschiebungen dadurch<br />
ergeben, dass Eigenschaften e<strong>in</strong>er höheren Stufe von manchen Menschen früher<br />
erreicht werden als ihrem Stand bei anderen Eigenschaften entspricht und<br />
umgekehrt bleiben Gläubige auf e<strong>in</strong>er älteren religiösen (Bewusstse<strong>in</strong>s-) Stufe<br />
zurück, obwohl sie sich gesellschaftlich oder wissenschaftlich erheblich weiter<br />
entwickelt haben.<br />
Vermutlich beurteilen viele Gläubige, Theologen und Religionsvertreter diesen<br />
Ansatz (schon im Blick auf se<strong>in</strong>e Sprache!) als unseriös, oberflächlich oder gar als<br />
gefährlich. Andere s<strong>in</strong>d begeistert über dieses unkonventionelle Herangehen an<br />
S<strong>in</strong>nfragen, bei dem rationales und theologisches Gottesverständnis mit<br />
transzendierender Spiritualität und mystischen <strong>Glaubens</strong>erfahrungen verbunden<br />
wird.<br />
124
Nachfolgend der Versuch e<strong>in</strong>er Darstellung hauptsächlich der Gott betreffenden<br />
Aussagen mit e<strong>in</strong>igen Fragen und Bewertungen im Text (z.T. kursiv) und am Ende.<br />
Das Grundverständnis: Religion als Deutungssystem<br />
Wo das System herkommt<br />
Der Anspruch ist ke<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gerer als der, die gesamte geistige Entwicklung der<br />
Menschheit e<strong>in</strong>zubeziehen. Es geht um e<strong>in</strong>en Zeitraum von über 100 000 Jahren und<br />
e<strong>in</strong>e Gesamtzahl von über 100 Milliarden Menschen. Für uns heute geht es darum,<br />
sich <strong>in</strong> den zahllosen Strömungen unserer Zeit durch diese Systematisierung, die<br />
gezielt auf unsere digitale Gegenwart <strong>des</strong> „web 2.0“ anspielt, besser zurechtzuf<strong>in</strong>den.<br />
Das angewandte Deutungssystem basiert auf der von amerikanischen<br />
Wissenschaftlern entwickelten Ebenentheorie, die (weil „bisher noch von<br />
niemandem“) für Kirche und Spiritualität nutzbar gemacht werden soll.<br />
Die den Ebenen entsprechenden zyklisch auftretenden Bewusstse<strong>in</strong>sstufen werden<br />
e<strong>in</strong>erseits mit (bis zur Jetztzeit 10) Zahlen, andererseits mit Farben bezeichnet, die<br />
bei der Zuweisung von Eigenschaften als Kürzel dienen. Das Gottesbild ist dann<br />
jeweils e<strong>in</strong> Teil dieser Entwicklungsstufe.<br />
Die dafür erforderliche Typisierung von Gottesbildern wird nicht weiter<br />
problematisiert, sie erfolgt mit e<strong>in</strong>er gewissen Selbstverständlichkeit offenbar auf<br />
Grund von E<strong>in</strong>schätzung und Zuordnung historischer und gegenwärtiger<br />
Phänomene. Sie wird z. T. dadurch relativiert, dass bei Individuen und Gruppen<br />
Eigenschaften von verschiedenen Bewusstse<strong>in</strong>sstufen gleichzeitig vorhanden und<br />
wirksam se<strong>in</strong> können.<br />
E<strong>in</strong>e Stufe erklärt jeweils den Durchschnitt. Frühere Stufen s<strong>in</strong>d stärker.<br />
E<strong>in</strong>e Kurzfassung der Stufen <strong>in</strong> Stichworten und mit Farben ist dem Buch als Tabelle<br />
beigegeben:<br />
Der Übergang von e<strong>in</strong>er Stufe zur anderen wird mit „updatest“ verglichen, wie es sie<br />
bei Computerprogrammen gibt. Auch die Neuentwicklungen dort machen nicht alle<br />
sofort mit. Viele arbeiten mit älterer software, bis sie sich mit neuer hardware<br />
e<strong>in</strong>richten. So entsteht e<strong>in</strong> Problem, wenn neuere Versionen nicht mehr mit älteren<br />
kompatibel s<strong>in</strong>d. Dieses Beispiel kann direkt auf die Gottesvorstellungen angewandt<br />
werden. Bei der Entwicklung <strong>des</strong> Bewusstse<strong>in</strong>s kann (nach „Gott 9.0) ke<strong>in</strong>e<br />
übersprungen werden. Es müssen die jeweils nächsten mitgemacht werden. E<strong>in</strong><br />
Mensch könne nicht wie e<strong>in</strong> Computer als ganzer e<strong>in</strong> neues Betriebssystem erhalten.<br />
Se<strong>in</strong> Bewusstse<strong>in</strong> sei komplex, werde lebenslang geformt, bestehe aus mehreren<br />
Bereichen (Beruf, Partnerschaft, Sport, Philosophie). Glücklicherweise sei der<br />
Mensch e<strong>in</strong> (von Gott geschaffenes) lernfähiges Individuum.<br />
Die menschliche Entwicklung ist von der Lebenspraxis und den vom Individuum dazu<br />
angestellten Reflexionen bestimmt. Sie wird als e<strong>in</strong>e spiralförmige Entwicklung zu<br />
„Höherem“ dargestellt. Die <strong>in</strong>dividuelle Entwicklung hat e<strong>in</strong>en bestimmten<br />
125
Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung – und dies gilt ebenso<br />
umgekehrt. Stufen s<strong>in</strong>d Lebensstationen. Es geht dabei nicht immer zw<strong>in</strong>gend<br />
aufwärts. Individuelle und gesellschaftlich s<strong>in</strong>d auch Regression z.B. Kriege,<br />
Naturkatastrophen, bzw. Krankheiten, Arbeitslosigkeit.<br />
Viele Menschen (und auch Gesellschaften) entwickeln sich <strong>in</strong> ihrer Zeitspanne nur<br />
bis zu e<strong>in</strong>er bestimmten Stufe, andere wandern weiter.<br />
Das Zusammenspiel zwischen Individuum und Gesellschaft konkretisieren die<br />
Autoren als e<strong>in</strong> Ich-Wir-Pendel zwischen den Stufen. Es schw<strong>in</strong>gt zwischen e<strong>in</strong>er<br />
stärkeren Betonung der Selbstunterstützung und dem Selbstopfer h<strong>in</strong> und her. Das<br />
Pendel selbst schw<strong>in</strong>gt nicht auf e<strong>in</strong>er Ebene, sondern kreist. Daher erzeugt es <strong>in</strong> der<br />
gedachten Aufwärtsbewegung e<strong>in</strong> „hochschrauben“ im Wechsel von ich – wir –<br />
Bewußtse<strong>in</strong>sstufen.<br />
Mit dem Ende von Stufe 6.0 - grün wird noch die aufteilende Unterscheidung von<br />
Rängen e<strong>in</strong>geführt: Die ersten sechs Stufen s<strong>in</strong>d Antworten auf Mangelbedürfnisse<br />
<strong>des</strong> Menschen und der entsprechenden historischen Formation. Die im zweiten Rang<br />
folgenden drei Stufen beziehen sich auf die Se<strong>in</strong>sbedürfnisse. Dieser Rang kann<br />
musikalisch begriffen werden als e<strong>in</strong> erneutes Durchspielen <strong>des</strong> ersten Ranges auf<br />
e<strong>in</strong>er höheren Oktave.<br />
E<strong>in</strong>zelzuweisungen.<br />
Wenn man sich auf die Abgrenzungen zwischen unterschiedlichen<br />
Entwicklungsstadien beim Gottesverständnis e<strong>in</strong>lassen will, haben die <strong>in</strong> Gott 9.0<br />
vorgestellten e<strong>in</strong>e beachtliche Plausibilität. Sie erlauben es, historische Ereignisse<br />
e<strong>in</strong>zuordnen und sich auch selbst damit zu identifizieren oder sich davon zu<br />
distanzieren. (Allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> dieser Theorie nur soweit, als dem nicht Anteile dieser<br />
Stufeneigenschaften im eigenen Bewusstse<strong>in</strong> entgegenstehen).<br />
Gott 1.0 (beige)<br />
Bei 1.0 geht es zunächst ums re<strong>in</strong>e Überleben e<strong>in</strong>es Menschen oder e<strong>in</strong>er Gruppe<br />
am Anfang (und oft am Ende) <strong>des</strong> Dase<strong>in</strong>s.<br />
Gott ist Urzustand und E<strong>in</strong>heit. Es ist schwierig, auf dieser Stufe überhaupt von<br />
„Gott“ zusprechen. Gott wird als die unreflektierte unbewusste Grundlage unserer<br />
Seele verstanden. Gott ist noch nicht entfaltet, sondern noch e<strong>in</strong>gefaltet <strong>in</strong> die<br />
Materie, <strong>in</strong> die er sich später <strong>in</strong>karniert, auf die er sich e<strong>in</strong>gelassen hat, <strong>in</strong>dem er<br />
Mensch geworden ist. Bilder dafür s<strong>in</strong>d der Säugl<strong>in</strong>g <strong>in</strong> der Krippe, strömende Milch,<br />
Urgeste <strong>des</strong> Nährens, die Güte, das F<strong>in</strong>delk<strong>in</strong>d.<br />
Leben beg<strong>in</strong>nt mit dem Individuum. Daher ist beige als 1. Stufe „ich“. Das Überleben<br />
<strong>des</strong> Individuums bedarf der Pflege, die e<strong>in</strong>e starke Geme<strong>in</strong>schaft leistet (der Wir-<br />
Anteil <strong>in</strong> dieser Stufe).<br />
Die Urgeste <strong>des</strong> Nährens zieht sich auch durch das ganze Erwachsenenleben Jesu.<br />
Er sorgt für Getränke, verteilt Brot, sättigt mehrere Tausend Menschen, hilft beim<br />
Fischfang. Er kümmert sich um den Körper, berührt Kranke, umarmt Aussätzige,<br />
lässt se<strong>in</strong>en Jünger Johannes an se<strong>in</strong>er Brust liegen wie e<strong>in</strong>e Mutter ihr K<strong>in</strong>d.<br />
126
All das vers<strong>in</strong>nbildlicht Gottes elementare Zusage zu Beige. Jesus identifiziert sich<br />
mit der Existenz an sich und macht se<strong>in</strong>en Jüngern die elementare Zusage: »Ich lebe<br />
und ihr sollt auch leben« (Johannes 14, 19). Und er h<strong>in</strong>terlässt se<strong>in</strong>en Freunden als<br />
Er<strong>in</strong>nerungszeichen die Urgeste <strong>des</strong> Nährens: das geme<strong>in</strong>same Mahl.<br />
Gott 2.0 (Purpur)<br />
Stufe 2 ist gekennzeichnet durch folgende Stichworte: Im Zauberreich <strong>des</strong> K<strong>in</strong><strong>des</strong>,<br />
Überleben durch Kooperation, alles für me<strong>in</strong>en Clan, Erkennungszeichen Kreis,<br />
Aufkommen von Ritualen und Initiationen, Fruchtbarkeit als göttliche Gunst, Magie,<br />
Esoterik.<br />
Woh<strong>in</strong> gehen die Toten? Die Menschen stehen vor dem Rätsel <strong>des</strong> To<strong>des</strong>. Intuitiv<br />
erfassen sie, dass Energie nicht verloren gehen kann, und gehen davon aus, dass<br />
die geistige oder seelische Energie, die den Körper verlassen hat, irgendwoh<strong>in</strong><br />
reisen muss. Es gibt noch ke<strong>in</strong>e Vorstellung, wo genau das se<strong>in</strong> könnte - e<strong>in</strong> Himmel<br />
oder e<strong>in</strong> Ha<strong>des</strong>.<br />
Nach dem Ende der Säugl<strong>in</strong>gszeit ist Kooperation überlebenswichtig. Daher ist die<br />
Stufe Purpur der Beg<strong>in</strong>n <strong>des</strong> Wir.<br />
Es ist e<strong>in</strong>e Welt voller Geister, Magier und Jenseits, Stammesgott von Abraham und<br />
Co.<br />
Der biblische Glaube hat starke Wurzeln im purpurnen Bewusstse<strong>in</strong>: Familiengott der<br />
Erzväter. Jakob r<strong>in</strong>gt mit e<strong>in</strong>em Mann.<br />
Es gibt jetzt heilige Objekte, Wunderheiler, auch e<strong>in</strong>ige Züge bei Jesus. Heute:<br />
Heilige Orte, Reliquien, Sakramente.<br />
Gott 3.0: (Rot)<br />
Von Purpur zu Rot sei es e<strong>in</strong> Übergang von der magische Schwelle zum Ich als<br />
Nabel der Welt. Die Menschen der späten Ste<strong>in</strong>zeit haben für diesen Schritt<br />
Jahrtausende gebraucht. In unserer Zeit Geborene vollziehen ihn zwischen dem<br />
zweiten und vierten Lebensjahr. Da erkundet das K<strong>in</strong>d die Grenzen se<strong>in</strong>er purpurnen<br />
Familie. Es testet, ob die Anweisungen und Verbote der Eltern wirklich gelten. Es<br />
stampft mit dem Fuß, schreit anfallartig oder ruft zornige Parolen „Ich will aber“ und<br />
„Ne<strong>in</strong>!“ Soll es vom kle<strong>in</strong>en König nicht zum Hochstuhltyrann werden, muss es<br />
Regeln und deren Anerkennung lernen.<br />
In der Gesellschaft gibt es jetzt Feudalismus und Lehnswesen. Streitbare Eroberer.<br />
Entschlossene Entdecker, Krieger. Rote Ritter.<br />
Die klassische Trotzphase ist e<strong>in</strong> leuchten<strong>des</strong> ICH. Die gesellschaftliche Sicht hebt<br />
entsprechend Individuen heraus. (E<strong>in</strong>e ganze Richtung der Geschichtsschreibung<br />
sche<strong>in</strong>t so bestimmt zu se<strong>in</strong>.)<br />
Aber doch auch, positiv gesehen: Ausbruch aus e<strong>in</strong>er zu kle<strong>in</strong>en Welt.<br />
Rebellion gegen die Mutter (Jesus: „Was geht es dich an, was ich tue?“ Jäh. 2).<br />
127
Es gibt zwar noch Kobolde, Hexen, Gespenster und Götter <strong>in</strong> der roten Welt, aber<br />
die machen e<strong>in</strong>ander Konkurrenz, ziehen mit ihren Völkern <strong>in</strong> den Krieg, die Juden<br />
mit Kriegsgott Jhwe. Die christliche Vorstellung <strong>des</strong> Jesu als Siegertyp ist hier<br />
verankert. Zu bedenken ist, wie sich das heute noch <strong>in</strong> missionarischen<br />
Zusammenhängen auswirken kann.<br />
Gott 4.0: (blau)<br />
Regeln lernen, Gesetz, Schrift und Organisation werden wichtig: Sich anpassen<br />
lernen. Es gibt Riesenreiche und Nationalstaaten, typisch s<strong>in</strong>d hierarchische<br />
Strukturen (oben und unten. Könige, Beamte, Priester), Das brachte Schutz gegen<br />
das Chaos.<br />
Gott ist der unsichtbare Allmächtige. Sündenbewusstse<strong>in</strong> und Ausgrenzung der<br />
Sünder, aber auch Barmherzigkeit durch Gesetz. Gott als der väterliche Erzieher.<br />
Es kommt zur Unterscheidung von guten und schlechten Varianten von<br />
Bewusstse<strong>in</strong>sstufen:<br />
Schlechtes Blau kann „fürchterliche M<strong>in</strong>derwertigkeitsgefühle erzeugen“,<br />
andererseits hat gerade die Mystik die Königswürde der Seele erfahren.<br />
Das richtige Verhalten von Blau orientiert sich an »der Heiligen Schrift«, welche die<br />
Normen vorgibt - Tora, Bibel oder Koran. Es können aber auch die »Worte <strong>des</strong><br />
Vorsitzenden Mao« se<strong>in</strong> oder die Vere<strong>in</strong>ssatzung. Was <strong>in</strong> dem Buch steht, muss<br />
buchstäblich befolgt werden und ist unbed<strong>in</strong>gt zu glauben. Die höhere Macht – Gott,<br />
die Partei, der große Vorsitzende, der Generaldirektor – garantiert S<strong>in</strong>n und Richtung<br />
und schirmt das System ab gegen Chaos und Widerspruch.<br />
Das kreisende Pendel durchschw<strong>in</strong>gt den „Wir-Pol“: die gesellschaftlich<br />
vorgegebenen Hierarchien bestimmen wesentlich den Wert <strong>des</strong> Individuums. Nach<br />
Schätzung der Autoren lebt die Hälfte der Weltbevölkerung <strong>in</strong> dieser<br />
Bewusstse<strong>in</strong>sstufe. „In Sachen Religion dürften es noch weit mehr se<strong>in</strong>.“<br />
Wie jede andere Stufe bekämpft Gott 4.0 die Stufe am meisten, die direkt unter ihr<br />
liegt.<br />
Pathologisch wird religiöses Blau, wenn es Allmachtsfantasien entwickelt und Regeln<br />
verkündet, sich selbst aber über die eigenen Regeln h<strong>in</strong>wegsetzt. Allzu strenge<br />
Regeln und Gesetze, fundamentalistische Kampftruppen und Apartheidsysteme<br />
übertreiben die an sich gesunden Blauen Ordnungen und können lebensfe<strong>in</strong>dlich<br />
werden. Insbesondere wenn das ursprüngliche rote Chaos besiegt ist, läuft die blaue<br />
Mentalität Gefahr, auszuarten. S<strong>in</strong>d da draußen ke<strong>in</strong>e natürlichen Fe<strong>in</strong>de mehr,<br />
werden die Fe<strong>in</strong>de im Inneren gesucht. Blau ist dann nicht mehr die Lösung, sondern<br />
das Problem.<br />
Es ist schmerzlich, aber wahr: Ungesun<strong>des</strong> Blau wirft <strong>in</strong> allen Religionen e<strong>in</strong>en<br />
rabenschwarzen historischen Schatten. Er breitet sich noch heute <strong>in</strong> allen Gläubigen<br />
aus, die mit Inbrunst davon überzeugt s<strong>in</strong>d, dass nur sie alle<strong>in</strong> die Wahrheit besitzen.<br />
128
Blau hat auf der positiven Seite e<strong>in</strong>e ungeheure geistige und soziale Leistung<br />
vorzuweisen. Gott 4.0 begründet die Traditionen der großen Weltreligionen. Sie alle<br />
brachten Millionen ernsthafte Gläubige hervor und sorgten für religiöse Anb<strong>in</strong>dung<br />
aller Schichten. Unter Blau gedeiht die sakrale Kunst; Blau schreibt Bücher über das<br />
Wahre, Schöne und Gute; Blau erbaut Synagogen, Tempel, Kirchen und Moscheen;<br />
Blau komponiert Oratorien und s<strong>in</strong>gt gregorianische Choräle; Blau stiftet erhabene,<br />
feierliche Momente. Das Symbolverständnis der Menschen wächst, jede<br />
Lebenserfahrung wird zeichenhaft erfasst und mit tieferem S<strong>in</strong>n gedeutet. Die<br />
Heilssakramente werden verwaltet und ausgeteilt. Die heiligen Riten, Zeremonien<br />
und Gottesdienste werden liturgisch durchstrukturiert.<br />
Gott 5.0 (Orange)<br />
Die Bewusstse<strong>in</strong>sstufe entspricht beim Menschen der Altersstufe der Pubertät.<br />
Er steht an der Schwelle <strong>des</strong> vernünftigen Erwachsenen, ist zukunftsbetont, geht<br />
mehr Risiken e<strong>in</strong>. Die Menschen genießen ihre Unabhängigkeit und Beweglichkeit.<br />
Das entspricht dem großen geistigen Schritt vom Mittelalter <strong>in</strong> die Neuzeit. In Europa<br />
kommt es zur Aufklärung und zu Revolutionen, zur Reformation Mart<strong>in</strong> Luthers (als<br />
„upgrade“ für den Glauben). Vorboten dazu kann man schon im alten Griechenland<br />
sehen.<br />
In der abendländischen Gesellschaft gew<strong>in</strong>nen Banken, Künstler und Fabriken<br />
zunehmende Bedeutung.<br />
Die Menschenrechte werden <strong>in</strong> der Unabhängigkeitserklärung der USA als<br />
Naturrecht verstanden, Auf zahlreichen Gebieten haben Pioniere erste Erfolge. Die<br />
Welt wird vermessen.<br />
Entwicklungspsychologisch ist die Pubertät e<strong>in</strong>e plausible Ich-Stufe. Das<br />
gesellschaftliche Element der orange Bewusstse<strong>in</strong>sstufe zeigt sich im beg<strong>in</strong>nenden<br />
Kapitalismus. E<strong>in</strong>e Aufspaltung <strong>in</strong> wenige Gew<strong>in</strong>ner und viele Verlierer ergibt sich<br />
aus dem Effizienzpr<strong>in</strong>zip. Die Probleme vergrößern sich durch den Streit darüber,<br />
was „vernünftig“ sei. Derzeitiger Stand ist, dass e<strong>in</strong>e Wahrheit nur im Diskurs selbst<br />
läge.<br />
Für das Verständnis Gottes bedeutete das: Die Welt funktioniert auch ohne ihn. Der<br />
mythische Gott der Stufe 4.0 hat nach dem Verständnis von 5.0 ausgedient. Er setzt<br />
ke<strong>in</strong>e Naturgesetze mehr außer Kraft – die er doch angeblich selbst geschaffen hat.<br />
Die Aussage „Gott ist tot!“ beg<strong>in</strong>nt populär zu werden.<br />
Die Psychologie will verstehen, welche Wirkung das Wort »Gott«, e<strong>in</strong> bestimmtes<br />
Gottesbild oder religiöse Erfahrungen und Prägungen auf den Menschen haben. Hat<br />
e<strong>in</strong> Gottesbild e<strong>in</strong>e belebende oder verängstigende Wirkung auf das Selbst e<strong>in</strong>es<br />
Menschen? Vermittelt es ihm Energie, befreit es ihn aus e<strong>in</strong>er existenziellen Krise,<br />
schenkt es ihm Halt, Lebensfreude und S<strong>in</strong>n oder h<strong>in</strong>dert es gar daran? Und wo<br />
kommt e<strong>in</strong> Gottesbild überhaupt her? Positiv gesehen ist Gott 5.0 die Kraft <strong>des</strong><br />
Lebens und die Liebe, die zwischen den Menschen lebt. So formuliert es auch die<br />
Bibel: "Gott ist Liebe“ (1. Johannesbrief 16), und das gilt nicht nur für die Liebe unter<br />
129
Menschen. S<strong>in</strong>n der universalen B<strong>in</strong>dungskraft und <strong>des</strong> universalen Antriebs ist es,<br />
immer höhere und komplexere Gestalten zu kreieren.<br />
Aber es gibt auch die Erfahrung: Gott ist anders. Er muss nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gegensatz<br />
zum neuen wissenschaftlich-rationalen Weltbild gesehen werden. Höchstens vor<br />
allem Anfang konnte er die Welt erschaffen haben, <strong>in</strong> der sich dann alles Weitere<br />
auch ohne se<strong>in</strong>en direkten E<strong>in</strong>griff entwickeln konnte. Nach G.F.Hegel steht Gott<br />
nicht als höchstes Wesen der Welt gegenüber (Theismus), sondern er wirkt<br />
dialektisch <strong>in</strong> ihr und mit ihr, als Weltgeist.<br />
S. Freud erklärt den Gottesglauben nunmehr als Auswirkung e<strong>in</strong>es überhöhten<br />
Vaterkomplexes; als hilfreiche Illusionen, die es jungen Menschen erlauben, sich zu<br />
entlasten, wenn sie ihre <strong>in</strong>fantilen Wünsche und Schuldgefühle auf die beiden<br />
Schutzmächte Vater-Gott und Mutter-Kirche projiziere können.<br />
Sogar von Theologen kam Kritik an der vorhergehenden Stufe <strong>des</strong> Gottesglaubens<br />
4.0: Der Neutestamentler R. Bultmann entwickelte se<strong>in</strong> Programm der<br />
Entmythologisierung, wogegen sich aber heftiger Protest derer richtet, die auf der<br />
religiösen Stufe 4.0 stehen.<br />
Mit protestantischen Dogmatikern wie Paul Tillich gelangte Theologie als<br />
akademische Wissenschaft zu neuen Erkenntnissen, es gelang aber nicht, diese <strong>in</strong><br />
die Breite umzusetzen.<br />
Gott ist jetzt (wieder) e<strong>in</strong> „verborgener Gott“: er ist nur jenseits der Sicherheit <strong>des</strong><br />
Kollektivs zu f<strong>in</strong>den. Das Judentum hat dazu Vorarbeit geleistet – der verborgene<br />
Gott wird <strong>in</strong> Jesaia. 45,15 sogar als Heiland bezeichnet.<br />
Unzählige Mystiker aus allen Weltreligionen betonen auch: Gott ist so verborgen,<br />
man muss ihn im eigenen Inneren suchen um se<strong>in</strong>e heilsame Kraft zu spüren.<br />
(Warum dies gerade dort se<strong>in</strong> soll, wird nicht begründet.)<br />
H<strong>in</strong>dernis ist dabei auf dieser Stufe 5.0 die Fixierung auf die Vernunft und den<br />
wissenschaftlichen Materialismus. Danach gibt es auf der Welt nichts als das<br />
Sichtbare und Fassbare - Gott ist nicht nötig.<br />
Der spirituelle Elan hat auf dieser Stufe zunächst ke<strong>in</strong> reflektiertes Woh<strong>in</strong>. Deshalb<br />
wird Ersatz bei Drogen oder Abtanzen im Club gesucht. Die Alternative dazu heißt <strong>in</strong><br />
orange:<br />
Transzendenz kann jetzt auf dem Weg nach <strong>in</strong>nen („H<strong>in</strong>reise“ bei Sölle) durch<br />
mystische E<strong>in</strong>übung <strong>in</strong> Meditation und Kontemplation gefunden werden.<br />
Daraus folgt auch e<strong>in</strong>e neuartige geistige Toleranz.<br />
Kennzeichen für die neue Stufe 5.0 bei Jesus ist: neue Freiheit vom Gesetz; er ist<br />
wahrer Mensch als „Menschensohn“, mit Selbstverantwortung und<br />
Selbstbestimmung (nicht als Gottessohn, Erlösergott, Kultgestalt, Herrscher, König).<br />
Für viele moderne Christen ist Gott 5.0 e<strong>in</strong>fach identisch mit der Person Jesus.<br />
»Wenn de<strong>in</strong> Gott tot ist, nimm doch me<strong>in</strong>en - ]esus lebt!«. Dieser Satz, seit den<br />
1980er-Jahren auf Autoaufklebern zu bewundern, ist nicht nur e<strong>in</strong> flapsiger Spruch.<br />
Es ist e<strong>in</strong>e gute Möglichkeit, sich <strong>in</strong> Zeiten der metaphysischen Verunsicherung an<br />
diese historische Gestalt zu halten, an den Mann aus Nazareth. Menschen auf der<br />
orange Stufe haben viele Fragen an das Leben und wollen darum wissen: Wie hat<br />
130
Jesus den 5.0 - Gott gesehen? Wie hat er die Menschen behandelt? Was kann man<br />
konkret von ihm als Mensch lernen?<br />
Es kommt zwar zu Konfessionalismus, aber auch zunehmend zu Religionsfreiheit.<br />
Religion wird auch säkularisiert und kommerzialisiert.<br />
Der Erfolg der katholischen Kirche beruht auf ihrer langen Tradition und der Kraft, die<br />
Stufen beige bis blau zusammenzuhalten. Der protestantische Erfolg dagegen beruht<br />
auf der Leistung, das 5.0 Freiheitstor zur Moderne aufgestoßen und damit mutig die<br />
nächste Bewusstse<strong>in</strong>sstufe erklommen zu haben.<br />
Aber beide werden <strong>in</strong> Gott 9.0 doch zu den Verlierern gezählt. Kirche und<br />
Konfession wird zur M<strong>in</strong>derheit. Die Beteiligung an Gottesdiensten und Ressourcen<br />
gehen zurück. Ihre Dienste werden vielfach nicht mehr benötigt. Manche Gläubige<br />
fühlen sich wie im Exil.<br />
Der bewusste und sorgfältig begleitete Übergang von blau (4.0) nach orange <strong>in</strong> den<br />
Geme<strong>in</strong>den ist heute überfällig. Hier liegen das dr<strong>in</strong>gendste Aufgabenfeld und das<br />
verborgene geistliche Wachstumspotenzial der Kirchen. Wachstum und Wandlung<br />
s<strong>in</strong>d christliche Grundkomponenten. Für die Individuen dieser Ich-Stufe s<strong>in</strong>d diese<br />
relativ leicht anwendbar – die Großorganisation Kirche tut sich ausgesprochen<br />
schwer damit.<br />
Gott 6.0 (grün)<br />
6.0 will, als Gegenprogramm zur nüchternen, wettbewerbsorientierten und effizienten<br />
5.0 Stufe, sensibel und friedfertig se<strong>in</strong>. Nicht rechnen und besiegen, sondern<br />
mitfühlen, spüren und empf<strong>in</strong>den.<br />
Bezugspunkte s<strong>in</strong>d: Schwierige Umstände, Liebe und Mitgefühl, Öffnung für neue<br />
Lebensformen (Lebensabschnittspartnerschaften, Familien werden zu Team, zur<br />
Schulfamilie). Grünes Bewusstse<strong>in</strong> versucht, mit ebenbürtiger und kompetenter<br />
Beteiligung zu e<strong>in</strong>em überzeugenden Konsens zu f<strong>in</strong>den. Hierarchien werden<br />
abgelehnt. Der Arbeitsstil ist prozessorientiert, partizipativ und kooperativ. Menschen<br />
entwickeln Empf<strong>in</strong>dsamkeit und Selbstwahrnehmung. Der Erfolg e<strong>in</strong>er Sitzung wird<br />
nicht <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er effektiven Lösung gesehen, sondern wenn sich alle<br />
wohlfühlen.<br />
Orange betrachtet die Welt als Rohstofflieferant, für grün ist es die wiederbeseelte<br />
Natur. In der Gesellschaft gilt: Flowerpower und Pazifismus. Ökologie und soziales<br />
Gewissen, Gewaltlosigkeit und Integration werden groß geschrieben.<br />
Grün geht über die b<strong>in</strong>äre Logik von 5.0 h<strong>in</strong>aus; auch die kontextabhängige (und<br />
damit relativierende) Wahrnehmung wird e<strong>in</strong>bezogen. Beispiel: Wenn vier<br />
Bl<strong>in</strong>dgeborene je e<strong>in</strong> Element e<strong>in</strong>es Elefanten betasten, so beschreiben sie ihn<br />
jeweils als was ganz anderes. Das grüne Bewusstse<strong>in</strong> versucht, die<br />
unterschiedlichsten Wahrnehmungen Gottes gleichzeitig zu würdigen und<br />
wertzuschätzen. Damit ist auch das Ende der Mission gekommen.<br />
Spiritualität wird praktiziert - aber nicht <strong>in</strong> religiösen Dogmen, sondern <strong>in</strong> Formen<br />
verschiedener spiritueller Richtungen.<br />
131
Dank <strong>des</strong> Wachstums <strong>in</strong> 5.0-orange braucht das Ich nun ke<strong>in</strong>e Angst mehr vor<br />
e<strong>in</strong>em strafenden Gott zu haben. Im Vordergrund steht Barmherzigkeit und<br />
Freundschaft mit Gott . Dem entspricht e<strong>in</strong>e geschwisterliche Kirche, wo man den<br />
gütigen, liebevollen Gott trifft. (Was aber z.B. bei der zunehmend pluralistischen<br />
Bibelauslegung Probleme verursacht.)<br />
Der Relativismus verlangt auch von der Theologie, dass sie sich bewusst wird, von<br />
wem und <strong>in</strong> welchem Umfeld (»Kontext«) Aussagen über Gott gemacht werden. So<br />
kritisiert die fem<strong>in</strong>istische Theologie, die sich seit den 1970er-Jahren verbreitet, die<br />
bisherige klassische wissenschaftliche Theologie: Sie sei durchweg aus der<br />
Perspektive von weißen, westlichen Männern aus der Mittelschicht verfasst. Es ist an<br />
der Zeit, e<strong>in</strong>e Theologie aus der Perspektive von Frauen dagegenzustellen. Die<br />
weiblichen Aspekte Gottes werden aufgespürt und weibliche Gottesaussagen <strong>in</strong> der<br />
Bibel entdeckt: Gott ist nicht nur Vater, sondern auch Mutter, Gebärenden oder<br />
Hausfrau.<br />
Auch »der« Geist ist <strong>in</strong> der hebräischen Bibel ke<strong>in</strong> männliches Wesen, sondern das<br />
hebräische Wort ruach ist weiblichen Geschlechts. So f<strong>in</strong>den die fem<strong>in</strong>istischen<br />
Theolog<strong>in</strong>nen neue Seiten an Gott. Die Bibel wird <strong>in</strong> gerechte Sprache übertragen,<br />
um alte Denkmuster aufzubrechen.<br />
Das grüne Bewusstse<strong>in</strong> 6.0 versucht, die unterschiedlichsten Wahrnehmungen<br />
Gottes gleichzeitig zu würdigen und wertzuschätzen. Das ist e<strong>in</strong>e der größten<br />
Errungenschaften dieser Bewusstse<strong>in</strong>sstufe. Nach den Differenzierungen,<br />
Verurteilungen und Spaltungen, die das Blaue Bewusstse<strong>in</strong> hervorgerufen hat.<br />
Für Grün haben darum alle Religionen ihre Berechtigung und wollen im Grunde<br />
dasselbe. Über Gott oder die letzte Wirklichkeit, die allem Denken zugrunde liegt und<br />
alle Vorstellungen überschreitet, können Menschen ohneh<strong>in</strong> nur <strong>in</strong> Bildern sprechen -<br />
und diese Bilder s<strong>in</strong>d alle nur zum Teil zutreffend.<br />
Mit dem Ende von Grün 6.0 wird noch die aufteilende Unterscheidung von<br />
Rängen e<strong>in</strong>geführt: Die ersten sechs Stufen s<strong>in</strong>d (nach Claire Grave) Antworten auf<br />
Mangelbedürfnisse, die zweiten sechs auf die Se<strong>in</strong>sbedürfnisse)<br />
Mit den folgenden Bewusstse<strong>in</strong>sebenen 7.0 bis 9.0 wird es möglich, den gesamten<br />
Weg der geistigen Entwicklung zu erkennen. Gelb, e<strong>in</strong>e Ich-Stufe, leitet den zweiten<br />
Rang e<strong>in</strong>, der die erreichten Bewusstse<strong>in</strong>sstufen auf e<strong>in</strong>er höheren Oktave<br />
durchspielt. Individuum und Gesellschaft haben nun den nötigen Überblick. Sie<br />
sehen, wie wertvoll und unentbehrlich jede der früheren Stufen war, weil jede <strong>in</strong><br />
lebensbedrohlichen Situationen den rettenden Ausweg geboten hat.<br />
Gott 7.0 (gelb)<br />
Die Entwicklungsstufe Gelb 7.0 ist systemisch <strong>in</strong>tegrierend, <strong>in</strong>sbesondere die drei<br />
sehr unterschiedlichen, aber gleichzeitig vertretenen Stufen blau - 4, orange - 5 und<br />
grün - 6.<br />
132
Der Mensch hat auf dieser Stufe immer weniger Angst, weil er alles Bisherige gut<br />
überblicken kann. „Es ist e<strong>in</strong> großer geistiger Schritt, alle bisherigen und zukünftigen<br />
Stufen ehrlich zu würdigen. Jeder Stufe hat der Mensch viel zu verdanken, er muss<br />
alle durchlaufen. Weil der Mensch dazu <strong>in</strong> der Lage ist, kann er auch mit Menschen<br />
anderer Stufen <strong>in</strong> ihrer jeweiligen Sprache kommunizieren. E<strong>in</strong> Wechsel zwischen<br />
den Gruppen wird von daher rückblickend akzeptiert; die Entwicklung positiv<br />
gesehen, weil sie besseres Leben ermöglicht.<br />
„Die Fähigkeit <strong>in</strong> Paradoxien zu denken ist gewachsen. Mit Paradoxien umzugehen<br />
ist e<strong>in</strong> herausragen<strong>des</strong> Kennzeichen der Bewusstse<strong>in</strong>sstufe Gelb.“<br />
Die christliche Tradition enthält e<strong>in</strong>e Menge paradoxer Aussagen, deren tiefe<br />
Weisheit auf der Gelben Bewusstse<strong>in</strong>sstufe erst richtig aufblühen wird. Die biblischen<br />
Autoren muten ihren Lesern nonduale Vorstellungen zu wie: Maria ist sowohl<br />
Jungfrau als auch Mutter. Der Ohnmächtige ist der Ermächtigte. Der Gescheiterte ist<br />
der Erlöser. Der Verwundete ist der Heiler. Jesus ist gestorben und auferstanden.<br />
Jesus ist zugleich Mensch und Gott.“<br />
Wie alle anderen Stufen reagiert auch Gelb hauptsächlich auf die Defizite der<br />
vorhergehenden.<br />
In der Gesellschaft gibt es mehr freie Interaktionen. Im Unterschied zu 6.0 - grün<br />
werden Wachstumshierarchien nun anerkannt, virtuelle Wirklichkeiten können<br />
wahrgenommen werden, mehr <strong>in</strong>tegratives Denken und Handeln wird möglich.<br />
Gott ist im Gefolge von Gelb nicht mehr (wie <strong>in</strong> Orange) „tot“, vielmehr s<strong>in</strong>d alle<br />
Religionen gleich wertvoll. Die Mystiker aller Religionen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ander näher als es<br />
e<strong>in</strong> Mystiker und e<strong>in</strong> fundamentalistischer Anhänger der orthodoxen Lehre <strong>in</strong>nerhalb<br />
derselben Religion se<strong>in</strong> können.<br />
Gegensätze fallen zusammen – wie wir das auch als co<strong>in</strong>cidentia oppositorum bei<br />
Nikolaus von Cues kennen.<br />
Diesen Gedanken entfaltet vor allem die Lehre von der Tr<strong>in</strong>ität. Es gibt nichts<br />
Besseres, um das dualistische Pr<strong>in</strong>zip der Zwei auszuhebeln, als das neon-duale<br />
Pr<strong>in</strong>zip der Drei. In der Tr<strong>in</strong>itätslehre begegnet man dem Gelben holografischen<br />
Weltbild. „Wie <strong>in</strong> jedem Teilstück e<strong>in</strong>es Hologramms das ganze Objekt zu sehen ist,<br />
ist <strong>in</strong> jeder der drei göttlichen Personen (Vater, Sohn, Heiliger Geist) die gesamte<br />
Gottheit enthalten. Diese drei Personen lassen sich nicht unterscheiden und müssen<br />
doch als eigenständige Personen betrachtet werden. Sie bilden e<strong>in</strong>e ganz besondere<br />
Art von E<strong>in</strong>heit, »nämlich die tr<strong>in</strong>itarische E<strong>in</strong>heit e<strong>in</strong>es <strong>in</strong> Freiheit ganz mite<strong>in</strong>ander<br />
geteilten Lebens, <strong>in</strong> dem die Differenzierung genauso wahr ist wie das E<strong>in</strong>sse<strong>in</strong>«.<br />
Alle drei göttlichen Personen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>s <strong>in</strong> ihrer Zuwendung zum Menschen. Das<br />
<strong>in</strong>nergöttliche Leben ist der Liebe gewidmet, die nichts für sich zurückbehält, sondern<br />
ganz aus sich herausgeht und sich vollkommen h<strong>in</strong>gibt.<br />
Aus dieser Sicht gew<strong>in</strong>nt die Vorstellung von der Dreifaltigkeit bzw. Dreie<strong>in</strong>igkeit<br />
Gottes neue Bedeutung.<br />
133
E<strong>in</strong>en starken Anteil an den Möglichkeiten dieser Stufe hat die Mystik mit ihrem<br />
besonderen „Leib“-Verständnis. Die wahre Würde der Menschen entsteht aber nicht<br />
dar<strong>in</strong>, Teil e<strong>in</strong>es Leibes zu se<strong>in</strong>, und wäre er e<strong>in</strong> mystischer, wäre er der Leib Christi.<br />
Vielmehr soll und kann der Christ die Ganzheit <strong>des</strong> mystischen Leibes Christi <strong>in</strong> sich<br />
selbst verwirklichen. (hier wird die Sprache manchmal schwärmerisch, euphorisch,<br />
überhöht, ohne Bezug zur allgeme<strong>in</strong> erfahrbaren Realität werden Behauptungen<br />
formuliert, die natürlich für die Verfasser – oder „E<strong>in</strong>geweihte“? - e<strong>in</strong>e gewisse<br />
Schlüssigkeit haben mögen. Später werden viele praktische Möglichkeiten<br />
aufgeführt, um diese mystischen Erfahrungen machen zu können).<br />
Gott 8.0 (türkis)<br />
Während die Stufe 2.0 mythisch alles mit allem verbunden sieht, entspricht türkisem<br />
Denken e<strong>in</strong> holistischer Ansatz.<br />
Es wird mit metanormalen und transpersonalen Fähigkeiten und e<strong>in</strong>em<br />
Transformationsvermögen <strong>des</strong> Körpers gerechnet („Körperweisheit“).<br />
Auf e<strong>in</strong>er kosmozentrischen Reflexionsebene ist die Verbundenheit von allem mit<br />
allem zu spüren.<br />
Der Mensch erzeugt durch se<strong>in</strong>e Wahrnehmung e<strong>in</strong> Konstrukt, das das eigene Ich<br />
verdeckt. Nur fraktaler und übersummativer Intelligenz ist es gegeben, auf e<strong>in</strong>er<br />
holistischen Wir-Stufe die neue Art von Geme<strong>in</strong>schaft zu entdecken.<br />
Wie e<strong>in</strong>erseits der Konstruktivismus logisch nur auf e<strong>in</strong>zelne Subjekte bezogen se<strong>in</strong><br />
kann, gew<strong>in</strong>nt diese Stufe <strong>des</strong> Wir im zweiten Rang gerade ihre Produktivität durch<br />
„Wissen entlang mite<strong>in</strong>ander verbundener Ganzheiten“. Es überw<strong>in</strong>det (natur- und<br />
geisteswissenschaftlicht) gefundene Wissenteile, verb<strong>in</strong>det Individuelles mit<br />
Kollektivem und Subjektives mit Objektivem.“<br />
Bei türkisem Denken ist globales Verantwortungsbewusstse<strong>in</strong> möglich. Die<br />
Menschheit wird als Superorganismus verstanden, die 7 Milliarden Menschen bilden<br />
ähnlich wie die Zellen e<strong>in</strong>es Körpers e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit zu e<strong>in</strong>er aufs Universale<br />
ausgerichteten kollektiven Intelligenz.<br />
Der Wechsel von e<strong>in</strong>er zu e<strong>in</strong>er anderen Bewusstse<strong>in</strong>sstufe führt auch zu e<strong>in</strong>er<br />
großen Instabilität. Deshalb kann über das Funktionieren <strong>des</strong> Betriebssystems 8.0<br />
noch nicht im Detail etwas gesagt werden.<br />
Daraus entwickeln sich aber bereits jetzt spontan völlig neue Formen physischer<br />
Gruppen (Flashmob) kurzfristig über Internet, Handy, facebook.<br />
Es muss gelernt werden, damit umzugehen. Denn es s<strong>in</strong>d ja auch prärational<br />
denkende Menschen mit unterwegs. Über digitale Plattformen können rücksichtslos<br />
Aggressionen geschürt werden. Dagegen entwickelt sich Weltethos (Hans Küng) und<br />
Weltbürgertum.<br />
Unsere Wahrnehmung hängt von unserer Grunde<strong>in</strong>stellung ab, „die“ Wirklichkeit an<br />
sich gibt es nicht. Jede unserer Betrachtungen br<strong>in</strong>gt jeweils e<strong>in</strong>e neue Weltdeutung<br />
hervor.<br />
Gott ist auf der Türkis-Stufe pures Bewusstse<strong>in</strong> oder Geist. Jetzt wird die gesamte<br />
Wirklichkeit zur Diaphanie, sie wird durchsche<strong>in</strong>end für die tiefere Realität, die nichts<br />
anderes ist als Geist oder Gott 8.0. Es gibt nicht hier Gott und dort Realität, sondern<br />
134
Gott ist vor, <strong>in</strong>, mit und unter allem, was ist oder was wir als Seien<strong>des</strong> erkennen und<br />
<strong>in</strong>terpretieren. Vergleichbare Erfahrungen bieten auch andere Religionen.<br />
Christliche Prozesstheologie kommt auf der Basis <strong>des</strong> Philosophie Alfred North<br />
Whitehead zu der Aussage: Das Universum ist e<strong>in</strong> Netzwerk von<br />
Entwicklungszusammenhängen. E<strong>in</strong>e „bewegte Ganzheit“, e<strong>in</strong> offenes Abenteuer<br />
Gottes, das den unzähligen E<strong>in</strong>zel-Ersche<strong>in</strong>ungen den Übergang <strong>in</strong> e<strong>in</strong> unendlich<br />
weit gespanntes Ganzes ermöglicht.<br />
Entsprechend der Ausweitung beim Gottesverständnis ist auch Christus auf Stufe 8.0<br />
der „kosmische Christus“. Als solcher ist er überall gegenwärtig, wo Schmerz<br />
erfahren wird. Das Symbol dafür ist das Kreuz.<br />
Aber Christus ist nicht nur der erlösende Mit-Leidende <strong>in</strong> jedem Geschöpf. Er ist<br />
auch der Strahlende, der Erleuchtete, der Auferstandene, der <strong>in</strong> Schönheit<br />
glänzende Spiegel göttlichen Geistes im Bewusstse<strong>in</strong> <strong>des</strong> Menschen. Als Gottes<br />
Glanz ist er das »Heilige Alles«, die Freude <strong>des</strong> Universums. Der kosmische Christus<br />
ist der Immanuel, der »Gott-mit-Unis« (Matthäus 1,23). Er schenkt die Heilige<br />
Allgegenwart und pure Präsenz Gottes an alle D<strong>in</strong>ge und Menschen weiter.<br />
Gott 9.0 (kralle)<br />
Bei den e<strong>in</strong>zelnen Stufen gibt es immer mehr Zuwachs vom Materiellen zum<br />
Geistigen. Auf der Stufe kralle, die wir heute erst als Potential erkennen, wird es<br />
neue Formen umfassender Kommunikation geben. Wie die Menschen im Jahr 1980<br />
es sich nicht träumen ließen, dass es 30 Jahre später im <strong>in</strong>teraktiven Internet<br />
virtuelle „soziale Netzwerke“ geben würde, so haben wir heute nur wenige Ahnungen<br />
der Situationen der Welt vom Jahr 2043. Schwer vorstellbar ist auch, wie sich die<br />
Qualität dieser neuen Ich-Stufe ausdrückt. Als Fortsetzung <strong>des</strong> Trends der Ich-Stufen<br />
1.0, 3.0, 5.0 und 7.0 wird das kreisende Pendel noch höhere Geistigkeit erzeugen.<br />
Zum Abschluss der Stufendarstellung e<strong>in</strong>e Bergbesteigung<br />
Mit Gott 9.0 – kralle schließt die Darstellung der Stufen. Die Autoren erzählen dazu<br />
e<strong>in</strong>e Geschichte vom Gottesberg, der von verschiedenen Gruppen und Seiten zu<br />
ersteigen ist – er wächst während jeder Besteigung und es stellt sich schließlich<br />
heraus, dass er ke<strong>in</strong>en Gipfel hat. Der Berg ist eigentlich gar ke<strong>in</strong> Berg, sondern es<br />
ist e<strong>in</strong> lebendiges Wesen, das sich mit jedem Menschen, der sich auf es e<strong>in</strong>lässt,<br />
weiter entwickelt. In 9.0 - kralle ist der Mensch e<strong>in</strong> Mensch für andere und das<br />
dualistische System (auch von Individuum und Gesellschaft) ist „aufgehoben“.<br />
Gott 9.0 muss sich erst noch entwickeln. Diese These bedeutet vielerlei und uns<br />
noch nicht Erkennbares. Sie ermöglicht z.B. die Folgerung, dass von Gott nur „fluid“<br />
gedacht werden kann. Unsere Aufgabe sei, den „spurlosen Weg f<strong>in</strong>den“.<br />
Logischerweise können die Autoren auf der Stufe 9.0 – kralle ke<strong>in</strong>e Beschreibungen<br />
liefern, sondern öffnen den „Raum durch Fragen“. Weil alles Leben e<strong>in</strong> Werden ist<br />
(Luther), s<strong>in</strong>d die Fragen permanent und revolutionärer als die Antworten.<br />
135
Hilfsl<strong>in</strong>ien und „Zustände“<br />
Die letzten 60 Seiten von „Gott 9.0“ fallen aus der bis dah<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gehaltenen<br />
Systematik heraus. Zunächst wird von vier L<strong>in</strong>ien gesprochen, die e<strong>in</strong>e Art<br />
Hilfskonstruktion zur E<strong>in</strong>schätzung e<strong>in</strong>er je konkret vorf<strong>in</strong>dbaren Bewußtse<strong>in</strong>sstufe<br />
darstellen. Wie schon der das Buch e<strong>in</strong>leitende Test e<strong>in</strong>e Selbstreflexion <strong>des</strong><br />
Lesenden ermöglicht, kann e<strong>in</strong>E Leser<strong>in</strong> nun über die von ihm/ihr erreichte Stufe auf<br />
den L<strong>in</strong>ien Intelligenz, Spiritualität, Emotionalität und Moral nachdenken mit dem Ziel,<br />
den Raum se<strong>in</strong>es/ihres Bewusstse<strong>in</strong>s (noch besser) zu ergründen. In<br />
psychologischer Manier wird jede L<strong>in</strong>ie noch <strong>in</strong> die Felder Erkenntnis, E<strong>in</strong>fühlung und<br />
Wollen unterteilt und e<strong>in</strong>e Verknüpfung zum Handeln empfohlen: es gelte die jüdischchristliche<br />
Weisheit „Das Se<strong>in</strong> ist dort, wo das Handeln ist“.<br />
Dann folgen Erläuterungen über vier „im Innern“ erlebbare Zustände. E<strong>in</strong> Ziel <strong>des</strong><br />
Buches sei: „Religiös aufgeklärt dank Stufen, spirituell erfahren dank Zuständen“.<br />
Der Lesende kann die Stufen der Außenwelt mit den Zuständen der Innenwelt<br />
korrelieren und e<strong>in</strong>e Tabelle der Versenkungsgrade studieren. Wer sich gleich e<strong>in</strong>em<br />
Tiefseetaucher <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>senke, könne den drei natürlichen<br />
Zustandserfahrungen <strong>des</strong> Wachse<strong>in</strong>s, Träumens und traumlosen Tiefschlafs den<br />
spirituellen Zustand der „Nichtzweiheit“ erfahren.<br />
Hier f<strong>in</strong>den die Mystiker ihren Platz: Auf jeder Stufe können mystische Erfahrungen<br />
gemacht werden, die Menschen stark prägen. Sie offenbaren ke<strong>in</strong> objektives Wissen<br />
und s<strong>in</strong>d nicht von Bildungsgrad oder sozialer Situation abhängig. Wesentlich sei es,<br />
zwischen Versenkungserfahrung und deren Deutung zu unterscheiden – hier wirken<br />
sich Reife und Reflexionsfähigkeit aus. Geschildert werden vier mystische<br />
Versenkungsgrade von grobstofflich/Natur über fe<strong>in</strong>stofflich/Gott und<br />
bilderlos/formlos zur nondualen E<strong>in</strong>heits-Mystik.<br />
Die drei Gesichter Gottes<br />
Bevor die Autoren sich noch zur Prä-Trans-(Rationalitäts-)Verwechslung, über den<br />
Beitrag der Religionen zum Wandel und dazu äußern, was uns erwarte, erläutern sie<br />
„Die drei Gesichter Gottes“. Diese Gottesvorstellung knüpft an Mart<strong>in</strong> Biber an und<br />
überw<strong>in</strong>det das Gegensatzdenken von personaler und apersonaler Gotteserfahrung.<br />
Erstens ist Gott erfahrbar als „Naturhaftigkeit“, die sich <strong>in</strong> allem darstellt, was uns als<br />
Natur bekannt ist.<br />
Zweitens begegnet Gott als „Personhaftigkeit“, von der alles menschliche Personse<strong>in</strong><br />
abstammt.<br />
Drittens erfährt man Gott als „Geisthaftigkeit“, <strong>in</strong> der alles se<strong>in</strong>en Ursprung hat, was<br />
wir Geist nennen.<br />
»Geist <strong>in</strong> der ersten Person ist das re<strong>in</strong>e Bewusstse<strong>in</strong> <strong>in</strong> uns, das se<strong>in</strong>e Identität<br />
mit dem allumfassenden Göttlichen erkennt. Die Trennung zwischen Schöpfer und<br />
Geschöpf ist aufgehoben. Man ruht <strong>in</strong> Gott als dem ursprünglichen Selbst, dem „ICH<br />
BIN der ICH BIN“ bzw. „ICH BIN, die ICH BIN“ und ist e<strong>in</strong>s mit Allem. »Ich und der<br />
Vater s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>s« heißt diese Erfahrung bei Jesus (Johannes 10,30). Jesus spricht<br />
selbst davon, dass jeder se<strong>in</strong>er Freunde diese Erfahrung machen kann.<br />
136
Geist <strong>in</strong> der zweiten Person ist das große Du, das große Ihr, der leuchtende,<br />
lebendige, ewig gebende Gott, dem ich mich <strong>in</strong> Liebe, Andacht, Opfer und Erlösung<br />
h<strong>in</strong>geben muss. «<br />
„Dieses göttliche Gegenüber ist nicht regressiv zu verstehen im S<strong>in</strong>ne <strong>des</strong><br />
berüchtigten alten Mannes mit weißem Bart, der auf e<strong>in</strong>er Wolke sitzt und wahlweise<br />
gütig lächelt oder Blitze schleudert. E<strong>in</strong> längst abgetanes Bild, 5.0 - orange hat<br />
gründlich damit aufgeräumt. Wenn Christen es schaffen, ihr Gottesbild zu re<strong>in</strong>igen<br />
von den traditionellen, mythischen Bildern und dadurch zu Zeugen werden für e<strong>in</strong>e<br />
authentische Erfahrung dieses großen Du, können sie sich und anderen e<strong>in</strong>en<br />
wichtigen Zugang zu Gott erschließen.<br />
Man kann GEIST <strong>in</strong> der zweiten Person dadurch erfahren, dass man Gott im<br />
Nächsten liebt und diesem ganz praktisch dient - e<strong>in</strong>fach so, ohne jede Forderung<br />
und H<strong>in</strong>tergedanken, als liebevolles Gegenüber.<br />
„Das dritte Gesicht Gottes wird erfahren als das »Große Es«, die große<br />
unpersönliche, evolutionäre Ordnung aller lebendigen Systeme oder das »Große<br />
Nest <strong>des</strong> Se<strong>in</strong>s«, das nichts ausschließt und alles <strong>in</strong> sich birgt. GEIST <strong>in</strong> der dritten<br />
Person wird oft als "Das Göttliche« umschrieben oder als »Das E<strong>in</strong>e«, Namenlose,<br />
Wirkliche, Unüberbietbare. Es begegnet als die unfassbare Tiefe <strong>des</strong> Se<strong>in</strong>s oder der<br />
absolute Urgrund unserer Existenz.<br />
Das Göttliche der dritten Person zeigt sich <strong>in</strong> allem Wahrgenommenen, der<br />
Schönheit der Natur, der Ästhetik e<strong>in</strong>er mathematischen Formel, den Bewegungen<br />
e<strong>in</strong>er Tänzer<strong>in</strong>. Die objektivierende Wissenschaft s<strong>in</strong>gt das Lied dieses<br />
manifestierten Gottes der äußeren Betrachtung und erforscht ihn im Erkennen se<strong>in</strong>es<br />
Wirkens: Tätiges Wirken, das Entdecken und Gestalten e<strong>in</strong>es sich entwickelnden<br />
Gottes bzw. e<strong>in</strong>er Gött<strong>in</strong>, der bzw. die Form, Fleisch und Gestalt angenommen hat.<br />
In der spirituellen Praxis hilft die Kontemplation, um sich dem GEIST <strong>in</strong> der dritten<br />
Person zuzuwenden. Hier wird über e<strong>in</strong> Objekt (Es) reflektiert, etwa über e<strong>in</strong><br />
fasz<strong>in</strong>ieren<strong>des</strong> Kunstwerk, die betörende Schönheit von Musik oder das<br />
geheimnisvolle Zusammenwirken <strong>des</strong> unendlichen Kosmos.<br />
Versuch e<strong>in</strong>er Bewertung<br />
• Der Ansatz <strong>in</strong> Gott 9.0 ermöglicht es konsequent, das Gottesverständnis <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Entwicklung zu sehen. Es wurden zwar schon bisher geschichtliche<br />
Veränderungsphasen unterschieden (wie z.B. Mythologie, Orthodoxie,<br />
Aufklärung, Pietismus, Postmoderne, pluralistische Religionstheologie), aber<br />
nicht Bewusstse<strong>in</strong>sstufen <strong>in</strong> historisch-systematischer Weise so<br />
religionsübergreifend ausformuliert. So ermöglichen es die Autoren, viele<br />
unterschiedliche Konzepte und Positionen e<strong>in</strong>zuordnen. Das kann beim<br />
Verständnis anderer Religionen helfen.<br />
• Kritisch zu sehen ist die Zuordnung von Ersche<strong>in</strong>ungsformen <strong>in</strong> den Stufen. Sie<br />
wirkt ziemlich willkürlich und kaum begründet, <strong>in</strong>sbesondere beim 2. Rang ab<br />
Gelb, (und man muss das ja nicht gleich alles auf das Universum anwenden).<br />
Darum sollte die von den Autoren behauptete Notwendigkeit <strong>des</strong> Durchlaufens<br />
137
der Stufen näher daraufh<strong>in</strong> untersucht werden, ob sie aus den<br />
Wissenschaftsfeldern (v.a. Psychologie), auf denen sie entstanden s<strong>in</strong>d, s<strong>in</strong>nvoll<br />
auf die Religionsgeschichte übertragen werden können.<br />
• Das Buch gibt mannigfaltige Anregungen, sowohl zum kritischen Nachdenken als<br />
auch zu positiven E<strong>in</strong>schätzungen, z.B. die Überw<strong>in</strong>dung <strong>des</strong> Gegensatzes<br />
zwischen personalem und nichtpersonalem Gottesverständnis, die Kritik der<br />
Ablehnung transrationaler Erfahrungen im wissenschaftlichen Denken seit der<br />
Aufklärung und der Ablehnung <strong>des</strong> Übergangs wenigstens von 4.0 - blau zu 5.0<br />
- orange <strong>in</strong> den Kirchen – auch <strong>in</strong> den protestantischen!.<br />
• Die logisch sich ergebenden H<strong>in</strong>weise auf die Mystik werden zwar als conditio<br />
s<strong>in</strong>e qua non vorgetragen, s<strong>in</strong>d dennoch <strong>in</strong> diesen „<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“ zu<br />
referieren und kritisch zu prüfen.<br />
II . Anlagen zum Verständnis <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong><br />
zurück zum Inhaltsverzeichnis der Anlagen<br />
Zurück zum Inhaltsverzeichnis<br />
Darf’s e<strong>in</strong> bisschen mehr se<strong>in</strong>? Wort zum Sonntag 21.1.12<br />
Glaube ist Offenheit für MEHR, für die größere Wirklichkeit Gottes. Von daher<br />
kommen Gaben und Aufgaben: Mit dem Verstand erkennen wir, durch Arbeit<br />
schaffen wir, mit Gefühl empf<strong>in</strong>den wir: Schönes und Bedrohliches. Mehr oder<br />
weniger. Auf- oder abgeblendet. Der Glaube verhilft zu e<strong>in</strong>em Leben <strong>in</strong> größerem<br />
Zusammenhang: Mehr als <strong>in</strong> dem Namen Gott enthalten ist. Es darf ruhig noch mehr<br />
als das se<strong>in</strong>. Dazu kann auch e<strong>in</strong> „Wort zum Sonntag“ helfen.<br />
Religiöses Denken und Handeln können als Versuch verstanden werden die<br />
Begrenztheit <strong>des</strong> eigenen Ichs zu erkennen, zu überw<strong>in</strong>den und es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
umfassendere Wirklichkeit e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen.<br />
Größer denken<br />
Das Wort zum Sonntag vom 21. Januar 2012,<br />
gesprochen von Verena-Maria Kitz<br />
"Darf es auch e<strong>in</strong> bisschen mehr se<strong>in</strong>?", die Frage hat mir als K<strong>in</strong>d beim E<strong>in</strong>kaufen<br />
so gut gefallen. Ich fand sie so fe<strong>in</strong>! Aber dieses "fe<strong>in</strong>e bisschen mehr" ist heute<br />
ziemlich out. Wenn schon, dann bitte XXL – egal, ob es um Flachbildschirme oder<br />
das Riesenschnitzel auf dem Teller geht.<br />
Wenn es allerd<strong>in</strong>gs darum geht, was Menschen vom Leben erwarten, dann ist nichts<br />
mit XXL. Da erlebe ich oft e<strong>in</strong>en ziemlichen Kle<strong>in</strong>mut, von wegen "Das Leben ist ke<strong>in</strong><br />
Wunschkonzert". Klar, die Zeiten s<strong>in</strong>d für viele nicht rosig. Wer gerade die Arbeit<br />
verloren hat oder mit e<strong>in</strong>er schweren Krankheit kämpft, erlebt das sehr bitter:<br />
Wünschen und Hoffen alle<strong>in</strong> reichen nicht!<br />
Trotzdem glaube ich: Wenn ich nur auf das hoffe, womit ich rechnen kann, dann ist<br />
ke<strong>in</strong> Platz für Großes, Unerwartetes, gar für Träume. Und damit will ich mich nicht<br />
begnügen.<br />
138
Ich will – um es etwas pathetisch zu sagen: Größer denken und hoffen! Ich will mehr,<br />
als ich auf den ersten Blick sehen oder machen kann, auch wenn viele das naiv<br />
f<strong>in</strong>den. Das müssen nicht gleich die großen Heldentaten se<strong>in</strong> – es ist ja nicht jeder<br />
Mutter Teresa oder Mart<strong>in</strong> Luther K<strong>in</strong>g. Schon, wenn ich mich nur e<strong>in</strong> bisschen über<br />
den eigenen Tellerrand h<strong>in</strong>auswage, kann ich entdecken: Es geht mehr als ich zuerst<br />
gedacht habe!<br />
Das hab ich neulich auf der Autobahn erlebt – zum ersten Mal im Leben hatte me<strong>in</strong><br />
Auto e<strong>in</strong>en Platten! Ich konnte am Rand halten, es war also nicht schlimm, aber im<br />
Regen im Berufsverkehr? Bis irgendjemand zu Hilfe kommt, das würde dauern. Und<br />
dann g<strong>in</strong>g es <strong>in</strong> mir los: Oh Gott, Reifen wechseln, das hab ich noch nie gemacht,<br />
wie soll ich das können? Was, wenn das Auto vom Wagenheber rutscht? Aber –<br />
vielleicht bekomme ich es ja doch h<strong>in</strong>? Und irgendwie gab es <strong>in</strong> mir dann so e<strong>in</strong><br />
Zutrauen: Komm, trau dich, versuch es wenigstens! Und ich hab es tatsächlich<br />
geschafft! Als ich zuhause ankam, hatte ich das Gefühl: Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> paar Zentimeter<br />
gewachsen!<br />
E<strong>in</strong> anderes Beispiel fürs größer Denken hab ich im Rhe<strong>in</strong>gau entdeckt: In e<strong>in</strong>em<br />
kle<strong>in</strong>en Ort sollte das letzte K<strong>in</strong>o der Gegend geschlossen werden – e<strong>in</strong>fach nicht<br />
mehr rentabel. Das V<strong>in</strong>cenzstift, e<strong>in</strong>e Beh<strong>in</strong>dertene<strong>in</strong>richtung dort, bekam davon<br />
W<strong>in</strong>d. Sie hatten den Traum: Das könnten wir doch übernehmen! Viele Unterstützer<br />
wurden gefunden – und der Laden brummt! Die K<strong>in</strong>ofans im Rhe<strong>in</strong>gau s<strong>in</strong>d glücklich.<br />
Und es gibt das erste <strong>in</strong>tegrative K<strong>in</strong>o <strong>in</strong> Deutschland, <strong>in</strong> dem Menschen mit und<br />
ohne Beh<strong>in</strong>derung zusammenarbeiten!<br />
Wirklich ermutigend ist für mich auch e<strong>in</strong>e Bekannte, deren Sohn e<strong>in</strong>en schweren<br />
Motorradunfall hatte. Ohne Rollstuhl g<strong>in</strong>g gar nichts mehr. Sie hat immer daran<br />
geglaubt: E<strong>in</strong>es Tages wird er wieder laufen können. Mit unendlicher Energie und<br />
Geduld haben sie es geme<strong>in</strong>sam geschafft – er kann wieder erste eigene Schritte<br />
setzen.<br />
Solche Beispiele bestärken mich dar<strong>in</strong>, größer zu denken und zu hoffen: Für mich,<br />
für andere, für unsere Welt. Natürlich weiß ich - damit kann ich nicht e<strong>in</strong>fach alle<br />
Probleme aus der Welt schaffen, das erlebe ich ja selber. Trotzdem: Ich glaube, es<br />
lohnt, denn oft geht doch viel mehr, als ich zunächst gedacht habe und das zieht<br />
Kreise!<br />
Woher kommt die Kraft dazu? Manche nennen das vielleicht positives Denken oder<br />
Selbstvertrauen. Ich erlebe das als e<strong>in</strong>e Kraft, die mir irgendwie zukommt, ich glaube<br />
von Gott. Gott sagt ja zu mir und traut mir viel mehr zu als ich selber! Immer wieder<br />
macht Gott das Angebot: Komm, trau dich, versuch es, ich steh dir zur Seite! Bei<br />
diesem Zutrauen Gottes können wir uns bedienen – und da darf es ruhig auch e<strong>in</strong><br />
bisschen mehr se<strong>in</strong>: am besten e<strong>in</strong>e Portion <strong>in</strong> Größe XXL!<br />
Kommentare:<br />
Frau Kitz spricht von Gott, ohne ihn anfangs mit diesem Begriff zu nennen. „Größer<br />
denken und hoffen“, „Offenheit für MEHR“, (mit Beh<strong>in</strong>derten und für sie) “Zusammenarbeiten“.<br />
Gott wirkt als Kraft, die dazu befähigt. Glaubt sie.<br />
Und sagt das mit Worten und Abkürzungen aus der Alltagssprache: Es darf ruhig e<strong>in</strong><br />
bisschen mehr se<strong>in</strong> – über die Begrenzungen h<strong>in</strong>aus, die wir uns selbst setzen und<br />
139
die aus der Umgebung kommen. Die Angebote Gottes wahrnehmen und sich<br />
bedienen: Vieles kommt von weit her und hat Übergröße.. XXL. Der Glaube sieht das<br />
und lebt davon.<br />
GF: „o.k. Aber was mit den „dunklen Seiten“ der / der Menschen? E<strong>in</strong> bisschen mehr<br />
Aggressivität, Neid, Mißtrauen?“<br />
Was sagt uns e<strong>in</strong> neues Gottesverständnis zur üblichen anthropologischen<br />
Beschreibung <strong>des</strong> Menschen als gut+schlecht? Müssten wir nicht die<br />
Beschreibungen von „menschlicher Natur“ ebenso „aufheben“ wie die<br />
Gottesvorstellungen bis 6.0 (<strong>in</strong> Gott 9.0)? Das ist – bei aller Kritik an dem USamerikanischen<br />
Denkschema, das dem Gott 9.0 zugrunde liegt – der produktive<br />
Beitrag heutiger E<strong>in</strong>schätzung von geistiger Menschheitsentwicklung,“<br />
„Die Neurobiologie lehrt uns, dass nur e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Teil unseren Gehirns zu unserem<br />
Bewusstse<strong>in</strong> beiträgt. Das entspricht auch unserer begrenzten<br />
Wahrnehmungsfähigkeit. Und mit Sicherheit ist uns nicht bewusst, was uns nicht<br />
bewusst ist.<br />
Über die religiöse Kontaktstelle im Glauben an das Mehr <strong>in</strong> Gott könnte dieses<br />
Potenzial entwickelt werden.<br />
Religiöses Denken und Handeln können als Versuch verstanden werden, die<br />
Begrenztheit <strong>des</strong> eigenen Ichs zu erkennen, zu überw<strong>in</strong>den und es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
umfassendere Wirklichkeit e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen.“<br />
zurück zum Inhaltsverzeichnis der Anlagen<br />
Zurück zum Inhaltsverzeichnis<br />
Mit K<strong>in</strong>dern beten – warum und wie? Mit Vorschlägen für die Praxis<br />
K<strong>in</strong>der brauchen das Gebet<br />
K<strong>in</strong>der wollen die Welt entdecken und verstehen lernen. Sie s<strong>in</strong>d neugierig und<br />
wissbegierig. Alles <strong>in</strong>teressiert sie. Das Laute und das Leise, das Bunte und das<br />
Triste. Ihr Entdeckergeist treibt sie voran. Aber sie haben auch das Bedürfnis nach<br />
Ruhe und Bes<strong>in</strong>nung.<br />
K<strong>in</strong>der fragen nach Gott. Sie haben religiöse Bedürfnisse. Es <strong>in</strong>teressiert sie, wo er<br />
wohnt, ob er sie beschützt, ob er auch schläft. Sie wollen mit ihm reden. Das s<strong>in</strong>d<br />
ganz natürliche Fragen und Interessen von vierjährigen K<strong>in</strong>dern wie Nicole. Stefanie<br />
ist <strong>in</strong> der zweiten Klasse. Auch sie ist neugierig und will verstehen, was Gott macht.<br />
Sie schreibt ihm: „Warum hast Du den Himmel blau und das Gras grün gemacht?<br />
Waren das die e<strong>in</strong>zigen Farben, die Du hattest?“<br />
Wenn e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Möglichkeit bekommt, sich mit religiösen Fragen ause<strong>in</strong>ander<br />
zu setzen, kann es durchaus Schaden nehmen. Das behauptet zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t der<br />
Tüb<strong>in</strong>ger Pädagoge und Theologe Friedrich Schweitzer. Verzichten Eltern auf<br />
religiöse Erziehung, ist die gesunde Entwicklung <strong>des</strong> K<strong>in</strong><strong>des</strong> gefährdet. Oft werden<br />
K<strong>in</strong>der bei ihren existentiellen Fragen nach Glauben, Sterben und S<strong>in</strong>n alle<strong>in</strong>e<br />
gelassen.<br />
140
In den Jahren der frühen K<strong>in</strong>dheit ist es wichtig, dass sich K<strong>in</strong>der geborgen fühlen<br />
können, dass sie sich behütet und beschützt wissen. Dadurch entwickeln sie<br />
Vertrauen. Vertrauen <strong>in</strong> sich selbst, <strong>in</strong> andere und <strong>in</strong> die Welt. Geborgenheit kann<br />
aber erst dann von den Erwachsenen vermittelt werden, wenn diese sich selbst<br />
geborgen fühlen, wenn sie Hoffnung haben. Tragende Hoffnung strahlen Menschen<br />
aus, die e<strong>in</strong>e Beziehung zu Gott haben.<br />
Beim Beten erlebt das K<strong>in</strong>d, dass es außer den Erwachsenen noch jemanden gibt,<br />
der <strong>in</strong> ihrem Leben wichtig ist. Dem man alles anvertrauen kann - gute und schlechte<br />
Erlebnisse. Das kann K<strong>in</strong>dern im Leben helfen und entlastet sie. Gott ist sogar<br />
jemand, zu dem man reden kann, wenn e<strong>in</strong>en ke<strong>in</strong> Erwachsener versteht. Durch<br />
Beten erleben K<strong>in</strong>der die Gewissheit, nie alle<strong>in</strong>e zu se<strong>in</strong>: Gott ist da, zu ihm kann ich<br />
beten, mit ihm kann ich reden, ihn kann ich mit <strong>in</strong>s Leben h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> nehmen.<br />
Erwachsene, die mit ihren K<strong>in</strong>dern beten, vermitteln ihnen e<strong>in</strong>e Geborgenheit, die<br />
das ganze Leben tragen kann. Gleichzeitig erziehen sie ihre K<strong>in</strong>der aber auch zur<br />
Selbstständigkeit, denn das Gebet kann zu e<strong>in</strong>em Ort werden, an dem sich das K<strong>in</strong>d<br />
eigenständig und unabhängig von den Erwachsenen fühlt. Ingo ist e<strong>in</strong> Beispiel dafür.<br />
Er macht gerade e<strong>in</strong>e schwierige Phase durch, weil er e<strong>in</strong> Geschwisterchen<br />
bekommen hat und sich die Erwachsene viel Zeit für das Baby nehmen. Ingo hat das<br />
Gefühl zu kurz zu kommen und ist eifersüchtig. In dieser Situation hat er den "lieben<br />
Gott" als Gesprächspartner entdeckt. Mit ihm kann man reden, das weiß er. Bei den<br />
‚Grashüpfern’, se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dergartengruppe, wird gebetet. Sie machen das an<br />
Geburtstagen, aber auch zum Beispiel, als Sven im Krankenhaus war. Mit Gott kann<br />
man also auch reden, wenn es schwierig wird, das hat Ingo erfahren.<br />
Se<strong>in</strong> Problem, das er mit dem neuen Brüderchen hat, kann er mit den Eltern nicht<br />
besprechen. Der Vierjährige hat die Erfahrung gemacht, dass die Eltern gleich<br />
explodieren, wenn er sagt, was er auf dem Herzen hat. E<strong>in</strong>mal, als das Baby lange<br />
und laut schrie, hatte Ingo vorgeschlagen, <strong>in</strong>s Krankenhaus zu gehen und den<br />
kle<strong>in</strong>en Bruder zurückzugeben. Die Eltern reagierten entsetzt und sagten, er solle<br />
sich solche Gedanken aus dem Kopf schlagen und den Bruder gefälligst lieb haben.<br />
Darum betet er: „Lieber Gott, das Baby ist grässlich, es schreit und schreit nur den<br />
ganzen Tag. Papa und Mama s<strong>in</strong>d nur noch für das Baby da. Wenn du es nicht<br />
wieder zurück nimmst, werde ich me<strong>in</strong> Zimmer nicht aufräumen.“<br />
Auch wenn Gott wohl nicht auf die Drohung e<strong>in</strong>gehen wird, ist dieses Gebet wichtig<br />
für Ingo. Er versucht, mit Gott zu verhandeln. Er will, dass se<strong>in</strong>e Erwachsene sich<br />
mehr um ihn kümmern. Es stört ihn, dass er ihre Aufmerksamkeit teilen muss. Bei<br />
Gott kann er das offen aussprechen, was die Erwachsene auf gar ke<strong>in</strong>en Fall hören<br />
wollen. Dadurch entlastet ihn se<strong>in</strong> Gebet. Beim Beten kann er se<strong>in</strong>e Wut und se<strong>in</strong>e<br />
Aggression loswerden. Das hilft ihm, e<strong>in</strong>e neue E<strong>in</strong>stellung zu se<strong>in</strong>em Brüderchen zu<br />
bekommen. Er lernt, damit fertig zu werden, dass der Bruder bleibt. Nachdem er e<strong>in</strong><br />
Ventil gefunden hat, se<strong>in</strong>e Wut und se<strong>in</strong>en Ärger herauszulassen, fällt es ihm<br />
141
leichter, Kontakt mit dem Bruder aufzunehmen. Er merkt, dass es Spaß macht, dem<br />
Kle<strong>in</strong>en e<strong>in</strong> Spielzeug h<strong>in</strong>zuhalten, nach dem er greift. Spielerisch entwickelt sich<br />
e<strong>in</strong>e Beziehung zwischen den beiden, und bald will Ingo se<strong>in</strong>en Bruder nicht mehr<br />
loswerden. Auch se<strong>in</strong> Ärger ist vorerst vergessen.<br />
Mite<strong>in</strong>ander beten, das ist e<strong>in</strong> großes Geschenk, das wir haben, vor allem, wenn wir<br />
mit dem Gebet Jesu, dem „Vater unser“ beten. Im Gebet s<strong>in</strong>d wir alle gleich vor Gott<br />
als se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der, ob groß oder kle<strong>in</strong>. Vielleicht fällt es uns leicht, mit den K<strong>in</strong>dern<br />
unmittelbar und spontan zu beten. Gott öffnet uns e<strong>in</strong>e Tür zu se<strong>in</strong>er Welt, se<strong>in</strong>e<br />
Nähe ist gewiss.<br />
Unser Vorstellungsvermögen kann Gott nicht fassen. E<strong>in</strong>e Geschichte<br />
erzählt:<br />
Im Teich am Waldrand schwammen e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Plötze und e<strong>in</strong>e Kaulquappe<br />
zwischen den Wasserpflanzen. Die beiden Freunde waren unzertrennlich.<br />
E<strong>in</strong>es Morgens entdeckte die Kaulquappe, dass ihr über Nacht zwei kle<strong>in</strong>e<br />
Be<strong>in</strong>e gewachsen waren. „Guck mal“, sagte sie stolz, „Guck doch mal, ich b<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong> Frosch!“ „Quatsch“, sagte die Plötze, „wie kannst du e<strong>in</strong> Frosch se<strong>in</strong>, wenn<br />
du noch gestern Abend e<strong>in</strong> Fisch gewesen bist, genau wie ich!“ Sie redeten und<br />
redeten, bis schließlich die Kaulquappe sagte: „Frosch ist Frosch und Fisch ist<br />
Fisch, so ist das nun mal!“<br />
In den Wochen darauf wuchsen der Kaulquappe auch vorn w<strong>in</strong>zige Be<strong>in</strong>e, und<br />
ihr Schwanz wurde kle<strong>in</strong>er und kle<strong>in</strong>er. Und e<strong>in</strong>es schönen Tages kletterte e<strong>in</strong><br />
richtiger Frosch aus dem Wasser heraus auf die Wiese. Aber auch die kle<strong>in</strong>e<br />
Plötze hatte sich <strong>in</strong>zwischen zu e<strong>in</strong>em richtigen Fisch ausgewachsen. Oft fragte<br />
sie sich, wo ihr vierfüßiger Freund wohl geblieben war. Mit e<strong>in</strong>em fröhlichen<br />
Plumpsen, das die Wasserblumen ganz durch e<strong>in</strong>ander brachte, hüpfte dann<br />
e<strong>in</strong>es Tages der Frosch <strong>in</strong> den Teich. „Wo bist du gewesen?“, fragte der Fisch<br />
aufgeregt. "Ich b<strong>in</strong> an Land gewesen", sagte der Frosch. "Ich b<strong>in</strong> überall<br />
herumgehüpft, und ich habe ganz seltsame Sachen gesehen." "Was denn?"<br />
fragte der Fisch. „Vögel“, sagte der Frosch geheimnisvoll. „Vögel!“ Und er<br />
erzählte dem Fisch von den Vögeln. „Sie haben Flügel und zwei Be<strong>in</strong>e und<br />
viele, viele Farben. „Während der Frosch redete, stellte se<strong>in</strong> Freund sich die<br />
Vögel vor: Er sah sie durch se<strong>in</strong>en Kopf fliegen, die Vögel. Sie sahen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />
Vorstellung wie große gefiederte Fische aus. „Was noch?“ fragte der Fisch<br />
ungeduldig. „Kühe“, sagte der Frosch. „Kühe! Sie haben vier Be<strong>in</strong>e, Hörner,<br />
fressen Gras und tragen rosa Säcke voll Milch." "Und Menschen!" sagte der<br />
Frosch. "Männer, Frauen, K<strong>in</strong>der! Und er erzählte und erzählte, bis es im Teich<br />
dunkel war.“ 1<br />
Der Fisch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Teich stellte sich die Kühe und Menschen, von denen der<br />
Frosch ihm erzählt hatte, wie Fische vor. Der Fisch hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben nichts<br />
anderes gesehen als Fische, <strong>des</strong>halb stellte er sich alles <strong>in</strong> Fischgestalt vor. In<br />
1 Leo Lionni, Fisch ist Fisch, 8. Aufl., Köln 1970<br />
142
se<strong>in</strong>em Kopf waren es die Kühe und die Menschen Fische. Nur hatte die e<strong>in</strong>en<br />
noch e<strong>in</strong>en Euter, vier Be<strong>in</strong>e und Hörner. Und die anderen liefen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Kopf<br />
als aufrecht stehende Fische, ausgestattet mit zwei Be<strong>in</strong>en, Hut, Mantel und<br />
Stock umher.<br />
Draußen außerhalb <strong>des</strong> Teiches lag die Welt, die der Fisch im Gegensatz zum<br />
Frosch nicht kannte. Alles was er hörte, stellte er sich so vor, wie er es sich nur<br />
denken konnte, nach dem, was er bisher <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Teich gesehen hatte.<br />
Der Mensch stellt sich Gott vor, aber Gott ist Gott und Mensch ist Mensch. Auch<br />
wir Menschen haben Schwierigkeiten, uns etwas vorzustellen, was wir aus<br />
unserer Umwelt nicht schon kennen. Unsere Vorstellungskraft reicht nur soweit,<br />
dass sie beschreibt und neu zusammen sortiert, was wir irgendwo schon e<strong>in</strong>mal<br />
gesehen oder erlebt haben. Wir Menschen reden von Gott und versuchen uns<br />
Gott vorzustellen. Unsere Vorstellungskraft, unsere Gedanken können ihn aber<br />
nicht fassen. Der Mensch redet von Gott und setzt dabei, bewusst oder<br />
unbewusst, ständig se<strong>in</strong>e eigenen Verhältnisse und Möglichkeiten voraus.<br />
Somit wird je<strong>des</strong> Bild, das wir uns von Gott machen, falsch, denn Mensch ist<br />
Mensch. Es ist ärgerlich und beunruhigend, dass unsere menschlichen<br />
Möglichkeiten, die sich tagtäglich ausdehnen, nicht ausreichen, um uns Gott<br />
vorzustellen. Unsere Vorstellungskraft, unsere Gedanken, können Gott nicht<br />
fassen.<br />
„Wie e<strong>in</strong>en alten Mann, der e<strong>in</strong>en langen Bart trägt, so<br />
stelle ich mir Gott vor“, antwortete e<strong>in</strong> 10-jähriger<br />
Schüler auf die Frage, welches Bild er von Gott habe.<br />
Viele von uns stellen sich Gott so vor. Wir ordnen ihm<br />
dann menschliche Züge und Verhaltensweisen zu. So<br />
wird je<strong>des</strong> Bild, das wir uns von Gott machen, falsch. In<br />
der Bibel heißt es: „Du sollst dir ke<strong>in</strong> Bildnis, noch irgend<br />
e<strong>in</strong> Gleichnis machen.“ Dieses Gebot war für die<br />
Menschen <strong>des</strong> Alten Testamentes noch ungewöhnlicher<br />
als für uns heute. Damals, ca. 1000 Jahre vor Christus,<br />
war es üblich, sich Bilder von Göttern zu machen, sie als Figuren<br />
aufzubewahren und sie anzubeten. Sich von Gott ke<strong>in</strong> Bild zu machen, war<br />
ungewöhnlich aber Gott ist nicht <strong>in</strong> Bildern zu fassen oder <strong>in</strong> Figuren zu f<strong>in</strong>den.<br />
Das Gebot: "Du sollst dir ke<strong>in</strong> Gleichnis oder Bildnis von Gott machen", sollte<br />
zeigen, dass Gott alle Bilderrahmen sprengt.<br />
Mensch ist Mensch. Wir können Gott nicht erfassen, nicht denken und nicht<br />
beweisen. Aber viele biblische Bilder beschreiben, wie Gott ist - wie er zu uns<br />
se<strong>in</strong> will. - Das ist gut, daran können wir uns halten. Wenn wir zu Gott beten,<br />
können wir Geborgenheit, Nähe und Wärme spüren. Gott ist mehr als alle<br />
Vorstellungen von ihm.<br />
Gerade K<strong>in</strong>der schaffen es immer wieder, ihre oft menschlich geprägten<br />
Vorstellungen von Gott aufzugeben und von ihren Erfahrungen mit ihm zu<br />
143
eden. In e<strong>in</strong>er Grundschulk<strong>in</strong>dergruppe sah Thorsten den lieben Gott so: „Gott<br />
hat e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Kopf und e<strong>in</strong>en Bärenkörper. Se<strong>in</strong>e Be<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>d wie<br />
Stecknadeln. Er hat Entenfüße und zwei Riesenohren. Er wohnt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Wolke<br />
mit hässlichen Tieren an der Wand. Er ist freundlich und gut und sorgt dafür,<br />
dass die Kriege aufhören. Ich glaube, dass er uns lieb hat.“ Thorstens<br />
Vorstellung ist von vielen E<strong>in</strong>drücken geprägt. Er sah bei e<strong>in</strong>em Jäger zum<br />
ersten Mal <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben ausgestopfte Vögel, Iltisse und Wiesel an der<br />
Wand. Das s<strong>in</strong>d die ‚hässlichen Tiere’. Den E<strong>in</strong>druck <strong>des</strong> Jägerzimmers hatte er<br />
nicht verkraftet. Dass er es jetzt zu Gottes Zimmer machte, war e<strong>in</strong>e Form der<br />
Bewältigung. Er weiß, dass Gott zuhört, <strong>des</strong>halb hat er Riesenohren. Gott ist<br />
überall, dafür stehen <strong>in</strong> Thorstens Leben die Entenfüße. Enten schwimmen auf<br />
dem Wasser und können fliegen. Se<strong>in</strong> Gottesbild wird je<strong>des</strong> Mal neu durch<br />
Lebense<strong>in</strong>drücke geprägt. Letztendlich ist ihm aber wichtig, was Gott macht.<br />
„Man könnte sich ja fragen,“ me<strong>in</strong>te Kathar<strong>in</strong>a, „wie Gott zu gleicher Zeit bei<br />
allen se<strong>in</strong> kann. Ich glaube, er ist über die ganze Welt ausgebreitet, er ist<br />
unsichtbar und wir atmen ihn e<strong>in</strong>, und nachts geht er wieder aus uns heraus.<br />
Ich glaube, er geht wieder aus uns heraus, um über uns zu wachen und um<br />
ganz sicher zu se<strong>in</strong>, dass uns nichts passiert und wir auch rechtzeitig schlafen<br />
gehen.“<br />
Kathar<strong>in</strong>as Vorstellung von Gott ist abstrakt, weil er nach ihrer Überlegung bei<br />
allen ist und alles behütet. Das ist für sie sehr beruhigend. Wichtig ist K<strong>in</strong>dern,<br />
wie Gott ist und wie er handelt. Ihre Vorstellungen von ihm ändern sich <strong>in</strong> der<br />
Regel und wachsen mit.<br />
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-------------------------------------------------------------------------------------------------------------<br />
Praxisteil<br />
*Ich habe Wut auf dich, Gott.<br />
Ich hab’ die Puppe, die ich<br />
mir gewünscht habe, nicht<br />
bekommen, und du bist<br />
schuld. Ich habe dich<br />
gebeten, dass ich sie kriege.<br />
Du hast das nicht gut<br />
gemacht. Ich mag dich nicht<br />
mehr. Nie wieder kriege ich<br />
e<strong>in</strong>e so schöne Puppe. Ich<br />
b<strong>in</strong> dir böse –heute abend.<br />
Traditionelle Gebete können regelmäßig als Morgen- und Abendritual gebetet<br />
werden. Auch, wenn <strong>in</strong> diesen Sprache und Vorstellungen den K<strong>in</strong>dern fremd se<strong>in</strong><br />
können, bietet diese Art <strong>des</strong> Betens geme<strong>in</strong>samen Gesprächsstoff und die Gebete<br />
wachsen <strong>in</strong>s „Großwerden“ mit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Wenn sie zum Ritual werden, ist der Vollzug<br />
144
wichtiger als der Inhalt. Das widerspricht nicht der gleichzeitigen Aufforderung<br />
k<strong>in</strong>dgerechte, nicht niedlich Gebete zu sprechen. Im Folgenden e<strong>in</strong>ige Anregungen:<br />
Hallo Gott, weißt du, was ich heute gemacht habe? (Das K<strong>in</strong>d erzählt von se<strong>in</strong>em<br />
Tag.) Jetzt nehm' ich (Name e<strong>in</strong>es Kuscheltiers, der Puppe oder ähnliches) <strong>in</strong> den<br />
Arm und schlafe – lass’ es dir gut gehen!<br />
*Ich danke dir, Gott, für diesen Tag.<br />
Das Spielen hat Spaß gemacht. Die<br />
Schnecke, die ich mit me<strong>in</strong>em Stock<br />
geärgert habe, hat mir von dir<br />
erzählt. Du hast es schön. Die<br />
Sybille war blöd, weißt du das<br />
schon? Bis später, ich schlaf’ jetzt.<br />
*Luthers Abendgebet<br />
Ich danke dir, me<strong>in</strong> himmlischer Vater,<br />
durch Jesus Christus, de<strong>in</strong>en lieben<br />
Sohn, dass du mich diesen Tag<br />
gnädiglich behütest hast; und bitte<br />
dich, du wollest mir vergeben alle<br />
me<strong>in</strong>e Sünden, wo ich Unrecht getan<br />
habe, und mich diese Nacht gnädiglich<br />
behüten. Denn ich befehle mich,<br />
me<strong>in</strong>en Leib und Seele und alles <strong>in</strong><br />
de<strong>in</strong>e Hände. De<strong>in</strong> heiliger Engel sei<br />
mit mir, dass der böse Fe<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e<br />
Macht an mir f<strong>in</strong>de. Amen.<br />
Mandalas malen<br />
*Malen Sie mit den K<strong>in</strong>dern<br />
zusammen Mandalas aus. Es gibt<br />
im Buchhandel e<strong>in</strong>e Vielzahl von<br />
Mandala-Malbüchern, aber Sie<br />
können ganz e<strong>in</strong>fach auch eigene<br />
Kreisbilder entwerfen, denn nahezu<br />
alles lässt sich so darstellen. Sie<br />
können auch e<strong>in</strong> Lied im Kreis<br />
aufschreiben. E<strong>in</strong> Kreisbild, das Sie<br />
ausmalen, hilft, sich zu zentrieren, die eigene Mitte zu f<strong>in</strong>den<br />
Fantasiereisen<br />
*Hallo Gott, ich b<strong>in</strong> aufgewacht.<br />
Wow, die Sonne sche<strong>in</strong>t (oder es<br />
regnet), ich will raus zu me<strong>in</strong>em<br />
Ste<strong>in</strong>, den von gestern, weißt du -<br />
was der wohl macht? Ich steh’<br />
jetzt auf, komm’ mit raus!<br />
*Luthers Morgengebet<br />
Ich danke dir, me<strong>in</strong><br />
himmlischer Vater, durch<br />
Jesus Christus, de<strong>in</strong>en<br />
lieben Sohn, dass du mich<br />
diese Nacht, vor allem<br />
Schaden und Gefahr<br />
behütet hast; und bitte dich,<br />
du wolltest mich diesen Tag<br />
auch behüten vor Sünden<br />
und allem Übel, dass dir all<br />
me<strong>in</strong> Tun und Leben<br />
gefalle. Denn ich befehle<br />
mich, me<strong>in</strong>en Leib und<br />
Seele und alles <strong>in</strong> de<strong>in</strong>e<br />
Hände. De<strong>in</strong> heiliger Engel<br />
sei mit mir, dass der böse<br />
Fe<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Macht an mir<br />
f<strong>in</strong>de. Amen.<br />
*Psalm 121,1-3,5-8<br />
Ich hebe me<strong>in</strong>e Augen auf zu den Bergen.<br />
Woher kommt mir Hilfe?<br />
Me<strong>in</strong>e Hilfe kommt vom Herrn,<br />
der Himmel und Erde gemacht hat.<br />
Er wird de<strong>in</strong>en Fuß nicht gleiten lassen,<br />
und der dich behütet, schläft nicht.<br />
Der Herr behütet dich;<br />
Der Herr ist de<strong>in</strong> Schatten über de<strong>in</strong>er rechten Hand,<br />
dass dich <strong>des</strong> Tages die Sonne nicht steche noch der<br />
Mond <strong>des</strong> Nachts.<br />
Der Herr behüte dich vor allem Übel,<br />
er behüte de<strong>in</strong>e Seele.<br />
Der Herr behüte de<strong>in</strong>en Ausgang und E<strong>in</strong>gang<br />
Von nun an bis <strong>in</strong> Ewigkeit.<br />
Die anschließende Anleitung zur Fantasiereise will e<strong>in</strong>en Weg zur Gotteserfahrung<br />
öffnen. Sie ist für e<strong>in</strong>e Gruppe <strong>in</strong>teressierter Erwachsene gedacht, aber auch mit<br />
K<strong>in</strong>dern durchführbar. In dieser Reise geht es um die unmittelbare Gotteserfahrung.<br />
145
*„Gott ist der, der immer se<strong>in</strong> wird. Weder Bilder noch Namen werden ihn erklären.<br />
Er bleibt uns voraus, ist unfassbar für uns. Und trotzdem f<strong>in</strong>den wir ihn immer wieder,<br />
z. B. im Gebet. In allen Lebenssituationen ist er uns nah. In der Meditation erschließt<br />
er sich uns. Wir wollen ihm begegnen, so wie Mose am Dornbusch (vgl. 2. Mose 3).<br />
Bitte setzen setzten Sie sich bequem h<strong>in</strong>, die Hände liegen <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er geöffneten<br />
Schale <strong>in</strong> ihrem Schoß, die Augen können Sie schließen, wenn Sie mögen. Sie<br />
gehen durch die Wüste, es ist heiß, sehr heiß. Die Luft flimmert. E<strong>in</strong> paar gelbe<br />
Halme rechts und l<strong>in</strong>ks - sonst nichts. Plötzlich entdecken Sie etwas: Feuer, etwas<br />
brennt <strong>in</strong> hellen, gelb-roten Flammen. Sie gehen näher heran. E<strong>in</strong> Busch brennt und<br />
verbrennt doch nicht. E<strong>in</strong>e Stimme ruft Ihren Namen. ‘Gehe nicht näher heran, diese<br />
Erde gehört Gott’. Sie fallen auf die Knie. Jetzt wissen Sie, es ist Gott, der mit Ihnen<br />
redet. Was will er? Sie s<strong>in</strong>d geme<strong>in</strong>t, für ihn sollen Sie da se<strong>in</strong> .... Aber wer bist du,<br />
Gott, wie heißt du, wie soll ich dich nennen? Hören Sie, was die Stimme Ihnen sagt<br />
(e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>ute Schweigen). Bitte öffnen Sie die Augen und schauen Sie sich um,<br />
strecken Sie sich, wir kommen <strong>in</strong> den Kreis zurück. Bitte tauschen Sie sich, jeweils<br />
zu zweit aus. Was haben Sie gesehen und gehört? Wer will, kann uns allen nachher<br />
von se<strong>in</strong>er Erfahrung bei der Fantasiereise berichten.“<br />
*Die folgende Fantasiereise kann <strong>in</strong> Situationen weiterführen, <strong>in</strong> denen es um<br />
Reifung und Weiterentwicklung geht.<br />
„Das Leben e<strong>in</strong>es Schmetterl<strong>in</strong>gs. Se<strong>in</strong> Leben beg<strong>in</strong>nt als Ei. Im Ei ist der ganze<br />
Schmetterl<strong>in</strong>g angelegt. Auch das Leben der Menschen beg<strong>in</strong>nt im Kle<strong>in</strong>en. Aber der<br />
Mensch, die Person, die sich e<strong>in</strong>mal entwickeln wird, ist von Anfang an angelegt.<br />
Auch der Mensch macht viele Stadien im Leben durch, verwandelt sich und reift. Auf<br />
das Ei folgen die Raupe, dann die Puppe und der Falter.<br />
Die vielgestaltigen Raupen haben kauende Mundwerkzeuge, kurze Fühler, meist<br />
sechs Punktaugen. Sie s<strong>in</strong>d oft bunt, glatt oder haben Warzen, Dornen, Haare. Die<br />
Raupen leben meist von Blättern, Früchten und Samen. Das Stadium der Raupe:<br />
Entfalten, sich Entwickeln. Denken Sie an Ihr Leben, wann und wo gab und gibt es<br />
solche Phasen der Entfaltung und Entwicklung (zwei M<strong>in</strong>uten Stille)?.<br />
Die Puppen nun, das nächste Entwicklungsstadium, ruhen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em von der Raupe<br />
gesponnenen Kokon im Boden oder hängen mit e<strong>in</strong>em Sp<strong>in</strong>nfaden an Bäumen und<br />
Ste<strong>in</strong>en. Ja, diese Phasen gab es auch <strong>in</strong> Ihrem Leben. Zeiten, <strong>in</strong> denen sich nichts<br />
tat, nichts vorwärts g<strong>in</strong>g. Vielleicht waren es auch nötige Ruhephasen, Schutz- und<br />
Wandlungsräume (zwei M<strong>in</strong>uten Stille).<br />
Nun ist er da, dieser große schöne, farbige, bewegliche Schmetterl<strong>in</strong>g! Mit den<br />
Facettenaugen kann er Farben wahrnehmen, er hört auch gut. Größe, Gestalt und<br />
Färbung der Schmetterl<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d sehr unterschiedlich. Jeder ist anders. Lebenslust<br />
und Farbigkeit verkörpern sie. Wer den Weg mitgeht im Leben zwischen ‘aktiv se<strong>in</strong>’<br />
und ‘auf der Stelle treten’, zwischen Raupe und Puppe, der reift und entfaltet sich<br />
zum lebendigen Schmetterl<strong>in</strong>g.“<br />
*Folgender Vorschlag ist für e<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>dergruppe gedacht: Der Besuch im Paradies.<br />
„Legt euch h<strong>in</strong>, versucht ruhig zu werden und die Augen zu schließen. Ich lade euch<br />
e<strong>in</strong>, heute e<strong>in</strong>en ganz besonderen Ort zu besuchen. Wir besuchen das Paradies.<br />
146
Zuerst müssen wir durch den dichten Wald gehen, immer weiter und weiter bis zu<br />
Lichtung, wo die Rehe mit ihren Kitzen fressen. Es ist ganz hell. Wir gehen dem<br />
Himmel entgegen. – Der öffnet sich. Wir s<strong>in</strong>d im Paradies. Was seht ihr? Blumen -<br />
Bäume – Menschen – Tiere – und vielleicht auch Gott? (Zeit lassen, Themen nur<br />
anregen, damit sich die eigenen Bilder entwickeln können). Es ist ruhig und warm –<br />
wie riecht es? Geh’ durch den schönen Garten – wo gefällt es dir am Besten? Bleib’<br />
dort noch e<strong>in</strong>e Weile (Zeit lassen). Der Besuch im Paradies geht zu Ende. Kommt<br />
langsam wieder hierher zurück. Macht die Augen auf, reckt und streckt euch. – Und<br />
nun erzählt, wenn ihr wollt.“<br />
Es wird <strong>in</strong>teressant se<strong>in</strong>, zu erfahren, wie es den K<strong>in</strong>dern ergangen ist. Sie werden<br />
hören, was für K<strong>in</strong>der das ‚Paradies’ ist. Wahrsche<strong>in</strong>lich sehen sie D<strong>in</strong>ge, die sie<br />
auch <strong>in</strong> Wirklichkeit gerne so hätten. Wir erfahren viel über ihre Vorstellungen und<br />
Wünsche. Die K<strong>in</strong>der werden auch erzählen, ob sie Gott begegnet s<strong>in</strong>d. Sehr<br />
unterschiedliche Gottesvorstellungen werden da se<strong>in</strong>. Alle <strong>in</strong> ihrer Unterschiedlichkeit<br />
wahr- und ernst zu nehmen, ist wichtig für die K<strong>in</strong>der. Sie können vieles<br />
nebene<strong>in</strong>ander stehen lassen. Das ist e<strong>in</strong> wichtiger Schritt auf dem Weg zu Toleranz.<br />
Beten mit Leib und Seele: Das Vaterunser<br />
*Das Vaterunser können wir <strong>in</strong> meditativer ‘Körpersprache’ beten. Man kann sich mit<br />
den K<strong>in</strong>dern geme<strong>in</strong>sam Vorschläge für die Gebärden überlegen oder folgenden<br />
Vorschlag übernehmen:<br />
Vater unser im Himmel Die Arme werden gerade <strong>in</strong> Richtung Himmel gestreckt.<br />
geheiligt werde de<strong>in</strong><br />
Name<br />
Die Arme gehen zum Körper, die Hände treffen sich auf<br />
dem Herzen<br />
de<strong>in</strong> Reich komme Von der Körpermitte gehen offene, empfangende<br />
Hände nach vorne<br />
de<strong>in</strong> Wille geschehe die Arme kreuzen sich vor der Brust, der Kopf neigt sich<br />
nach vorne<br />
wie im Himmel Hände werden gerade nach oben gestreckt<br />
so auf Erden Hände zeigen nach unten auf die Erde<br />
unser tägliches Brot gib<br />
uns heute<br />
und vergib uns unsere<br />
Schuld<br />
wie auch wir vergeben<br />
unseren Schuldigern<br />
und führe uns nicht <strong>in</strong><br />
Versuchung<br />
die wie e<strong>in</strong>e Schale zusammengenommenen Hände,<br />
werden an den Mund geführt<br />
wir schütteln uns, lassen alles von uns abfallen<br />
wir reichen uns die Hände, e<strong>in</strong>e Versöhnungsgeste<br />
Arme gehen waagrecht nach vorn, Handflächen<br />
senkrecht nach vorne. E<strong>in</strong>e Abwehrgeste<br />
sondern erlöse uns von Die Hände treffen sich <strong>in</strong> Höhe <strong>des</strong> Herzens vor der<br />
147
dem Bösen Brust, wir öffnen die Arme weit, als wenn wir jemandem<br />
empfangen wollen<br />
denn de<strong>in</strong> ist das Reich<br />
und die Kraft und die<br />
Herrlichkeit<br />
die geöffneten Arme gehen nach oben<br />
<strong>in</strong> Ewigkeit, Amen Wir nehmen uns an den Händen.<br />
Dr. Heiderose Gärtner, O Gott, me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d will beten, Claudiusverlag: Viele<br />
junge Eltern haben e<strong>in</strong> distanziertes Verhältnis zu Kirche und christlichem<br />
Glauben. Häufig begegnen sie religiösen Fragen durch ihre K<strong>in</strong>der: Wenn im<br />
K<strong>in</strong>dergarten gebetet wird oder Freunde erzählen, dass sie zu Hause beten,<br />
entstehen bei den K<strong>in</strong>dern viele Fragen. Die Erwachsenen s<strong>in</strong>d oft hilflos und<br />
wissen ke<strong>in</strong>e Antwort. Behutsam nähert sich die Theolog<strong>in</strong> Dr. Heiderose<br />
Gärtner den Ängsten und Vorbehalten verunsicherter Eltern. Sie zeigt Wege<br />
auf, wie verschüttete Zugänge zum Gebet wieder entdeckt werden können. Durch die<br />
kritische Ause<strong>in</strong>andersetzung mit den eigenen Gottesbildern und dem Ausprobieren<br />
unterschiedlicher Gebetsformen wird es möglich, e<strong>in</strong>e persönliche Spiritualität zu entwickeln.<br />
Dadurch können sie Ihre K<strong>in</strong>der auf ihrem Weg <strong>in</strong> e<strong>in</strong> gel<strong>in</strong>gen<strong>des</strong> Leben begleiten. Mit<br />
vielen konkreten Tipps und Gebetsvorschlägen. (www.familiengebet.de)<br />
Zurück zum Inhaltsverzeichnis<br />
zurück zum Inhaltsverzeichnis der Anlagen<br />
Methoden und Wege zu mystischer Erfahrung<br />
Inhalt der Anlage „Wege und Methoden zu mystischer Erfahrung“:<br />
„Verwunderung und Staunen“<br />
„Innere Bilder und subtile Phänomene erfahren“.<br />
„Ins Herz der Bilder e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen“<br />
„Formlose Zustände erfahren - die bilderlose Schau<br />
„Nicht-Gott und Nicht-Bild erfahren“<br />
„Das letzte H<strong>in</strong>dernis“<br />
„Nonduales Se<strong>in</strong> – Das Ich verschw<strong>in</strong>det“<br />
„Gottes Auge ist me<strong>in</strong> Auge“<br />
„E<strong>in</strong>sse<strong>in</strong> <strong>in</strong> Christus“<br />
„Woh<strong>in</strong> nach der nondualen Erfahrung?“<br />
Verwunderung und Staunen<br />
„Der erste Schritt auf dem mystischen Weg ist das Staunen [...] Die Seele braucht das<br />
Staunen, das immer wieder erneute Freiwerden von Gewohnheiten, Sichtweisen,<br />
148
Überzeugungen, die sich wie Fettschichten, die unberührbar und unempf<strong>in</strong>dlich<br />
machen, um uns lagern.“<br />
Mystiker versuchen, jeden Augenblick mit allen S<strong>in</strong>nen zu schmecken, um das<br />
Gewahrse<strong>in</strong> im Jetzt verankern zu können.“ Das „führt irgendwann zur »sapientia«, der<br />
Weisheit <strong>des</strong> Erkennens, dass die ganze Schöpfung nach Gott schmeckt, wie Meister<br />
Eckart sagte.“ Auch die Lektüre mystischer Zeugnisse kann e<strong>in</strong>e erste »Sensibilisierung<br />
für das mystische Erleben« erzeugen und empf<strong>in</strong>dungsfähig für den »Göttlichen<br />
Bereich« machen.<br />
Viele Menschen f<strong>in</strong>den den Zugang durch weitere »irrationale E<strong>in</strong>fallstore«, die ihnen<br />
das Herz öffnen: Musik, Tanz, Poesie, Kunst, Natur, liebevolle oder schmerzliche<br />
Begegnungen. Sie alle können das Geheimnis der Wirklichkeit mitten <strong>in</strong> der Welt<br />
spürbar machen.<br />
„Oft ist es die Schöpfung, das Wilde, Erhabene und Schöne <strong>in</strong> der Natur, das e<strong>in</strong>en<br />
vorbereitet auf die Begegnung mit Gott. 177 Nichts anderes empfahl Jesus <strong>in</strong> der<br />
Bergpredigt, als er auf die Vögel am Himmel und die Lilien auf dem Felde h<strong>in</strong>wies - sie<br />
leben im re<strong>in</strong>en Jetzt. Viele christliche Mystiker s<strong>in</strong>d ihm gefolgt und haben<br />
Naturphänomene meditiert, um diese irdische Wirklichkeit radikal neu zu erfahren.<br />
Bernhard von Clairvaux sprach sogar e<strong>in</strong>mal davon, er habe gar ke<strong>in</strong>e anderen<br />
geistlichen Lehrer gehabt als die Buchen und die Eichen.“ Das wird als „nonduales<br />
E<strong>in</strong>swerden mit Phänomenen der sichtbaren Welt“ bezeichnet und verstanden.<br />
„Innere Bilder und subtile Phänomene erfahren“.<br />
„Hat man die wache Durchdr<strong>in</strong>gung der äußeren, s<strong>in</strong>nlichen D<strong>in</strong>gwelt e<strong>in</strong>geübt, so kann<br />
man sie als e<strong>in</strong> Senklot nutzen h<strong>in</strong>unter zur Wahrnehmung der <strong>in</strong>neren subtilen<br />
Wirklichkeit. Das Reich der Seele, zu dem man hier vordr<strong>in</strong>gt, entspricht den bekannten<br />
bilderreichen Zuständen, <strong>in</strong> die man beim Träumen e<strong>in</strong>taucht. Nacht für Nacht machen<br />
wir dabei Erfahrungen mit e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>neren fe<strong>in</strong>stofflichen Körper und e<strong>in</strong>er Welt, die nicht<br />
an physikalische Gesetzmäßigkeiten gebunden ist. In die Traumgeschehnisse kann<br />
man normalerweise nicht e<strong>in</strong>greifen, die Bilder laufen e<strong>in</strong>fach ab. Häufig kann man sich<br />
nicht e<strong>in</strong>mal an die eigenen Träume er<strong>in</strong>nern.<br />
Wer den zweiten Versenkungsgrad erreicht, ist dagegen <strong>in</strong> der Lage, sich bei völlig<br />
wachem Bewusstse<strong>in</strong> frei <strong>in</strong> diesem subtilen Reich zu bewegen. Er hat das Gefühl,<br />
»erwacht« zu se<strong>in</strong>. Er weiß nun, dass er nicht nur e<strong>in</strong> »natürlicher Mensch« ist, sondern<br />
auch e<strong>in</strong> »geistlicher Mensch«. So sagt es Paulus (1. Kor<strong>in</strong>therbrief 2,1-5).<br />
„Man begegnet e<strong>in</strong>er Fülle von <strong>in</strong>neren und teilweise ungewöhnlichen Bildern. Es gibt<br />
Visionen, bedeutungsvolle Träume, direkte E<strong>in</strong>gebungen, Auditionen, Ekstasen und<br />
Verzückungen. Da ist e<strong>in</strong> <strong>in</strong>neres Licht, man sieht Gestalten, D<strong>in</strong>ge und Landschaften,<br />
begegnet seltsamen Wesen und wird von starken Emotionen ergriffen. E<strong>in</strong>e Vielzahl<br />
solcher subtilen Erlebnisse wird <strong>in</strong> der Bibel unter dem Begriff »Gesichte« geführt. Dazu<br />
gehören große Träume, prophetische Visionen und endzeitliche Offenbarungen. Dar<strong>in</strong><br />
wird Gott geschaut oder als der »Absender« erkannt (4. Mose/Numeri 12, 6), der das<br />
Volk oder E<strong>in</strong>zelne zur Umkehr auffordert oder ihnen e<strong>in</strong>e neue E<strong>in</strong>sicht schenkt.“<br />
149
Ins Herz der Bilder e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen<br />
Wer sich dem subtilen Traumbewusstse<strong>in</strong> nähern und e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen möchte <strong>in</strong> das »Herz<br />
der Bilder«, sollte sich <strong>in</strong> Begleitung e<strong>in</strong>es Psychologen, Therapeuten oder Seelsorgers<br />
mit se<strong>in</strong>en Traumbildern ause<strong>in</strong>andersetzen oder meditativ-imag<strong>in</strong>ative Methoden<br />
wählen.<br />
E<strong>in</strong> neuer, aber schon solide erforschter Weg, der sich vorzüglich für diese zweite<br />
Zustandsebene eignet, ist die Wertimag<strong>in</strong>ation. Als wertorientierte Methode fördert sie<br />
vor allem die persönliche Begegnung mit den <strong>in</strong>neren s<strong>in</strong>nstiftenden Geisteskräften <strong>des</strong><br />
Guten, Wahren und Schönen, an denen es heute so sehr mangelt.<br />
Nach e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>gangsphase <strong>in</strong> die subtile Versenkung mit geschlossenen Augen<br />
beg<strong>in</strong>nen etwa 30 M<strong>in</strong>uten lange imag<strong>in</strong>ative Wanderungen durch die Landschaften<br />
der eigenen Seele - ganz <strong>in</strong>dividuell wie beim Träumen. Allerd<strong>in</strong>gs ist man die ganze<br />
Zeit bewusst und kann aktiv den Verlauf der Wanderung mitbestimmen. Hier trifft man<br />
auf die Werte <strong>in</strong> der eigenen Seele <strong>in</strong> Form von Gestalten. Mut beispielsweise ersche<strong>in</strong>t<br />
<strong>in</strong> Form der »Mutigen«, jeweils als Mann und Frau. Diese Wertgestalten s<strong>in</strong>d die<br />
unterstützenden Aspekte <strong>des</strong> unbewussten Geistes, und <strong>in</strong> den Imag<strong>in</strong>ationen vertraut<br />
man sich ihrer Führung an. Sie fördern die Selbstwahrnehmung und S<strong>in</strong>nf<strong>in</strong>dung, aber<br />
auch die Begegnung mit <strong>in</strong>neren Gottesbildern.“<br />
Formlose Zustände erfahren - die bilderlose Schau<br />
E<strong>in</strong> Zeichen fortgeschrittener Versenkung ist das bilderlose Sehen: »In dieser Tiefe gibt<br />
es ke<strong>in</strong>e Gedanken, ke<strong>in</strong>e Bilder, ke<strong>in</strong>e Überlegungen und ke<strong>in</strong> Machen. Alles geht nur<br />
durch das Schauen und das Se<strong>in</strong>.«<br />
„Gerade die reiferen Mystiker bemühen sich nur noch ums Loslassen und<br />
Leerwerden von allen Gedanken, Vorstellungen und Bildern. Nichts soll mehr zwischen<br />
ihnen und Gott stehen. Im Johannesevangelium heißt es ganz schlicht und tief: »Er<br />
muss wachsen, ich aber muss abnehmen« (Johannes 3, 30). Hier im dritten<br />
Versenkungsgrad geht das Erwachen weiter: Jetzt lernt man das Zustandsaggregat<br />
<strong>des</strong> traumlosen, bilderlosen Tiefschlafs vollständig wach zu erfahren. Im »wachenden«<br />
Tiefschlaf verlässt man endgültig die Welt der Formen und Bilder, die man am Tag und<br />
subtil auch noch <strong>in</strong> den Träumen wahrnimmt. Nun geschieht das »Erwachen <strong>des</strong><br />
Bewusstse<strong>in</strong>s aus dem Traum der Form«.“<br />
Nicht-Gott und Nicht-Bild erfahren<br />
Gelassenheit, Nichtsheit, Entwendung s<strong>in</strong>d andere christliche Mystikerworte für das<br />
vollständige Ruhen, ja »Vergessen« aller Kräfte, Bilder und Vorstellungen. Der<br />
Dom<strong>in</strong>ikaner Johannes Tauber (1310-1361) sagt es mit e<strong>in</strong>fachen Worten:<br />
Da ist es so stille, so heimlich und e<strong>in</strong>sam. Da ist nichts als lauter Gott. Da h<strong>in</strong>e<strong>in</strong><br />
kam nie Frem<strong>des</strong>, nie Kreatur, nie Bild noch Weise. Diese E<strong>in</strong>öde, das ist se<strong>in</strong>e<br />
stille, e<strong>in</strong>same Gottheit.<br />
150
Meister Eckart bestand darauf, dass nur durch das E<strong>in</strong>gehen <strong>in</strong> den »Grund, der<br />
grundlos ist« der Weg zur Seligkeit führt:<br />
Du sollst Gott bildlos erkennen, unmittelbar und ohne Gleichnis [... ] Du sollst ihn<br />
lieben, wie er ist e<strong>in</strong> Nicht-Gott, e<strong>in</strong> Nicht-Geist, e<strong>in</strong>e Nicht-Person, e<strong>in</strong> Nicht-Bild [... ]<br />
Denn von nichts anderem wird die Seele vollkommen selig, als dass sie sich <strong>in</strong> die<br />
Wüste der Gottheit stürzt. Wo weder Wort noch Bild ist - damit sie sich dort verliert<br />
und versenkt und sich selbst so zunichte wird [...]Gott wird geboren <strong>in</strong> dem »Nichts«.<br />
Laut Meister Eckart ist es nun die »Gottheit«, Gottes Se<strong>in</strong> an sich, das im dritten<br />
Zustand erfasst wird. Sie löst die bisherigen Vorstellungen von »Gott« ab. Statt der<br />
jeweiligen Gottesbilder begegnet man dem »nackten Gott«, dem »namenlosen Wesen,<br />
dem ersten Ursprung, der Gott alle<strong>in</strong> ist«. Für Tauber war es schon vor 700 Jahren<br />
klar, dass diese Zustandserfahrung selbstverständlich auch Nicht-Christen (»Heiden«)<br />
machen. Er fand es außerdem skandalös, dass die allermeisten Christen trotz der<br />
klaren Lehren ihrer eigenen kontemplativen Meister »wie bl<strong>in</strong>de Hühner«<br />
herumrannten und ke<strong>in</strong>e Ahnung hatten, dass sie über die Versenkung <strong>in</strong> ihrem<br />
eigenen Inneren Gott begegnen konnten.“<br />
Nonduales Se<strong>in</strong> – Das Ich verschw<strong>in</strong>det<br />
„Der Jesuit und Mystikspezialist Josef Sudbrack, lehnt ab, die personale<br />
Beziehungsmystik auf Gott h<strong>in</strong> von der nondualen E<strong>in</strong>heitsmystik zu trennen. Man<br />
kann offensichtlich bei<strong>des</strong> erfahren, und <strong>in</strong> christlichen Mystikerzeugnissen f<strong>in</strong>den sich<br />
laut Sudbrack genügend »fließende Übergänge«. »Wenn die Ekstase auf Gott h<strong>in</strong> dem<br />
Menschen zur >E<strong>in</strong>heitsDu< oder nur >Meer der Se<strong>in</strong>se<strong>in</strong>heit< -<br />
wird der göttlichen Wirklichkeit nicht gerecht.«<br />
Der Weg <strong>des</strong> Zen-Buddhisten wie der Weg <strong>des</strong> kontemplativen Christen führt zum<br />
Verschw<strong>in</strong>den der Dualität. Natürlich gibt es immer wieder Verwirrung, wenn es heißt,<br />
das Ich verschw<strong>in</strong>det. Und für westliche Ohren kl<strong>in</strong>gt es bisweilen noch lästerlicher,<br />
wenn man sagt, Gott verschw<strong>in</strong>det. Aber es ist das Gleiche, worauf Meister Eckart<br />
zielte, als er sagte: »Darum bitte ich Gott, dass er mich quitt mache von Gott.« Das<br />
»Ich« <strong>des</strong> Wachzustan<strong>des</strong> bleibt zwar vollkommen zugänglich, aber man weiß, dass es<br />
eben nicht mehr ausschließlich dieses Ich ist, was das eigene tiefste Wesen ausmacht.<br />
Genauso ist es mit den Gottesvorstellungen.<br />
In den tieferen Versenkungsgraden sollen sämtliche Vorstellungen von »Ich« oder<br />
von »Gott« samt den damit verbundenen Wahrnehmungs-Beschränkungen<br />
verschw<strong>in</strong>den dürfen. Am Ende <strong>des</strong> Weges ist nur noch e<strong>in</strong> Subjekt übrig. Es gibt ke<strong>in</strong>e<br />
Zweiheit von Ich und Gegenüber-Ich mehr, es gibt ke<strong>in</strong>e Gegensätze mehr, alle s<strong>in</strong>d<br />
zusammengefallen <strong>in</strong> ihre ursprüngliche ungetrennte, ungeschaffene E<strong>in</strong>heit. Es gibt <strong>in</strong><br />
diesem Bewusstse<strong>in</strong>szustand auch ke<strong>in</strong>en Graben zwischen Himmel und Erde, ke<strong>in</strong><br />
Getrenntse<strong>in</strong> von Wahrgenommenem und Wahrnehmendem mehr.“<br />
151
Gottes Auge ist me<strong>in</strong> Auge<br />
Hier gehen e<strong>in</strong>em die Augen auf: Der Blick Gottes auf die Welt und der eigene Blick<br />
s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>s geworden. In den Worten von Ken Wilder:<br />
Ich b<strong>in</strong> das Auge <strong>des</strong> Geistes. Ich sehe die Welt, wie Gott sie sieht. Ich sehe die<br />
Welt, wie die Gottheit sie sieht. Ich sehe die Welt, wie der Geist sie sieht [... ] Der<br />
ganze Kosmos entsteht im Auge <strong>des</strong> Geistes [...] <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em eigenen <strong>in</strong>neren<br />
Gewahren.197<br />
Das entspricht tiefer christlicher Mystik, wie man bei Meister Eckart nachlesen kann:<br />
Das Auge, mit dem ich Gott schaue, es ist dasselbe, dar<strong>in</strong> mich Gott sieht. Me<strong>in</strong><br />
Auge und Gottes Auge, das ist e<strong>in</strong> Auge und e<strong>in</strong> Sehen und e<strong>in</strong> Erkennen und e<strong>in</strong><br />
Lieben.“<br />
E<strong>in</strong>sse<strong>in</strong> <strong>in</strong> Christus<br />
Auch bei Jesus sehen die Verfasser von Gott 9.0 diese Erfahrung. „Er war der erste<br />
große nonduale Lehrer <strong>des</strong> Westens, der diese Wahrheit verkündet hatte mit den<br />
Worten: »Ich und der Vater s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>s.« Jesu Zeitgenossen bezichtigten ihn der<br />
Gotteslästerung, weil er »e<strong>in</strong> Mensch sei und sich selbst zu Gott mache« (Johannes<br />
10, 33). Da er<strong>in</strong>nerte Jesus se<strong>in</strong>e Kritiker an das Psalmwort ihrer eigenen jüdischen<br />
Tradition: »Ich habe gesagt: Ihr seid Götter« (Psalm 82,6). Jesus hatte se<strong>in</strong>en Jüngern<br />
versprochen, dass auch sie »den Geist der Wahrheit« empfangen und schließlich<br />
erkennen würden, »dass ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Vater b<strong>in</strong> und ihr <strong>in</strong> mir und ich <strong>in</strong> euch«<br />
(Johannes 14,20). In diesem Versprechen ist die Lehre der nondualen E<strong>in</strong>heit<br />
vollständig enthalten. In der christlichen Mystik wird sie Vergottung genannt. Mart<strong>in</strong><br />
Luther wies darauf <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Predigt aus dem Jahr 1526 h<strong>in</strong>:<br />
Also siehst du, wie Gott sich selbst und Christus, se<strong>in</strong>en lieben Sohn, ausschüttet<br />
über uns und sich <strong>in</strong> uns e<strong>in</strong>gießt, wie er uns <strong>in</strong> sich h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zieht, sodass er ganz und<br />
gar vermenscht wird und wir ganz und gar vergottet werden.<br />
Traurig, dass die meisten Christen bis heute davon ke<strong>in</strong>e Ahnung haben, obwohl sich<br />
die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas größte Mühe geben, darauf<br />
h<strong>in</strong>zuweisen: In der Verklärungsgeschichte versuchen sie aus der Sicht der Jünger zu<br />
beschreiben, wie Jesus versunken war <strong>in</strong> diesen Zustand der nichtdualen Erleuchtung.<br />
Se<strong>in</strong> Angesicht sah ganz anders aus, es leuchtete wie die Sonne, se<strong>in</strong>e Kleider wurden<br />
weiß und glänzend wie das Licht. Dieses Ereignis höchster Lum<strong>in</strong>osität markiert Jesu<br />
Ruhen im absoluten Geist allgegenwärtigen nondualen Gewahrse<strong>in</strong>s. Es zeigt Jesu<br />
ursprüngliches Gesicht, das Gesicht Gottes, das unser aller Gesicht ist:<br />
Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit <strong>des</strong> Herrn wider und<br />
werden so <strong>in</strong> se<strong>in</strong> eigenes Bild verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit durch den<br />
Geist <strong>des</strong> Herrn (2. Kor<strong>in</strong>therbrief 3,8).<br />
152
Es ist das Gesicht <strong>des</strong> »Menschensohns«, das befreit ist von allen Qualen der<br />
Trennung zwischen dem eigenen Selbst und der absoluten Wirklichkeit Gottes. Für<br />
Christen ist es das Gesicht <strong>des</strong> Christusbewusstse<strong>in</strong>s, das immer schon war, immer ist<br />
und immer se<strong>in</strong> wird. »Durch ihn haben wir auch den Zugang zu der Gnade erhalten, <strong>in</strong><br />
der wir stehen« (Römerbrief 5, 2). Wer dieses Gesicht <strong>des</strong> »Menschensohns« als das<br />
se<strong>in</strong>e erkennt, entdeckt auch, dass er niemals von Gott getrennt war und niemals<br />
getrennt se<strong>in</strong> kann - weil es im nondualen Bewusstse<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e Trennung gibt.<br />
Im vierten Versenkungsgrad wird man vom Christ zum Christus. Wie Jesus wird man<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en eigenen ursprünglichen, ewig leuchtenden Zustand <strong>des</strong> göttlichen All-<br />
E<strong>in</strong>sse<strong>in</strong>s mit allem verherrlicht. Das E<strong>in</strong>sse<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Christuswirklichkeit wird<br />
wahrgenommen im tiefsten Inneren und umspannt gleichzeitig die gesamte<br />
Wirklichkeit, den gesamten Kosmos. E<strong>in</strong> Zustand unendlicher und unermesslicher<br />
Freiheit <strong>in</strong> zeitlos leuchtender Gegenwart. In ihm erkennt man, dass man nicht »da<br />
dr<strong>in</strong>nen« ist und die Welt »da draußen« betrachtet. Statt dieser alten Dualität ist nur<br />
noch Gott da, <strong>in</strong> re<strong>in</strong>er Gegenwart und strahlender Unmittelbarkeit.<br />
Man begreift sogar, dass man <strong>in</strong> diesen Zustand nicht e<strong>in</strong>getreten ist, sondern<br />
immerzu schon dar<strong>in</strong> war und ist und niemals aus ihm herausfallen kann. Es ist so, als<br />
hätte man die Tür entdeckt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nicht vorhandenen Wand, wie die Sufis sagen.<br />
Oder die torlose Schranke, wie es im Buddhismus heißt. Man sehnt sich nicht mehr<br />
nach Gott, ganz e<strong>in</strong>fach, weil man <strong>in</strong> Gott ist. Es ist das Ende, ja der »Tod« der großen<br />
Suche.“<br />
„Woh<strong>in</strong> nach der nondualen Erfahrung?“<br />
Wer <strong>in</strong> der nondualen Schau das Wesen Gottes und die E<strong>in</strong>heit allen Se<strong>in</strong>s erfasst<br />
hat, der würde se<strong>in</strong> wahres, <strong>in</strong>nerstes Menschse<strong>in</strong> verfehlen, wenn er nun nur »bei<br />
sich« bliebe. Das Neue Testament berichtet, wie Jesus mit se<strong>in</strong>en Jüngern auf dem<br />
Berg der Verklärung war. Als Petrus, Johannes und Jakobus ihm vorschlugen, dort<br />
oben Hütten zu bauen und sich für immer dort niederzulassen, wollte Jesus<br />
ke<strong>in</strong>eswegs bleiben. Er stieg den Berg h<strong>in</strong>ab und stellte sich dort unten sofort dem<br />
Leid der Welt: Se<strong>in</strong>e erste Aktivität nach se<strong>in</strong>er Verklärung war, e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Jungen<br />
zu heilen, der an Epilepsie litt - e<strong>in</strong> symbolisches Bild für das dualistische H<strong>in</strong>-undher-Gerissense<strong>in</strong>,<br />
unter dem Menschen leiden (Lukas 9,2-3).<br />
Dieser Dienst der Barmherzigkeit ist für Meister Eckart das wahre<br />
Erkennungszeichen <strong>des</strong> absoluten Se<strong>in</strong>s. Unendliche Barmherzigkeit ist die »allem<br />
vorauslaufende erste Wirkung« Gottes, das Versöhnungszeichen zwischen der<br />
nondualen Wirklichkeit selbst und den dualistischen Leidensformen dieser Welt.<br />
Jesus hat diese heilsame Barmherzigkeit so gelebt, dass er selbst zum Heiland,<br />
Versöhner und Diener se<strong>in</strong>er Mitmenschen wurde. Der freie, liebevolle Dienst am<br />
Mitmenschen drückt die Rückkehr <strong>des</strong> Erwachten vom »Berg der Verklärung« aus.<br />
Er ist aber gleichzeitig auch e<strong>in</strong> Mittel für jeden, um den Berg zu erklimmen und zum<br />
Erwachen zu gelangen. Meister Eckart, der die nonduale Erfahrung gemacht hatte,<br />
schrieb allen Christen diesen heilsamen Satz <strong>in</strong>s Stammbuch:<br />
Wäre e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> solcher Verzückung wie e<strong>in</strong>st Sankt Paulus und wüsste e<strong>in</strong>en<br />
kranken Menschen, der e<strong>in</strong>es Süpple<strong>in</strong>s von ihm bedürfte: Ich achtete es weit<br />
153
esser, er ließe ab von Liebe und Verzückung und diente Gott <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er größeren<br />
M<strong>in</strong>ne!“<br />
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Persönliche Beiträge von Mitgliedern <strong>des</strong> theol. Arbeitskreises<br />
Von Re<strong>in</strong>hard Craemer, E. Hirschler, H. Gärtner-Schultz, W. Grau,<br />
Günter Hegele, Klaus Schmidt<br />
Re<strong>in</strong>hard Craemer<br />
Persönliches theologisches Statement<br />
Für den theologischen Arbeitskreis der EAiD<br />
„Ich habe nun den Grund gefunden, der me<strong>in</strong>en Anker - (ganz gut) - hält." EKG 354<br />
(das im Orig<strong>in</strong>al stehende „ewig" wäre für mich etwas zu vollmundig.)<br />
Dieser Grund ist der (gottbegnadete) Mensch, Jesus von Nazareth - se<strong>in</strong> Leben,<br />
se<strong>in</strong>e Botschaft und se<strong>in</strong> Sterben.<br />
Der Mensch! Nicht der von späteren Jahrhunderten <strong>in</strong> den Himmel h<strong>in</strong>auf<br />
dogmatisierte, mythisierte Christus.<br />
Jesus ist für mich e<strong>in</strong> gültiger Weg, e<strong>in</strong> Zugang zu „Gott", dem unbegreiflichen und<br />
unfassbaren Geheimnis der Welt und unseres Lebens, von dem wir uns - se<strong>in</strong>er<br />
Unbegreiflichkeit wegen - ke<strong>in</strong> „Bildnis" machen sollen, - darum auch ke<strong>in</strong>e noch so<br />
gescheiten theologischen Begriffe oder Vorstellungen.<br />
Jesus hat uns ermöglicht, er hat uns erlaubt, diese geheimnisvolle „Urkraft" (Gott) als<br />
uns liebend zugewandte Macht zu denken bzw. zu glauben. Er tat das, <strong>in</strong>dem er Ihn<br />
(Gott), Sie (diese Kraft), Es (dieses Geheimnis) als „Abba", „lieber Vater" angeredet<br />
und verehrt hat. Kroeger sagt dazu (dem S<strong>in</strong>ne nach): Es ist möglich, zu diesem uns<br />
tragenden, bergenden, tröstenden und richtenden Geheimnis <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e zugleich<br />
ehrfürchtige und vertrauensvolle Beziehung zu treten. Man kann zu diesem<br />
Geheimnis auch „Du" sagen.<br />
Jedenfalls kann ich diese alles umfassende Wirklichkeit, diese Kraft, der ich me<strong>in</strong><br />
Leben verdanke und <strong>in</strong> die ich im Tod zurückzukehren hoffe, nicht mehr als<br />
supranaturale „Gottperson" denken, wie mir überhaupt alle Metaphysik als pure<br />
Spekulation abhanden gekommen ist.<br />
Ich verdanke me<strong>in</strong> Leben „Gott", dieser Kraft, nicht, weil er mich „gemacht", etwa aus<br />
Lehm geschaffen hat - das ist und bleibt Mythologie - sondern weil er mich hat<br />
werden lassen im Rahmen <strong>des</strong> Prozesses der Evolution, den „Er" angestoßen hat<br />
und weiterführt im Ganzen <strong>des</strong> Universums.<br />
Jesus war nicht Gottes Sohn im physischen S<strong>in</strong>n von Abstammung, sondern er<br />
wurde von se<strong>in</strong>en Verehrern aus historisch verständlichen Gründen Gottes Sohn<br />
154
genannt („Würdetitel"), um damit zum Ausdruck zu br<strong>in</strong>gen, was ihnen dieser Mann<br />
bedeutete. Also e<strong>in</strong>e Art Bekenntnisaussage.<br />
Jesus war nicht e<strong>in</strong>fach der Messias/Christus (jedenfalls hat er sich selber so nicht<br />
genannt), sondern er wurde von se<strong>in</strong>en Jüngern und Jünger<strong>in</strong>nen als Messias<br />
geglaubt, wiederum aus historisch nachvollziehbaren Gründen, wenn man weiß,<br />
welche hochgespannten Erwartungen sich im Spätjudentum mit diesem Titel<br />
verbanden.<br />
Ähnliches gilt auch von den dogmatischen Lehraussagen über Jesus, wie sie durch<br />
Mehrheitsbeschlüsse der altkirchlichen Synoden zwischen Nicäa 325 und Chalcedon<br />
451 festgelegt wurden: z.B. „Wahrer Gott vom wahren Gott" oder Christus sei<br />
„Wahrer Gott und wahrer Mensch", „Tr<strong>in</strong>ität".<br />
Gerade wenn Jesus, im Gegensatz zu späteren Dogmatisierungen, als Mensch ernst<br />
genommen wird, bekommen se<strong>in</strong> Lebensvollzug und die Verkündigung dieses<br />
wahrhaft „gottbegnadeten" Menschen e<strong>in</strong>e besondere Brisanz.<br />
Man denke nur an die Bergpredigt: Gewaltfreiheit, nichtmilitärische Friedensarbeit,<br />
Fe<strong>in</strong><strong>des</strong>liebe im S<strong>in</strong>ne von „Entfe<strong>in</strong>dung" („Wenn de<strong>in</strong> Fe<strong>in</strong>d hungert, gib ihm zu<br />
essen." Paulus Rom 12),Versöhnung statt Rache, Vergebung statt Vergeltung. Man<br />
denke an se<strong>in</strong>e Gleichnisse, etwa das vom Verlorenen Sohn: Bed<strong>in</strong>gungslose Liebe<br />
<strong>des</strong> Vaters, also „Gottes", oder die Beispielgeschichte vom Barmherzige Samariter:<br />
Das unausweichliche „Du sollst" angesichts <strong>des</strong> jeweils um der Menschlichkeit willen<br />
unabd<strong>in</strong>gbar Notwendigen.<br />
Man denke an das „Vaterunser", das die gesamte Reich-Gottes-Verkündigung Jesu<br />
gleichsam zusammenfasst: Reich Gottes ist überall, wo der Wille <strong>des</strong> „bed<strong>in</strong>gungslos<br />
liebenden Gottes" geschieht - und zwar auf Erden, also ganz irdisch, so wie im<br />
„Himmel".<br />
In der Konsequenz dieser Überlegungen erhält e<strong>in</strong>e Formulierung Jesu besondere<br />
Aktualität: „Wo zwei oder drei versammelt s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Namen (also <strong>in</strong> der Liebe),<br />
da b<strong>in</strong> ich (geistig!) mitten unter ihnen."<br />
Für mich heißt das: Wo immer <strong>in</strong> der Welt Menschen beie<strong>in</strong>ander s<strong>in</strong>d, um auch nur<br />
e<strong>in</strong> paar Schritte <strong>in</strong> Richtung mehr Humanität zu tun, da wird „Reich Gottes" gebaut,<br />
das Reich <strong>des</strong>sen, dem wir unser Leben verdanken. Das bedeutet für mich, Glauben<br />
an Jesus und mit ihm Vertrauen auf das Leben und den, dem wir es verdanken, der<br />
Urmacht, die wir mit dem Urwort „Gott" bezeichnen.<br />
Ich hoffe damit leben und e<strong>in</strong>mal darauf auch getrost sterben zu können.<br />
Eberhard Hirschler:<br />
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Betrachtung zum Arbeitskreis-Thema „Das Gottesbild heute“<br />
Alles was Dir vor die Hände kommt es zu tun mit de<strong>in</strong>er Kraft, das tue !<br />
Denn bei den Toten, zu denen du fährst,<br />
gibt es weder Tun noch Denken, weder Erkenntnis noch Weisheit<br />
Prediger 9,10<br />
155
Und so mögen<br />
die Theologen weiterh<strong>in</strong> ihren jeweiligen Glauben an ihren jeweiligen Gott erklären,<br />
die Agnostiker ihren jeweiligen Glauben an ihren jeweiligen Relativismus und<br />
die Atheisten ihren jeweiligen Glauben an die Sicherheit ihres jeweiligen Wissens.<br />
Wichtig ist,<br />
dass sie alle es tun mit Respekt vor dem Glauben anderer Glaubender,<br />
dass sie alle dem Frieden dienen,<br />
dass sie alle nicht das Sichtbare verfälschen und K<strong>in</strong>dern nicht ihre spezielle<br />
Weltsicht als e<strong>in</strong>zig mögliche Weltsicht oktroyieren<br />
und dass sie nicht mit der Schläue ihrer Argumentationen die Gier und den Krieg<br />
rechtfertigen.<br />
Schön ist es <strong>in</strong> der Welt <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>, weil sie Geborgenheit bieten kann,<br />
auch wenn der deus manchmal e<strong>in</strong> absconditus ist.<br />
Spannend ist es <strong>in</strong> der Welt <strong>des</strong> Wissens, weil sie Aufgabe ist.<br />
Schön und spannend wird es dort, wo beide Welten – <strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander verschränkt –<br />
das Leben tätiger Menschen glücklich machen.<br />
Wichtig ersche<strong>in</strong>t, dass das Diskutieren das Tun begleitet, nicht es ersetzt.<br />
Perspektive:<br />
Das Positive der Religionen ist <strong>in</strong> die Verfassungen der Demokratien e<strong>in</strong>gegangen.<br />
Diese Verfassungswirklichkeit muss täglich neu verteidigt und an die täglich neue<br />
Realität angeglichen werden – auch gegen die Religion(en):<br />
Durch Teilnahme und Teilhabe an der Politik <strong>in</strong> unserer Weltpolis.<br />
Die ethische Vertiefung und Begründung aller Verfassung(en) durch e<strong>in</strong> weltweit<br />
akzeptiertes Weltethos, wie es von Hans Küng und anderen bereits entwickelt wurde,<br />
könnte der globale Überbau für das geme<strong>in</strong>same HAUS ERDE werden.<br />
Und nur geme<strong>in</strong>sam kann das größte Übel dieser Welt, die größte Gefahr für unser<br />
HAUS ERDE geme<strong>in</strong>sam und friedlich (wenngleich vermutlich schmerzlich für alle)<br />
beseitigt werden, nämlich die Wurzel aller Übel: Die seit langem viel zu große und<br />
immer noch wachsende Zahl der gleichzeitig im HAUS ERDE lebenden Menschen.<br />
Passion. E<strong>in</strong> Gedicht von Dr. Heiderose Gärtner<br />
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156
Dem Leiden und Sterben Jesu hilflos ausgesetzt,<br />
fragten sie nach dem Wozu und Warum.<br />
Wo ist der S<strong>in</strong>n?<br />
So starb er, wie sie me<strong>in</strong>ten: Für unsre Sünden,<br />
Er litt für uns, anstelle von uns,<br />
versöhnte Gott.<br />
War das der Gott Jesu?<br />
Der Gott, den er Abba, Papi nennt?<br />
Dem er vertraute?<br />
Unergründlich: Warum und Wozu.<br />
Viel erklärt und wenig gewusst.<br />
Und doch: er hat durchlitten,<br />
alles, was e<strong>in</strong>em Menschen blühen kann,<br />
bis <strong>in</strong> die f<strong>in</strong>steren Tiefen <strong>des</strong> To<strong>des</strong>.<br />
Wozu und Warum? Unergründlich?<br />
In ihm aber zeigte sich der Grund<br />
Im Grund <strong>des</strong> anderen Gott zu sehen.<br />
Dem Leiden und Sterben Jesu hilflos ausgesetzt,<br />
fragten sie nach dem Wozu und Warum.<br />
Wo ist der S<strong>in</strong>n?<br />
So starb er, wie sie me<strong>in</strong>ten: Für unsre Sünden,<br />
Er litt für uns, anstelle von uns,<br />
versöhnte Gott.<br />
War das der Gott Jesu?<br />
Der Gott, den er Abba, Papi nennt?<br />
Dem er vertraute?<br />
Unergründlich: Warum und Wozu.<br />
Viel erklärt und wenig gewusst.<br />
Und doch: er hat durchlitten,<br />
alles, was e<strong>in</strong>em Menschen blühen kann,<br />
bis <strong>in</strong> die f<strong>in</strong>steren Tiefen <strong>des</strong> To<strong>des</strong>.<br />
Wozu und Warum? Unergründlich?<br />
In ihm aber zeigte sich der Grund<br />
Im Grund <strong>des</strong> anderen Gott zu sehen.<br />
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157
Werner Grau: Was ich glaube. Me<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Beitrag zum <strong>Glaubens</strong>pluralismus.<br />
Worte der Bibel, theologische Lehrsätze, Dogmen, diese Botschaften wecken bei ihren<br />
Empfängern niemals den gleichen Glauben. Nicht zu den verschiedenen Zeiten und auch nicht<br />
unter Zeitgenossen. Immer reagieren wir auf die Botschaft als die je E<strong>in</strong>zelnen und als K<strong>in</strong>der<br />
unserer Zeit.<br />
Wenn wir dabei etwas vernehmen, was wir geme<strong>in</strong>sam mit anderen glauben können, dann<br />
durch Vermittlung der Tradition. Hüter<strong>in</strong> dieser Tradition im Glauben durch die Zeiten ist die<br />
Kirche. Kern der Tradition ist das Wort der „Heiligen Schriften“, das den Glauben nährt und<br />
se<strong>in</strong>e theologische Interpretation. Am „Wort“ und mit der Tradition ereignet sich me<strong>in</strong><br />
Glaube, so wie ich ihn glauben kann. Ich b<strong>in</strong> dabei nicht abhängig von „Mutter Kirche“.<br />
Denn sie gewährt mir die Freiheit, mit diesem me<strong>in</strong>em ganz persönlichen Glauben durch die<br />
offenen Türen ihrer Verkündigung auf ganz verschiedenen Wegen zu gehen.<br />
Deshalb kann ich auch im Gottesdienst noch immer ohne Scheu und Irritation die Worte <strong>des</strong><br />
Apostolikums sprechen. Warum sollten mich dabei Zweifel befallen? Doch nicht beim<br />
Gedanken an Gott den Allmächtigen, den Schöpfer <strong>des</strong> Himmels und der Erde. Vielleicht e<strong>in</strong><br />
leichtes Achselzucken bei der Formel von der „Jungfrau Maria". E<strong>in</strong> Kopfschütteln dann doch<br />
bei der Auferstehung der Toten. Aber gewiss nicht beim Glauben an das ewige Leben. Und<br />
„an Jesus Christus, se<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>geborenen Sohn unseren Herrn.“ Ob Inkarnation <strong>des</strong> Logos<br />
oder maßgebender Mensch, das ist die Bandbreite <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>. Ke<strong>in</strong> Grund zum<br />
Schweigen.<br />
Das <strong>Glaubens</strong>bekenntnis (so e<strong>in</strong> Gedanke von Petra Bahr) – das s<strong>in</strong>d ja nicht die<br />
„Allgeme<strong>in</strong>en Geschäftsbed<strong>in</strong>gungen", die von mir geme<strong>in</strong>sam mit anderen bei besonderem<br />
Anlass oder sogar allsonntäglich im Vollzug <strong>des</strong> Aussprechens quasi unterschrieben werden<br />
müssen. Weil e<strong>in</strong>e religiöse Existenz eben nichts mit der Unterschrift unter dogmatische<br />
Richtigkeiten zu tun hat. Im Bekenntnis aktualisieren wir vielmehr den <strong>Glaubens</strong>schatz der<br />
Kirche für unsere Gegenwart und jeder wird sich dabei das für ihn Richtige denken, das, was<br />
er eben glauben kann. Niemand darf ihm das verwehren, darauf sollen wir bestehen.<br />
Alternative Bekenntnisse, bei denen sich wieder e<strong>in</strong> jeder se<strong>in</strong> Teil denken muss, würden uns,<br />
sollten sie mehr se<strong>in</strong> als Exempel für <strong>Glaubens</strong>möglichkeiten, kaum <strong>in</strong> die Geme<strong>in</strong>de der<br />
Gläubigen auf der Welt und <strong>in</strong> die Reihe derer stellen, die vor uns geglaubt haben, so wie das<br />
beim Sprechen <strong>des</strong> Apostolikums geschieht. Mit ihm bekenne ich nicht vor kritischen<br />
Zuhörern, um sie zu überzeugen. Ich spreche geme<strong>in</strong>sam mit anderen, und viele von ihnen<br />
sprechen auch dort, wo ich vielleicht e<strong>in</strong> schweigen<strong>des</strong> Fragezeichen mache, oder mit der<br />
Schulter zucke.<br />
Ich halte mich auch nicht für gescheiter als die, die vor unserer Zeit diese Worte für ihren<br />
christlichen Glauben gefunden haben. Auch wenn ich anderes und mehr über die Welt gelernt<br />
habe, was sie nicht gewusst haben. Ich bete wohl auch anders, weil ich <strong>in</strong> anderen Umständen<br />
lebe, von denen me<strong>in</strong>e Vorstellungen der Welt und von Gott mit bestimmt werden. Nur: Me<strong>in</strong><br />
Glaube wird damit nicht qualitativ überlegen. Eher befallen mich Zweifel, mancher Zugang<br />
158
zum Glaubbaren sei bei mir und me<strong>in</strong>en Zeitgenossen verschüttet, weil wir nur noch sehr<br />
enge Vorstellungen vom Glaubhaften haben.<br />
Fortschritt <strong>in</strong> <strong>Glaubens</strong>d<strong>in</strong>gen sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e fragwürdige Sache. Doch für das, was für den<br />
„modernen Menschen" glaubhaft se<strong>in</strong> kann, dafür öffnet ihm gerade die Wissenschaft, der er<br />
Vertrauen sozusagen auf Vorschuss schenkt, immer wieder neue erstaunliche Perspektiven,<br />
weit entfernt davon, ihm e<strong>in</strong> def<strong>in</strong>itiv festgelegtes Weltbild zu liefern, das nur noch <strong>in</strong><br />
E<strong>in</strong>zelheiten komplettiert werden muss. Das kann dann auch den Glauben mit bestimmen. Ich<br />
me<strong>in</strong>e, es sollte ihn mit bestimmen.<br />
Wir f<strong>in</strong>den uns als Glieder e<strong>in</strong>er Menschenkette mit e<strong>in</strong>er konkreten geme<strong>in</strong>samen<br />
Lebensgeschichte, die nach vorne offen ist, <strong>in</strong> der das Neue sich aber nicht ohne Bedenken<br />
<strong>des</strong> bereits Erfahrenen denken oder auch im Glauben erfahren lässt.<br />
zurück zum Inhaltsverzeichnis der Anlagen<br />
Günter Hegele: Glaube verändert und entwickelt sich. (Auch im Alter).<br />
Me<strong>in</strong> Glaube hat sich e<strong>in</strong>erseits von <strong>in</strong>nen heraus, sozusagen von selbst (allenfalls<br />
<strong>in</strong>teressengesteuert) geändert; andererseits waren der Grund für Veränderungen<br />
E<strong>in</strong>flüsse von außen (neue Literatur, „andersgläubige“ Freunde und Freund<strong>in</strong>nen,<br />
Kollegen, Studenten; Fragen von „Evangelikalen“).<br />
E<strong>in</strong> verändertes Verständnis me<strong>in</strong>es <strong>Glaubens</strong> entstand (natürlich?) <strong>in</strong> der<br />
Fortführung der historisch-kritischen Bibel<strong>in</strong>terpretation und <strong>in</strong> Anknüpfung an die<br />
sich vorsichtig über die Grenzen der traditionellen (lutherischen) Dogmatik h<strong>in</strong>aus<br />
sich öffnende theologische Diskussion, zum Beispiel zu Paul Tillich und He<strong>in</strong>z<br />
Zahrnt. Zunehmend wirkte sich aber der E<strong>in</strong>fluss von sich entwickelnden Bereichen<br />
wie Systemtheorie, Kybernetik, Massenmedien und – Theorie und Methodik der<br />
kirchlichen Jugendarbeit, aus. Auch <strong>in</strong> der Unterhaltungsmusik („Schlager“) fand ich<br />
(als solches meistens unerkannt:) Religiöses.<br />
Die Angst davor, sich auf etwas Verbotenes e<strong>in</strong>zulassen, war stets dabei, obwohl<br />
ke<strong>in</strong>e kirchliche Diszipl<strong>in</strong>ierung erfolgte.<br />
So kam es bei mir zu folgenden theologischen Fragestellungen und Ansätzen (die<br />
allerd<strong>in</strong>gs nur zum Teil veröffentlicht wurden):<br />
Unterstützt durch Hans-Dieter Bastians „Theologie der Frage“ war für mich<br />
nicht mehr die im Vordergrund stehende dogmatische Gewissheit möglich,<br />
sondern mir erschien die Frage die angemessenere E<strong>in</strong>stellung <strong>des</strong><br />
(<strong>in</strong>sbesondere Gottes-) <strong>Glaubens</strong> zu se<strong>in</strong>, also nach dem H<strong>in</strong>tergrund, dem<br />
Zusammenhang, der größeren Wirklichkeit zu fragen. Das brachte zwar<br />
Offenheit für vieles Neue, aber auch beträchtlichen Verlust an theologischer<br />
(Selbst-) Sicherheit. Und: Dauernd Aufträge, Herausforderungen, eigene In-<br />
Fragestellungen der eigenen Person.<br />
159
Weil über transzendente Inhalte <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> (wie Gott) nichts ausreichend<br />
Bestimmtes erkannt und gesagt werden kann, f<strong>in</strong>g ich damit an, nach den<br />
Wirkungen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> zu fragen: „Wie handelt man, wenn man euch<br />
glaubt?“, hat Bert Brecht gefragt. Wie wirkt sich der Glaube auf das Denken<br />
aus? Zwar gilt auch hier anlog: Wer sich <strong>in</strong> die Sonne legt wird braun. Es<br />
ergibt sich aber Entscheidungsspielraum dafür, ob ich das will oder nicht.<br />
Zugegeben bekommt das <strong>Glaubens</strong>verständnis dadurch etwas (zuviel?)<br />
Pragmatisches. Aber ich f<strong>in</strong>de nichts Anstößiges dabei, auch beim Glauben<br />
nach der Lebensdienlichkeit zu fragen. De facto hat (auch) der christliche<br />
Glaube ungezählten Menschen praktisch beim Leben geholfen.<br />
Das habe ich dann, – sícher sehr unzulänglich – als Methode <strong>in</strong> der Form von<br />
Pro- und Contra-Argumenten auf <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halte angewendet. Man muss<br />
natürlich auf Distanz zu manchen Selbstverständlichkeiten kirchlicher Lehre<br />
gehen, um Vor- und Nachteile (für wen?) mancher <strong>Glaubens</strong><strong>in</strong>halte abwägen<br />
zu können. Denn nach Me<strong>in</strong>ung vieler Christen geht es beim Glauben nicht<br />
vorrangig um Lebenshilfe, sondern um Wahrheit.<br />
Mir ist aber die Erfahrung und Erkenntnis sehr wichtig, dass sich sche<strong>in</strong>bar<br />
e<strong>in</strong>ander widersprechende <strong>Glaubens</strong>weisen durchaus zusammen praktizieren<br />
lassen, und das von e<strong>in</strong>-und-derselben Person. Ob an Gott als größere<br />
Wirklichkeit geglaubt oder als Person zu ihm gebetet wird, ist für mich ke<strong>in</strong><br />
Entweder-Oder, (über das heftig – und noch heute z.T. gewalttätig –<br />
gestritten werden muss), sondern e<strong>in</strong> Sowohl-als-auch, das auch das<br />
Zusammenleben verschiedener Religionen und Konfessionen besser<br />
gel<strong>in</strong>gen lässt. (Mystische Frömmigkeit ist offenbar schon weiter, mir aber<br />
praktisch nicht naheliegend).<br />
Als Beispiel können die neuen religiösen Lieder gelten: Sie schienen am<br />
Anfang ihres Entstehens überhaupt nicht zu den jahrhundertelang bewährten<br />
Chorälen zu passen. Heute stehen über 100 im <strong>Evangelische</strong>n Gesangbuch.<br />
Warum sollte das nicht auch mit neuen <strong>Glaubens</strong>sätzen so se<strong>in</strong>?<br />
Ich b<strong>in</strong> froh und dankbar dafür, dass sich im Verlauf dieser religiösen<br />
Entwicklung viele Möglichkeiten <strong>in</strong>dividueller <strong>Glaubens</strong>gestaltung eröffnet<br />
haben – aber auch von vielem Abschied genommen werden muss (wie<br />
K.P.Jörns <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em gleichnamigen Buch schreibt und Udo Jürgens so traurig<br />
bes<strong>in</strong>gt.) Vieles aus der Tradition lässt sich nach heutigem Verständnis<br />
zufriedenstellend <strong>in</strong>terpretieren und „übersetzen“, wenigstens als historische<br />
Entwicklungsstufe verständlich machen. Ich glaube (und erfahre), dass<br />
traditionell-konservativ Glaubende im Wesentlichen die gleiche<br />
Grunde<strong>in</strong>stellung haben als ihre für neues <strong>Glaubens</strong>verständnis offene<br />
Mitmenschen. (Vielleicht muss man mit G. Theißen die „Fundamentalisten“<br />
ausnehmen).<br />
160
Bei der Arbeit an den drei veröffentlichten Stellungnahmen (zu Kroeger, Küng<br />
und Polk<strong>in</strong>ghorne) und den „<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> christlichen <strong>Glaubens</strong>“ habe ich<br />
viel über Möglichkeiten und Probleme anderer als die bisher eigenen<br />
<strong>Glaubens</strong>vorstellungen gelernt (sie s<strong>in</strong>d immer noch <strong>in</strong> großen Teilen<br />
ungeklärt). Ich weiß nicht, wie sich die weitere „Evolution <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“<br />
entwickeln wird. Aber ich b<strong>in</strong> dankbar dafür, <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Alter (noch) dabei<br />
se<strong>in</strong> zu dürfen.<br />
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Klaus Schmidt: Zum Verhältnis von "Altem" Testament und "Neuem" Testament<br />
Es wird immer e<strong>in</strong>zelne Aspekte geben, die dem e<strong>in</strong>en oder anderen Teilnehmer<br />
nicht ganz entsprechen.<br />
Aus me<strong>in</strong>er Sicht ist zu folgenden zwei Punkten Ergänzung und Diskussion<br />
erforderlich.<br />
1. Wie ist das Verhältnis von Altem Testament und Neuem Testament zu sehen?<br />
2. Nicht nachlassen <strong>in</strong> dem Bemühen, die Sprache und Begrifflichkeit <strong>des</strong> frühen<br />
Christentums <strong>in</strong> unsere Zeit zu transponieren , um sie so wieder verständlicher zu<br />
machen<br />
Zu 1. Das Verhältnis von AT zu NT (so die gängigen Bezeichnungen von Teilen der<br />
Bibel und ihre Abkürzungen) , das <strong>in</strong> dem Glauben an Gott und Jesus, Auferstehung,<br />
ewiges Leben etc. widergespiegelt wird, ist zu klären.<br />
Gibt es e<strong>in</strong>en neuen Bund? Ist alles neu geworden und das Alte sieht dann alt aus?<br />
Ich glaube und stelle das zur Diskussion:<br />
Es gibt e<strong>in</strong>en Gott , der die Welt erschaffen hat und erhält.<br />
Der uns unter Adelers Fittichen sicher erhält.<br />
Der der Herr ist über Leben und Tod.<br />
Der es Tag und Nacht lässt werden.<br />
Der allgegenwärtig ist, uns führen möchte<br />
aber auch die Grenzen unseres Verhaltens aufzeigt, auch unsere<br />
Möglichkeiten kennt.<br />
Er hat e<strong>in</strong>en Bund mit Israel geschlossen, der auch für alle anderen Völker gilt.<br />
Im Rahmen diese Bun<strong>des</strong> ist er durch Jesus sichtbar, menschlich geworden.<br />
Gott hat se<strong>in</strong>e Nähe zu den Menschen, Ihrem Leid <strong>in</strong> der Nähe zu Jesus am<br />
Kreuz gezeigt.<br />
Die "alte Botschaft Gottes" ist Fleisch geworden, sie gilt weiter. Das Heil ist<br />
aber mit Jesus <strong>in</strong> der Welt erst angebrochen; der Herr wird nach Psalm 110<br />
die Fe<strong>in</strong>de besiegen, während der Messias an se<strong>in</strong>er Seite sitzt und wartet.<br />
Die "Grundströmung" ist Gott <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Handeln, Jesus ist e<strong>in</strong> Teil der<br />
Umsetzung dieses Handelns, nicht etwa die Ablösung oder der Vollender.<br />
161
Die Evangelisten und Paulus haben alle ihre <strong>Glaubens</strong>aussagen bezogen auf die<br />
e<strong>in</strong>zige <strong>Glaubens</strong>quelle, die Schrift und die Propheten. d.h. das NT ist nur auf der<br />
Basis oder aus dem AT heraus zu verstehen, wobei die Begriffe AT und NT natürlich<br />
völlig irreführend s<strong>in</strong>d.<br />
Zu 2.<br />
In dem Bemühen die Sprache und Begrifflichkeit <strong>des</strong> früher Christentums <strong>in</strong> unsere<br />
Zeit zu transponieren, um sie so wieder verständlicher zu machen, sollte man nicht<br />
nachlassen. Hierzu gehört e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive philologische und theologische Erklärung<br />
der Bedeutung der Begriffe aus ihrem kulturellen Zusammenhang heraus.<br />
Es muss vor allem deutlich werden, dass derjenige, der die alte Begrifflichkeit<br />
benutzt, sie selber versteht und erklären kann, wenn er befragt wird. Es darf nicht der<br />
E<strong>in</strong>druck entstehen, dass hier durch e<strong>in</strong>en üblichen Sprachgebrauch (religiöser<br />
Sprachcode) etwas verschleiert wird, was man ohneh<strong>in</strong> nicht verstehen kann.<br />
Die Ersetzung alter Begriffe durch moderne Begriffe, zum Beispiel aus den<br />
Naturwissenschaften, sche<strong>in</strong>t mir nur sehr bed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e mögliche Lösung zu se<strong>in</strong>.<br />
Gottes Kraft, Gegenwart durch den Begriff <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> zu verdeutlichen, ersche<strong>in</strong>t mir<br />
sehr problematisch. Feld bedeutet Acker oder militärisch Kriegsgebiet oder der<br />
physikalische Begriff ist geme<strong>in</strong>t. Fragt man e<strong>in</strong>en Nichtnaturwissenschaftler nach<br />
der Bedeutung <strong>des</strong> Feldbegriffs, dann wird se<strong>in</strong>e Antwort vage se<strong>in</strong>. Der<br />
Naturwissenschaftler wird diesen Begriff mit Skalaren, Gradienten, L<strong>in</strong>ien gleicher<br />
Feldstärke, Kräften, etc <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung br<strong>in</strong>gen. Alle Größen, die er für e<strong>in</strong> Gottesfeld<br />
nicht angeben könnte. Im Ergebnis würde der Naturwissenschaftler se<strong>in</strong>en<br />
Feldbegriff nicht <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang mit dem verme<strong>in</strong>tlich Gesagten br<strong>in</strong>gen können. Der<br />
Nichtnaturwissenschaftler würde e<strong>in</strong>en Begriff, den er nur vage versteht, mit e<strong>in</strong>em<br />
zu erklärenden Bild Gottes <strong>in</strong> Beziehung setzen. Das Ergebnis wäre "vage zum<br />
Quadrat".<br />
Durch e<strong>in</strong>en naturwissenschaftlich klar def<strong>in</strong>ierten Begriff lassen sich Beobachtungen<br />
zusammenfassend (elegant verallgeme<strong>in</strong>ernd) darstellen und zukünftige Phänomene<br />
vorhersagen. Diese e<strong>in</strong>schränkende Begrifflichkeit ist nicht geeignet für e<strong>in</strong>e "offene"<br />
Beschreibung, die auf aktive subjektive Assoziationen angewiesen ist, um e<strong>in</strong><br />
Verstehen zu erreichen. Bei der Verwendung von Begriffen wie Kraft oder Feld<br />
handelt es sich offenbar um e<strong>in</strong>e sehr freie Analogie, bezogen auf nur wenige<br />
Vergleichsmöglichkeiten unterschiedlicher Bedeutungen. Das wurde im Arbeitskreis<br />
schon bei dem Theologen und Physiker Polk<strong>in</strong>ghorne kritisiert.<br />
Peter Stolt: Me<strong>in</strong> Glaube im Wandel<br />
zurück zum Inhaltsverzeichnis der Anlagen<br />
„Glauben“. Dieses Geschehen. Wie kam ich dazu? Angeweht hat es mich. Als<br />
Pimpf, als ich unter Zigtausenden im Olympiastadion saß und nach der Führerrede<br />
„Deutschland, heiliges Wort, du voll Unendlichkeit“ sang. War das nur „Gläubigkeit“?<br />
Oder Präformation für Späteres?<br />
Nach dem Zusammenbruch der Ideale bewegte mich e<strong>in</strong> W<strong>in</strong>d aus anderer Richtung:<br />
In der Gefangenschaft lernte ich Christen kennen. und e<strong>in</strong>e Bibel bekam ich auch. Da<br />
162
erhielt „Glauben“ e<strong>in</strong>en Inhalt, und unter langen Gesprächen überzeugte er mich.<br />
Samenkörner wurden e<strong>in</strong>gestreut. Daraus wuchs e<strong>in</strong> Leben, sag ich mal: e<strong>in</strong><br />
knorriger, alles andere als kerzengrader Baum. Ich b<strong>in</strong> auf ihm herumgestiegen, als<br />
Theologiestudent, als Pastor. Ich entdeckte immer Neues – <strong>in</strong> diesem geisterfüllten<br />
Gotteswort, <strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>schaft, <strong>in</strong> Zielen und Visionen. Ich entdeckte die Kirche als e<strong>in</strong><br />
sonderbar verwachsenes Gebilde, aber mit erstaunlichen Kräften, die Tradition<br />
kritisch pflegten und sogar Reformation anzettelten. Ich zog e<strong>in</strong>e wohl nicht sehr<br />
orig<strong>in</strong>elle L<strong>in</strong>ie: vier Evangelisten samt Paulus, August<strong>in</strong>, Franziskus, Luther,<br />
Schleiermacher, Wichern, Bonhoeffer, Romano Guard<strong>in</strong>i, Ernst Lange. Da hatte ich<br />
Theologie, geistliches Leben und praktisches Christentum – das bildete me<strong>in</strong>en<br />
Glauben. Mit der Gesangbuchpoetik und Kirchenmusik.<br />
Vielleicht ist es der Vorteil e<strong>in</strong>es Theologen, daß er lernte, wie so e<strong>in</strong> <strong>Glaubens</strong>baum<br />
wächst. Ich konnte die Notwendigkeit von Dogmatik (Karl Barth) verstehen,<br />
versöhnte mich mit den Ergebnissen der historisch-kritischen Schule, guckte auf<br />
Gutes und Grausames der Kirchengeschichte. So formulierten wir schon 1965 für die<br />
<strong>Evangelische</strong> Jugend Hamburgs e<strong>in</strong> <strong>Glaubens</strong>bekenntnis als e<strong>in</strong>en Brückentext <strong>in</strong><br />
unsere Gegenwart:<br />
Ich glaube an Jesus von<br />
Nazareth<br />
und gehöre zu ihm.<br />
Er hat Gottes Liebe gelebt,<br />
Er wurde <strong>des</strong>wegen<br />
gekreuzigt,<br />
Gott aber hat ihn<br />
vom Tod auferweckt<br />
und dar<strong>in</strong> ewige Freiheit<br />
begründet.<br />
Er kann Schuld vergeben.<br />
Mit ihm beg<strong>in</strong>nt e<strong>in</strong>e neue<br />
Welt<br />
ohne Krieg und Hunger,<br />
ohne Krankheit und Tod.<br />
Er ist Christus, der Sohn<br />
Gottes.<br />
Ich glaube an Gott,<br />
mit dem mich Jesus<br />
verb<strong>in</strong>det.<br />
Ihm verdanke ich me<strong>in</strong><br />
Leben.<br />
Ihm gehört der Kosmos.<br />
Er lenkt die Geschichte.<br />
Freude an der Schöpfung<br />
und Mut zum Handeln<br />
kommt von ihm.<br />
Er ist unser aller Vater.<br />
Ich glaube an den Heiligen<br />
Geist,<br />
er ist Gottes Gegenwart.<br />
Er lässt Grenzen<br />
überw<strong>in</strong>den.<br />
Er gibt Erkenntnis der<br />
Wahrheit<br />
Und schärft die Gewissen.<br />
Er tröstet.<br />
Er schafft E<strong>in</strong>e Kirche<br />
für alle Menschen<br />
bis zur Vollendung der Welt<br />
<strong>in</strong> Gerechtigkeit.<br />
Amen<br />
163
Es ist im Wesentlichen immer noch gültig und brauchbar für mich. Die vorliegenden<br />
„<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“ lassen Änderungen erkennen, vor allem was die<br />
Verb<strong>in</strong>dlichkeit und Geme<strong>in</strong>samkeit betrifft: Mehr Pluralität, aber nicht alles wird<br />
übernommen (auch nicht von dem, was an Neuem noch kommt).<br />
Me<strong>in</strong>e Berufsarbeit verstand ich oft als die e<strong>in</strong>es Vermittlers. E<strong>in</strong> Schriftgelehrter<br />
gleicht „e<strong>in</strong>em Hausvater, der aus se<strong>in</strong>em Schatz Neues und Altes hervorholt“, steht<br />
<strong>in</strong> Mt 13,52. Die Kirche war das Haupt-Medium für me<strong>in</strong>en Glauben. Soweit, so gut.<br />
Die Zeiten änderten sich. Das mit der Autorität <strong>des</strong> Pfarramtes ist seit fünfzig Jahren<br />
vorbei (sie h<strong>in</strong>dert aber auch weniger). Die 68er zeugten e<strong>in</strong>e neue<br />
Theologengeneration mit anderer Kirchensicht. Die Kirchensoziologie wertete<br />
Hergebrachtes um. Das brachte ungewohnte Herausforderungen im Gespräch mit<br />
Menschen, die nicht als „liebe Geme<strong>in</strong>de“ zu denken, sondern jeder e<strong>in</strong>e Person<br />
eigener Überzeugung und eigenen <strong>Glaubens</strong> waren.<br />
Aber wie oft stieß ich auf diese Mauer, über die Freunde nicht h<strong>in</strong>weg kamen, wenn<br />
sie über Gott und die Welt nachdachten. Woanders ist es e<strong>in</strong>e unüberw<strong>in</strong>dliche<br />
Verhärtung <strong>des</strong> Denkens und Fühlens, wo der Zeitgeist den Zugang zum Religiösen<br />
verschüttet hatte. Ich konstatiere, dass unsere Kirche schwach ist auch <strong>in</strong> ihrer<br />
Kommunikationsfähigkeit. Was ist sie an Aufklärung und Bildung schuldig geblieben,<br />
wie kurz greifen unsere Medien! Umso wichtiger sche<strong>in</strong>t mir auch das kle<strong>in</strong>ste<br />
Bemühen, das christliche Licht leuchten zu lassen. Bei me<strong>in</strong>em Arzt liegt e<strong>in</strong>e Bibel<br />
bei den Zeitschriften.<br />
Ich me<strong>in</strong>e, dass ke<strong>in</strong>er all die <strong>in</strong>dividuellen Bekenntnisse bzw. <strong>Glaubens</strong>arten<br />
vere<strong>in</strong>heitlichen kann. Was man als „Gott“ versteht, wie man Jesus zuhört, wie man<br />
mit den uralten Formulierungen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>bekenntnisses umgeht, bleibt zumeist<br />
e<strong>in</strong> Geheimnis. Doch wie stark bleiben bei alledem unsere Gottesdienste als Band<br />
geme<strong>in</strong>samen Christse<strong>in</strong>s. Wie oft oder selten Jung oder Alt zur Kirche gehen, ich<br />
denke, sie suchen dort seelische Heimat, e<strong>in</strong>en Ort, wo mit ihnen und mit<br />
„Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ ehrlich umgegangen wird.<br />
Noch e<strong>in</strong>s: Ich merkte je länger, <strong>des</strong>to mehr, daß me<strong>in</strong>e liebe Kirche ja gar ke<strong>in</strong>e<br />
Pastorenkirche ist, auch wenn es aus e<strong>in</strong>em Blickw<strong>in</strong>kel so aussehen mag. Es<br />
arbeiteten ja noch andere <strong>in</strong> ihr, und sie waren oft e<strong>in</strong>flussreicher. Ich denke jetzt<br />
nicht an Esoterik-Zauber und an das Marktangebot religiöser Ware. Ne<strong>in</strong>, ich sehe<br />
mitten <strong>in</strong> der Kirche die Kunst und die Künstler als aktive Glieder unseres<br />
Allgeme<strong>in</strong>en Priestertums. Mit Bestärkung oder scharfer Bezweiflung prägen sie<br />
Glauben: Architekten mit den e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich redenden Kirchenräumen, Maler und<br />
Bildhauer mit „bildender Kunst“, Literaten und Poeten, Musiker und Sänger – Frauen<br />
und Männer von damals und von heute. Die vertiefen E<strong>in</strong>sichten, rühren zu Tränen<br />
und ermuntern zu Menschlichkeit. (Auch darauf konnten wir, wie auf so vieles<br />
andere, bei den „<strong>Kernfragen</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>“ nicht e<strong>in</strong>gehen).<br />
Sonderbar empfand ich den Übergang zum „Altersglauben“. Tolerant zieht er sich auf<br />
Elementares zusammen, sucht Antworten auf tiefere, bisher nicht angefasste<br />
Geheimnisse und f<strong>in</strong>det Bücher, deren Antworten wert s<strong>in</strong>d, h<strong>in</strong> und her überlegt zu<br />
werden. Wenn e<strong>in</strong>em dann e<strong>in</strong> Licht aufgeht, befriedigt das und tut dem Altern gut.<br />
Es bleibt wenig noch zu wollen. Das erleichtert. Es gibt mehr zu tragen. Das fällt<br />
schwer. Also braucht der Ältere für se<strong>in</strong>en (wie ich für me<strong>in</strong>en) Glauben diversen<br />
Trost, Gesangbuchlieder, weniger Predigten, aber sehr das Sakrament. Und<br />
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Gespräche mit denen, die man noch <strong>in</strong> der Nähe hat. Das ist e<strong>in</strong>e Form von<br />
Dankbarkeit. Dankbarkeit auch nach oben. Nicht zuletzt dafür, daß ER mir hoffentlich<br />
vergeben wird all den Uns<strong>in</strong>n, den man sich und anderen angetan hat.<br />
H<strong>in</strong>weise auf e<strong>in</strong>ige benutzte Literatur:<br />
zurück zum Inhaltsverzeichnis der Anlagen<br />
Görnitz, Thomas und Brigitte: Die Evolution <strong>des</strong> Geistigen. Quantenphysik –<br />
Bewusstse<strong>in</strong> – Religion. Vandenhoeck&Ruprecht, Gött<strong>in</strong>gen 1992<br />
Halbfas, Hubertus: <strong>Glaubens</strong>verlust. Warum sich das Christentum neu erf<strong>in</strong>den<br />
muss. Patmos-Verlag 2011<br />
Hick, John: Gott und se<strong>in</strong>e vielen Namen. Lembeck Verlag Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 2001<br />
Hick, John: Region. Die menschlichen Antworten auf die Frage nach Leben und Tod.<br />
Diederichs Verlag München 1996<br />
Jörns, Klaus-Peter: Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu e<strong>in</strong>em glaubwürdigen<br />
Christentum. Gütersloher Verlagshaus 2004<br />
Kroeger, Matthias: Der fällige Ruck <strong>in</strong> den Köpfen der Kirche. Kohlhammer Verlag<br />
Stuttgart 2004<br />
Küng, Hans: Credo. Das apostolische <strong>Glaubens</strong>bekenntnis – Zeitgenossen erklärt.<br />
Piper Verlag 1995<br />
Küng, Hans: Der Anfang aller D<strong>in</strong>ge. Piper Verlag 3.Aufl. 2007<br />
Küng, Hans: Projekt Weltethos. Piper Verlag 1990<br />
Küng, Hans: Was ich glaube. Piper Verlag 4.Aufl. 2009<br />
Kunstmann, Joachim: Rückkehr der Religion. Glaube, Gott und Kirche neu<br />
verstehen. Gütersloher Verlagshaus 2010<br />
Küstenmacher, Marion&Werner, Haberer, Tilmann: Gott 9.0. Woh<strong>in</strong> unsere<br />
Gesellschaft spirituell wachsen wird. Gütersloher Verlagshaus 2010<br />
Niemz, Markolf H.: B<strong>in</strong> ich, wenn ich nicht mehr b<strong>in</strong>? E<strong>in</strong> Physiker entschlüsselt die<br />
Ewigkeit. Kreuz Verlag 2.Aufl. 2011<br />
Polk<strong>in</strong>ghorne. J.S., „An Gott glauben im Zeitalter der Naturwissenschaften. Die<br />
Theologie e<strong>in</strong>es Physikers. “ Gütersloher Verlagshaus 2000<br />
Polk<strong>in</strong>ghorne J./M.Welker: An den lebendigen Gott glauben. E<strong>in</strong> Gespräch,<br />
Gütersloh, 2005<br />
Rosien, Peter (Hrsg.): Betr.: Me<strong>in</strong> Gott. Persönliche Bekenntnisse, Erlebnisse und<br />
E<strong>in</strong>schätzungen, Publik-Forum 2008<br />
Schmidt-Leukel, Perry: Religion ohne Grenzen. E<strong>in</strong>e christliche und pluralistische<br />
Theologie der Religionen. Gütersloher Verlagshaus 2005<br />
Spong, John Shelby: Jenseits von Himmel und Hölle. Patmos Verlag Düsseldorf<br />
2011<br />
Spong, John Shelby: Was sich im Christentum ändern muss. E<strong>in</strong> Bischof nimmt<br />
Stellung. Patmos Verlag, Düsseldorf 2004<br />
Stadelmann, Hans-Rudolf: Im Herzen der Materie. Glaube im Zeitalter der<br />
Naturwissenschaften. 5. Auflage. WBG Darmstadt, 2010<br />
Ste<strong>in</strong>dl-Rast, David : credo. E<strong>in</strong> Glaube, der alle verb<strong>in</strong>det. Herder 2010<br />
Theißen, Gerd: <strong>Glaubens</strong>sätze. E<strong>in</strong> kritischer Katechismus. Gütersloher Verlagshaus<br />
2012
Walser, Mart<strong>in</strong>: Über die Rechtfertigung. E<strong>in</strong>e Versuchung. Rowohlt Verlag, Hamburg<br />
2012<br />
Weizsäcker, Beatrice von: Ist da jemand? Gott und me<strong>in</strong>e Zweifel. Piper-Verlag<br />
München 2012<br />
Welker, Michael: Kirche im Pluralismus, Kaiser: Gütersloh 1995, 2. Aufl. 2000.<br />
s. auch Polk<strong>in</strong>ghorne<br />
Weizäcker, Beatrice : Ist da jemand? Gott und me<strong>in</strong>e Zweifel. Piper 2012