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August/September - Experimenta.de

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„Klar, warum nicht …“, er hockte sich neben sie auf die Kante <strong>de</strong>r Stufe,<br />

vermied es aber, sie zu berühren.<br />

„Wie viele das wohl sind?“ Vera hielt jetzt ein einzelnes Blütenblatt zwischen<br />

Daumen und Zeigefinger und bestaunte das hauchdünne Gewebe, das<br />

das Sonnenlicht durchschimmern ließ und in mannigfaltigen Rosatönen leuchtete.<br />

„Du meinst, auf <strong>de</strong>r ganzen Einfahrt hier?“<br />

„Ja, alle Blütenblätter von allen Blüten von diesem Baum.“<br />

„Keine Ahnung“, Simon fühlte sich unbehaglich. „Du stellst merkwürdige<br />

Fragen!“<br />

„Aber das ist doch spannend, man müsste die eigentlich mal zählen.“<br />

„Wozu das <strong>de</strong>nn, du spinnst ja.“ Er klang mürrisch.<br />

„Bist du eigentlich froh, wenn ich gleich wie<strong>de</strong>r nach Hause fahre?“<br />

„Nee, wieso? Ist gut, dass du mal wie<strong>de</strong>r hier bist.“<br />

Sie sah ihn skeptisch an. „Ich hab mehr das Gefühl, ich stör dich.“<br />

„Du störst doch nicht. Wobei <strong>de</strong>nn?“<br />

Während Simon Grasbüschel aus <strong>de</strong>n Fugen zwischen <strong>de</strong>n Pflastersteinen<br />

rupfte, sammelte Vera die Blütenblätter in <strong>de</strong>r langen, schmalen Senke zwischen<br />

ihren Oberschenkeln. Die Blätter raschelten beim Aufheben leise in<br />

ihren Hän<strong>de</strong>n und klangen wie früher <strong>de</strong>r Ba<strong>de</strong>schaum, wenn die feinen Luftbläschen<br />

zerplatzten. Eine <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Mütter hatte die Kin<strong>de</strong>r immer gemeinsam<br />

in die Ba<strong>de</strong>wanne gesteckt, wenn sie von ihren Erkundungstouren verdreckt<br />

nach Hause gekommen waren.<br />

Jetzt senkte Vera das Gesicht in die Blätter.<br />

„Mmh, die riechen schon nach Kirschen! Ein bisschen zumin<strong>de</strong>st.“ Sie richtete<br />

<strong>de</strong>n Oberkörper auf und drehte ihre Beine auffor<strong>de</strong>rnd in Simons Richtung.<br />

Der beugte sich zögerlich über ihren Schoß und schnupperte. Wur<strong>de</strong><br />

schon wie<strong>de</strong>r rot im Gesicht. Er zog die Nase zurück.<br />

„Weiß nicht“, murmelte er und drehte <strong>de</strong>n Kopf weg: Vera sollte das Glühen<br />

auf seinen Wangen nicht sehen. Er nahm eine Handvoll Blütenblätter vom<br />

Bo<strong>de</strong>n und streute sie ihr über die Haare, übers Gesicht. Aber anstatt sich zu<br />

wehren, lächelte sie!<br />

„Noch eine“, bat sie. „Das fühlt sich lustig an.“<br />

Sie schloss die Augen, und er ließ zwei weitere Hän<strong>de</strong> nacheinan<strong>de</strong>r über<br />

ihr andächtig erhobenes Gesicht rieseln.<br />

„Es schneit. Es schneit weiche, duften<strong>de</strong> Schneeflocken.“ Die Flocken verirrten<br />

sich auch in Veras Mund, während sie sprach. Sie pustete, spitzte die<br />

Lippen. Die waren von dunklerem Rosa als die Blüten. Simon schaute weg.<br />

eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 7

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