August/September - Experimenta.de

ganzen chaotischen Kirschblütenblättergewusel, befiel eine neue Freude,
dunkelrot leuchtend, seinen Körper. Diesmal endete das Gerangel nicht in
einem Triumphgeheul des Überlegenen, sondern in plötzlicher, gespannter
Stille, in der Simon seinen Mund auf Veras erstaunte Lippen drückte. Diesmal
errang er nicht einen Sieg, sondern einen Mädchenmund, der warm und
weich und feucht war und sich unter seinem Kuss öffnete und schon nach den
Früchten schmeckte, die der Kirschbaum im Spätsommer tragen würde.
Eine Tür schlug. Sie erschraken. Aber im Haus bewegte sich nichts. Simon
stand auf und schüttelte sich die Blätter von den Kleidern.
„Ich glaube, wir müssen nach Hause“, sagte er. „Deine Mutter wird gleich
kommen, um dich abzuholen.“ Vera nickte stumm, benommen.
Sie schlossen das quietschende Tor zur Villa und gingen schweigend nebeneinander.
Durch dieselben Straßen, an denselben Häusern vorbei wie auf
dem Hinweg. Immer noch sangen die Vögel. Aber dennoch war alles unvertraut.
„Du erzählst niemandem was, oder?“, bat Simon, als sein Elternhaus in
Sichtweite kam. Der Wagen von Veras Mutter stand schon in der Einfahrt.
„Nein, niemandem!“, Vera hob zwei Finger zum Schwur. „Großes Schwarzfußindianerhottentottensüdseepiraten-Ehrenwort!“
Da hätte Simon sie gerne noch einmal geküsst, aber hier gab es keine
Kirschbäume.
Anja Wedershoven hat mit ihrem Text beim Wettbewerb Vom Schreiben der
Sinne einen der beiden ersten Preise errungen. Vgl. Bericht auf Seite 34.
eXperimenta 08 & 09/2008: Die Kunst Seite 9