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PDF-Datei - Religiosophie

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Gisbert König<br />

Religionen für mündige Menschen<br />

Einleitung<br />

Teil 1 Religion der Seele versus Religionen des Ich<br />

Religionsbegriff<br />

Religion der Seele<br />

Religionen des Ich, insbesondere Offenbarungsreligionen<br />

Keine Offenbarung der Offenbarungsreligionen<br />

Teil 2 Religionen der Erkenntnis<br />

Karl Jaspers<br />

Anhang: Der Gottesgedanke<br />

Dalai Lama<br />

Teil 3 Darstellung der eigenen Position<br />

Bestandteile einer Religion<br />

Ethische Grundsätze<br />

Natürliche Glaubensgrundsätze<br />

Übernatürliche Glaubensgrundsätze<br />

Einleitung<br />

Eigene Glaubensgrundsätze<br />

Kein Glaube an die Existenz eines Schöpfergottes<br />

Kein Glaube an ein Leben nach dem Tode<br />

Spiritismus<br />

Übernatürliche Glaubensgrundsätze, Alternative<br />

Namensgebung<br />

Religionsrating<br />

Quintessenz<br />

Literaturverzeichnis<br />

Anlage: Georg Steiner zum Problem der Theodizee<br />

Tz.<br />

1<br />

2<br />

3-8<br />

9-13<br />

14-19<br />

20-21<br />

22-26<br />

27<br />

28<br />

29-30<br />

31-33<br />

34-37<br />

38-40<br />

41<br />

42<br />

43-51<br />

52<br />

53-58<br />

59<br />

S.<br />

2<br />

3<br />

3<br />

4<br />

4<br />

7<br />

9<br />

9<br />

12<br />

14<br />

16<br />

16<br />

17<br />

18<br />

22<br />

22<br />

23<br />

24<br />

26<br />

26<br />

27<br />

30<br />

30<br />

33<br />

37<br />

40


Einleitung<br />

2<br />

"Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines<br />

anderen zu bedienen. ... Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer<br />

Teil der Menschheit ... gerne zeitlebens unmündig bleibt und warum es anderen so leicht<br />

wird, sich zu deren Vormünder aufzuwerfen. Es ist so bequem unmündig zu sein. ...<br />

Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, sich aus der Unmündigkeit<br />

herauszuwickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun.“ (Immanuel Kant). Im<br />

Umkehrschluss kann man Menschen als mündig bezeichnen, wenn sie bereit sind, immer<br />

wieder die Zeit und die Energie aufzubringen, zu den wichtigen Fragen des Lebens durch<br />

Denkarbeit und kritische Auseinandersetzung mit den respektablen Auffassungen<br />

Anderer eigene Überzeugungen zu erarbeiten und danach ihr Leben auszurichten, auch<br />

wenn dieses Mut erfordert. Es gibt Menschen, die zwar im übrigen Leben durchaus<br />

autonom handeln, darunter auch Führungspersönlichkeiten, die jedoch in religiöser<br />

Hinsicht gedankenlos und unkritisch, nicht selten sogar buchstabengetreu, religiösen<br />

Schriften folgen, die vor Jahrtausenden unter völlig anderen gesellschaftlichen<br />

Verhältnissen entstanden und auch damals bereits in erster Linie die persönliche<br />

Meinung und die Gedanken ihrer jeweiligen Verfasser wiedergaben, und sich willig von<br />

mitunter engstirnigen und rückwärtsgewandten Religionsfunktionären leiten lassen.<br />

Die meisten Menschen werden in eine organisierte Religion hineingeboren. Als Kinder<br />

stellen sie sie kaum jemals in Frage. Wenn sie aber erwachsen geworden sind, ist es an<br />

der Zeit, sich kritisch mit der zunächst reflektionslos übernommenen Religion<br />

auseinander zu setzen. Dieses gelingt am besten, wenn man versucht, eine Position<br />

außerhalb dieser Religion einzunehmen, sich mit ihr also wie ein unvoreingenommener<br />

Außenstehender zu befassen, so wie man es eo ipso mit anderen Religionen und<br />

religiösen Vorstellungen macht. Das Ergebnis könnte sein, dass man bei seiner<br />

Kindheitsreligion bleibt, entweder in allen Einzelheiten, die die maßgebenden<br />

Religionsfunktionäre unterrichten, oder mit individuellen Abwandlungen, dass man zu<br />

einer anderen (organisierten) Religion übertritt, ohne oder mit Abwandlungen, oder<br />

seine eigene Religion entwickelt. Im erstgenannten Fall (Beibehaltung ohne<br />

Änderungen) unterscheidet man sich von den Kindern und den unmündigen<br />

Erwachsenen dadurch, dass man nicht aus Gedankenlosigkeit oder Bequemlichkeit in der<br />

durch die Eltern vorbestimmten Religion verharrt, sondern weil man sich selbst diese<br />

Religion neu erarbeitet hat und sich aufgrund dessen voll und bewusst mit ihr<br />

identifiziert. Indessen halte ich diesen Fall eher für unwahrscheinlich. Ein mündiger<br />

Katholik z. B. würde wahrscheinlich nicht an die „unbefleckte“ Empfängnis und die<br />

Himmelfahrt Mariens glauben wollen, desgleichen nicht an die Unfehlbarkeit der Päpste<br />

und würde wohl kaum die Einstellung der Kurie zu Fragen der Sexualität und der<br />

Geburtenkontrolle übernehmen.<br />

Nach Auffassung des Dalai Lama benötigen wir eine Vielzahl von Religionen; im<br />

Grunde genommen brauche jeder Mensch seine eigene Religion, und zwar eine<br />

solche, die seiner geistigen Veranlagung, seiner natürlichen Neigung und seinem<br />

kulturellen Hintergrund am besten entspricht.<br />

Auf der gleichen Linie liegt Hermann Hesse. Bei der Suche nach dem für ihn richtigen<br />

spirituellen Pfad begegnet Siddhartha mit seinem Freund Govinda Buddha. Nachdem sie


3<br />

ihn gehört haben, reiht sich Govinda in die Schar seiner Anhänger ein. Siddhartha glaubt<br />

in Buddhas Lehre einen Widerspruch zu erkennen, der ihn veranlasst, weiterhin nach<br />

seinem Weg zu suchen. Buddha verabschiedet ihn mit den Worten: “Mögest du ans Ziel<br />

kommen.“ Das Gleiche wünscht Siddharta den Jüngern des Buddha und fügt hinzu:<br />

“Nicht steht mir zu, über eines anderen Leben zu urteilen! Einzig für mich, für mich<br />

allein muss ich urteilen, muss ich wählen, muss ich ablehnen.“ Jahrzehnte später<br />

begegnen sich Siddharta und Govinda wieder. Jeder ist seinen Weg gegangen. Siddharta<br />

hat sein Ziel gefunden, Govinda (noch) nicht. Er fragt seinen Freund: „Hast du eine<br />

Lehre? Hast du einen Glauben oder ein Wissen, dem du folgst, das dir leben<br />

und recht tun hilft?“ Siddharta muss ihn enttäuschen: „Ich habe Gedanken gehabt, ja,<br />

und Erkenntnisse, je und je. Ich habe manchmal Wissen in mir gefühlt, so wie man<br />

Leben in seinem Herzen fühlt. Manche Gedanken waren es, aber schwer wäre es für<br />

mich, sie dir mitzuteilen. ... Weisheit ist nicht mitteilbar. Weisheit, welche ein Weiser<br />

mitzuteilen versucht, klingt immer wie Narrheit.“<br />

Jeder muss also seinen Weg selbst finden, ungeachtet der Tatsache, dass es Menschen<br />

gibt, von denen er lernen kann, meist jedoch, ohne von ihnen Unterweisungen zu<br />

erhalten.<br />

In der folgenden Abhandlung setze ich mich mit verschiedenen Religionen auseinander,<br />

und zwar mit der Religion der Seele, den Religionen des Ich (hierzu gehören auch die<br />

Offenbarungsreligionen) und den Religionen der Erkenntnis, und entwickle dabei auf<br />

philosophischer Grundlage eine Religion für mich selbst. Diese hält die Existenz eines<br />

Schöpfergottes eher für unwahrscheinlich. Gleichwohl habe ich mir die Frage gestellt,<br />

was ich in Ansehung Gottes glauben würde oder könnte, wenn ich zu einem späteren<br />

Zeitpunkt hinsichtlich der Existenz eines Schöpfergottes zu der gegenteiligen Auffassung<br />

gelangen sollte. So sind zwei Religionen entstanden, die teilweise, insbesondere in<br />

Fragen der Ethik, deckungsgleich sind, sich aber in der Frage der Existenz Gottes und<br />

eines Lebens nach dem Tode voneinander unterscheiden. Die Bedeutung dieses<br />

zunächst möglicherweise groß erscheinenden Unterschieds relativiert sich, wenn man die<br />

Auffassung von Hirsi Ali teilt: “Religion ist die Art, wie wir uns anderen gegenüber<br />

verhalten.“<br />

In Teil 1 stelle ich die Religion der Seele den Religionen des Ich gegenüber, in Teil 2<br />

befasse ich mich mit Religionen der (philosophischen) Erkenntnis. In einem dritten Teil<br />

entwickle ich unter Bezug auf Gedanken der beiden ersten Teile die erwähnten neuen<br />

Religionen. Am Ende folgt ein Literaturverzeichnis. Wer vorab wissen möchte, zu<br />

welchen Ergebnissen ich gelangt bin, kann die letzten Seiten (Tz. 59: Quintessenz)<br />

zuerst lesen.<br />

Teil 1<br />

Religion der Seele (natürliche Religion) versus Religionen des Ich<br />

Religionsbegriff<br />

(1) Der Begriff Religion kommt vom lateinischen religere, d. h. sorgsam beachten. Was<br />

soll sorgsam beachtet werden? Herkömmlicher Weise die Lehren der jeweiligen


Religionsstifter oder wesentlichen Veränderer, z. B. Echnaton, Moses, Buddha, Paulus,<br />

Mohammed (weiterführend Abschnitt 27).<br />

Religion der Seele<br />

4<br />

(2) Nach Bert Hellinger ( „Die Mitte fühlt sich leicht an“, Kapitel Psychotherapie und<br />

Religion) geht es bei der Religion darum, die uns umgebende erfahrbare Wirklichkeit zu<br />

beachten, die Wirklichkeit wie sie sich zeigt und wie sie sich wandelt mit der Zeit. Diese<br />

Wirklichkeit, so Hellinger, berge für uns Geheimnisse, z. B. das Geheimnis des Lebens<br />

und Vergehens. In dieser Wirklichkeit sähen wir uns auch von Kräften abhängig, deren<br />

Wirken für uns geheimnisvoll bleibt. Im Angesicht solcher Erfahrungen eine Haltung der<br />

Ehrfurcht oder der Demut oder der Andacht vor etwas Geheimnisvollem, das man nicht<br />

versteht, einzunehmen, bezeichnet Hellinger als „Religion der Seele“. Diese religiöse<br />

Haltung sei ohne Anspruch, im Einklang und in Frieden. Sie habe zu tun mit der allen<br />

Menschen gemeinsamen Erfahrung der Welt und der Grenzen, die sie uns setzt. Sie sei<br />

Zustimmung zu den Grenzen, die uns die erfahrbare Wirklichkeit setzt, ohne sie<br />

aufheben oder überschreiten zu wollen. Weil diese religiöse Haltung jedem auf gleiche<br />

Weise zugänglich sei, könne man sie auch „Natürliche Religion“ nennen. Deshalb<br />

verbinde die Religion der Seele bzw. die Natürliche Religion, wo andere Religionen<br />

trennen. Die beschriebene religiöse Haltung sei eine persönliche Leistung. Im Gegensatz<br />

zu den anderen Religionen gebe es hier keine Überlegenheit gegenüber den anderen,<br />

keine Machtansprüche und keine Propaganda. Hier sei jeder einzeln.<br />

Religionen des Ich, insbesondere Offenbarungsreligionen<br />

(3) „Religionen des Ich“ nennt Hellinger die Religionen, die versuchen, die Wirklichkeit<br />

hinter den Erscheinungen in den Griff zu bekommen, sie zu beeinflussen und sich<br />

dienstbar zu machen, z. B. durch Riten, Opfer, Sühne, Gebet. Zu diesen Religionen<br />

rechnet er zunächst die archaischen Religionen, die in einer Zeit entstanden, als der<br />

Mensch sich noch in jeder Hinsicht als abhängig erfuhr und dann versuchte, das<br />

Unheimliche und Gefährliche mit magischen Mitteln und Riten zu bannen. Aus dieser<br />

archaischen Tiefe der Seele komme das Bedürfnis nach Opfer, nach Beschwichtigung,<br />

nach Sühne, nach Einflussnahme.<br />

Diese archaischen Religionen sind auch heute noch bei bestimmten Naturvölkern<br />

anzutreffen, z. B. in Afrika und in Südamerika, teils vermischt mit Elementen der<br />

Offenbarungsreligionen. Diese bilden die zweite Gruppe der Religionen des Ich.<br />

Auch Ludger Lütkehaus verwendet hierfür diesen Begriff, indem er vom Monotheismus<br />

des Ichs spricht ("Nichts", S. 644, 664).<br />

Hellinger: „Offenbarungsreligionen sind Religionen, die auf einen Menschen<br />

zurückgehen, der anderen gesagt hat, er habe von Gott eine Offenbarung erhalten, und<br />

der auffordert, oft unter Androhung der ewigen Verdammnis, seine Offenbarung zu<br />

glauben. Die Offenbarungsreligionen - für uns vor allem das Christentum - sind<br />

gleichsam der Gipfel einer Religion des Ich. Nicht nur ist der Gott, von dem gesagt wird,<br />

er habe sich offenbart, ein Ich, mit allen Eigenschaften eines Ich. Auch der Offenbarer<br />

spricht als ein Ich, das von anderen verlangt, dass sie ihr Ich seinem Ich unterwerfen.<br />

Doch wenn wir uns den Vorgang auch hier unbefangen anschauen, stellen wir fest, dass<br />

der Offenbarer nur von sich redet und der Glaube, den er fordert, letztlich ein Glaube an


5<br />

ihn ist. Damit behauptet er zugleich, dass Gott niemand anderem eine ähnliche<br />

Offenbarung zukommen lassen wird, dass alle Anderen daher von einer ähnlichen<br />

Offenbarung ausgeschlossen sind, und dass Gott selbst sich dieser Offenbarung für alle<br />

Zeiten fügt. Der Offenbarer erhebt sich also durch seine Offenbarung nicht nur über<br />

seine Anhänger, sondern auch über den von ihm verkündeten Gott.“ (S. 221 f) ...“Dieser<br />

Gott wird ausgestattet mit den Eigenschaften, Absichten und Gefühlen, wie wir sie aus<br />

der Erfahrung mit Königen und Herrschern kennen. Daher ist dieser Gott oben und wir<br />

sind unten. Daher unterstellen wir ihm, dass er auf seine Ehre bedacht ist und beleidigt<br />

werden kann und dass er zu Gericht sitzt, belohnt und bestraft, je nachdem, wie wir uns<br />

ihm gegenüber verhalten. Wie ein idealer Herrscher hat er auch gerecht zu sein und<br />

wohltätig und uns zu beschützen gegen Unbilden und gegen unsere Feinde. Wie ein<br />

König hat auch er einen Hofstaat, die Engel und die Heiligen. Viele hoffen, als seine<br />

Auserwählten diesem Hofstaat einmal anzugehören.“ (S. 227)<br />

(4) Die Offenbarungsreligionen verbinden mit dem Glauben eine Morallehre, im<br />

Christentum insbesondere das Gebot der Nächstenliebe und die auf Moses<br />

zurückgehenden Gebote. Hier sei der Hinweis auf Alexander und Margarete Mitscherlich<br />

gestattet, die 1967 in ihrem gemeinsamen Buch "Die Unfähigkeit zu Trauern, Grundlagen<br />

kollektiven Verhaltens" festgestellt haben, dass es nicht nur eine Moral gibt, sondern<br />

viele Moralen und dass die Menschheit sich noch zu keiner Zeit auf eine einheitliche<br />

Moral hat verständigen können, nicht einmal auf einzelne Verhaltensweisen, z. B. das<br />

Gebot: „Du sollst nicht töten.“ (Selbst die katholische Kirche hat dieses Gebot häufig<br />

außer Kraft gesetzt, insbesondere zu Zeiten der Inquisition und des Hexenwahns und bei<br />

ihren gewalttätigen Missionierungen in Südamerika.) Dieses sollten auch die<br />

Offenbarungsreligionen anerkennen und aufhören, ihre jeweiligen Moralvorstellungen zu<br />

propagieren und anderen als überlegen darzustellen. Dieses wäre ein Stück Anerkennung<br />

der uns umgebenden Wirklichkeit.<br />

(5) Es soll nicht verkannt werden, dass die Religionen des Ich zahlreichen Menschen<br />

etwas geben, vor allem das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, aber auch Halt<br />

und Trost. Für viele ist auch nicht möglich, die angestammte Religion zu verlassen, ohne<br />

aus der Familie oder der Volksgruppe, der sie angehören, verstoßen oder isoliert oder<br />

sogar umgebracht zu werden (Hinweis auf den Fall Kamariah Ali, einer Lehrerin aus<br />

Malaysia, die nicht länger Mohammedanerin sein wollte, obwohl alle Malayen lt.<br />

Verfassung von Geburt an Mohammedaner sind sowie den Ende März 2006 durch die<br />

Weltpresse gegangenen Fall Abdul Rahman, einem in Deutschland zum Christentum<br />

übergetretenen Afghanen, der nach Rückkehr in seine Heimat von einem Schariahgericht<br />

vor die Wahl gestellt wurde, entweder zum Islam zurückzukehren oder hingerichtet zu<br />

werden!). Darüber hinaus ist für zahlreiche Menschen, vor allem in den<br />

Entwicklungsländern, das Leben so beschwerlich und leidvoll, dass sie ohne eine tiefe<br />

Gläubigkeit und vor allem ohne den Glauben an ein besseres Jenseits zu Grunde gehen<br />

würden.<br />

Dieses gilt auch für unterprivilegierte Minderheiten in einigermaßen entwickelten<br />

Ländern, z. B. für die Indios in Südamerika, deren Glaube durch eine besonders<br />

inbrünstige Hinwendung zur Gottesmutter gekennzeichnet ist. Die Religion der Seele<br />

respektiert ihren Glauben und ihr religiöses Leben. Sie erwartet aber von den Religionen<br />

des Ich, dass sie sich untereinander und auch die Religion der Seele des Einzelnen<br />

respektieren, also auf Machtansprüche und Propaganda (Missionierung) verzichten.


6<br />

Diese Erwartungshaltung in bezug auf die Religionen des Ich dürfte allerdings wenig<br />

realistisch sein. Der von Hellinger verlangte „Reinigungsprozess“ dieser Religionen findet<br />

jedenfalls nicht generell sondern allenfalls bei einzelnen Mitgliedern dieser Religionen<br />

statt.<br />

(6) Papst Johannes Paul II. hat einmal dem Buddhismus seine Eigenschaft als Religion<br />

abgesprochen, weil ihm der Glaube an einen personifizierten Gott fehle. Nach heftiger<br />

Kritik der Buddhisten hat er diese Einschätzung wieder zurückgenommen. Auch die<br />

Religion der Seele bzw. die Natürliche Religion ist kein Glaube, erst recht kein Glaube an<br />

ein überirdisches Wesen. In seiner Rede in Krakau am 18. August 2002 beklagte der<br />

Papst die „Ungläubigkeit in unserer Zeit.“ Mit Glauben dürfte er den Glauben an die<br />

Existenz Gottes gemeint haben. Folge der Ungläubigkeit sei „Angst vor der Zukunft, vor<br />

Leiden, Leere und Zerstörung.“ Mir erscheint es fraglich, ob die erwähnten Ängste vor<br />

gläubigen Katholiken halt machen. Auch solche Menschen werden erfahrungsgemäß von<br />

Unglücken, Krankheit und Not, von Naturkatastrophen und Kriegen heimgesucht. Sogar<br />

katholische Kirchen bleiben bei solchen Ereignissen nicht verschont, ebenso wenig wie<br />

Synagogen und Moscheen. Den einzigen Vorteil des Glaubens sehe ich in der Hoffnung<br />

auf ein Jenseits, in dem es keine Angst gibt und in dem man vollkommen glücklich ist,<br />

eine Hoffung, die einen die Mühsal des irdischen Lebens besser ertragen lässt, dieses<br />

aber nur, wenn der Glaube an ein solches Jenseits unerschütterlich ist. Ein Glaubender<br />

sollte sich stets dessen bewusst sein, das sein Glaube nicht auf Wissen beruht und daher<br />

auch falsch sein kann, zumal er bei einem Blick in die Welt sieht, dass es noch andere<br />

Glaubenslehren gibt und jede von sich selbst lediglich annehmen kann, die richtige zu<br />

sein.<br />

(7) Die Offenbarungsreligionen stellen ihren Gott dar als eine Persönlichkeit, die nie<br />

einen Anfang hatte und nie ein Ende haben wird, die also seit ewigen Zeiten existiert<br />

und in alle Ewigkeit existieren wird, zudem als eine Persönlichkeit, die allein Kraft ihres<br />

Wollens, gewissermaßen durch Reiben mit einem Seidentuch an einem Zauberstab, das<br />

Weltall und später das Leben auf der Erde und vielleicht auch auf anderen Planeten<br />

geschaffen hat, eine Persönlichkeit, die allwissend ist in bezug auf Vergangenheit,<br />

Gegenwart und Zukunft und die das Leben und die Handlungen eines jeden Lebewesens<br />

und sogar die Gedanken der Menschen aller Zeiten registriert und speichert. Es liegt auf<br />

der Hand, dass eine solche Persönlichkeit dem menschlichen Verstand nicht zugänglich<br />

ist. Diese Auffassung vertritt auch der mittelalterliche Kirchenlehrer Nicolaus Cusanus<br />

(1401-1464). Nach seiner Auffassung kann ein Mensch nicht über den Verstand zum<br />

Glauben gelangen. Wer sich auch nur, wenn auch noch zweifelnd, mit dem Glauben<br />

befasse, müsse schon vom Bazillus des Glaubens infiziert sein. Daraus folgt, dass kein<br />

Mensch sich mit seinem Verstand dafür entscheiden kann, die Lehren einer Religion des<br />

Ich zu glauben. Ähnlich hat sich hat sich der dänische Philosoph Sören Kierkegaard<br />

(1813-1855) geäußert: „Es ist ein Sprung, durch den der Einzelne zum Glauben kommt,<br />

ein Sprung in den Bereich jenseits aller Vernunft, ins Absurde und Paradoxe. "Ich<br />

wage die Behauptung, dass sich die These von Nikolaus Cusanus umkehren lässt: Ein<br />

Nichtglaubender kann zwar nicht über den Verstand zum Glauben gelangen, wohl kann<br />

ein Glaubender über den Verstand dazu kommen, seinen Glauben aufzugeben.<br />

Diejenigen, die sich zu einer der Religionen des Ich bekennen, wurden zum weitaus<br />

überwiegenden Teil in diese Religionen hineingeboren. Sie setzen, vielfach unter<br />

staatlichem Schutz, Gewohnheiten fort. Ein kleiner Teil mag von der einen dieser


Religionen zur anderen übergetreten sein. Dass jemand, der ohne Glauben<br />

aufgewachsen ist, später eine der Religionen des Ich annimmt, dürfte eher selten<br />

vorkommen.´.<br />

7<br />

(8) Rupert Lay, Jesuit, Hochschullehrer und Autor, beklagte in einem Vortrag, dass kaum<br />

ein Christ seine Religion reflektiere, vielmehr fast alle gedankenlos und kritiklos alles<br />

nachplapperten, was die religiösen Vorturner ihnen vorsprächen oder vorschrieben.<br />

Dieses gilt wohl auch für die Angehörigen der anderen Religionen des Ich. Als ein<br />

Beispiel nannte Lay die Bitte des Vater unser: “Führe uns nicht in Versuchung.“ Welch<br />

ärmliches Gottesbild spricht hieraus, das Bild eines Gottes, oder ist es eher ein Götze,<br />

dem es Spaß macht, die Menschen zu verführen, und den diese immer wieder bitten<br />

müssen, solche Späße auf ihre Kosten gefälligst zu unterlassen! Nach Lay handelt es sich<br />

hier offenbar um einen Fehler in der Übersetzung aus dem Aramäischen ins Griechische.<br />

Die richtige Übersetzung laute etwa: “Und lass uns der Versuchung nicht erliegen“.<br />

Dieser Text macht Sinn. 2007 haben die italienischen Bischöfe den Vers geändert; er<br />

lautet dort nun (ins Deutsche übersetzt): "Und lass uns nicht der Versuchung<br />

anheimfallen." So wird er nunmehr auch im Tessin gebetet.<br />

Keine Offenbarung der Offenbarungsreligionen<br />

(9) Die Botschaft der Begründer der Offenbarungsreligionen erscheint mir unaufrichtig:<br />

Ich bin überzeugt davon, dass sie den von ihnen behaupteten Gott nie gesehen sondern<br />

ihn erdacht haben. Sie haben dann Gott in jeder erdenklichen Weise individualisiert und<br />

seine Persönlichkeit ausgeschmückt (ein Bild gemacht), ihm einen Lebenslauf gegeben,<br />

ein Reich und zahlreiche Diener. Am Ende kreieren sie ein mehr oder weniger<br />

umfangreiches Gesetzeswerk, das sie ihrem Gott als seinen Willen unterstellen. Nachdem<br />

sie damit fertig sind, „verkaufen“ sie dieses Produkt ihrer eigenen Gedanken ihren<br />

Mitmenschen als Offenbarung, wohl aus der Furcht heraus, andernfalls kaum Anhänger<br />

gewinnen zu können. Sie behaupten, der von ihnen erdachte Gott sei ihnen, und zwar<br />

ihnen allein, leibhaftig erschienen, er (oder sein Erzengel) habe mit ihnen gesprochen,<br />

sie unterwiesen und sie beauftragt, diese Lehre zu verbreiten. Während die vom<br />

„Offenbarer“ gewonnen Anhänger (lediglich) glauben, ist der Offenbarer der einzige, der<br />

über konkretes Wissen verfügt, das Wissen nämlich, dass sich ihm kein höheres Wesen<br />

offenbart sondern er alles selbst erdacht hat. Jede Religion – wie könnte es auch anders<br />

sein- wurde von einem oder mehreren Menschen erdacht und kann damit ohne<br />

irgendwelche Tabuverletzungen geändert, insbesondere veränderten<br />

Lebensbedingungen angepasst werden.<br />

Die vorstehenden Ausführungen werden nicht dadurch entkräftet, dass Jehova und Allah<br />

bereits vor den Offenbarungen Moses` bzw. Mohammeds erdacht waren und als<br />

Gottheiten verehrt wurden. Der Glaube der Juden an Jehova vor der Offenbarung durch<br />

Moses war so flüchtig, dass sie während Moses` Abwesenheit den Glauben an Jehova<br />

aufgaben. Allah führte, bevor ihn Mohammed zum Objekt seiner Offenbarung machte,<br />

eher ein Schattendasein in einer kleinen Stammesgemeinschaft.<br />

(10) Wenn die behaupteten Offenbarungen wirklich stattgefunden hätten, hätte es im<br />

Interesse Gottes gelegen, den Empfängern der Offenbarungen, im wesentlichen Moses,<br />

Mohammed und Joseph Smith (Begründer der mormonischen Religion im 19.Jh.), für die<br />

Menschen, denen sie die Offenbarungen verkünden sollten, Beweise mitzugeben. So


8<br />

hätte er dem Moses Gesetzestafeln mitgeben können aus einem auf der Erde und auch<br />

sonst im Universum nicht vorkommenden Material, graviert in einer auch mit heutiger<br />

Technik nicht nachahmbaren Weise. Diesen hätte er die Eigenschaft der Unverlierbarkeit<br />

und Unzerstörbarkeit beilegen können. In Anknüpfung an die Darstellung der<br />

angeblichen Himmelfahrt Christi im NT, an deren Anschluss ein jeder einen Engel in<br />

seiner Sprache reden gehört haben soll, hätten die Tafeln die weitere Eigenschaft haben<br />

können, dass sie –auch heute noch- ein jeder in seiner Sprache mit den dazugehörigen<br />

Schriftzeichen lesen könnte, eine Kleinigkeit für einen allmächtigen Gott. Moses hat sich<br />

nicht einmal bemüht, auch nur den kleinsten Beleg für seine angebliche<br />

Gottesbegegnung vorzuweisen, von einem belastbaren Beweis gar nicht zu reden. Er hat<br />

die vermeintliche Offenbarung lediglich behauptet und leichtgläubige Anhänger<br />

gefunden. Genau so hielt es Mohammed mit seinen angeblichen Offenbarungen durch<br />

den Erzengel Gabriel oder Allah selbst, darunter auch Offenbarungen, die allein ihm<br />

persönlich zu Gute kamen: „Er verliebte sich in Aischa, die neunjährige Tochter seines<br />

besten Freundes. Ihr Vater sagte `Warte doch bitte, bis sie in der Pubertät ist´, doch<br />

was geschieht? Er bekommt von Allah die Botschaft, dass sich Aischa für Mohammed<br />

bereit machen soll.“ (Ayaan Hirsi Ali, Ich klage an, S. 80) Smith will von einem Engel auf<br />

goldenen Tafeln das Buch Mormon überreicht bekommen haben, als letzte und<br />

endgültige Offenbarung. Dieses hatte übrigens bereits Mohammed für sich in Anspruch<br />

genommen. Unglücklicherweise hat er nach Fertigung einer Übersetzung vom<br />

Ägyptischen ins Englische die Tafeln dem Engel wieder zurückgegeben. Er hätte sie ja<br />

leicht vorher der Öffentlichkeit präsentieren, sie von Ägyptologen untersuchen lassen<br />

und die Rückgabe an den Engel unter Zeugen vornehmen können. Hier wurde eine<br />

grandiose Gelegenheit für einen echten Gottesbeweis, dazu noch in der Neuzeit, vertan,<br />

zu dumm aber auch.<br />

(11) Die Behauptung einer Offenbarung ist also nur ein geschicktes Marketingargument<br />

zur besseren Verbreitung der Religionen, die sich die „Offenbarer“ ausgedacht haben.<br />

Das selbe gilt für das „Sola-fide-Argument“, wonach nur derjenige die ewige Seligkeit<br />

erlangen könne, der exakt das glaubt, was die Begründer der jeweiligen Religionen bzw.<br />

die nachfolgenden Funktionäre zu glauben vorgeben. Gute Werke allein reichen nicht<br />

aus. Durch Angst Machen sollen also Anhänger bei der Stange gehalten und neue<br />

gewonnen werden. Dieses spricht nicht gerade für die Überzeugungskraft dieser<br />

Religionen.<br />

(12) Die Lehre des „Offenbarers“ muss nicht schlecht sein, sie könnte in ihren<br />

grundsätzlichen Aussagen (zufällig) sogar wahr sein. Dennoch bliebe sie mit dem Makel<br />

behaftet, dass sie auf unredliche Weise in den Handel gebracht wurde. Offensichtlich<br />

messen die heutigen Repräsentanten der Offenbarungsreligionen ihren Lehren aus sich<br />

heraus so wenig Überzeugungskraft zu, dass sie deren Zusammenbruch befürchten,<br />

wenn sie die beschriebenen zweifelhaften Umstände ihrer Entstehung heute kundtun<br />

und eindeutig klarstellen würden, dass ihre Religionen nicht göttlichen sondern<br />

menschlichen Ursprungs sind und dass sie demzufolge in jeder Hinsicht abänderbar sind<br />

–durch die Repräsentanten dieser Religionen, aber für sich selbst auch durch jeden<br />

Menschen, der auf der Suche nach einer ihm gemäßen Religion ist- und vor allem keinen<br />

Raum für Orthodoxie und Fundamentalismus bieten. Geschähe dieses aber dennoch und<br />

würden die Religionsfunktionäre im Zuge dieses Eingeständnisses auf jede weitere<br />

Propaganda (Missionierung) und auch auf jede weitere Machtausübung verzichten, was<br />

auch die Abschaffung der sog. Gottesstaaten und die Entfernung ausschließlich religiös-


9<br />

ideologisch begründeter Normen aus den staatlichen Gesetzbüchern beinhaltete, würde<br />

die Menschheit m. E. den größten Fortschritt der letzten 3000 Jahre vollziehen. Ich bin<br />

mir natürlich darüber im klaren, dass dieses angesichts des Machtstrebens der<br />

Funktionäre, der von ihnen verhängten Lese- und Denkverbote und der Unfähigkeit des<br />

weitaus überwiegenden Teils der Menschheit zu selbständigem, kritischen Denken<br />

niemals geschehen wird.<br />

(13) Bertrand Russel (1872-1970), einer der bedeutendsten Philosophen seit Kant, hielt<br />

Religion für entbehrlich, ja für ein Übel. Sie sei kennzeichnend für noch nicht ganz<br />

erwachsene Menschen (H. J. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Fischer<br />

Taschenbuch 2002, S.770). Dem stimme ich zu, allerdings nur im Hinblick auf die<br />

Religionen des Ich, nicht für die im folgenden behandelten Religionen der Erkenntnis, in<br />

die ich - nach Erweiterungen - auch die Natürliche Religion einordnen werde.<br />

Teil 2<br />

Religionen der Erkenntnis<br />

Ich nähere mich jetzt der Religion von der Philosophie her und stütze mich dabei auf<br />

Gedanken Karl Jaspers’ und des Dalai Lama.<br />

Karl Jaspers (1883-1969)<br />

Die Zitate sind, soweit nicht anders vermerkt, entnommen dem Buch<br />

Karl Jaspers „Einführung in die Philosophie“ (1953)<br />

(14) Das aus dem griechischen stammende Wort Philosoph (philosophos) beinhaltet die<br />

Worte philos - Freund und sophos – Weisheit, Erkenntnis. Ein Philosoph ist also ein<br />

Freund der Weisheit, der sich durch fortwährende und bis zum äußersten gehende<br />

Fragestellungen um Erkenntnis bemüht. Philosophie heißt nach Jaspers: auf dem Wege<br />

sein. Ihre Fragen seien wesentlicher als ihre Antworten und jede Antwort werde zur<br />

neuen Frage (S. 14.) Die Antworten führen nie zu einem „aussagbaren Bewusstsein“. Sie<br />

geben nur eine Möglichkeit wieder, stets mit dem Zweifel behaftet. Insofern hat<br />

Philosophie auch etwas mit Spekulation zu tun. Dennoch birgt dieses Auf-dem-Wege-<br />

Sein nach Jaspers in sich die Möglichkeit tiefer Befriedigung, ja in hohen Augenblicken<br />

einer Vollendung. Diese liege in der geschichtlichen Verwirklichung des Menschseins,<br />

dem das Sein selbst aufgeht. „Diese Wirklichkeit in der Situation zu gewinnen, in der<br />

jeweils ein Mensch steht, ist der Sinn des Philosophierens“ (S 14). Durch Philosophieren<br />

wird nicht mein Wissen sondern mein Selbstbewusstsein anders (S. 36).<br />

(15) Jaspers hat, wie z. B. Platon, Aristoteles, Ibn Tufail (1110-1185) und Averroes<br />

(1126-1198) einen nicht auf Offenbarungen gegründeten ausgearbeiteten<br />

philosophischen Gottesglauben entwickelt, mit dem er sich auch persönlich identifiziert<br />

hat. Jaspers` Gottesglaube ist wesentlicher Bestandteil eines umfassenderen<br />

philosophischen Glaubens, den er 1948 in seiner Schrift Der philosophische Glaube<br />

begründete, 1950 in Radiovorträgen mit dem Thema Einführung in die Philosophie, 1961<br />

in seiner letzten Vorlesung an der Uni Basel mit dem Thema Chiffren der Transzendenz


und 1962 in seinem Werk Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung<br />

erweiterte. Er bringt ihn in den folgenden Sätzen zum Ausdruck (Einführung, S. 83):<br />

1. Gott ist.<br />

2. Wir können in Führung durch Gott leben.<br />

10<br />

3. Es gibt die unbedingte Forderung im Dasein.<br />

4. Der Mensch ist unvollendet und nicht vollendbar.<br />

5. Die Realität in der Welt hat ein verschwindendes Dasein zwischen Gott und Existenz.<br />

Zu 1: „Nur wer von Gott ausgeht, kann ihn suchen. Eine Gewissheit vom Sein Gottes,<br />

mag sie noch so keimhaft und unfassbar sein, ist Voraussetzung, nicht Ergebnis des<br />

Philosophierens.“ (Der philosophische Glaube, S. 33) Für Jaspers ist Gott zwar die einzige<br />

unvergängliche Wirklichkeit, allerdings unerweisbar. (Einführung, S. 49) Ein Erdenken,<br />

was Gott sei, sei unmöglich. (Der philosophische Glaube, S. 34) Daher sei nicht oder nur<br />

wie ein Schleier, was immer wir uns in Ansehung Gottes vor Augen stellen. (Einführung,<br />

S. 46) Hinweis auf das alttestamentliche „kein Bildnis und kein Gleichnis“. Die gleichwohl<br />

im AT zahlreich enthaltenen Bilder, Vorstellungen und geschilderten Begegnungen mit<br />

Gott sind für Jaspers lediglich Chiffren der Transzendenz, zwar notwendig als Ausgang<br />

für die Suche nach Gott, transzendierend jedoch zu überwinden, um zum reinen Glauben<br />

zu gelangen (Vorlesung Chiffren der Transzendenz), in dem Gott nur als „leises<br />

Bewusstsein“ gegenwärtig ist, (S. 47) ein Bewusstein um einen jeder Definition sich<br />

entziehenden Gott, der alles aus dem Nichts geschaffen habe und alles in seiner Hand<br />

halte (S. 38). Der Glaube zieht sich somit für Jaspers auf ein Minimum an der Grenze des<br />

Unglaubens zurück. (Der philosophische Glaube, S. 23)<br />

Zu 2: Die Führung durch Gott geschehe auf dem Wege über die Freiheit des handeln<br />

Könnens, wenn der Mensch Gott höre. Der Glaubende lebe in der ständigen Bereitschaft<br />

des Hörens. (S.49) Wodurch hört der Mensch, was Gott will? Wenn in<br />

Entscheidungsfragen des Lebenswegs nach langen Zweifeln plötzlich Gewissheit eintrete.<br />

Gottes Stimme liege in dem, was dem Menschen aufgehe in Selbstvergewisserung, wenn<br />

er aufgeschlossen sei für alles, was aus Überlieferung und Umwelt an ihn herantritt. Der<br />

Mensch finde jedoch nie eindeutig und endgültig Gottes Urteil: Niemand wisse in<br />

objektiver Garantie, was Gott wolle, daher das Wagnis des Verfehlens. (Der<br />

philosophische Glaube, S. 63 f und Einführung, S. 66-68) Psychologisch gesehen sei die<br />

Stimme Gottes nur in hohen Augenblicken wahrnehmbar. "Aus ihnen her und zu ihnen<br />

hin leben wir“ (S. 69)<br />

Zu 3: Hier geht es um Postulate im Hinblick auf unser Verhalten im Leben, auf das, was<br />

wir zu tun oder zu unterlassen haben. Im Alltag ist unser Verhalten von Zwecken<br />

(Bedingungen) bestimmt, die sich aus unserem Daseinsinteresse ergeben, aber auch von<br />

Gehorsam gegenüber Autoritäten. (Einführung, S. 53) „Unbedingte Handlungen<br />

[hingegen] geschehen in der Liebe, im Kampf, im Ergreifen hoher Aufgaben.<br />

Kennzeichen .. des Unbedingten ist, dass das Handeln gegründet ist auf etwas, dem<br />

gegenüber das Leben als Ganzes bedingt und nicht das Letzte ist.“ (Einführung, S. 51)<br />

Unbedingtheit ist aus einer Freiheit, die gar nicht anders kann. „Die Unbedingtheit wird ..<br />

zeitlich offenbar in der Erfahrung der Grenzsituationen und in der Gefahr des sich untreu


11<br />

Werdens.“ (Einführung, S. 57) Sie ist die Entscheidung zwischen gut und böse. Gut sein<br />

heißt, das Leben unter die Bedingung des moralisch Gültigen zu stellen, im Konfliktfall<br />

auch gegen eigene Glücks- und Daseinsinteressen. (Einführung, S. 58) Ich weigere mich<br />

z. B., auf Befehl zu morden, obwohl ich weiß, dass ich dadurch möglicherweise mein<br />

eigenes Leben verwirke. Höchstes moralisches Prinzip ist für Jaspers somit das in der<br />

Liebe gründende Prinzip des Guten, das von der Transzendenz (Gott) als „unbedingte<br />

Forderung“ an den Menschen gestellt wird, der sich selbst treu bleiben will.<br />

Zu 4: Jaspers spricht von der „Brüchigkeit des Menschen im Grunde“, von Ohnmacht,<br />

Schwäche und Scheitern. Nehmen wir Gedanken aus der Ausarbeitung der „unbedingten<br />

Forderung“ hinzu, könnte man vielleicht sagen, die mangelnde Vollendung des Menschen<br />

liege darin, dass er in seiner Entscheidungsfreiheit, die Jaspers als gegeben erachtet, oft<br />

genug das Böse wählt, sei es aus Schwäche, Egoismus oder falscher Führung durch<br />

Autoritäten, die sich ihrerseits wieder für das Böse entschieden haben.<br />

Zu 5: „Zum verschwindenden, zwischen Gott und Existenz sich vollziehendem Weltsein<br />

gehört ein Mythos, der – in biblischen Kategorien – die Welt als Erscheinung einer<br />

transzendenten Geschichte denkt: Von der Weltschöpfung über den Abfall und dann<br />

durch die Schritte des Heilsgeschehens bis zum Weltende und zur Herstellung aller<br />

Dinge. Für diesen Mythos ist die Welt nicht aus sich, sondern ein vorübergehendes<br />

Dasein im Gang eines überweltlichen Geschehens. Während die Welt etwas<br />

Verschwindendes ist, ist die Wirklichkeit in diesem Verschwindenden Gott und die<br />

Existenz.“ (Einführung, S. 82)<br />

(16) Jaspers: „Keiner dieser fünf Grundsätze ist beweisbar wie ein endliches Wissen von<br />

Gegenständen in der Welt. Ihre Wahrheit ist nur „aufweisbar“ durch aufmerksam<br />

machen oder „erhellbar“ durch eine Gedankenführung. ... Sie sind nicht als ein<br />

Bekenntnis gültig, sondern bleiben trotz der Kraft ihres Geglaubtseins in der<br />

Schwebe des Nichtgewusstseins.“ Er warnt davor, dass die Grundsätze durch die<br />

Eindeutigkeit der Aussage zu einem Scheinwissen führen könnten.<br />

Und weiter: „Wo wir denken, ist sogleich die doppelte Möglichkeit: Wir können das<br />

Wahre treffen oder verfehlen“.<br />

Für Jaspers ist Glaube kein Besitz sondern ein ständiges Wagnis. Seine Erkenntnis führt<br />

ihn dazu, dass er Gott nicht weiß, er sogar nicht einmal weiß, ob er glaubt (S. 49). Er<br />

wagt nur zu glauben.<br />

(17) Wichtig sind auch die folgenden Ausführungen:<br />

"Priester [Jaspers meint damit wohl Funktionäre der Offenbarungsreligionen] erheben ..<br />

den Vorwurf der hochmütigen Eigenmächtigkeit des Einzelnen, wenn er sich<br />

philosophierend auf Gott bezieht. Sie verlangen Gehorsam gegenüber dem offenbarten<br />

Gott. Ihnen ist zu antworten: der philosophierende Einzelne glaubt, wo er aus der Tiefe<br />

entschieden ist, Gott zu gehorchen, ohne in objektiver Garantie zu wissen, was Gott will,<br />

vielmehr in ständigem Wagnis. Gott wirkt durch freie Entschlüsse der Einzelnen“ (S. 71).<br />

„Es gibt eine Ratlosigkeit im Greifen nach dem Halt in vertrauenswürdigen Gesetzen und<br />

Befehlen einer Autorität. Es gibt dagegen die sich aufschwingende Energie der


12<br />

Verantwortung des Einzelnen im Hören aus dem Ganzen der Wirklichkeit“ (S.<br />

71).<br />

(18) Der vorstehend dargestellte, durch philosophische Erkenntnis gewonnene Glaube ist<br />

eine Religion im Sinne der Definition in Textziffer (1). Hier kommt es darauf an, sorgsam<br />

auf die Stimme Gottes zu achten, auch wenn man nur in seltenen hohen Augenblicken<br />

damit rechnen kann, sie zu vernehmen.<br />

Die Religionen der Erkenntnis sind ehrlich und aufrichtig. Jaspers und die anderen in<br />

ähnlicher Weise über Gott denkenden Philosophen machen keinen Hehl daraus, dass sie<br />

im Irrtum sein könnten und ihr Glaube daher von Zweifeln begleitet wird. Ferner<br />

verzichten Sie darauf, sich den Gott ihrer Erkenntnis in Einzelheiten auszumalen, sich ein<br />

Bild von ihm zu machen, weil sie einräumen müssen, nichts von ihm zu wissen; er hat<br />

sich ihnen ja nicht offenbart. Sie glauben lediglich, das Wirken eines irgendwie gearteten<br />

höheren Wesens zu spüren.<br />

Wenn man Jaspers gefragt hätte, ob die innere Stimme, die in bestimmten Situationen<br />

zu ihm spricht und die er für Gottes Stimme hält, nicht auch die Reflektion seiner<br />

eigenen Gedanken im Zusammenwirken mit all dem, was er bisher im Leben erfahren<br />

hat und was auf ihn eingewirkt hat, sein könne, würde er wohl antworten: „Dieses<br />

könnte so sein“. Mit dieser Frage ist es halt, wie mit allem in der Philosophie: Die<br />

gewonnen Erkenntnisse können wahr oder auch falsch sein.<br />

(19) Ergänzend weise ich noch darauf hin, dass es keine Äußerung von Jaspers gibt, aus<br />

der geschlossen werden könnte, dass er an ein Leben nach dem Tode und ein göttliches<br />

Gericht geglaubt hätte, beides alte Fragen der Philosophie. Wie dem auch sei, wichtig ist,<br />

dass der Glaube für Jaspers primär dazu diente, hier auf Erden durch ein anderes<br />

Selbstbewusstsein zu einer höheren Stufe des Menschseins zu gelangen. Ähnlich verhält<br />

es sich beim Buddhismus, den ich ebenfalls zu den Religionen der Erkenntnis zähle, da<br />

er, wenigstens in seiner ursprünglichen Form, auf philosophischer Grundlage beruht.<br />

Anhang: Der Gottesgedanke<br />

(20) Warum hat sich die Menschheit seit jeher mit dem Phänomen Gott befasst? Ich<br />

denke aus dem Wunsch heraus, ein Leben in Geborgenheit, Harmonie und frei von<br />

Ängsten, Kummer, Leid, Schmerz und Not zu führen. Ein solches Leben kann nur eine<br />

mächtige und uns wohl gesonnene Persönlichkeit richten. Die Sehnsucht richtet sich also<br />

auf eine solche Persönlichkeit, deren Führung man sich gerne anvertraut, der man aber<br />

auch gerne begegnen möchte. Man will sie aufsuchen und sich mit ihr unterhalten<br />

können, wie ein Kind mit seinen Eltern oder ein junger Mensch mit einem erfahrenen<br />

Lehrer oder älteren Freund. Diese Wünsche finden ihren Niederschlag z. B. in der<br />

Geschichte von Adam und Eva im Paradies (vor dem Sündenfall und der Vertreibung).<br />

Solche Geschichten, die möglicherweise so oder ähnlich auch in anderen Kulturen<br />

überliefert werden, waren stets nur Mythos. Man hat einen Gott erdacht, der sein Reich<br />

im Jenseits hat und hat dem Menschen ewiges Leben verliehen, um im Anschluss an ein<br />

irdisches nicht den geschilderten Sehnsüchten der Menschen entsprechendes Leben im<br />

Jenseits ein glückseliges Leben zu erlangen. Welch schöner Gedanke, wäre da nicht das<br />

Damoklesschwert eines längeren Aufenthalts im Fegefeuer oder gar der ewigen<br />

Verdammnis.


13<br />

(21) Zum Gottesgedanken hat aber auch der Drang des forschenden Menschen geführt,<br />

die Ursprünge des Seins zu erkennen, insbesondere die Ursprünge des Weltalls, der Erde<br />

und des Lebens auf dieser Erde. Hilfreich waren dabei die Beobachtungen der<br />

Naturwissenschaften und der Archäologie. Auf die entscheidenden Fragen vermochten<br />

sie jedoch keine Antwort zu geben, z. B. auf die Frage der Entstehung des Lebens. An<br />

der Grenze menschlicher Erkenntnismöglichkeiten gibt es zwei<br />

Verhaltensalternativen:<br />

1. Wir akzeptieren, dass unsere Erkenntnismöglichkeiten begrenzt sind und Wesentliches<br />

für uns Geheimnis bleibt. Wir akzeptieren das Sein als solches.<br />

2. Wir verlassen den Bereich unserer realen Erkenntnismöglichkeiten und wenden uns<br />

der Spekulation zu.<br />

Die Religionen des Ich und teilweise die Religionen der Erkenntnis haben von der 2.<br />

Alternative Gebrauch gemacht. Alles, was sie sich nicht erklären können, führen sie auf<br />

das Wirken eines übernatürlichen Wesens zurück, das sie Gott nennen, dessen Existenz<br />

sie aber nicht beweisen können; daher sprechen sie von Glaube (anders der<br />

Buddhismus, der aber zumindest in seinem Glauben an die Reinkarnation ebenfalls<br />

spekulativ ist). Gott soll alles geschaffen haben, das Universum und auch das Leben.<br />

Irgendwann werde er auch alles wieder vernichten. Zu Beginn des Johannes-<br />

Evangeliums heißt es: „Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott<br />

war das Wort.“ Dieses soll die endgültige wenn auch nur spekulative Antwort nach den<br />

Ursprüngen sein. Diese Antwort kann meinen Erkenntnisdrang nicht befriedigen. Wann<br />

war der Anfang und wer hat ihn gesetzt? Was war vorher? Woher kommt dieser Gott?<br />

Wer hat sein Leben entstehen lassen? Konsequenter Weise kann man auch hierüber nur<br />

spekulieren. Tun wir es doch einmal und sagen, vor diesem Gott müsse es noch einen<br />

anderen, höheren Gott gegeben haben, einen Ur-Gott gewissermaßen. Auch wenn man<br />

sich noch so viele Ur-, Vor-, oder Übergötter denkt, man kommt in seinen Spekulationen<br />

nie an den Anfang, nie zum wirklichen Ursprung allen Seins. Dieser Erkenntnis folgend<br />

frage ich mich, welchen Sinn ein Verhalten gemäß Alternative 2 haben soll. Eine<br />

Bescheidung auf die Alternative 1 erscheint mir als der richtigere Weg, einen Weg den<br />

uns bereits die altindische Philosophie aufgezeigt haben könnte:<br />

„Doch wem ist auszuforschen es gelungen,<br />

Wer hat , woher die Schöpfung stammt, vernommen?<br />

Die Götter sind diesseits von ihr entsprungen!<br />

Wer sagt es also, wo sie hergekommen?<br />

Er, der die Schöpfung hat hervorgebracht,<br />

der auf sie schaut im höchsten Himmelslicht,<br />

Der sie gemacht hat oder nicht gemacht,<br />

Der weiß es – oder weiß auch er es nicht?“<br />

Aus dem Schöpfungshymnus der Rigveda (ca. 1200 v. Chr.) in der Übersetzung von Paul<br />

Deussen 1906, zitiert nach Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, S. 38.


Dalai Lama<br />

14<br />

Die folgenden Ausführungen basieren auf dem Buch<br />

Dalai Lama / Howard C. Cutler „Die Regeln des Glücks“<br />

Bastei Lübbe Taschenbuch 6. Auflage Dezember 2002<br />

Ähnliche Gedanken beinhalten auch andere Schriften des Dalai Lama und viele seiner<br />

Reden.<br />

(22) Beim Glauben lassen sich zwei Kategorien unterscheiden:<br />

• der auf die irdischen Gegebenheiten gerichtete Glaube (im weiteren natürlicher Glaube<br />

genannt)<br />

• der auf das Spirituelle, das Transzendente oder das Übernatürliche gerichtete Glaube<br />

(im weiteren übernatürlicher Glaube genannt)<br />

Soweit ich weiß, besteht der übernatürliche Glaube des Buddhismus allein in der Lehre<br />

der Wiedergeburten. Der Dalai Lama folgt darüber hinaus einer Reihe von natürlichen<br />

Glaubensgrundsätzen (Grundüberzeugungen). In dem genannten Werk habe ich davon<br />

zehn gefunden:<br />

1. Der eigentliche Sinn unseres Lebens besteht im Streben nach Glück (oder doch<br />

wenigstens nach Zufriedenheit).<br />

2. Glück (Zufriedenheit) kann durch die Schulung von Intellekt und Gefühl (tibetisch<br />

sem) erlangt werden. „Mit einer gewissen inneren Disziplin können wir unsere gesamte<br />

Lebenseinstellung umwandeln“ (S. 23). Glück wird eher durch die eigene<br />

Geistesverfassung und durch unsere Sichtweise als durch äußere Ereignisse bestimmt (S.<br />

28, 30). Wahres Glück bezieht sich auf den Geist und das Herz (S.41).<br />

3. Ohne ein Gefühl der Zuneigung und Verbundenheit mit anderen Menschen und ohne<br />

ein Mitgefühl wird das Leben sehr hart (S. 39).<br />

4. Es gibt eine elementare Milde, Güte und Aufgeschlossenheit der Menschen sowie<br />

Gemeinschaftlichkeit unter allen Lebewesen (S. 18). Unsere menschliche Natur ist<br />

grundsätzlich freundlich und mitfühlend (S. 57). Wir besitzen auch ein angeborenes<br />

Potenzial für Barmherzigkeit (S. 61).<br />

5. Das fundamentale subtile Bewusstsein des Menschen ist nicht von negativen<br />

Emotionen getrübt (S. 242). Negative Geisteszustände sind kein unserer Psyche von<br />

Natur innewohnender Teil, sondern nur vergängliche Hindernisse, die unseren<br />

natürlichen Zustand der Freude und des Glücks hemmen (S. 245).<br />

6. Das Kultivieren von positiven Geisteszuständen wie Güte und Mitgefühl führt zu einer<br />

besseren geistigen Gesundheit und zu Glück (S. 49).<br />

7. Wir sind geistig, emotionell und physisch dazu veranlagt, so auf unsere Umwelt zu<br />

reagieren, dass wir überleben können (S. 53).


15<br />

8. Konflikte werden nicht unbedingt von der menschlichen Natur sondern vielmehr vom<br />

menschlichen Intellekt verursacht – vom Missbrauch unserer Intelligenz und<br />

Vorstellungskraft (S.63).<br />

9. Leid ist eine natürliche Tatsache menschlicher Existenz (S. 141). Unsere Geburt ist<br />

eigentlich die Geburt des Leidens (S. 145). Andererseits gibt es Möglichkeiten, Freiheit<br />

von Leid zu erlangen (S. 147 f).<br />

10. Menschen, die an einen Schöpfer-Gott glauben, können schwierige Umstände<br />

leichter hinnehmen, wenn sie diese als Teil der göttlichen Schöpfung oder seines Plans<br />

ansehen (S. 161).<br />

(23) Der Dalai Lama hält es ganz und gar nicht für erstrebenswert, dass alle Menschen<br />

die selbe Religion hätten oder gar alle Buddhisten wären. Da unterschiedliche Menschen<br />

auch unterschiedliche Veranlagungen hätten, benötigten wir eine Vielfalt an Religionen.<br />

Manchmal habe er den Eindruck, dass 6 Milliarden Menschen auch 6 Milliarden<br />

Religionen benötigten. Jeder solle den spirituellen Pfad beschreiten, der seiner geistigen<br />

Veranlagung und natürlichen Neigung, seinem Temperament und Glauben, seiner<br />

Familie und seinem kulturellen Hintergrund am besten entspricht (S. 293; Texte teilweise<br />

schon in der Einleitung zitiert). Durch den engeren Kontakt zu anderen Traditionen und<br />

Religionen erkennen wir deren positive Seiten. „Wir können alle an einem Tisch sitzen<br />

und uns verschiedene Gerichte nach unserem Geschmack bestellen. Jeder isst etwas<br />

anderes, aber niemand streitet sich deswegen“ (S. 202).<br />

Der Zweck einer jeden Religion besteht nach der Anschauung des Dalai Lama darin, den<br />

Menschen zu nützen (S. 293). Eine ähnliche Auffassung vertrat schon vor 2000 Jahren<br />

der römische Schriftsteller Plinius (d. Ä.) in seinem Werk Naturalis historia (II,5,18) :<br />

„Deus est mortali iuvare mortalem“, frei übersetzt etwa: „Gott hat den Sterblichen das<br />

Leben zu erleichtern“.<br />

(24) Glück und Religion, Zitat aus dem Eingangs genannten Buch: „Im Westen wenden<br />

sich viele Menschen der Religion als einer Quelle des Glücks zu. Doch der Ansatz des<br />

Dalai Lama unterscheidet sich fundamental von dem vieler westlicher Religionen, da er<br />

die Vernunft und die Geistesschulung wesentlich stärker betont als den Glauben“ (S.<br />

244 f).<br />

(25) Während sich die römische Kirche als Verkünderin der „einen, heiligen und<br />

allumfassenden“ Religion ansieht und am liebsten alle Menschen zu Katholiken machen<br />

möchte, ist die Auffassung des Dalai Lama von wohltuender Toleranz und Aufgeklärtheit<br />

geprägt. Wie bei der Natürlichen Religion sieht er keine Überlegenheit seiner Religion<br />

gegenüber anderen, wie er überhaupt im Umgang mit den Mitmenschen die Achtung vor<br />

dem anderen hervorhebt. Natürlich gibt es nicht wirklich 6 Milliarden gänzlich<br />

verschiedene Religionen, wohl aber unzählige Varianten der gemeinhin bekannten<br />

Religionen. Nach seiner Auffassung soll jeder für sich die Religion oder Religionsvariante<br />

wählen, von der er glaubt, dass sie ihm am ehesten bei seinem Streben nach einem<br />

glücklichen oder wenigstens zufriedenstellenden Leben helfen kann. Wenn z.B. ein Christ<br />

ein inniges Verhältnis zur Gottesmutter oder zu anderen Heiligen hat und daraus Trost<br />

und Stärkung findet, wäre es sicher nicht im Sinne des Dalai Lama, wenn ein anderer<br />

Christ daherkäme und jenem ein paar aus dem Kontext gerissene Bibelstellen um die


16<br />

Ohren schlüge, um ihm rechthaberisch einen Teil der Grundlage seines Glücks unter den<br />

Füßen wegzuziehen. Und wenn sich ein Katholik mit bestimmten Glaubensgrundsätzen<br />

nicht identifizieren kann, z.B. der Himmelfahrt Mariens oder der Unfehlbarkeit des<br />

Papstes, wenn er ex cathedra spricht, und auch den Vorstellungen der Amtskirche in<br />

Sachen Sexualität und Geburtenplanung nicht zu folgen vermag, ohne einen Verlust an<br />

Glück zu erleiden, soll ihm niemand seine persönliche Religionsvariante streitig machen<br />

wollen. Das selbe gilt, wenn sich jemand für eine Religion entscheidet, die ohne einen<br />

auf das Transzendente gerichteten Glauben auskommt.<br />

(26) Die vom Dalai Lama geforderte Toleranz gegenüber allen möglichen Religionen oder<br />

Lebensauffassungen erfährt zumindest für mich ihre Grenze gegenüber Religionen oder<br />

Lebensauffassungen, die entweder selbst nicht tolerant sind oder die Anderen,<br />

insbesondere anders Denkenden, auch solchen aus den eigenen Reihen, aggressiv<br />

gegenübertreten, die Machtansprüche entfalten, sich anderen überlegen fühlen und<br />

diese im Hinblick auf ihre vermeintliche Unterlegenheit zu missionieren suchen,<br />

womöglich noch mit Feuer und Schwert oder wie bei vielen Sekten mit ausgeklügelter<br />

psychologischer Beeinflussung. Eine bloße und auch wechselseitige Unterrichtung über<br />

die eigene Religion oder Lebensauffassung ist natürlich nicht nur statthaft sondern auch<br />

nützlich. Um mit dem vom Dalai Lama gewählten Bild abzuschließen: Toleranz<br />

gegenüber jedem, der mit mir friedlich am Tisch sitzt, nicht gegenüber dem, der mir das<br />

von mir gewählte Essen madig machen will oder mir gar seine Suppe ins Gesicht<br />

schüttet.<br />

Teil 3<br />

Darstellung der eigenen Position<br />

Bestandteile einer Religion<br />

(27) Der philosophierende Mensch, d. h. der Mensch, der sich um Erkenntnisse in den<br />

wichtigen Lebensfragen bemüht, gelangt zu einer Lebensauffassung. Dazu gehören m.<br />

E. ethische Grundsätze und Glaubensgrundsätze (oder Überzeugungen), und zwar<br />

in dieser Reihenfolge. Religion, wie ich sie mit Hinweis auf Abschnitt 1 definieren<br />

möchte, besteht in der sorgfältigen Beachtung der Lebensauffassung; Religion<br />

manifestiert sich somit im Handeln. Die Lebensauffassung stellt danach die theoretische<br />

Grundlage für die Religion (verstanden als Religionsausübung) dar. Ich denke, dass ich<br />

mich insoweit auch in Übereinstimmung mit Christus befinde, der sagte: „An ihren<br />

Früchten werdet ihr sie erkennen“ und: „Nicht jeder, der sagt Herr, Herr wird in das<br />

Himmelreich eingehen, sondern der, der den Willen Gottes tut“.<br />

So auch Nietzsche, der zum echten, ursprünglichen Christentum sagt, dass es in einem<br />

Tun, vor allem in einem vieles nicht Tun bestehe und dass irgend ein Glaube, ein für<br />

wahr Halten fünften Ranges sei. Im Ergebnis so auch Ayaan Hirsi Ali mit dem bereits in<br />

der Einleitung zitierten Ausspruch: „Religion ist die Art, wie wir uns anderen<br />

gegenüber verhalten.“ (S. 90)<br />

Wie in Abschnitt 22 dargelegt, unterscheide ich zwischen natürlichen und<br />

übernatürlichen Glaubenssätzen.


Ethische Grundsätze<br />

(28) Eine Reihe von Philosophen seit Konfuzius (551-479 v. Chr.) haben mit<br />

vergleichbaren Worten die goldene Regel der Ethik aufgestellt, die ich so formulieren<br />

möchte:<br />

„Verhalte dich anderen Menschen gegenüber so, wie du möchtest, dass sie<br />

sich dir gegenüber verhalten.“ Ergänzen möchte ich sie noch um den Satz:<br />

„Respektiere andere Lebewesen und die Natur “ und um den Satz: “Verhalte<br />

dich so, das du die Lebensgrundlagen und die berechtigten Interessen der<br />

künftigen Generationen, soweit möglich, nicht beeinträchtigst “.<br />

17<br />

Dieses Verhalten bedeutet nicht, dass ich meine Wünsche und Bedürfnisse auf andere<br />

übertrage, sondern dass ich bemüht bin, die Wünsche und Bedürfnisse des anderen zu<br />

erkennen und, soweit sie legitim sind, danach zu handeln.<br />

Die goldene Regel betrifft das Verhalten gegenüber anderen. Es gibt aber auch<br />

Verpflichtungen gegenüber sich selbst, die man so formulieren könnte: „Liebe dich<br />

selbst und trage Sorge für dich.“<br />

Aus den vorstehenden Grundsätzen kann ein Mensch mit Charakter, Weisheit und<br />

Verstand m. E. alle Regeln für sein Verhalten (Tun oder Unterlassen) in den meisten<br />

Lebenssituationen ableiten.<br />

Kant und Jaspers haben als höchstes moralisches Prinzip die "unbedingte Forderung"<br />

formuliert, siehe in Abschnitt (15) die Ausführungen zu Ziffer 3. Dieses Prinzip stellt sehr<br />

weitgehende Anforderungen an uns.<br />

Weitere Ausführungen zu diesem Thema enthält u. a. das Buch Philosophie für Dummies<br />

von Tom Morris, Kapitel 9 „Ethische Regeln und moralischer Charakter“. Hingewiesen sei<br />

auch auf die „Erklärung zum Weltethos“ des Parlaments der Weltreligionen vom<br />

4.9.1993. Die Verantwortung gegenüber unseren Nachkommen ist besonderes Anliegen<br />

des aus meiner Heimatstadt Mönchengladbach stammenden Philosophen Hans Jonas<br />

(1903-1993) in seinen Werken Das Prinzip Verantwortung und Technik, Medizin und<br />

Ethik, zur Praxis des Prinzips Verantwortung.<br />

Es mag Grenzsituationen geben, in denen es schwer fällt, die ethisch/moralisch richtige<br />

Entscheidung zu treffen. Ich denke dabei z. B. an die Situation einer vergewaltigten<br />

Frau, die vor der Entscheidung einer Abtreibung steht, oder die Situation eines<br />

Genforschers, der sich fragt, wo er die Grenze für seine Tätigkeit ziehen soll. Zu dieser<br />

Thematik hat sich aus konservativ-katholischer Sicht Robert Spaemann in zahlreichen<br />

Veröffentlichungen geäußert. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, will er die "sittliche<br />

Vernunft" zum Maßstab des Verhaltens machen. Die Frage ist nur, auf welche Maßstäbe<br />

sich wiederum diese sittliche Vernunft stützen soll. Wilhelm Schmid, von dem im<br />

nächsten Abschnitt näher die Rede sein wird, hat als oberstes Prinzip der Kunst des<br />

Lebens herausgestellt, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten die richtige Wahl zu<br />

treffen. Dabei weist er darauf hin, dass wir grundsätzlich für eine Wahl Kriterien<br />

brauchen, die Auswahl der Kriterien ihrerseits aber wiederum ein Wahlakt ist, für den wir<br />

erneut Kriterien benötigen, ebenso wie für die Auswahl der letztgenannten Kriterien usf.<br />

und dass wir dabei irgendwann an den Punkt kommen, wo uns keinerlei Auswahlkriterien


18<br />

mehr zur Verfügung stehen. An diesem Punkt gelte es, allein aus unserem Gefühl für das<br />

Richtige oder Falsche heraus eine Basisentscheidung zu treffen. Ich denke, dass der<br />

Einzelne in den genannten Grenzsituationen auch nur nach diesem Gefühl entscheiden<br />

kann.<br />

Natürliche Glaubensgrundsätze<br />

(29) Hierunter verstehe ich die auf die irdischen Gegebenheiten gerichteten<br />

Überzeugungen. Die in Abschnitt 22 dargestellten Grundüberzeugungen des Dalai Lama<br />

sind offenbar Bestandteil der buddhistischen Lebenstechniken. Der erste Satz enthält<br />

eine Aussage über den Sinn des Lebens. Die katholische Kirche sieht den Sinn des<br />

Lebens ausschließlich in der Erfüllung der Gebote und Verbote Gottes, auch in der<br />

demütigen Hinnahme von Leid, das uns Gott schickt. Der Dalai Lama ist mit Aristoteles<br />

und anderen Philosophen der Überzeugung, der Sinn bestehe in dem Streben nach Glück<br />

oder wenigstens nach Zufriedenheit. Ich möchte, nicht zuletzt wegen der dem deutschen<br />

Begriff Sinn anhaftenden Vieldeutigkeit und Unschärfe, die hinter dieser Frage stehende<br />

Suche des Menschen etwas anders angehen und dabei zunächst weiter ausholen. Eine<br />

der wichtigsten Fragen, mit denen sich die Philosophie seit Schopenhauer beschäftigt,<br />

lautet: Warum ist überhaupt etwas (und jemand) und nicht vielmehr nichts (und<br />

niemand)? Die Frage nach dem warum ist schlechterdings nicht beantwortbar. Wer eine<br />

Antwort sucht, könnte fragen: Wäre es nicht besser, es gäbe nichts als das, was ist?<br />

(ausführlich hierzu Ludger Lütkehaus, Nichts) Betrachtet man das ganze Leid und<br />

Unrecht dieser Welt, könnte man diese Frage durchaus bejahen (vgl. auch Abschnitt 38,<br />

2. Absatz). In der altgriechischen Midassage verrät ein Halbgott dem König, was die<br />

Menschen eigentlich nicht erfahren sollten: „Das Allerbeste für sie wäre nicht geboren<br />

worden zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein; das Zweitbeste ... bald zu sterben.“ Nach<br />

Nietzsche ist das Leben des Einzelnen wie das Fortleben der Gattung „im Grunde Trieb,<br />

Instinkt, Torheit, Grundlosigkeit“ (III 371). Zuvor hatte bereits Schopenhauer von der<br />

„Grundlosigkeit des blinden Lebenswillens“ gesprochen. Wie dem auch sei, wir sind<br />

jedenfalls in eine höchst unvollkommene Welt hinein geworfen – ohne dass wir vorher<br />

hätten gefragt werden können. Manche Philosophen sprechen vom Diktat der Geburt.<br />

Selbst wenn wir es als besser ansähen, es gäbe nichts und auch uns nicht, an der<br />

Tatsache der Existenz der Welt und unserer Geburt können wir nichts ändern. Vor<br />

diesem Hintergrund glaube ich, dass wir die Aufgabe haben, das Beste aus der<br />

gegebenen Situation zu machen. Die Frage lautet, was sollen, müssen oder können wir<br />

tun, um zu einem erfüllten, bejahenswerten oder doch wenigstens einem im Großen<br />

und Ganzen zufriedenstellenden Leben zu gelangen? Hierzu weist uns die Philosophie,<br />

deren eigentlicher Bereich seit jeher die Lehre vom richtigen Leben ist (Theodor W.<br />

Adorno, Minima Moralia), den Weg. Nach Sokrates ist das ungeprüfte Leben seinen Preis<br />

nicht wert. Daraus ergibt sich das Postulat, das Leben nicht einfach unreflektiert und<br />

unbewusst dahin ziehen zu lassen sondern die für uns wichtigen Fragen des Lebens zu<br />

prüfen, um schließlich zu einer im Rahmen der gegebenen Bedingungen möglichst<br />

weitgehenden autonomen Lebensführung zu gelangen, die auf das formulierte Ziel, so<br />

wie das einzelne Individuum es versteht, seinen Lebenshorizont, ausgerichtet ist. Es ist<br />

das Anliegen der Philosophie der Lebenskunst, uns bei dieser Arbeit, die wie immer in<br />

der Philosophie ein Unterwegssein ist, insbesondere durch theoretische Reflektion über<br />

die Bedingungen und Möglichkeiten eines gekonnten Lebensvollzugs zu unterstützen.


19<br />

Wilhelm Schmid hat es in den 90-ger Jahren des 20. Jh. unternommen, die Philosophie<br />

der Lebenskunst unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen in der freien Welt<br />

neu zu begründen. Seine Arbeiten sind zusammengefasst in dem verdienstvollen<br />

Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft „Philosophie der Lebenskunst – Eine<br />

Grundlegung“, 1998, 6. Auflage 2000, 460 Seiten Text und ca. 100 Seiten Anmerkungen<br />

und Literaturverzeichnis. Dabei verzichtet Schmid bewusst auf eine inhaltliche Festlegung<br />

der Lebenskunst, die dem Einzelnen überlassen bleiben muss. Nach Schmid ist es<br />

zielführend, das Bejahenswerte im Leben zu suchen, aber auch das Leben<br />

bejahenswerter zu machen, und hierzu eine Arbeit an sich selbst, am eigenen Leben, am<br />

Leben mit Anderen, für die man Sorge zu tragen hat, und an den Verhältnissen, die<br />

dieses unser Leben bedingen, zu leisten (S. 170). Ein erfülltes Leben besteht nicht nur<br />

aus Glücksmomenten sondern auch aus Schwierigkeiten, die zu bewältigen sind,<br />

Widerständen, Komplikationen, Entbehrungen und Konflikten, die ausgefochten oder<br />

ausgehalten werden (S. 171). Weitere Ausführungen würden den Rahmen dieser<br />

Abhandlung sprengen.<br />

(30) Nun komme ich zu den übrigen Grundüberzeugungen des Dalai Lama, die ich zur<br />

Vermeidung des Rückblätterns hier noch einmal<br />

in der Reihenfolge meiner Stellungnahme wiedergebe:<br />

Zu den Aussagen 2, 3, 6, 9 und 10<br />

2. Glück (Zufriedenheit) kann durch die Schulung von Intellekt und Gefühl (tibetisch<br />

sem) erlangt werden. „Mit einer gewissen inneren Disziplin können wir unsere gesamte<br />

Lebenseinstellung umwandeln“. Glück wird eher durch die eigene Geistesverfassung und<br />

durch unsere Sichtweise als durch äußere Ereignisse bestimmt.<br />

Wahres Glück bezieht sich auf den Geist und das Herz.<br />

3. Ohne ein Gefühl der Zuneigung und Verbundenheit mit anderen Menschen und ohne<br />

ein Mitgefühl wird das Leben sehr hart.<br />

6. Das Kultivieren von positiven Geisteszuständen wie Güte und Mitgefühl führt zu einer<br />

besseren geistigen Gesundheit und zu Glück.<br />

9. Leid ist eine natürliche Tatsache menschlicher Existenz. Unsere Geburt ist eigentlich<br />

die Geburt des Leidens. Andererseits gibt es Möglichkeiten, Freiheit von Leid zu<br />

erlangen.<br />

10. Menschen, die an einen Schöpfer-Gott glauben, können schwierige Umstände<br />

leichter hinnehmen, wenn sie diese als Teil der göttlichen Schöpfung oder seines Plans<br />

ansehen.<br />

Diese Aussagen kann ich ohne Weiteres akzeptieren.<br />

An die Aussage 7<br />

"Wir sind geistig, emotionell und physisch dazu veranlagt, so auf unsere Umwelt zu<br />

reagieren, dass wir überleben können."<br />

möchte ich gerne glauben, weil sie uns die Zuversicht gibt, auch in schwierigen<br />

Lebenssituationen nicht unterzugehen. Daher<br />

wage ich, an die Richtigkeit dieser Annahme zu glauben.<br />

Aussage 8


"Konflikte werden nicht unbedingt von der menschlichen Natur sondern vielmehr vom<br />

menschlichen Intellekt verursacht – vom Missbrauch<br />

unserer Intelligenz und Vorstellungskraft."<br />

ergänze ich dahingehend, dass Konflikte häufig durch den uns von der Natur<br />

mitgegebenen Aggressionstrieb verursacht werden.<br />

20<br />

Es wäre schön, wenn auch die Aussage 4 wahr wäre.<br />

"Es gibt eine elementare Milde, Güte und Aufgeschlossenheit der Menschen sowie<br />

Gemeinschaftlichkeit unter allen Lebewesen. Unsere menschliche Natur ist grundsätzlich<br />

freundlich und mitfühlend. Wir besitzen auch ein angeborenes Potenzial für<br />

Barmherzigkeit."<br />

Indessen möchte ich mich lieber nicht darauf verlassen, dass mir andere Menschen bei<br />

entsprechenden Gelegenheiten stets mit Aufgeschlossenheit, Güte, Milde oder<br />

Barmherzigkeit begegnen. Ich bin davon überzeugt, dass der Mensch über gute und<br />

schlechte Anlagen verfügt, dass er altruistisch und egoistisch, rechtschaffen und<br />

betrügerisch, liebevoll und grausam handeln kann. Daraus folgt, dass man zum eigenen<br />

Schutz stets auf der Hut sein sollte.<br />

Nicht beurteilen kann ich die Aussage 5.<br />

"Das fundamentale subtile Bewusstsein des Menschen ist nicht von negativen Emotionen<br />

getrübt. Negative Geisteszustände sind kein unserer Psyche von Natur innewohnender<br />

Teil, sondern nur vergängliche Hindernisse, die unseren natürlichen Zustand der Freude<br />

und des Glücks hemmen.<br />

Die wiedergegebenen Überzeugungen des Dalai Lama beschränken sich auf den nach<br />

einem Lebenssinn suchenden Menschen und seine Gemeinschaft mit seinen<br />

Mitmenschen. Sie stellen kein alle denkbaren Wissensgebiete umfassendes Weltbild dar.<br />

Diese Beschränkung halte ich jedoch, wenn es um eine Lebensauffassung als Grundlage<br />

einer Religion geht, für gerechtfertigt.<br />

Menschen haben eine Vielzahl von Überzeugungen, ohne dass sie ad hoc in der Lage<br />

wären, sie vollständig zu katalogisieren. Mit Sicherheit habe auch ich noch weitere<br />

Überzeugungen in dem Bereich, auf den ich mich hier beschränken will, ohne sie hier<br />

und jetzt erschöpfend aufführen zu können.<br />

(30a) Nachstehend nochmals zusammenfassend die hier abgehandelten natürlichen<br />

Glaubensgrundsätze:<br />

1. In diese Welt und dieses Leben durch fremde Entscheidung (die unserer Eltern)<br />

hineingeworfen, ist es angesagt, das Beste aus der Situation zu machen, indem wir<br />

uns unser ganzes Leben (omnia vita) um einen gekonnten Lebensvollzug bemühen<br />

(vivere discimus), das Bejahenswerte im Leben suchen, aber auch das Leben<br />

bejahenswerter zu machen suchen, und hierzu eine Arbeit an uns selbst, am eigenen<br />

Leben, am Leben mit Anderen, für die wir Sorge zu tragen haben, und an den<br />

Verhältnissen, die dieses unser Leben bedingen, zu leisten. Ein erfülltes Leben


21<br />

besteht nicht nur aus Glücksmomenten sondern auch aus Schwierigkeiten, die zu<br />

bewältigen sind, Widerständen, Komplikationen, Entbehrungen und Konflikten, die<br />

ausgefochten oder ausgehalten werden.<br />

2. Glück (Lebensbejahung, Zufriedenheit) kann durch die Schulung von Intellekt und<br />

Gefühl erlangt werden. Mit einer gewissen inneren Disziplin können wir unsere<br />

gesamte Lebenseinstellung umwandeln. Glück wird eher durch die eigene<br />

Geistesverfassung und durch unsere Sichtweise als durch äußere Ereignisse<br />

bestimmt.<br />

Wahres Glück bezieht sich auf den Geist und das Herz.<br />

3. Das Kultivieren von positiven Geisteszuständen wie Güte und Mitgefühl führt zu<br />

einer besseren geistigen Gesundheit und zu Glück.<br />

4. Ohne ein Gefühl der Zuneigung und Verbundenheit mit anderen Menschen und<br />

ohne ein Mitgefühl wird das Leben sehr hart.<br />

5. Der Mensch verfügt über gute und schlechte Anlagen, er kann altruistisch und<br />

egoistisch, milde und hartherzig, rechtschaffen und betrügerisch, liebevoll und<br />

grausam handeln. Daraus folgt, dass man zum eigenen Schutz stets auf der Hut sein<br />

sollte.<br />

6. Konflikte werden nicht unbedingt von der menschlichen Natur sondern vielmehr<br />

vom menschlichen Intellekt verursacht – vom Missbrauch unserer Intelligenz und<br />

Vorstellungskraft - aber auch durch den uns von der Natur mitgegebenen<br />

Aggressionstrieb.<br />

7. Leid ist eine natürliche Tatsache menschlicher Existenz. Unsere Geburt ist<br />

eigentlich die Geburt des Leidens. Andererseits gibt es Möglichkeiten, Freiheit von<br />

Leid zu erlangen oder Leid erträglich zu machen.<br />

8. Wir sind geistig, emotionell und physisch dazu veranlagt, so auf unsere Umwelt zu<br />

reagieren, dass wir überleben können.<br />

9. Menschen, die an einen Schöpfer-Gott glauben, können schwierige Umstände<br />

leichter hinnehmen, wenn sie diese als Teil der göttlichen Schöpfung oder seines<br />

Plans ansehen.


Übernatürliche Glaubensgrundsätze<br />

Einleitung<br />

22<br />

(31) Hierbei handelt es sich um Überzeugungen, die sich auf die unsichtbare Welt oder<br />

das Transzendente beziehen. Hierzu finden sich z. B. folgende Aussagen:<br />

1. Es existiert ein Schöpfergott<br />

2. Es gibt ein Leben nach dem Tod<br />

3. Es gibt im Jenseits einen Pool menschlichen Lebens; die Seele eines jeden<br />

Menschen geht aus diesem Pool hervor und kehrt nach seinem Tod wieder dorthin<br />

zurück und vereint sich mit der Substanz, aus der neues menschliches Leben entsteht<br />

(Präexistenz der Seele, Reinkarnation, Seelenwanderung)<br />

Es finden sich aber auch die gegenteiligen Aussagen: es gibt keinen Schöpfergott und<br />

kein Leben vor oder nach dem irdischen.<br />

(32) Philosophische Aussagen sind immer nur Annahmen oder Hypothesen. Jaspers hat<br />

eindringlich darauf hingewiesen, dass die Bestimmtheit der Aussagen nicht über ihren<br />

Charakter als Annahmen täuschen dürfe, dass sie wahr oder unwahr (richtig oder<br />

falsch) sein können und stets mit dem Zweifel behaftet sind. Hiervon ausgenommen<br />

sind lediglich stark eingeschränkte Aussagen in bezug auf das natürliche Leben, deren<br />

Aussagewert aber ebenfalls stark eingeschränkt, um nicht zu sagen trivial ist.<br />

Warum wir trotzdem philosophieren sollen, hat Sokrates mit dem schon zitierten Satz<br />

gesagt: „Das ungeprüfte Leben ist seinen Preis nicht wert.“ Sokrates prüfte die wichtigen<br />

Fragen des Lebens und kam dabei zu dem zunächst ernüchternden Ergebnis, dass er<br />

wohl nichts Bedeutendes wisse. Ich hatte bereits Karl Jaspers mit den Worten zitiert,<br />

dass Philosophie nicht zu Wissen führt. Er spricht vielmehr von erworbenem Nichtwissen,<br />

eine sehr interessante Formulierung wie ich finde. Jaspers befindet sich damit im<br />

Einklang mit dem berühmten alt-chinesischen Philosophen Laotse (6. Jh. v. Chr.), der in<br />

seinem immer noch in vielen Sprachen aufgelegten Vermächtnis Tao Te King in Kap. 71<br />

sagt: “Nichtwissen ist wahres Wissen“. Dieses Nichtwissen unterscheidet sich substanziell<br />

gewaltig von dem Nichtwissen des „Toren“ [vgl. das hervorragend neu übersetzte,<br />

witzig-ironische, aber auch hintergründig philosophische Traktat Lob der Torheit von<br />

Erasmus von Rotterdam (1469-1536)]. Der Tor nimmt das Leben wie es kommt, er geht<br />

lieber ins Wirtshaus oder buhlt mit schönen Frauen als die Abende oder gar Nächte mit<br />

Philosophieren zu vergeuden. Er macht sich keinen Kopp, Probleme hält er sich vom<br />

Leib. Beide, der Tor und der Philosoph, wissen nichts. Der Tor hat das Leben nicht<br />

geprüft, er ist in den wichtigen Lebensfragen ein Ignorant, er könnte bei einer<br />

Diskussion nicht mitreden. Anders der Philosoph: er hat sich mit der Materie befasst, er<br />

ist im Thema. Dass er am Ende zu nicht beweisbaren und von Zweifeln begleiteten<br />

Überzeugungen gelangt oder gar eine Frage unentschieden lässt, ficht ihn nicht an: er<br />

hat das Leben geprüft, er kann nunmehr bewusst leben, sich Lebensziele setzen, sein<br />

Leben auf diese Ziele ausrichten und damit seinem Leben eine höhere Wertigkeit<br />

verleihen.<br />

(33) Stellen wir uns zwei philosophierende Menschen vor. Der eine gelangt zu der<br />

Aussage, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, der andere zu der gegenteiligen<br />

Aussage. Diese beiden Positionen erscheinen auf den ersten Blick zu 100%


23<br />

gegensätzlich. Wenn beide Philosophen ihren jeweiligen Aussagen eine 60 %ige<br />

Wahrscheinlichkeit beimessen, liegen sie in ihren Bewertungen allerdings nur um 20 %<br />

auseinander. Bei dieser Situation würden sie sich wohl kaum wegen ihrer<br />

unterschiedlichen Überzeugungen ernsthaft in die Haare geraten. Jeder würde den<br />

anderen respektieren. Mit Jaspers würde möglicherweise jeder von ihnen sagen, dass er<br />

nicht sicher sei, ob er seine Aussage wirklich glaube, dass er lediglich zu glauben wage.<br />

Gleichwohl fließt das Wagnis des Glaubens an die Richtigkeit der jeweiligen Aussage in<br />

die Lebensauffassung des einzelnen ein. Dieses kann auch bei im übrigen, insbesondere<br />

hinsichtlich der ethischen Grundsätze, gleicher Lebensauffassung in Grenzsituationen zu<br />

einem anderen Verhalten führen. Derjenige, der sich entschieden hat, nicht an ein Leben<br />

nach dem Tod zu glauben, hängt möglicherweise mehr an seinem (irdischen) Leben als<br />

der andere, der nach seiner Überzeugung ja noch ein zweites erstrebenswerteres weil<br />

vollkommen glückseliges Leben hat. Letzterer könnte wegen dieser Überzeugung z. B.<br />

eher bereit sein, sich einer riskanten Operation zu unterziehen oder als Freiwilliger an<br />

einem Verteidigungskrieg teilzunehmen oder sein Leben für einen nahestehenden<br />

Menschen zu opfern.<br />

Eigene Glaubensgrundsätze<br />

(34) Welche Überzeugungen im Bereich des Übernatürlichen habe ich mir zu eigen<br />

gemacht?<br />

Ich habe mich nicht dazu entschließen können, an die Richtigkeit irgendeiner der in<br />

Abschnitt 31 wiedergegebenen drei Aussagen zu glauben.<br />

Zur Begründung führe ich zunächst an, dass unserer Beobachtung nur die sichtbare Welt<br />

zugänglich ist. Über die Frage, ob es daneben noch eine unsichtbare gibt, können wir<br />

nur spekulieren. Wir haben nicht die geringsten Anhaltspunkte. Vor diesem Hintergrund<br />

frage ich mich, warum ich an die Existenz einer unsichtbaren Welt glauben und mir diese<br />

dann noch in einer Reihe von Einzelheiten ausschmücken soll.<br />

(35) Martin Heidegger (1889-1976) unterscheidet zwischen dem Seienden und dem Sein,<br />

durch das alles Seiende erst ein Seiendes ist. Dieses Sein war bereits vor dem Urknall,<br />

wenn diese Theorie der Naturwissenschaftler richtig ist, und wird auch nach der in<br />

etlichen Milliarden Jahren zu erwartenden Implosion des Weltalls sein. Heidegger denkt<br />

sich dieses Sein als etwas Ungegenständliches und Unpersonifiziertes. Dem schließe ich<br />

mich an. Da ich nicht an einen Schöpfergott glaube, akzeptiere ich, dass das Entstehen<br />

des Seienden und damit auch des menschlichen Lebens für mich ein Geheimnis bleibt.<br />

(36) Die Entscheidung, in das Leben auf diesem Planeten einzutreten, haben unsere<br />

Eltern für uns getroffen und damit meines Erachtens eine kaum tragbare Verantwortung<br />

übernommen, können sie uns doch kein Leben frei von Angst und Leid garantieren. In<br />

diese Welt hineingeworfen (Heidegger spricht vom existenziellen Wurf ins Ungewisse),<br />

sind wir auf uns nahestehende Menschen, in erster Linie aber auf uns selbst gestellt. Wir<br />

können nicht erwarten, dass eine überirdische, uns wohlgesonnene Macht unseren<br />

Lebensweg begleitet und uns beschützt und auch nicht, dass es für uns ein glückseliges<br />

Leben nach dem Tode gibt. Vor unserer Zeugung gab es uns nicht und nach unserem<br />

Tod werden wir nicht mehr sein.


(37) George Steiner, weltweit tätiger Dozent für philosophische Hermeneutik,<br />

Schriftsteller und Heidegger-Interpret führte in seiner Rede in der Paulskirche am<br />

25.5.2003 anlässlich der Verleihung des Ludwig-Börne-Preises an ihn, die ich im<br />

Fernsehen verfolgte und die in der FAZ vom 31.5.2003 abgedruckt wurde, folgendes<br />

aus:<br />

24<br />

„Der Mensch ist ins Leben geworfen, um Heideggers gewaltigen Ausdruck zu benützen.<br />

Für diese Geworfenheit gibt es kein Warum, keine grundsätzliche Erklärung. Man kommt<br />

blind oder taub oder von genetischer Krankheit schon im Voraus verurteilt in die<br />

Existenz. Man ist schön wie Apoll oder hässlich wie Sokrates. Einer wird im Wohlstand, in<br />

der Kultur, in der Sicherheit zur Welt kommen, der andere in einem von Hunger oder<br />

Aids verwüsteten afrikanischen oder asiatischen Hinterland. Der eine hat Genie, der<br />

andere verbringt seine Tage in sturer Dummheit oder Hilflosigkeit. ... Geworfenheit ist<br />

ein unergründliches Würfelspiel. ... Es gibt keine mögliche Erklärung für die Lotterie, das<br />

Monte Carlo der Geworfenheit. Dies bedeutet, dass wir alle Gäste des Lebens sind. Das<br />

Sein ist unser Gastgeber. ... Leben heißt, eine willkürliche Gabe in Empfang nehmen.“<br />

Gabe kommt von geben. Das Leben ist uns gegeben, willkürlich bedeutet, dass wir keine<br />

Wahlmöglichkeit hatten. Hätte ein weiser Gott uns nicht über das Leben, das uns auf<br />

diesem Planeten erwartet, ein Leben mit glücklichen Umständen aber auch mit Leid,<br />

Schmerz, Not, Ungerechtigkeit und Grausamkeit aufgeklärt und dann uns die Wahl<br />

überlassen, in dieses Leben einzutreten oder nicht?<br />

Von den in Abschnitt 31 aufgeführten Aussagen will ich in den Abschnitten 38 bis 41 auf<br />

die beiden ersten näher eingehen (Gott, Leben nach dem Tode).<br />

Kein Glaube an die Existenz eines Schöpfergottes<br />

(38) Eine Person soll das Weltall und das Leben auf Erden aus dem Nichts erschaffen<br />

haben. Dieser Person werden weitere unglaubliche Eigenschaften beigemessen: Sie sei<br />

in der Lage, das Leben aller Menschen zu kontrollieren, alle ihre Handlungen<br />

wahrzunehmen und im Gedächtnis zu behalten. Sie verstehe alle Sprachen und Dialekte<br />

und könne sogar Gedanken lesen, und zwar gleichzeitig die Gedanken vieler Milliarden<br />

Menschen und auch diese speichern, um sie zusammen mit den gespeicherten<br />

Handlungen jedem einzelnen Menschen nach seinem irdischen Tod in einem göttliche<br />

Gericht vorhalten zu können. Eine Person mit derartigen Fähigkeiten vermag ich mir nur<br />

schwer vorzustellen.<br />

Es gibt aber noch einen anderen Umstand, der mir den Glauben an einen Schöpfergott<br />

erschwert: die Unvollkommenheit der Schöpfung und das Negative (das Schlechte und<br />

Böse) in der Welt. Für ein überirdisches Wesen mit den beschriebenen Eigenschaften<br />

wäre es doch ein Leichtes gewesen, eine vollkommene und heile Welt zu schaffen, statt<br />

einer Welt, in der jedenfalls die meisten Lebewesen mit der Angst leben müssen, von<br />

anderen gefressen, umgebracht, bedroht, ausgebeutet, beraubt, übervorteilt oder in<br />

anderer Weise schlecht behandelt zu werden. Es geht hier um das Problem der<br />

Theodizee. Dieses hat Georg Steiner im letzten Kapitel seines 1999 in deutsch<br />

erschienenen Werks „Errata, Bilanz eines Lebens“ treffend dargestellt. Die Seiten 206 bis<br />

211 oben sind als Anlage beigefügt.


25<br />

Für mich ist wie für Steiner und viele andere Denker die völlig verunglückte Schöpfung<br />

mit kaum beschreibbarem Leid und Unrecht und der Gedanke an einen allmächtigen und<br />

allgütigen Gott schlichtweg unvereinbar. Statt mir einen unfähigen oder gar bösartigen<br />

Gott vorzustellen, habe ich mich für die Hypothese „Gott ist nicht“ entschieden und<br />

befinde mich damit in Übereinstimmung mit Nietzsche: „Gott ist eine viel zu extreme<br />

Hypothese“ (XII 212 ff).<br />

Natürlich bin ich mir bewusst, dass viele Menschen an einen Schöpfergott glauben. Man<br />

kann immer wieder beobachten, dass die Menschen vorwiegend das glauben, was sie<br />

glauben möchten. Gewiss gibt es viele, die sich in der Vorstellung eines allmächtigen<br />

Schöpfergottes, der sie leitet und beschützt und ihnen in einem späteren Leben<br />

vollkommene Glückseligkeit verspricht, geborgen fühlen, also an solch einen Gott gerne<br />

glauben möchten und dann auch an ihn glauben.<br />

(39) Ein Hinweis auf die Entstehung des Glaubens der Juden an ihren Gott: Ursprünglich<br />

hatten die Juden (wie übrigens alle archaischen Völker) mehrere Götter; Jehova war nur<br />

einer von ihnen. Sie haben sich dann entschlossen, ihn als alleinigen Gott anzuerkennen,<br />

allerdings nicht ohne Gegenleistung: Er sollte sie zu seinem auserwählten Volk machen<br />

und zu ihnen und nur zu ihnen stehen. Der vielgepriesene Pakt war ein also Geschäft:<br />

Do ut des. So schnell und unter solchen Umständen wurde der Schöpfergott, an den<br />

auch die Christen glauben, geschaffen.<br />

(40) Wenn ich der Annahme, dass kein Schöpfergott existiert, eine höhere<br />

Wahrscheinlichkeit beimesse als der gegenteiligen Annahme, schließe ich damit die<br />

Möglichkeit der Existenz Gottes nicht aus. Daher muss ich ihn, seine Existenz unterstellt,<br />

auch ontologisch einordnen können. Das Alte Testament weist den Weg: Es lässt Jehova<br />

zu Moses sagen: „Ich bin der Seiende.“ Existiert Gott, ist er zweifellos das höchste<br />

Seiende, das alles andere Seiende geschaffen hat, wenn auch nicht aus dem nichts,<br />

sondern durch Umschaffung aus schon immer vorhandenen kleinsten Bausteinen. Als<br />

seiende Entität kann er nicht das Sein selbst sein, wie die Scholastiker annahmen; ich<br />

würde sagen, er ist (von Ewigkeit zu Ewigkeit) mit dem Sein.<br />

Seit Menschengedenken ist der Mensch auf der Suche nach dem Höchsten. In dem<br />

bereits am Ende des Abschnitts 21 auszugsweise wiedergegebenen etwa 3200 Jahre<br />

alten Schöpfungshymnus der Rigveda, heißt es:<br />

Damals war nicht das Nicht-Sein noch das Sein,<br />

kein Luftraum.., kein Himmel..., nicht Tod... noch Unsterblichkeit, nicht Nacht,<br />

nicht Tag.<br />

Es hauchte windlos in Ursprünglichkeit das Eine, außer dem kein anderes war.<br />

Aus diesem ging hervor, zuerst entstanden als der Erkenntnis Samenkorn die<br />

Liebe.<br />

Des Daseins Wurzelung im Nicht-Sein fanden die Weisen forschend in des Herzens<br />

Triebe.<br />

Auch einige Philosophen unseres Kulturkreises haben in späteren Jahrtausenden den<br />

Begriff der oder das Eine für den Urgrund des Lebensstroms verwendet. Lao Tse spricht<br />

in seiner ebenfalls bereits genannten Schrift Tao Te King vom Tao:


26<br />

Das Tao, das mitgeteilt werden kann, ist nicht das ewige Tao,<br />

der Name, der genannt werden kann, ist nicht der ewige Name.<br />

Das Unnennbare ist das ewig Wirkliche,... das Tor zu allem Verstehen.<br />

.....<br />

Es ist verborgen und doch immer da. Ich weiß nicht, wer es hervorbrachte.<br />

Es ist älter als Gott.<br />

....<br />

Bevor noch Zeit und Raum bestanden, bestand das Tao schon.<br />

Es liegt jenseits von Sein und Nicht-Sein.<br />

Woher ich weiß, dass dieses zutrifft?<br />

Ich schaue in mich hinein und sehe es.<br />

Statt des In-Sich-Hineinschauens verwendet Jaspers das Bild des Hörens aus dem<br />

Ganzen der Wirklichkeit. Angesichts dessen, dass unseren Sinnen nur die hier<br />

wahrnehmbare Welt offen steht, können wir meines Erachtens mit Blick auf eine<br />

angenommene unsichtbare Welt seriöser Weise allenfalls von einem ahnenden Erfassen<br />

des Höchsten und des daraus hervorgegangenen Lebensstroms sprechen, zu dem auch<br />

die Liebe und der Herzen Triebe (Rigveda) gehören. Auch Schiller spricht in seiner Ode<br />

an die Freude von diesem Ahnen. Es versteht sich, dass das Ergebnis des ahnenden<br />

Erfassens des Unbegreiflichen nichts konkret Greifbares, bildhaft Vorstellbares,<br />

Mitteilbares sein und natürlich niemals zu einer Lehre führen kann. Es kann<br />

äußerstenfalls zu einem leisen Bewusstsein führen, wie Jaspers es ausgedrückt hat.<br />

Kein Glaube an ein Leben nach dem Tod<br />

(41) Von allen Argumenten gegen ein Leben nach dem Tod überzeugt mich am meisten<br />

die Tatsache, dass bisher noch nie beweisbar oder zumindest glaubhaft davon berichtet<br />

wurde, dass ein Verstorbener einem Lebenden erschienen und ihm Einblick in sein neues<br />

Leben gewährt habe. Kritiker halten dagegen, die Toten hätten Besseres zu tun (keine<br />

Zeit), ein schwaches Verlegenheitsargument, finde ich. Wenn es ein solches Leben gibt,<br />

werden nach meinem irdischen Tod meine Familienmitglieder die ersten Lebenden sein,<br />

die hiervon aus erster Hand alles Wissenswerte erfahren werden.<br />

Wer an ein Leben nach dem Tode glaubt, glaubt in der Regel an ein ewiges Leben, für<br />

mich eher ein Alptraum. Tausend Jahre, vielleicht auch ein Bisschen mehr, ließe ich mir<br />

schon gefallen, um das Universum zu durchsteifen und all die Erkenntnisse zu gewinnen,<br />

die zu erlangen uns auf Erden nicht möglich war. Auch die Kommunikation mit anderen<br />

Geistern und interspirituelle Liebe, falls es so etwas geben sollte, könnte ein Zeit lang<br />

interessant und lebenserfüllend sein. Aber irgend wann, nach hunderttausend oder<br />

Millionen Jahren kennt man alles, hat alles zur Neige genossen und begehrt nichts mehr;<br />

es wird unsterblich langweilig, Ähnlich ergeht es ja auch dem aristotelischen Gott,<br />

dessen einzige Beschäftigung es ist, sich selbst zu denken.<br />

Spiritismus<br />

(42) Für manche Menschen gehören zu den übernatürlichen Glaubensgrundsätzen auch<br />

solche aus dem Bereich des Spiritismus. Sie mögen z. B. glauben, dass es über<br />

Entfernungen hinweg geistige Verbindungen zu anderen Menschen gibt, dass es<br />

Menschen gibt, die die Fähigkeit besitzen, aus der Ferne Krankheiten eines ihnen bis


27<br />

dahin unbekannten Menschen zu erkennen und Linderung zu schicken (Telepathie). Es<br />

wird berichtet von Menschen, die das künftige Schicksal anderer zutreffend vorausgesagt<br />

oder die den Aufenthaltsort eines Vermissten „gesehen“ haben, von Müttern, die den<br />

Tod ihrer Söhne im Krieg gespürt haben genau zu der Stunde, in der sie fielen. Sogar bei<br />

Tieren will man Ähnliches beobachtet haben: Ein Hund fing genau in der Minute an zu<br />

heulen, als sein Herr im Krankenhaus verstarb. Naturvölker berichten gar von geistigen<br />

Verbindungen zu den Ahnen.<br />

In diesem Bereich habe ich kaum Erfahrungen, so dass ich hier auch keine<br />

Glaubenssätze entwickelt habe.<br />

Übernatürliche Glaubensgrundsätze, Alternative<br />

(43) Wenn ich auch an der Existenz eines Schöpfergottes und an der Unsterblichkeit des<br />

Menschen eher zweifle, muss ich doch diese Möglichkeiten in Rechnung stellen. Daher<br />

stelle ich die Frage, zu welchen Glaubensgrundsätzen ich gelangen würde, wenn ich, der<br />

ich mich ja immer noch auf dem Wege sehe, einmal zu der Auffassung gelangen würde,<br />

dass der Aussage „Gott ist“ eine höhere Wahrscheinlichkeit beizumessen wäre als der<br />

gegenteiligen Aussage. Statt dessen könnte ich auch die Frage stellen, welche<br />

Glaubensgrundsätze ein moderner, aufgeklärter, zu selbständigem Denken bereiter und<br />

befähigter Mensch entwickeln könnte, der entsprechend dem Postulat des Dalai Lama<br />

eine seiner kulturellen Herkunft und seiner Individualität entsprechende Religion anstrebt<br />

und dabei von der Existenz eines Schöpfergottes ausgehen möchte, ohne eine der zu<br />

ganz anderen Zeiten und unter ganz anderen gesellschaftlichen Bedingungen<br />

entstandenen Offenbarungsreligionen mit den sie begleitenden Machtansprüchen und<br />

Aggressionen, Mythen und teilweise infantilen Vorstellungen zu übernehmen.<br />

(44) Bei den Überlegungen zu dieser Frage halte ich die Gottesvorstellungen von Karl<br />

Jaspers für den geeigneten Ansatz, und zwar aus folgenden Gründen:<br />

1. Jaspers räumt (wohltuend) ein, dass jede philosophische Erkenntnis, auch und<br />

insbesondere jede, die sich auf eine unserer sinnlichen Wahrnehmung<br />

verschlossene unsichtbare Welt bezieht, auch unrichtig sein könnte,<br />

2. Da wir somit nach seiner Auffassung Gott nicht wissen können, rät er dazu, sich<br />

kein Bild von ihm zu machen, also auf die Entwicklung detailreicher Vorstellungen<br />

von Gott zu verzichten,<br />

3. Jaspers glaubt nicht, dass Gott sich jemals irgendeinem Menschen offenbart hat.<br />

Wir können uns also Gott nur denkend nähern, und dieses auch nur in engen<br />

Grenzen.<br />

Somit übernehme ich (unter dem Aspekt der eingangs genannten Fragestellung)<br />

zunächst die nachstehenden jasperschen Aussagen:<br />

1. Gott ist.<br />

2. Nichts, was ist, ist ohne ihn.<br />

3. Wir können in Führung durch Gott leben; er teilt sich uns, jedenfalls in besonderen<br />

Lebenssituationen, über unsere innere Stimme mit.<br />

4. Gott ist nicht, was auch immer wir uns vor Augen stellen.


28<br />

Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass Jaspers sich in seinen Schriften, soweit<br />

ersichtlich, nicht zu der Frage eines Lebens nach dem irdischen und der Frage eines<br />

göttlichen Gerichts geäußert hat. Es ist nicht anzunehmen, dass Jaspers über diese<br />

Fragen nicht nachgedacht hat, handelt es sich doch um alte philosophische<br />

Fragestellungen, mit denen sich auch Plato, von Jaspers über alles geschätzt, befasst<br />

hat. Daher ist anzunehmen, dass Jaspers sich mit Bedacht auf die vorgenannten<br />

Aussagen beschränkt hat. Vielleicht wollte er auch –wie Plato- seine geheimsten<br />

Gedanken keinem Buch anvertrauen. Gleichwohl möchte ich den Versuch unternehmen,<br />

den Aussagen Jaspers` Aussagen zu einem Leben nach dem Tode und zu einem<br />

göttlichen Gericht hinzuzufügen. Dabei liegt es auf der Hand, dass die Bejahung eines<br />

göttlichen Gerichts die Annahme einer menschlichen Seele voraussetzt, die nach dem<br />

Tode des Körpers jedenfalls noch ein Zeit lang, vielleicht auch in Ewigkeit weiterlebt. In<br />

gleicher Weise müsste man davon ausgehen, dass sich Gott – im Gegensatz zu der<br />

Gottesvorstellung eines Aristoteles- für den Menschen interessiert und einen bestimmten<br />

Willen in Bezug auf die Lebensführung der Menschen hat, der für die Menschen auch<br />

erkennbar ist, da er sich sonst nicht vor seinem Gericht verantworten könnte, d. h. es<br />

müssten auch Aussagen zum Willen Gottes gemacht werden, wohlgemerkt zum Willen<br />

eines denkend angenommenen, nicht eines offenbarten Gottes. Zudem halte ich es für<br />

erforderlich, auch auf die Frage einzugehen, ob es vorstellbar ist, dass der Mensch<br />

Gottes Willen beeinflussen kann.<br />

(45) Folgende weitere Glaubenssätze lassen sich aufstellen:<br />

5. Der Mensch verfügt außer seinem Körper über eine immaterielle Seele.<br />

6. Gott erschafft die Seele eines jeden Menschen mit seiner Geburt.<br />

7. Die Seele stirbt nicht mit dem Körper.<br />

8. Es gibt ein göttliches Gericht.<br />

9. Die Seele geht nach Verantwortung vor dem göttlichen Gericht in ein Leben<br />

vollkommener Harmonie ein.<br />

10. Der Mensch hat keinen Einfluss auf den Willen Gottes.<br />

(46) Der Begriff der Seele in dem hier verwendeten Sinn ist ein rein religiöser. Er<br />

bezeichnet das eigentliche ego des Menschen, das in der Zeit des irdischen Lebens mit<br />

dem Körper verbunden ist und anschließend als geistiges Wesen weiterlebt. Unter<br />

denjenigen, die die Existenz einer Seele bejahen, gibt es ganz unterschiedliche<br />

Auffassungen darüber, wann die Seele entsteht. So gibt es z. B. den Glauben an die<br />

Präexistenz der Seele und die Seelenwanderung. Manche glauben auch, dass nicht nur<br />

Menschen sondern auch Tiere und sogar Pflanzen eine Seele haben. Die abrahamischen<br />

Offenbarungsreligionen glauben dagegen, dass nur Menschen beseelt sind und dass<br />

jeder Mensch über eine individuelle Seele verfügt, die von Gott geschaffen wird, wobei<br />

der genaue Zeitpunkt im Unklaren bleibt. Ist es der Zeitpunkt der Befruchtung oder der<br />

der Geburt oder ein Zeitpunkt dazwischen? Ich würde mich für den Zeitpunkt der Geburt<br />

(des ersten Atemzuges) entscheiden. Ebenso bleibt unklar, welches das erste Lebewesen<br />

in der Kette der Vorfahren des Homo sapiens sapiens war, dem diese Religionen eine<br />

Seele zugestehen wollen. Alle diese Religionen glauben an die Unsterblichkeit der Seele.<br />

Demgegenüber bleibt in der Aussage 7 offen, ob die Seele ewig lebt oder ob auch für sie<br />

irgendwann einmal Ende ist. Sie beinhaltet jedenfalls ein Leben nach dem Tode; hierauf<br />

komme ich nach Beleuchtung des 8. Glaubensgrundsatzes zurück.


29<br />

(47) Bevor ich zu einem göttlichen Gericht komme, ist, wie dargelegt, zu ergründen,<br />

welchen Willen in Bezug auf das menschliche Verhalten man einem von uns gedachten<br />

Gott unterstellen könnte. Ich denke hier in erster Linie an die bereits behandelten<br />

ethischen Grundsätze. Danach könnte der Wille Gottes in dem Postulat bestehen, uns<br />

Gedanken über ethisch einwandfreies Verhalten zu machen, d. h. eine eigene Ethik zu<br />

entwickeln oder nach Prüfung ethische Grundsätze anderer zu übernehmen und danach<br />

zu leben. Da es aber durchaus unterschiedliche ethische Auffassungen geben kann,<br />

würde die Seele eines jeden Menschen bei einem göttlichen Gericht danach beurteilt, ob<br />

sie der von ihr für richtig gehaltenen Ethik gefolgt ist. Das würde zu dem absonderlichen<br />

Ergebnis führen, dass der eine Mensch für eine bestimmte Handlung verurteilt werden<br />

könnte, ein anderer für die selbe Handlung nicht. Ich sehe aber keine andere Möglichkeit<br />

als die, dass jeder Mensch, der Gott denkt, seine Vorstellungen über das richtige<br />

menschliche Verhalten auf Gott überträgt, dieses deswegen, weil, wie Jaspers es<br />

ausdrückte, niemand in objektiver Garantie weiß, was Gott will. (Hier wird das Dilemma<br />

des Glaubens an einen Schöpfergott, den sich der menschliche Geist erschafft,<br />

besonders deutlich.)<br />

(48) Wie soll man sich das göttliche Gericht vorstellen? Mit Sicherheit nicht in der Art<br />

eines menschlichen Gerichts wie die Offenbarungsreligionen es tun. Die Art wie<br />

Menschen seit jeher Gericht halten, ist schon für diese, gemessen an ihrem Verstand, auf<br />

den sie sich so viel einbilden, ein Armutszeugnis erster Kategorie, ist ihnen bisher doch<br />

kaum etwas anderes eingefallen, als auf ein tatsächliches oder vermeintliches<br />

Fehlverhalten mit der Knüppel-aus-dem-Sack-Methode zu reagieren. Eine derartige<br />

Veranstaltung kann einem weit über den Menschen stehenden Gott ganz offensichtlich<br />

nicht als Vorbild dienen. Insofern kann man die Vorstellungen der<br />

Offenbarungsreligionen über das göttliche Gericht nur als infantil bezeichnen, wie<br />

übrigens viele andere Vorstellungen dieser Religionen ebenfalls. In Anlehnung an Jaspers<br />

würde ich auch hier sagen:<br />

„Das göttliche Gericht ist nicht, was auch immer wir uns vor Augen stellen.“<br />

(49) Es bleibt die Frage, wie unsere Seele nach dem Tod und nach dem Gang durch das<br />

göttliche Gericht lebt. Die meisten Menschen haben in ihrem irdischen Leben von<br />

anderen Menschen Leid und Unrecht erfahren, viele haben anderen Leid und Unrecht<br />

zugefügt. Menschen haben andere Menschen geliebt, wieder andere gehasst. Das Leben<br />

nach dem Tod sollte schon ein besseres Leben sein als hier, vor allem ein Leben ohne<br />

Zorn oder gar Hass auf andere Seelen, denen man dort begegnen mag, andererseits<br />

auch ohne ein permanent schlechtes Gewissen gegenüber denen, denen gegenüber man<br />

sich auf Erden stets oder in einzelnen Fällen verwerflich verhalten hat. Schafft Gott hier<br />

einen Ausgleich, der dazu führt, dass alle in vollständiger Harmonie miteinander leben?<br />

Man mag es hoffen, aber wie will er das hinbekommen? Man könnte z.B. daran denken,<br />

dass er unsere Erinnerung an das irdische Leben auslöscht oder sie so modifiziert, dass<br />

wir keine belastenden Erinnerungen mehr haben.<br />

(50) Viele stellen sich vor, im Jenseits geliebten Menschen wiederzubegegnen, jedoch<br />

ohne Eifersucht. Hierzu ein einfaches Beispiel: Eine Frau verliert in jungen Jahren ihren<br />

geliebten Ehemann. Später verliebt und verheiratet sie sich erneut. Im Jenseits trifft sie<br />

beide Männer wieder. Dort kann es ja wohl nicht sein, dass die beiden Männer sich


ihretwegen in die Haare geraten. Auch in solchen Situationen ist das Eingreifen Gottes<br />

vonnöten, um negative Empfindungen erst gar nicht entstehen zu lassen.<br />

Wie das Leben der Seelen im einzelnen verläuft, nachdem sie sich für ihr Verhalten im<br />

irdischen Leben vor Gott verantwortet haben, und wie Gott die Harmonie (die<br />

tranquilitas animae, um mit Seneca zu sprechen) herstellt, dazu würde ich wieder in<br />

Anlehnung an Jaspers sagen:<br />

30<br />

„Das Leben nach dem Tode und dem göttlichen Gericht ist nicht, was immer wir uns vor<br />

Augen stellen.“ Es bleibt jedoch die Aussage eines Lebens in vollständiger Harmonie.<br />

(51) Vom Jenseits wieder zurück zum irdischen Leben. Der 10. Glaubensgrundsatz<br />

schließt aus, dass die hier vorgetragene Religion in die Niederungen einer Religion des<br />

Ich abgleitet. Gott weiß, was er will und handelt danach. Er hat den vollen Durchblick,<br />

begeht keine Denkfehler, übersieht nichts bei seinen Entscheidungen. Es gibt nichts, auf<br />

das wir ihn aufmerksam machen müssten. Unsere Wünsche kennt er im Voraus. Aus all<br />

diesen Gründen sind Sühne, Opfer und Gebet obsolet, jedenfalls zur Beeinflussung<br />

seines Willens. Gebete sind aber auch als Lobpreisungen obsolet. Gott kennt seine Größe<br />

besser als wir, er benötigt keine Streicheleinheiten seitens seiner Geschöpfe.<br />

Namensgebung<br />

(52) Mit den vorstehenden Ausführungen habe ich meine Lebensauffassung als<br />

Grundlage meiner Religion dargestellt. Da philosophisch begründet zähle ich sie zu den<br />

Religionen der Erkenntnis. Wenn ich ihr einen Namen geben sollte (der ersten<br />

Alternative, die nicht von der Existenz eines Gottes ausgeht), würde ich sie Natürliche<br />

Religion nennen, zum einen weil sie das, was Hellinger als natürliche Religion<br />

bezeichnet, als einen der Bausteine und Denkansätze beinhaltet, zum anderen weil sich<br />

die Goldene Regel als Fundament meiner ethischen Grundsätze ebenfalls aus<br />

allgemeinen menschlichen Erfahrungen ergibt und weil auch das Streben nach einem<br />

bejahenswerten Leben als etwas Natürliches betrachtet werden kann. Für diese<br />

Namensgebung spricht ferner, dass bei der hier als Grundlage der Religion<br />

vorgetragenen Lebensauffassung in Ermangelung eines Schöpfergottes die Natur die<br />

höchste Gewalt darstellt, die alle Entwicklungen steuert.<br />

Religionsrating<br />

(53) Meine Definition des Begriffs Religion bringt es mit sich, dass Religionen bewertet<br />

werden müssen. Sie können gut oder schlecht sein. Sie müssen sich unter ethischen<br />

Gesichtspunkten einem Rating unterwerfen. Hierzu ein Beispiel:<br />

Die Lebensauffassung eines angenommenen Menschen umfasse folgende Grundsätze:<br />

Übernatürliche Glaubensgrundsätze<br />

Gott liebt starke Menschen. Schwachen Menschen hat er die Aufgabe zugewiesen, den<br />

starken zu dienen.<br />

Natürliche Glaubensgrundsätze<br />

Der Sinn des Lebens besteht darin, nach Stärke, Macht und Besitztümern zu streben.<br />

Schwächere wollen unterworfen und ausgebeutet werden.


31<br />

Ethische Grundsätze<br />

Jedes Mittel, das der Erreichung des beschriebenen Lebensziels dient, ist legitim, auch<br />

Gewalt, Lug und Betrug<br />

Wenn dieser Mensch diese Grundsätze praktiziert, ist auch er religiös in dem von mir<br />

definierten Sinn. Natürlich handelt es sich um eine absolut destruktive Religion. Sie<br />

würde somit ein denkbar schlechtes Rating erfahren.<br />

(54) Betrachten wir doch einmal unter diesem Blickwinkel einige der sogenannten<br />

„großen Weltreligionen“. Das Kasten(un)wesen des Hinduismus, der nach der Definition<br />

Hellingers ebenfalls unter die Religionen des Ich einzureihen ist, weist ähnlich<br />

destruktive Züge auf wie die zuletzt skizzierte Religion. Pervers auch der Brauch der<br />

Witwenverbrennungen. Die meisten bekannten Religionen waren in ihrer Geschichte<br />

absolut intolerant und aggressiv und sind es teilweise heute noch. Der erste Völkermord<br />

der Geschichte wird im Alten Testament berichtet und wurde von den Juden verübt,<br />

dazu noch an einem ihnen freundlich gesonnen Volk, das zum Judentum übertreten<br />

wollte. Christen sind ausgezogen, um Mohammedaner zu vernichten (Kreuzzüge) und<br />

vielleicht auch umgekehrt, und zwar aus voller religiöser Überzeugung. Verschiedene<br />

Glaubensrichtungen innerhalb des Christentums und des Islam haben sich gegenseitig<br />

umgebracht, wiederum aus religiöser Überzeugung. Die Missionierungen beider<br />

Religionen verliefen nicht selten blutig: wer nicht glauben wollte, wurde ermordet. Selbst<br />

kleinste Abweichungen von der offiziellen Glaubenslehre wurden mit schlimmsten<br />

Folterungen und häufig mit Verbrennung bei lebendigem Leibe „bestraft“ (Inquisition).<br />

Wiederum glaubten die Machthaber innerhalb der katholischen Kirche, die Folterer und<br />

Henker und auch häufig die den Prozeduren beiwohnenden einfachen Gläubigen, dass<br />

hiermit in besonderer Weise der Wille ihres Gottes - in diesem Fall wäre der Ausdruck<br />

Götze wohl richtiger - erfüllt werde. Die von der römischen Kirche über lange Zeiträume<br />

betriebene sog. „Hexen“-Verfolgung mit unbeschreiblich grausamen und<br />

langanhaltenden Folterungen völlig unschuldiger Menschen liegt auf der selben Ebene.<br />

Die Religion deren, die in diese schlimmen Verbrechen verstrickt waren oder sie<br />

guthießen, kann nur auf der untersten Stufe aller schlechten Religionen angesiedelt<br />

werden. Es darf daran erinnert werden, dass die katholische Kirche sich von all diesen<br />

Verbrechen bisher kaum distanziert hat: kein dafür verantwortlicher Papst, Bischoff, Abt<br />

oder Inquisitor wurde posthum exkommuniziert, kein Verurteilter rehabilitiert. Die<br />

spanischen Bischöfe verteidigen heute noch die Ermordung von Millionen Indios als der<br />

Sache des Glaubens dienlich. Ausdrücklich sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass<br />

auch Martin Luther die sog. „Hexen“-Verfolgung guthieß und dass seine Anhänger sich<br />

mit großem religiösen Eifer an den kaum beschreibbaren Grausamkeiten gegenüber<br />

ihren Mitmenschen beteiligten, auch hier also ein vernichtendes Rating. Das Gleiche gilt<br />

für Calvin.<br />

Andere grausame „Strafen“ für tatsächliche oder vermeintliche Regelverstöße, wie sie<br />

Inhalt der islamischen Sharia sind, und ähnliche Praktiken der Juden im Altertum liegen<br />

auf der selben Linie.<br />

(55) Wir können aber auch einen Blick in die Gegenwart werfen. Wie wir aus dem im<br />

Jahr 2002 gedrehten Film „Die unbarmherzigen Schwestern“ wissen, beendete die<br />

katholische Kirche die Sklaverei erst 1996 mit der letzten Schließung der<br />

Magdalenenheime in Irland. Statt den noch lebenden Opfern sofort für die jahrelang


32<br />

erlittenen Peinigungen und Demütigungen großzügige Entschädigungen anzubieten,<br />

versuchte der Nachfolger der Großinquisitoren, der bayerische Kardinal Ratzinger, der<br />

heutige Papst, den auf recherchierten Tatsachen beruhenden Film verbieten zu lassen!<br />

Im Frühjahr 2003 ging durch die Weltpresse, dass in Südamerika ein 9-jähriges Mädchen<br />

exkommuniziert worden ist, weil es mit Hilfe von Menschenrechtsorganisationen nach<br />

einer Vergewaltigung eine Abtreibung hatte vornehmen lassen. Wiederum waren es die<br />

selbstgerechten spanischen Bischöfe, die diese Maßnahme guthießen. Der damalige<br />

Papst, hat nicht nur nichts dagegen unternommen, sondern die Exkommunikation<br />

gebilligt. (Seine erwachsenen polnischen Landsleute, die regelmäßig in Deutschland<br />

Autos stehlen, dürfen dagegen Mitglieder der Kirche bleiben, desgleichen Bischöfe und<br />

andere Kleriker, die sich des Missbrauchs von Kindern schuldig gemacht haben.)<br />

(56) Alle Offenbarungsreligionen konnten offenbar mühelos die massenweise<br />

Versklavung von Mitmenschen in ihre Religionen integrieren. „Gottes eigenes Volk“, die<br />

ach so christlichen US-Amerikaner, hatten ebenso wenig religiöse Bedenken, sich einen<br />

ganzen Kontinent unter den Nagel zu reißen, indem sie Millionen Indianer umbrachten<br />

und die verbliebenen (bis heute) entrechteten und den Kontinent anschließend von<br />

Negersklaven urbar machen zu lassen. Ein Bekannter, der in Florida eine Wohnung<br />

besitzt, erzählte mir von einer eifrig religiösen Amerikanerin, die sogar auf ihrer<br />

Internetseite Propaganda für Christus betreibt, aber die Straßenseite wechselt, wenn ihr<br />

ein Schwarzer entgegenkommt. Bleiben wir bei den Amis. Sich Christen nennende<br />

Führungskräfte amerikanischer global agierender Unternehmen können es anscheinend<br />

gut mit ihrer Religion vereinbaren, wenn sie durch Mordtrupps große Gebiete des<br />

brasilianischen Urwalds „indianerfrei“ machen lassen, weil die brasilianische Regierung<br />

nur Land, auf dem keine Indianerstämme ansässig sind, an ausländische Unternehmen<br />

verkauft. Sie haben auch keine religiösen Bedenken, in Mittel- und Südamerika Bananen<br />

und andere Früchte anzubauen und dabei in Massen Pestizide zu verwenden, die in allen<br />

zivilisierten Staaten längst verboten sind, und die einheimischen Arbeiter völlig ohne<br />

Masken und Schutzkleidung arbeiten lassen, mit der Folge, dass sie nach 5 Jahren Arbeit<br />

für einen Hungerlohn gesundheitlich für den Rest ihres Lebens ruiniert sind. Die<br />

Mitglieder aller amerikanischen Regierungen des vorigen Jahrhunderts, die bei jeder<br />

Gelegenheit Gott im Mund führten, hatten keine religiöse Bedenken, die übelsten<br />

Diktatoren in Mittel- und Südamerika zu unterstützen, wenn sie nur bereitwillig ihr Land<br />

und ihre Bewohner der Ausbeutung durch US-Konzerne zur Verfügung stellten. Wurde<br />

einmal eine demokratische Regierung gewählt, die im Interesse ihres Landes und ihrer<br />

Bevölkerung tätig sein wollte, wie in Chile (Alliende), destabilisierte man mit viel Geld das<br />

Land und ließ den Präsidenten und führende Mitglieder der neuen Regierung binnen<br />

kürzester Zeit durch den CIA umbringen.<br />

(57) In Saudi-Arabien und anderen islamischen „Gottesstaaten“ erhält ein vergewaltigtes<br />

Mädchen von Religionspolizisten 180 Peitschenhiebe, weil es Geschlechtsverkehr vor der<br />

Ehe hatte (Hirsi Ali, S. 90). Im Jemen wurde sogar eine 13jährige, die von drei jungen<br />

Männern überfallen und vergewaltigt wurde, gesteinigt. Das gleiche Schicksal erwartet in<br />

den meisten mohammedanischen Staaten alle Frauen, die sich außerhalb der Ehe einem<br />

Mann in Liebe hingeben, also von ihrem Recht der sexuellen Selbstbestimmung<br />

Gebrauch machen. Ebenfalls aus religiösen Gründen schlagen mohemmedanische<br />

Männer ihre Frauen und Töchter; letztere werden oft in einer Zwangsheirat der<br />

permaneneten Vergewaltigung durch einen ihr fremden und ungeliebten Mann<br />

ausgesetzt. Hirsi Ali: Ich klage an. Theo van Gogh: Submission (Drehbuch Hirsi Ali).


33<br />

Wenn Religion die Art ist, wie wir uns anderen gegenüber verhalten, liegt das Rating für<br />

diese Religion auf der Hand: abartig, menschenunwürdig.<br />

(58) Ich gehe davon aus, dass es zu allen Zeiten und in den verschiedensten Ländern<br />

auch Angehörige der vorstehend kritisierten Religionen gegeben hat und auch heute<br />

gibt, die in ihrer praktischen Lebensführung hohe ethische Grundsätze wie z. B.<br />

Mitmenschlichkeit, Mitgefühl, Toleranz, Milde, Güte und Wahrhaftigkeit beachtet und<br />

verabscheuungswürdige Grundsätze ihrer Religionen gemieden haben. Das<br />

Religionsrating betrifft zum einen die Qualität einer bestimmten Religionslehre, zum<br />

anderen die Verhaltensweise des Einzelnen : die Religion (das Verhalten) des einen kann<br />

ein gutes Rating erfahren, die Religion eines anderen der selben Religionslehre<br />

angehörenden, und zwar eines aus religiöser Überzeugung so handelnden Menschen, ein<br />

vernichtendes.<br />

Quintessenz<br />

(59) Zum Schluss möchte ich meine wichtigsten Gedanken wie folgt zusammenfassen:<br />

1. Bestandteile einer Religion<br />

Grundlage einer Religion, wie ich sie verstehe, sind ethische Grundsätze, natürliche<br />

Glaubensgrundsätze und übernatürliche Glaubensgrundsätze.<br />

Die ethischen Vorstellungen verschiedener Menschen können weit auseinander gehen.<br />

Bei seinen Glaubensgrundsätzen sollte jeder ins Kalkül stellen, dass sie auch falsch sein<br />

könnten (keine Orthodoxie).<br />

2. Meine Position<br />

Im Bereich der Ethik halte ich die „Goldene Regel“ in der im Abschnitt 28 dargestellten<br />

erweiterten Fassung und die "unbedingten Forderung" im Sinne Kants und Jaspers` für<br />

richtungweisende Prinzipien.<br />

Bei den natürlichen Glaubensgrundsätzen gehe ich von der Geworfenheit des Menschen<br />

aus. Ich glaube, dass wir im eigenen Interesse die Aufgabe haben, das Beste aus der<br />

jeweils gegebenen Situation zu machen, mit dem Ziel, zu einem bejahenswerten Leben<br />

zu gelangen. Im übrigen folge ich einigen der Grundüberzeugungen des Dalai Lama, wie<br />

in Abschnitt 30 dargestellt.<br />

Im übernatürlichen Bereich glaube ich lediglich, dass Kräfte auf uns einwirken, die für<br />

uns geheimnisvoll bleiben. Insbesondere glaube ich nicht an eine unsterbliche Seele des<br />

Menschen. Zur Gottesfrage die folgenden Ziffern 3 und 4.<br />

Für mich ist die Religion reine Privatsache. Natürlich kann man mit anderen darüber<br />

sprechen, allerdings ohne Missionierungsabsicht. Jeder möge seine eigenen religiösen<br />

Vorstellungen haben und danach leben, ohne sie demonstrativ in die Öffentlichkeit zu<br />

tragen. Religion ist für mich demzufolge keine soziale Veranstaltung! Hier ist jeder<br />

einzeln (Hesse, Jaspers, Hellinger).


34<br />

3. Keine Existenz eines offenbarten Gottes<br />

Wenn es einen Schöpfergott gibt, gibt es ihn nur als gedachten nicht als offenbarten<br />

Gott. Wer auch immer behautet, ihm sei ein übernatürliches Wesen erschienen und habe<br />

sich ihm als Schöpfergott offenbart, ohne hierfür Beweise oder wenigstens eine Reihe<br />

nachprüfbarer Anhaltspunkte vorzulegen, ist in meinen Augen schlichtweg ein<br />

Scharlatan.<br />

Gäbe es einen offenbarten Gott und wäre sein Interesse an den Menschen so groß wie<br />

von den Offenbarungsreligionen behauptet wird („er schuf den Menschen nach seinem<br />

Bilde“), würde er mit den Menschen regelmäßig kommunizieren so, wie er es nach der<br />

biblischen Schöpfungsgeschichte mit den ersten Menschen tat oder wie dem NT zufolge<br />

Engel nach der Himmelfahrt Christi zu den versammelten Menschen sprachen, wobei<br />

jeder die Engel in seiner Sprache vernahm. In seiner Allmacht wäre es Gott, wenn es ihn<br />

mit den Eigenschaften gäbe, die die Offenbarungsreligionen ihm andichten, ein Leichtes,<br />

Wege zur gleichzeitigen Kommunikation mit Milliarden Menschen zu finden. Er würde<br />

sich jedenfalls nicht damit begnügen nur einmal in der Menschheitsgeschichte einem<br />

einzelnen Menschen zu erscheinen.<br />

Die Offenbarungsreligionen folgen teilweise recht naiven Vorstellungen, treten<br />

rechthaberisch, intolerant und aggressiv auf und haben im Laufe ihrer Geschichte eine<br />

grässliche Blutspur hinterlassen. Zudem übertreffen die von ihnen erfundenen Strafen in<br />

einem jenseitigen Leben an Grausamkeit alle denkbaren irdischen Verbrechen, indem sie<br />

insbesondere den sog. Ungläubigen das ewige Feuer androhen. Das bedeutet, dass die<br />

Betroffenen nicht wie bei einer irdischen Verbrennung auf dem Scheiterhaufen nach<br />

kurzer Zeit mit einem Ende ihrer entsetzlichen Qualen rechnen könnten, sondern diese<br />

Abermilliarden Jahre zu ertragen hätten.<br />

Fazit: Religionen, die von der Existenz eines offenbarten Gottes ausgehen, ohne für die<br />

behauptete Offenbarung auch nur den geringsten Beweis vorweisen zu können, sich<br />

ihren Gott in vielen Einzelheiten als ein menschenähnliches Lebewesen ausmalen und<br />

dann auch noch vorgeben, seinen Willen in allen möglichen Verästelungen zu kennen,<br />

sind für mich als Lehre nicht ernsthaft diskutierbar. Was den Einzelnen und sein<br />

Verhalten anbetrifft, verweise ich auf Abschnitt 58.<br />

4. Mögliche Existenz eines gedachten Gottes<br />

Von den überlieferten Anfängen der Philosophie bis in die heutige Zeit hat es zahlreiche<br />

Philosophen gegeben, die sich in ihrem Bemühen um Erkenntnis auch mit der Frage<br />

befasst haben, ob es jenseits der uns sichtbaren Welt noch eine andere und dort eine<br />

Kraft geben könne, die die sichtbare Welt hervorgebracht hat. Nicht wenige dieser<br />

Denker haben diese Frage bejaht und in die Form einer philosophischen Aussage<br />

gekleidet, die in der kürzesten Form lautet: „Gott ist“. Zusätzlich kann man zu einigen<br />

wenigen weiteren Aussagen gelangen, wie sie in Abschnitten 44 und 45 entwickelt<br />

wurden, allerdings mit der größten Behutsamkeit und unter Verzicht detailreiche<br />

Ausmalungen, da man sich bereits mit der Grundaussage Gott ist auf dünnem Eis<br />

befindet. Wichtig ist, sich dessen bewusst zu sein, dass alle Aussagen nur Hypothesen<br />

sind, die richtig oder falsch sein können.


35<br />

Wie Jaspers das Wagnis einzugehen, an diese Hypothesen zu glauben und auch immer<br />

wieder in sich hinein zu horchen, ob man Gottes Stimme vernimmt, um sich von ihr<br />

leiten zu lassen, ist nach meinem Urteil eine vollkommen akzeptable und hoch stehende<br />

religiöse Haltung.<br />

5. Hoch stehende Religionen auch ohne Gottesvorstellung möglich<br />

„Religion ohne Gott“ titelte der Stern in Heft 47/2004.über den Buddhismus. Und weiter:<br />

„Diese Religion kennt keinen Schöpfer ... lehrt aber höchsten Respekt vor jedem<br />

Lebewesen. Philosophische Kraft und Friedfertigkeit machen den Buddhismus auch für<br />

Menschen in westlichen Ländern zunehmend attraktiv.“ Die ursprüngliche, reine Lehre<br />

Buddhas sei „eigentlich“ ein Paradox: eine Religion ohne den Glauben an einen höheren<br />

Geist oder ein göttliches Gebot, ohne verbindliche Glaubensregeln, ohne Organisation<br />

und ohne Priester. „Buddhismus ist tiefe Frömmigkeit auf der Basis hoher<br />

Philosophie – und für die meisten Frommen viel zu anspruchsvoll.“<br />

Außer dem Buddhismus, den es übrigens, wie alle anderen Religionen, in vielen<br />

Varianten gibt, sind natürlich auch andere Religionen ohne Gottesvorstellung möglich.<br />

Wir erinnern uns an den Ausspruch des Dalai Lama, dass im Grunde jeder Mensch seine<br />

eigene Religion haben müsste. Die von mir in in dieser Arbeit vorgestellte Natürliche<br />

Religion mit ihren Glaubens- und ethischen Grundsätzen, die teilweise vom Buddhismus<br />

übernommen wurden, gehört ebenfalls in die Kategorie dieser Religionen.<br />

Auch Peter Ustinov vertritt in seinem Buch „Achtung! Vorurteile“ die Auffassung, man<br />

könne in seinem Inneren ein sehr religiöser Mensch sein, ohne an einen Gott zu glauben.<br />

Die Verehrung eines entrückten Gottes habe die Menschen auch nie überzeugt. Daher<br />

hätten sie sich ein Bild von ihm zu machen versucht. So wie sie Tiere sprechen ließen,<br />

um sie sich näher zu bringen, hätten sie ihrem Gott eine menschliche Gestalt angedichtet<br />

(S. 231 f).<br />

6. Warum Dominanz der Religionen des Ich?<br />

Wie in Abschnitt 3 ausgeführt, versteht Hellinger unter den Religionen des Ich solche,<br />

die an eine höhere für uns unsichtbare Macht oder Mächte und die Fähigkeit der<br />

Menschen glauben, diese durch Opfer , Sühne, Gebet u. ä. in einer für uns positiven<br />

Weise beeinflussen zu können. Zu diesen Religionen gehören insbesondere der<br />

Hinduismus und die abrahamischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam). Es gibt<br />

aber auch Varianten (besser Abarten) des Buddhismus, die Buddha, weitab seiner Lehre,<br />

zu Gott erheben, an den man sich mit seinen Anliegen wenden kann, und die sich,<br />

vergleichbar mit dem Islam, ein Jenseits mit vielen Freuden ausmalen, z. B. köstliche<br />

Speisen und Jungfrauen, deren Jungfräulichkeit sich jede Nacht erneuert. Wo solche<br />

Vorstellungen um sich greifen oder sich der Buddhismus, wie in Sri Lanka und Thailand,<br />

mit dem Animismus (Geisterglauben) vermischt, kippt er und wird in diesen Abarten<br />

ebenfalls zu einer Religion des Ich. Ähnliche Entwicklungen hat es auch im Taoismus<br />

gegeben. Dieser ist heute aufgegangen im „Chinesischen Universalismus“, einer<br />

Mischung aus Konfuzianismus, Taoismus, Buddhismus und archaischen Volksreligionen<br />

mit 72 Göttern, von denen jeder für bestimmte Anliegen der Menschen zuständig ist,<br />

ähnlich wie die Heiligen im Katholizismus.


36<br />

Wie ist es zu erklären, dass die meisten Menschen, die einigermaßen ernsthaft als<br />

religiös betrachtet werden können, sich zu solchen Religionen bekennen, Religionen, bei<br />

denen es sich – im Lichte analysierenden Verstandes - ganz offensichtlich um von<br />

Menschenhand gefertigte Konglomerate aus Mythen, Wunschvorstellungen, naiven<br />

Phantasien, Geiser- und Dämonenglauben und archaischen Lebensvorstellungen handelt,<br />

vielfach in Verbindung mit Regelwerken und Mechanismen, die den<br />

Religionsfunktionären Geltung und Macht über viele Menschen sichern, Macht, die sich<br />

nicht selten auf Leib und Leben der betreffenden Religionsangehörigen erstreckt und<br />

darüber hinaus auch noch auf das Schicksal in einem angenommenen jenseitigen Leben<br />

(„Wem Ihr die Sünden behalten werdet, dem sind sie behalten“, er kommt also in die<br />

„Hölle“)?<br />

a) Religionen der Erkenntnis zu anspruchsvoll für die breite Masse<br />

„Für die meisten Frommen viel zu anspruchsvoll“, schreibt der Stern über den<br />

Buddhismus. Dieses gilt in gleicher Weise für die anderen Religionen der Erkenntnis. Die<br />

einfachen Menschen wollen Götter, und zwar solche zum Anfassen und zum Anbeten.<br />

Sie wollen auch Wunder erleben (oder wenigstens von solchen hören), und sie wollen<br />

Zeremonien, Mysterien und das ganze Brimborium, mit dem die Religionen des Ich sich<br />

umgeben.<br />

Einer der großen arabischen Philosophen des Mittelalters, Ibn Roschd, latinisiert Averroes<br />

(1126-1198), verstand das Verhältnis von Philosophie und Religion so, „dass die höhere<br />

und reine Wahrheit, die der Philosoph in seiner Philosophie erkennt, in der Religion in<br />

einer bildhaften Einkleidung erscheint, die dem schwachen Verstand der Menge<br />

angepasst ist“ (Störig, S. 279). Im gleichen Sinne hatte sich bereits 1100 Jahre früher<br />

Seneca geäußert. Nietzsche formulierte, Religion sei Platonismus für`s Volk. Averroes<br />

selbst, obwohl dem Islam zugehörig, glaubte wie sein hoch geschätztes Vorbild<br />

Aristoteles und sein großer Vorgänger Ibn Sina, latinisiert Avicenna (980-1037), an einen<br />

gedachten Gott; Allah war die bildhafte Einkleidung für die Menge. Die einfachen<br />

Menschen brauchen Bilder, um das Leben zu verstehen. Die aus philosophischen<br />

Reflektionen gewonnenen Religionen erreichen die Köpfe einer geistigen Aristokratie<br />

(Stern), nicht die Herzen der Frommen. Daher gilt: Die Verbreitung einer Religion<br />

steht im reziproken Verhältnis zu ihren intellektellen Anforderungen.<br />

b) Herdentrieb, gesellschaftliche Zwänge<br />

Wie in Abschnitt 5 dargelegt, vermitteln die Religionen des Ich dem Einzelnen das Gefühl<br />

der Zugehörigkeit zu einer meist großen Gruppe und auch Halt und Trost. Viele ziehen<br />

die Behaglichkeit der Herde und ein beschauliches Leben einem autonom gestalteten<br />

vor, bei dem man ja von seinen Geistesgaben regen Gebrauch machen müsste. Im<br />

Übrigen ist es für viele nicht möglich, die angestammte Religion zu verlassen, ohne aus<br />

Familie und Volk verstoßen oder gar getötet zu werden.<br />

c) Gefährlichkeit unabhängigen Denkens<br />

Nicht an die Meinung der Mächtigen angepasstes Denken war schon immer gefährlich.<br />

Sokrates wurde 400 v.Chr. zum Tode verurteilt, Aristoteles und Averroes wurden gegen<br />

Ende ihres Lebens verbannt, Giordano Bruno 1600 in Rom von der katholischen Kirche


37<br />

öffentlich bei lebendigem Leibe verbrannt. Kant konnte von Glück sagen, dass er nach<br />

dem Erscheinen seines Buches "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft"<br />

von seinem nur mit schwachen Verstand ausgestatteten König lediglich eine Verwarnung<br />

erhielt, in der er „bei Vermeidung höchster Ungnade und unfehlbar unangenehmer<br />

Verfügungen“ aufgefordert wurde, nicht „weiterhin Grundlehren der Heiligen Schrift und<br />

des Christentums zu entstellen und herabzuwürdigen“. Albert Einstein wurde nach seiner<br />

Emigrierung in die USA permanent vom FBI überwacht.<br />

d) Keine Zeit für Reflektionen, Trägheit<br />

Für mich erstaunlich ist, dass nicht wenige erwachsene Menschen mit hohem Intellekt,<br />

die in einer Gesellschaft mit Religionsfreiheit und Toleranz leben, sich gleichwohl zu einer<br />

Religion des Ich bekennen, in die sie hineingeboren wurden. Einem dieser Menschen<br />

habe ich den Entwurf dieser Abhandlung zum Lesen gegeben. Nach der Lektüre sagte er<br />

mir, er habe in seinem bisherigen Leben noch keine Zeit gefunden, sich mit den von mir<br />

untersuchten Fragen auseinander zu setzen und auch nicht, die hier zitierten<br />

Schriftsteller zu lesen. „Ich arbeite 60 Stunden pro Woche in meinem Beruf, die Familie<br />

kommt bereits zu kurz, woher soll ich die Zeit hierzu nehmen?“ Auf Grund einer<br />

gewissen Trägheit und Bequemlichkeit stellt er die angestammte Religion nicht in Frage.<br />

Er folgt weder dem Postulat Senecas, sich neben der beruflichen Betätigung auch<br />

genügend Zeit für die Philosophie (und die Künste) zu nehmen, noch oder nur in<br />

Teilbereichen dem sokratischen Postulat, das Leben zu prüfen, wozu für mich auch<br />

gehört, den ganzen Schutt, den in unserer Kindheit Elternhaus, Schule, Kirche, Staat und<br />

interessierte Organisationen auf unsere Seele gehäuft haben, im Erwachsenenalter<br />

Schicht um Schicht abzutragen, um zur reinen und höheren Wahrheit zu gelangen, wie<br />

Averroes sich ausdrückt. Natürlich gibt es keine absolute Wahrheit (Hinweis auf Sokrates<br />

und Jaspers), wohl aber höhere Erkenntnisse, die ich mir erarbeite und an die ich zu<br />

glauben wage und nach denen ich mein Leben einstweilen ausrichte, einstweilen<br />

deswegen, weil der philosophierende Mensch immer auf dem Wege ist (Jaspers), bis an<br />

sein Lebensende offen für neue Erkenntnisse und bereit zu dadurch bedingten<br />

Kurskorrekturen, wenn es sein muss auch zu Paradigmenwechseln.<br />

Literaturverzeichnis<br />

1. Einführung in die Philosophie<br />

***<br />

Jaspers, Karl: Einführung in die Philosophie<br />

Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie<br />

Morris, Tom: Philosophie für Dummies<br />

Deussen, Paul: Allgemeine Geschichte der Philosophie<br />

mit besonderer Berücksichtigung der Religionen, 4 Bd. (antiq.)<br />

2. Altindische und altchinesische Philosophie<br />

Durant, Will: Das Vermächtnis des Ostens (antiq.)<br />

Mylius, Klaus: Geschichte der altindischen Literatur


38<br />

Störig, a.a.O. Erster Teil, Die Weisheit des Ostens, (S.33-126)<br />

Deussen, a.a.O. Band 1<br />

Lao Tse: Tao Te King<br />

3. Griechische und römische Philosophie<br />

Platon: Georgias ; Phaidon ; Phaidros<br />

Aristoteles: Peri Psychäs (Über die Seele)<br />

Aristoteles: Nikomachische Ethik<br />

Seneca: Philosophische Schriften<br />

Seneca: Briefe an Lucillius über Ethik<br />

4. Islamische Scholastik<br />

Ibn Tufail: Hayy Ibn Yaqdhan<br />

Averroes (Ibn Roschd bzw. Ibn Ruschd): Über den Intellekt, herausgegeben von David<br />

Wirmer, 2008 Arabisch (teils Hebräisch) - Lateinisch – Deutsch<br />

5. Humanismus, Renaissance, Barock<br />

Cusanus, Nicolaus: De docta ignorantia (Die belehrte Unwissenheit)<br />

Rotterdam, Erasmus von: Lob der Torheit<br />

Bruno, Giordano: Della causa principio ed uno (Von der Ursache, dem Prinzip und dem<br />

Einen)<br />

Spinoza, Baruch de: Theologisch-Politisches Traktat; Ethik, nach geometrischer Methode<br />

dargestellt<br />

6. Aufklärung<br />

Kant, Immanuel: Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten<br />

Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft<br />

Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft<br />

Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft<br />

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen der Religion<br />

Safranski, Rüdiger: Nietzsche, Eine Biographie seines Denkens<br />

7. Existenzphilosophie (19. - 20. Jh.)<br />

Kierkegaard, Sören: Entweder / Oder<br />

Jaspers, Karl: Der Philosophische Glaube (1948)Jaspers, Karl: Der philosophische Glaube<br />

angesichts der Offenbarung (1962)<br />

Jaspers, Karl: Chiffren der Transzendenz (auch als Hörbuch -Vorlesungsmitschnitt-<br />

erhältlich)<br />

Heidegger, Martin: Sein und Zeit<br />

Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts<br />

Camus, Albert: Der Mythos vom Sisyphos<br />

Lütkehaus, Ludger: Nichts (Zürich 1999, Ffm. 2003)


39<br />

8. Sozialphilosophie / Philosophie der Ethik (20. Jh.)<br />

Adorno, Theodor W.: Minima Moralia<br />

Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung, Versuch einer Ethik für die technologische<br />

Zivilisation<br />

Jonas, Hans: Technik, Medizin und Ethik, zur Praxis des Prinzips Verantwortung<br />

9. Philosophie der Lebenskunst (20. Jh.)<br />

Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst, Eine Grundlegung<br />

Schopenhauer, Arthur: Die Kunst, glücklich zu sein<br />

Russel, Bertrand: Eroberung des Glücks,<br />

Neue Wege zu einer besseren Lebensgestaltung<br />

Dalai Lama / Cutler, Howard C. : Die Regeln des Glücks<br />

Morris, Tom: Aristoteles auf dem Chefsessel<br />

10. Sonstige Schriften<br />

Die Bibel (AT + NT)<br />

Parlament der Weltreligionen: Erklärung zum Weltethos, Chicago 4.9.1993<br />

Hesse, Hermann: Siddhartha<br />

Hellinger, Bert: Die Mitte fühlt sich leicht an, Kapitel Psychotherapie und Religion<br />

Mitscherlich, Alexander + Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern,<br />

Grundlagen kollektiven Verhaltens<br />

Steiner, George: Errata, Bilanz eines Lebens<br />

Ustinov, Peter: Achtung! Vorurteile (2003)<br />

Ali, Ayaan Hirsi: Ich klage an – Plädoyer für die Befreiung der<br />

muslimischen Frauen (2004)<br />

Yeo, Elisia: Islam`s not her cup of tea, Being an apostatate in Malaysia is no easy<br />

matter; Bankok Post vom 31.12.2005 (Outlook, S. 8; der Fall Kamariah Ali)<br />

Anmerkung<br />

Wenn sich in der Aufstellung keine Werke der Patristik und der Scholastik finden, also<br />

des Zeitraums von etwa 100 bis 1400 - mit Ausnahme der Islamischen Scholastik -, so<br />

liegt das darin begründet, dass die Philosophie dieser Zeit vornehmlich eine Agitprop-<br />

Philosophie (von Agitation und Propaganda) war. Beispielhaft nenne ich Augustinus und<br />

Thomas. Aurelius Augustinus (354-430) war sicherlich ein großer Philosoph; jedoch war<br />

sein Anliegen in erster Linie die philosophische Untermauerung des Christentums, das als<br />

rein narrative (auf einer unsystematischen Abfolge von Erzählungen beruhende) Religion<br />

daherbekommt. Thomas von Aquin (1225-1274) war der bedeutendste christliche<br />

Theologielehrer seiner Zeit, ein großer Systematiker und Verfasser zahlreicher<br />

religionsphilosophischer Schriften. Dabei setzte auch er die Philosophie insbesondere als<br />

Werkzeug für christlich-theologische Zwecke ein. Er war allerdings auch geistiger<br />

Wegbereiter der sog. „Hexen“-Verfolgung. Seine Lehren sind für die Kurie in Form des<br />

Neuthomismus immer noch state of the art. Wertschätzung bringe ich allerdings den<br />

beiden großen, in der Quintessenz (Ziffer 6 a, 3. Absatz) genannten arabischen<br />

Philosophen Avicenna und Averroes sowie Ibn Tufail entgegen, die man als frühe<br />

Aufklärer (im Bereich des bis heute unaufgeklärten bzw. sich jeder Aufklärung<br />

widersetzenden Islam) bezeichnen könnte. Manche sehen Averroes als letzten


islamischen Philosophen an, weil vom 13. Jh. an freies Denken im Islam nicht mehr<br />

geduldet wurde und auch heute nicht geduldet wird.<br />

Lippstadt, im Februar 2006 (Überarbeitung 17.10.2006 und 10.1.2010)<br />

GISBERT KÖNIG<br />

Anhang: Auszug aus<br />

Georg Steiner<br />

Errata, Bilanz eines Lebens<br />

206<br />

40<br />

Wie es immer der Fall war, ist die Theodizee die Crux. Wenn Gott ist, weshalb duldet er<br />

die himmelschreienden Schrecken und Ungerechtigkeiten der menschlichen Lage? Er<br />

mag ein bösartiger Potentat sein, der Männer, Frauen und Kinder foltert, demütigt,<br />

verhungern lässt und umbringt »wie müß'ge Knaben Fliegen«. Er mag eine Gottheit mit<br />

beschränkten oder erschöpften Kräften sein. Auch wenn dies der Subtext meiner<br />

literarischen Arbeiten gewesen ist, grenzt die Vorstellung von einem gelähmten oder<br />

machtlosen Gott ans Absurde. Seit undenklichen Zeiten haben Versuche, »Seine Wege<br />

mit dem Menschen zu rechtfertigen», auf das grausame Paradoxon der Freiheit zurück<br />

gegriffen. Dem Menschen muss die Freiheit der Wahl und des Handelns zugestanden<br />

werden, einschließlich der Freiheit, anderen und sich selbst Böses zuzufügen. Wie könnte<br />

es sonst Verdienst und Verantwortlichkeit geben? Es gibt Fabeln der Entschädigung;<br />

ungerechtes leiden soll in Ewigkeit belohnt werden. Keine dieser drei Erzählungen - die<br />

diabolische, die ohnmächtige, die kompensatorische - empfiehlt sich dem Verstand, jede<br />

stellt auf ihre Weise eine Beleidigung für Intelligenz und Moral dar. Die Antwort auf die<br />

Frage, die beim Foltern und Erhängen eines verhungernden Kindes in Auschwitz gestellt<br />

wurde (»Wo ist Gott jetzt:?«, »Gott ist dieses Kind«), ist ein mehr oder weniger<br />

widerliches Beispiel für anthropomorphes Pathos.<br />

Die Argumentation vom Kreuz her, die Lehre von der Sühne durch Opfer und dem vom<br />

Menschen - Abraham und Isaak - auf den christlichen Gottvater und seinen<br />

eingeborenen Sohn übertragenen Sündenbock kann nur die Überzeugten überzeugen.<br />

Überdies war sie eine Argumentation, die der übergroßen Mehrheit der gefallenen<br />

Menschheit außerhalb des erwählten Abendlandes seltsam unzugänglich war. Kein Akt<br />

von übernatürlicher Offenbarung oder Eingreifen, keine Botschaft aus einer Sphäre<br />

jenseits des sterblichen Menschen ist je in einem empirisch oder logisch beweiskräftigen<br />

Untersuchungszusammenhang als etwas anderes erwiesen worden denn als das Produkt<br />

der menschlichen Imagination und des<br />

207<br />

menschlichen Diskurses. Der entscheidende Punkt ist so alt wie der Vorsokratiker<br />

Xenophanes: sollten Rinder einen Gott annehmen (vielleicht tun sie es), dann würde er<br />

Hörner und Hufe haben. Diese Einsicht wiederholt mit einer klaren Wut der Vernunft


41<br />

Hobbes in seinem Leviathan (I, 12): »Männer, Frauen, Vögel, Krokodile, Kälber, Hunde,<br />

Schlangen, Zwiebeln und Lauch wurden zu Göttern gemacht.«<br />

Und die Motive für solch verschwenderische Phantasiebildungen sind auch in keiner<br />

Weise geheimnisvoll. In der menschlichen Psyche gibt es breiten Raum für Infantilismus,<br />

für Irrationalität, für Panik und Erschütterung durch Schuld. Millionen im<br />

wissenschaftlichtechnischen Westen lassen sich in ihren täglichen Angelegenheiten von<br />

Astrologie leiten. Stehen am Dreizehnten des Monats morgens nicht auf, ohne<br />

andeutungsweise zu exorzistischen Maßnahmen Zuflucht zu nehmen. Betrachten<br />

schwarze Katzen als irgendwie höllisch und zittern vor Gewittern. Wir befinden uns<br />

immer noch in der Kinderstube potentieller Evolution. Man sehnt sich nach dem<br />

Kindermädchen und fürchtet es zugleich. Der Gedanke an kosmische Einsamkeit, die<br />

zugegebenermaßen der Intuition zuwiderlaufende Hypothese einer vollkommen<br />

aleatorischen, »sinnlosen« natürlichen Ordnung (»sinnlos« in bezug auf eine Handvoll<br />

von Hominiden in einer zufälligen Ecke einer durchschnittlichen Galaxis) sind für eine<br />

große Mehrheit von uns unerträglich. Wir verlangen nach einem Zeugen, selbst wenn er<br />

hart ins Gericht geht, für unseren kleinen Dreck. In Krankheit, in psychischem oder<br />

materiellem Entsetzen, wenn unsere Kinder tot vor unseren Augen liegen, schreien wir<br />

auf. Dass ein solcher Schrei im Nichts widerhallt, dass er ein völlig natürlicher, ja<br />

therapeutischer Reflex ist, aber nicht mehr, lässt sich fast nicht ertragen. Ohne Frage<br />

bringen der Glaube an die Wiederauferstehung von Elvis Presley oder Gebete an seiner<br />

neonbeleuchteten Grabstätte seinen Gläubigen Tröstung und rosarote Hoffnungen.<br />

Weltlich betrachtet, haben die organisierten Religionen viel zu den Schrecken der<br />

Geschichte beizutragen gehabt. Unzählige<br />

2O8<br />

Generationen, ethnische Gemeinschaften, soziale Gruppen sind im Namen dogmatischer<br />

Ansprüche gejagt, versklavt, massakriert oder zwangsbekehrt worden. Ein<br />

verschlungener, aber unübersehbarer Weg windet sich von den mittelalterlichen<br />

Pogromen bis zu den Todeslagern der Nazis. Der Islam hat seit seinen Anfängen<br />

umgebracht. Es ist eine banale Beobachtung, dass Religionskriege und die Ausrottung<br />

von Häresie mittels Kreuzzügen zu den grausamsten und kostspieligsten gehört haben,<br />

die wir kennen. Gegenwärtig toben, ob in Nordirland oder in Bosnien, im Nahen Osten<br />

oder in Indonesien, religiös-ideologische Konflikte. Der Atheismus kennt keine Ketzer,<br />

keine »heiligen Kriege« (ein obszöner Ausdruck). Nichts aus dem Innern seiner privaten,<br />

nichtinstitutionalisierten Struktur verlangt nach Hass. Von seinem Wesen her braucht er<br />

nicht auf Bekehrung aus zu sein. Solch seltene Beispiele eines »Zwangsatheismus« wie<br />

im stalinistischen Programm sind eine direkte Imitation, eine schwachsinnige Parodie der<br />

Staatskirche. Es lässt sich überdies nicht beweisen, dass das Verhalten des Gläubigen,<br />

der unter dem Druck religiöser Sanktionen und Belohnungen steht, das des Atheisten<br />

oder des agnostischen Humanisten übertrifft. Gier und Heuchelei gedeihen in<br />

Gesellschaften, die von der Synagoge, der Kirche oder der Moschee beherrscht werden.<br />

Anstand und Moral, die man sich selbst auferlegt, die man selbst hervorgebracht hat,<br />

sind auch säkulare Werte. So gibt, ein berühmter Fall, Iwan Karamasow, als er Zeuge<br />

wird, wie Gott nicht eingreift, als ein unschuldiges Kind zu Tode gepeitscht wird (ein<br />

alltägliches, tausendfach vorkommendes Geschehen), Gott seine »Eintrittskarte« zurück.


Doch es gibt gewiss nicht die Spur eines Beweises dafür, dass dem Menschen eine<br />

derartige Karte überhaupt ausgestellt wurde.<br />

42<br />

Das sind klassische Befunde. Der umfassende Charakter, die Verifizierbarkeit und die<br />

prognostische Kraft des Darwinismus haben ihr Gewicht mit in die Waagschale geworfen<br />

(auch wenn es immer noch hartnäckige Unklarheiten gibt). Während das Jahrtausend<br />

seinem Ende zugeht, liefern Kosmologie<br />

209<br />

und Astrophysik immer kohärentere, experimentell immer besser untermauerte Modelle<br />

der Schöpfung. Der Begriff des »Anfangs« gewinnt seine Mathematik. Die Frage, was<br />

»vor« den Nanosekunden des Urknalls kam, ist Un-Sinn. Mit einer Argumentation, die<br />

unheimlich an Augustinus erinnert, postulieren Kosmologen, dass die Zeit selbst erst<br />

zusammen mit ihrem zugehörigen Kosmos ins Sein tritt - und davon gibt es aller<br />

Wahrscheinlichkeit nach eine unbegrenzte Vielzahl, jeder von ihnen mit seinen eigenen<br />

raumzeitlichen Koordinaten, n-dimensionalen »Strings« von Materie und Anti-Materie,<br />

und keiner durch eine besondere Schöpfung privilegiert. Wir hacken nur deshalb auf<br />

dieser Frage nach dem »Davor« herum, weil der allgemeine Ablauf des menschlichen<br />

Gehirns in einem atavistischen Sprachspiel gefangen ist. Lange Zeit nach Kopernikus<br />

halten wir an »Sonnenuntergang« und »Sonnenaufgang« fest. (Die Mondlandungen<br />

hätten die Vernunft dazu veranlassen sollen, von »Erdaufgang« und »Erduntergang« zu<br />

sprechen.)<br />

Die Erzeugung von sich selbst replizierenden Molekülen in vitro und die Manipulation der<br />

DNS zu geplanten sozio-genetischen Zielen — die Auslöschung von Erbkrankheiten, das<br />

Klonen von Armeen - sind in Reichweite. Diese Entwicklungen werden eine gründliche<br />

Revision unseres konzeptuellen Alphabets erforderlich machen. Was jahrtausendelang<br />

die Bausteine aller theologischen und teleologischen Erzählungen waren, das deistische<br />

Postulat eines universellen Entwurfs durch einen höchsten Baumeister, die Zuschreibung<br />

eines persönlichen, einzigartigen Schicksals, das wird jetzt ausgelöscht oder grundlegend<br />

neu gedacht. Was wird der ontologische Status des menschlichen Lebens, der<br />

Persönlichkeit sein, wenn diese im Laboratorium, in der computerisierten Samenbank<br />

kopiert, verbessert und kontrolliert werden?<br />

Das Bewusstsein ist immer noch ein schwer fassbares Problem. Indem sie, vielleicht<br />

ironisch, Anleihen bei einem ausrangierten Vokabular machen, bezeichnen Biochemiker,<br />

Neurophysiologen, Genetiker und klinische Psychologen das<br />

210<br />

Bewusstseinsproblem als den »Heiligen Gral«. Es stellt heutzutage das überragende Ziel<br />

ihrer Suche dar. Dafür wird man Zeit und Genie brauchen. Doch es besteht, so erklärt<br />

ein Francis Crick, keinerlei Anlass dazu, das Problem als unlösbar zu betrachten. In einer<br />

Wendung, deren aufreizende Zweideutigkeit und Arroganz Eingang in die Sprache<br />

gefunden haben, sind die Naturwissenschaften, die »Theoretiker von allem«, bald so<br />

weit, dass sie »den Geist Gottes« (Hawking) kennen. Das heißt, sie werden bald ein<br />

theoretisch-experimentelles Verständnis von dem neurochemischen Organismus haben,<br />

der aus primitivem, zeitweiligem Mangel an einer besseren Erzählung »Gott« erfand.<br />

Noch einmal Hobbes: »Außerdem riefen sie ihre eigenen Verstandeskräfte unter dem


43<br />

Namen der Musen, ihre eigene Unwissenheit unter dem Namen der Fortuna, ihre eigene<br />

Lust unter dem Namen des Cupido, ihre eigene Wut unter dem Namen der Furien, ihre<br />

eigenen Geschlechtsteile unter dem Namen des Priapus an«<br />

Ich dürste danach, mich diesen Klugheiten anzuschließen. Ich bin nicht in der Lage, sie<br />

auf ihrem eigenen ruhigen Terrain zu widerlegen. Sie beinhalten existentielle<br />

Konsequenzen, die mir befreiend erscheinen. Insbesondere hinsichtlich des Todes. In<br />

unserem therapeutischen System verbrauchen die unheilbar Kranken, die Alten einen<br />

immer größeren Teil der Ressourcen, der Zeit und Energie der Jungen. Eine jämmerliche<br />

Gerontokratie ist in Sicht. Man braucht nur die Angst und den Urin in Altenstationen<br />

gerochen oder die blinden Schreie der Alzheimer-Kranken gehört zu haben, um den<br />

entsetzlichen Verfall — er verschlingt nicht nur den Patienten — von künstlich<br />

aufrechterhaltenem Leben zu erkennen. Auf dem Weg über Schmerzen in einen Zustand<br />

des Vegetierens zu treiben heißt, in sich selbst, in anderen den Sinn und den Wert der<br />

Identität zu schänden. Der Atheismus lässt einem selbst die Wahl. Kein transzendenter<br />

Partner ist beteiligt oder ermächtigt. Keine Mystik einer vorbestimmten Festlegung -<br />

»Gott hat mir das Leben gegeben, und nur er kann entscheiden, wann dieses Geschenk<br />

zurückzugeben ist« - tritt dazwischen. Was gibt es für einen düstereren Fanatismus als<br />

den, diejenigen am Leben zu halten, die Ruhe haben möchten?<br />

Wenn der Augenblick kommt, hoffe ich meinen eigenen Ausweg zu finden.<br />

*****

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