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Noten oder Berichte? Die schulische Beurteilungspraxis ... - Hamburg

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Silvia-Iris Beutel<br />

Michael Jachmann<br />

Will Lütgert<br />

Klaus-Jürgen Tillmann<br />

Witlof Vollstädt<br />

___________________________________________________________________________<br />

<strong>Noten</strong> <strong>oder</strong> <strong>Berichte</strong>?<br />

<strong>Die</strong> <strong>schulische</strong> <strong>Beurteilungspraxis</strong> aus der Sicht<br />

von Schülern, Lehrern und Eltern<br />

Endbericht des Forschungsprojektes<br />

„Leistungsbeurteilung und -rückmeldung an <strong>Hamburg</strong>er Schulen“ (LeiHS)<br />

Teil B<br />

___________________________________________________________________________<br />

Prof. Dr. Will Lütgert<br />

Friedrich-Schiller-Universität Jena<br />

Institut für Erziehungswissenschaft<br />

Lehrstuhl für Schulpädagogik / Didaktik<br />

Otto-Schott-Straße 41<br />

07740 Jena<br />

Telefon: 03641/945350 (Sekretariat)<br />

Projektleitung<br />

Prof. Dr. Klaus-Jürgen Tillmann<br />

Universität Bielefeld<br />

Fakultät für Pädagogik / AG 4:<br />

Didaktik und Curriculumentwicklung<br />

Universitätsstraße 25<br />

33615 Bielefeld<br />

Telefon: 0521/1064463 (Sekretariat)


Seite 3 Inhalt<br />

VORWORT (Lütgert/Tillmann) 7<br />

Michael Jachmann/Klaus-Jürgen Tillmann<br />

1. EINFÜHRUNG 9<br />

1.1 Problemstellung 10<br />

1.1.1 Zeugnisformen an <strong>Hamburg</strong>er Schulen 10<br />

1.1.2 Fragestellungen und Forschungsansatz 15<br />

1.2 Standardisierte Befragungen von Schülern, Lehrern, Eltern 16<br />

1.2.1 Stichproben und Rücklaufquoten 16<br />

1.2.2 Durchführung und Auswertung der Erhebungen 20<br />

1.3 Qualitative Interviews mit Grundschulkindern 22<br />

1.3.1 Stichprobe 23<br />

1.3.2 Durchführung und Auswertung der Interviews 24<br />

1.4 Gang der Argumentation 26<br />

Michael Jachmann/Klaus-Jürgen Tillmann<br />

2. LEISTUNGSBEURTEILUNG UND ZEUGNISSE AUS DER SICHT<br />

HAMBURGER LEHRERINNEN UND LEHRER 27<br />

2.1. Lehrereinstellungen zur Leistungsbewertung 27<br />

2.2 Welche Zeugnisse werden bevorzugt? 31<br />

2.2.1 Eine Schule ohne Zeugnisse? 32<br />

2.2.2 <strong>Noten</strong>zeugnisse <strong>oder</strong> Berichtszeugnisse? 34<br />

2.3 Lehrereinstellungen und unterschiedliche Arbeitserfahrungen 45<br />

2.3.1 Erfahrungen mit unterschiedlichen Zeugnisformen 45<br />

2.3.2 Unterschiedliche Arbeitsbelastung bei der Zeugniserstellung 54<br />

2.3.3 Arbeitsbelastung und Einstellung zu Zeugnisformen 61<br />

2.4 Lehrereinstellungen: Strukturen und Verflechtungen 64<br />

2.5 Fazit 68


Will Lütgert/Michael Jachmann<br />

Inhalt Seite 4<br />

3. LEISTUNGSBEURTEILUNG UND ZEUGNISSE AUS DER SICHT<br />

HAMBURGER ELTERN 71<br />

3.1 Elterneinstellungen zur Leistungsbeurteilung 71<br />

3.1.1 Informationsgehalt und Rezeption durch die Eltern 75<br />

3.1.2 Akzeptanz der Zeugnisse und Reaktionen gegenüber den eigenen Kindern 83<br />

3.2 Welche Zeugnisse werden bevorzugt? 91<br />

3.2.1 Informationserwartungen 91<br />

3.2.2 Einstellungen zu <strong>Noten</strong>zeugnissen 92<br />

3.2.3 Einstellungen zu Berichtszeugnissen 94<br />

3.2.4 Einstellungen zu <strong>Noten</strong>zeugnissen mit Kommentarbogen 96<br />

3.2.5 Der Einfluss der Zeugnisform 97<br />

3.2.6 Der Einfluss der Schulform 100<br />

3.2.7 Der Einfluss der Bildungsaspirationen 102<br />

3.2.8 Der Einfluss der eigenen Schulabschlüsse der Eltern 103<br />

3.2.9 Fremdsprachige Kurzform des Elternfragebogens 104<br />

3.3 Elterneinstellungen: Strukturen und Verflechtungen 106<br />

3.4 Fazit 109<br />

Witlof Vollstädt/Michael Jachmann<br />

4. LEISTUNGSBEURTEILUNG, ZEUGNISSE UND LERNKULTUR<br />

AUS DER SICHT HAMBURGER SEKUNDARSCHÜLERINNEN<br />

UND -SCHÜLER 111<br />

4.1 Sichtweisen und Einstellungen der Schülerinnen und Schüler 111<br />

4.1.1 Selbstbewusste Schüler(innen) – geringe Schulangst 114<br />

4.1.2 Schulangst und relatives Leistungsniveau 118<br />

4.1.3 Lernkultur und Unterrichtsklima 121<br />

4.1.4 Gewünschte Schulabschlüsse 124<br />

4.2 Welche Zeugnisse werden bevorzugt? 126<br />

4.2.1 Erfahrungen mit Zeugnissen 126<br />

4.2.2 Einstellungen zu Zeugnissen 127<br />

4.2.3 Schülererwartungen an Zeugnisse: <strong>Noten</strong> und Kommentare 137<br />

4.2.4 Schülereinstellungen: Strukturen und Verflechtungen 140


Seite 5 Inhalt<br />

4.3 <strong>Die</strong> Wirkungen verschiedener Zeugnisformen im 6. Jahrgang 141<br />

4.3.1 Untersuchungsfrage und Teilstichprobe 141<br />

4.3.2 <strong>Noten</strong>angaben und Selbsteinschätzungen im Vergleich 143<br />

4.3.3 Einstellungen zur Schule und zu Zeugnissen 145<br />

4.3.4 Klassenklima und Unterrichtskultur 149<br />

4.4 Fazit 151<br />

Silvia-Iris Beutel<br />

5. GRUNDSCHULKINDER ALS EXPERTEN FÜR LERNBERICHTE<br />

– EINE AUSWERTUNG VON KINDERINTERVIEWS 155<br />

5.1 Einleitung 156<br />

5.2 Kinder sprechen über ihre Berichtszeugnisse 159<br />

5.3 <strong>Die</strong> Interviews – eine beschreibende Analyse 160<br />

5.3.1 Umgang mit der Interviewsituation 160<br />

5.3.2 Lesehäufigkeit und Lesefreude 163<br />

5.3.3 Lesen und dialogisches Prinzip 165<br />

5.3.4 Vertraute Lesepartner 168<br />

5.3.5 Art und Weise der Rückmeldung 169<br />

5.3.6 Wohlfühlen an der Schule 170<br />

5.3.7 Erinnerungen an den Bericht 171<br />

5.3.8 Einstellung zum Bericht und Zufriedenheit mit dem Lehrerurteil 172<br />

5.3.9 <strong>Noten</strong>- <strong>oder</strong> Berichtszeugnisse? 173<br />

5.3.10 Zusammenfassung 175<br />

5.4 Kinder sprechen über ihre Berichtszeugnisse – vier Interpretationsversuche 178<br />

5.4.1 Nina 179<br />

5.4.2 Annika 184<br />

5.4.3 Hakan 188<br />

5.4.4 Yang 192<br />

5.4.5 Zusammenfassung 197<br />

5.5 Folgerungen: Leseerziehung als Voraussetzung für Lernberichte? 199


Michael Jachmann<br />

Inhalt Seite 6<br />

6. EINSTELLUNG VON LEHRERN, ELTERN UND SCHÜLERN<br />

ZUR LEISTUNGSBEURTEILUNG – EIN VERGLEICH 205<br />

6.1 Eine Schule ohne Zeugnisse und Zensuren? 206<br />

6.2 Motivieren durch Zensuren? 212<br />

6.3 Berichtszeugnisse machen Mut 216<br />

6.4 Mehr Schulangst durch Zensuren? 218<br />

6.5 Soll das Arbeits- und Sozialverhalten beurteilt werden? 223<br />

6.6 Sind <strong>Noten</strong> objektiver und gerechter als Berichtszeugnisse? 228<br />

6.7 Sind Zeugnisse erst zum Abschluss bedeutsam? 231<br />

6.8 Fazit: Wer braucht wozu Zeugnisse? 233<br />

Michael Jachmann<br />

7. ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE 235<br />

7.1 <strong>Die</strong> Sicht der Lehrer(innen) 235<br />

7.2 <strong>Die</strong> Sicht der Eltern 236<br />

7.3 <strong>Die</strong> Sicht der Sekundarschüler(innen) 237<br />

7.4 <strong>Die</strong> Sicht der Grundschulkinder 239<br />

7.5 <strong>Die</strong> vergleichende Perspektive 240<br />

7.6 Fazit 241<br />

8 LITERATUR 242<br />

9 ANHANG 245<br />

9.1 Das Berichtszeugnis von Nina 245<br />

9.2 Das Gespräch mit Nina 246<br />

9.3 Das Berichtszeugnis von Annika 249<br />

9.4 Das Gespräch mit Annika 250<br />

9.5 Das Berichtszeugnis von Hakan 253<br />

9.6 Das Gespräch mit Hakan 253<br />

9.7 Das Berichtszeugnis von Yang 255<br />

9.8 Das Gespräch mit Yang 256


Vorwort<br />

Mit diesem Band legt das Projekt „Leistungsbeurteilung und -rückmeldung an <strong>Hamburg</strong>er<br />

Schulen“ (LeiHS) den zweiten Teil seines Endberichts vor. Das Projekt wird an den<br />

Universitäten Bielefeld und Jena durchgeführt. Auftraggeberin ist die Behörde für Schule,<br />

Jugend und Berufsbildung (BSJB) der Freien und Hansestadt <strong>Hamburg</strong>. Finanziert wird das<br />

Projekt aus Mitteln der Auftraggeberin und aus Eigenmitteln der beteiligten Universitäten.<br />

Dem Endbericht sind zwei Expertisen vorausgegangen: <strong>Die</strong> erste Expertise befasst sich mit<br />

dem fachlichen Diskussionsstand (Beutel, Lütgert, Tillmann, Vollstädt 1999), die zweite<br />

nimmt Stellung zu den besonderen Beurteilungsproblemen in den Fächern Kunst, Musik,<br />

Darstellendes Spiel und Sport (Lütgert, Tillmann, Kassing-Koch 1999).<br />

Teil A des Endberichtes befasste sich mit der Qualität der Wortgutachten. Mit Verfahren der<br />

quantitativen und qualitativen Inhaltsanalyse hat Silvia Beutel eine exemplarische<br />

Zeugnisanalyse vorgelegt: „Zeugnisse mit Zahl und Wort – eine Analyse von Zeugnissen aus<br />

zwei <strong>Hamburg</strong>er Gesamtschulen“ (Februar 2000).<br />

Teil B des Endberichts – den wir hiermit vorlegen – präsentiert die Ergebnisse der<br />

Befragungen von Schüler(innen), Lehrer(innen) und Eltern, die wir Ende 1998 in <strong>Hamburg</strong><br />

durchgeführt haben und über deren erste Ergebnisse wir bereits in einem Zwischenbericht<br />

(1999) informiert haben. Befragt haben wir mit standardisierten Fragebögen 1.476<br />

Schüler(innen) der Sekundarstufe I, 1.328 Eltern aus der Primarstufe und der Sekundarstufe I<br />

sowie 637 Lehrer(innen) – ebenfalls aus beiden Schulstufen. Ergänzt haben wir diese<br />

standardisierten Befragungen durch qualitative Interviews mit 61 Kindern aus der<br />

Grundschule. In diesen Erhebungen geht es uns darum zu ermitteln, welche Erfahrungen diese<br />

Gruppen bisher mit der Leistungsbewertung und -rückmeldung an <strong>Hamburg</strong>er Schulen<br />

gemacht haben. <strong>Die</strong>s schließt ein zu ermitteln, welche Präferenzen für die eine <strong>oder</strong> für die<br />

andere Zeugnisform bestehen. Den besonderen Erkenntniswert erzielt diese Forschung, wenn<br />

im Schlusskapitel die Sichtweisen und Präferenzen von Schüler(innen), Lehrer(innen) und<br />

Eltern untereinander verglichen werden. Es wird dann noch einmal sehr deutlich, wie<br />

unterschiedlich die Erwartungen an das Instrument Zeugnis sind.<br />

<strong>Die</strong> Einzeltexte liegen in der Verantwortung der Autoren, die, trotz individuellen Umgangs<br />

mit den Bezeichnungen der Geschlechter, beide selbstverständlich als gleichrangig ansehen.<br />

Will Lütgert Klaus-Jürgen Tillmann<br />

Jena Bielefeld


1. Einführung<br />

<strong>Die</strong>ses Forschungsprojekt befasst sich mit der Praxis der Leistungsbeurteilung und<br />

Leistungsrückmeldung an <strong>Hamburg</strong>er Schulen. In diesem Band geht es um die Erfahrungen,<br />

die die Befragten dabei gesammelt haben, und um die Sichtweisen, die sie dazu<br />

herausgebildet haben. Dabei ist es notwendig, sich gleich zu Beginn klarzumachen, dass die<br />

beteiligten Personengruppen in sehr unterschiedlichen Beziehungen zum Prozess der<br />

<strong>schulische</strong>n Leistungsbewertung und zu seinem Produkt – dem Zeugnis – stehen.<br />

Für Lehrerinnen und Lehrer ist die Leistungsbewertung und Zeugniserstellung ein Teil ihrer<br />

professionellen Tätigkeit. Sie haben regelhaft immer wieder Schülerleistungen zu bewerten<br />

und diese Bewertungen in Zeugnissen bekanntzumachen. <strong>Die</strong>ser Teil der Lehrerarbeit gilt als<br />

besonders problematisch, z.T. auch als psychisch belastend, weil er für die Schüler(innen)<br />

sehr konsequenzenreich sein kann. Aufgrund ihrer fachlichen Ausbildung ist den Lehrkräften<br />

in aller Regel die Problematik ihrer Bewertungstätigkeit bewusst; dies entbindet sie jedoch<br />

nicht davon, hierzu im Schulalltag Routinen zu entwickeln, die sie selbst für akzeptabel halten<br />

müssen. Für Schülerinnen und Schüler sind Bewertungen und Zeugnisse Teil des<br />

selbstverständlichen Alltags von Schule, allerdings mit höchst ambivalentem Charakter: Sie<br />

stellen auf der einen Seite so etwas wie die Belohnung für Schülerarbeit dar, haben aber<br />

andererseits steht ein Bedrohungspotenzial: Vor schlechten <strong>Noten</strong> ist man nie sicher, und<br />

diese müssen dann verarbeitet und gegenüber den Eltern legitimiert werden. Schüler(innen)<br />

machen hier dauerhaft die Erfahrung einer starken Abhängigkeit, deshalb ist ihre Forderung<br />

auf „Gerechtigkeit“ so vehement: Weil die Lehrkraft allein über die Bewertung entscheidet,<br />

darf nicht Willkür, darf nicht Bevorzugung <strong>oder</strong> Benachteiligung herrschen.<br />

Für Eltern sind die Bewertungen, insbesondere die Zeugnisse, eine wichtige<br />

Informationsquelle über die <strong>schulische</strong>n Leistungen ihres Kindes. Hier erhalten sie zwei Mal<br />

im Jahr von der Schule direkt Auskunft darüber, wie die Lehrkräfte die Leistungen und das<br />

Verhalten ihres Kindes bewerten. Eltern wünschen sich in aller Regel möglichst gute<br />

Schulleistungen ihrer Kinder, Zeugnisse können diese Erwartungen erfüllen <strong>oder</strong> aber<br />

deutlich frustrieren. Eltern sind somit von Zeugnissen zwar betroffen, an der Abfassung sind<br />

sie aber nicht beteiligt. Einfluss nehmen können sie lediglich durch Gespräche mit ihrem Kind<br />

und mit den Lehrkräften. In der Grundschule haben sie außerdem die Möglichkeit, über die<br />

Zeugnisform mitzubestimmen.


Seite 10 Einführung<br />

1.1 Problemstellung<br />

Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Formen von Beteiligung und Betroffenheit<br />

untersuchen wir im Folgenden, welche Erfahrungen die Schülerinnen und Schüler,<br />

Lehrerinnen und Lehrer und Eltern mit <strong>schulische</strong>r Leistungsbewertung gesammelt haben und<br />

wie sie diese Erfahrungen bewerten. Einen besonderen Schwerpunkt legen wir auf die<br />

Unterscheidung zwischen verbaler Beurteilung in Zeugnissen, die in Form von <strong>Berichte</strong>n,<br />

Kommentaren zu Fachnoten <strong>oder</strong> in Bemerkungen zum Arbeits- und Sozialverhalten<br />

auftreten, und der Beurteilung durch die <strong>Noten</strong>. Da die verschiedenen Beurteilungsformen<br />

verknüpft sind mit den verschiedenen Schulstufen bzw. -formen, stellt sich auch die Frage,<br />

inwieweit Unterschiede bestehen zwischen den Einstellungen der Betroffenen an<br />

Grundschulen zu denen an den Sekundarschulen. <strong>Die</strong>se noch sehr globale Problemstellung<br />

wird in den folgenden Kapiteln konkretisiert; denn die Lehrenden, die Eltern und die<br />

Schülerinnen und Schüler stehen zur <strong>schulische</strong>n Leistungsbeurteilung in einem<br />

unterschiedlichen Kontext. Somit stellt sich die Problematik der Zeugnisse für jede Gruppe<br />

anders dar. Lehrerinnen und Lehrer wollen mit Zeugnissen nicht nur informieren, sondern<br />

unter Umständen auch Verhaltensänderungen erwirken, Eltern wollen durch Zeugnisse über<br />

die Leistungen ihrer Kinder informiert werden und Schülerinnen und Schüler sind in der<br />

Situation, mit Zeugnissen als Dokumente über sich selbst umzugehen. <strong>Die</strong>sen<br />

unterschiedlichen Perspektiven sind wir in dem Projekt nachgegangen, indem wir in den<br />

Blick genommen haben, welche Erfahrungen diese drei Personengruppen mit den<br />

verschiedenen Zeugnisformen gesammelt haben, welche Vor- und Nachteile sich daraus<br />

ergeben haben und welche Präferenzen daraus entstanden sind.<br />

1.1.1 Zeugnisformen an <strong>Hamburg</strong>er Schulen<br />

Zeugnisse gehören zu den entscheidenden Medien, die den Binnenraum der Schule mit der<br />

Gesellschaft verknüpfen. <strong>Die</strong>se abstrakte sozialwissenschaftliche Feststellung wird von allen<br />

Elternhäusern mit schulpflichtigen Kindern in jedem Schuljahr freudig <strong>oder</strong> ängstlich erlebt.<br />

Auf jeden Fall wird sie zur konkreten Realität, wenn Kinder <strong>oder</strong> Jugendliche den Eltern ihre<br />

Zeugnisse zur Unterschrift vorlegen. Zeugnisse sind amtliche Dokumente, gewissermaßen die<br />

herausgehobenen Verdichtungspunkte eines kontinuierlichen Beurteilungsprozesses, der<br />

Schülerleistungen festschreibt, Versetzungen attestiert <strong>oder</strong> verweigert und dadurch<br />

wesentlich Schülerlaufbahnen beeinflusst. Unsere Forschung bezieht sich auf das <strong>Hamburg</strong>er<br />

Schulwesen. Dort wurden zum Zeitpunkt unserer Untersuchung die folgenden Zeugnisformen<br />

verwandt:


Einführung Seite 11<br />

(1) Berichtszeugnisse (BZ) – auch als Verbalbeurteilungen bezeichnet – werden regelhaft in<br />

den 1. und 2. Klassen erteilt. In den Jahrgängen 3 und 4 entscheiden die Eltern der<br />

Klasse, ob sie erteilt werden <strong>oder</strong> nicht. In den Klassen 5 der integrierten Gesamtschulen<br />

können sie aufgrund von Beschlüssen der Schulkonferenz erteilt werden.<br />

(2) <strong>Noten</strong>zeugnisse (NZ) werden keinesfalls in den ersten beiden Klassen erteilt, häufig<br />

jedoch in den Jahrgängen 3 und 4 (Beschluss der Eltern). Sie werden regelhaft von der 5.<br />

Klasse an erteilt.<br />

(3) In etlichen Sekundarschulen findet sich eine weitere Variante: <strong>Noten</strong>zeugnis mit<br />

gesondertem Kommentarbogen (NZK). Der Kommentarbogen enthält schriftliche<br />

Anmerkungen zu einzelnen Fachnoten.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Noten</strong>zeugnisse (NZ und NZK) werden in jedem Fall (außer Abschlusszeugnisse) durch<br />

verbale „Kommentare zum Arbeits- und Sozialverhalten“ ergänzt. Das bedeutet, dass in<br />

<strong>Hamburg</strong> auch die <strong>Noten</strong>zeugnisse einen verbalen Teil haben.<br />

<strong>Die</strong>se Auflistung weist bereits darauf hin, dass bestimmte Zeugnisformen in bestimmten<br />

Jahrgängen und Schulformen besonders häufig (<strong>oder</strong> gar ausschließlich) vorkommen. Im<br />

Einzelnen bedeutet das:<br />

• Berichtszeugnisse (BZ) finden sich ganz überwiegend in der Grundschule. Sie kommen<br />

(als Ausnahmeerscheinung) auch in 5. Klassen vor, allerdings nur in Gesamtschulen. In<br />

integrierten Haupt- und Realschulen mit Integrativklassen sind sie möglich. Von dieser<br />

Möglichkeit wird aber häufig kein Gebrauch gemacht.<br />

• <strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen (NZK) finden sich vor allem in Gesamtschulen,<br />

seltener in Haupt- und Realschulen, ganz selten in Gymnasien.<br />

• Es gibt in <strong>Hamburg</strong> kein Gymnasium, das Berichtszeugnisse (BZ) erteilt. An dieser<br />

Schulform dominiert ganz eindeutig das <strong>Noten</strong>zeugnis (NZ).<br />

<strong>Die</strong>se drei <strong>Hamburg</strong>er Zeugnisformen unterscheiden sich im Wesentlichen durch ihre Form<br />

der Kommunikation. Der Modus des <strong>Noten</strong>zeugnisses ist die digitale Kommunikation. Unter<br />

dem Gesichtspunkt der Rezeption besteht ihr Vorteil in der Eindeutigkeit, die keiner weiteren<br />

alltagssprachlichen Interpretation bedarf. Ein „Sehr gut” ist eine 1, ein „Gut” eine 2, ein<br />

„Ungenügend” eine 6 usw. Mit <strong>Noten</strong> kann man rechnen, Einzelnoten lassen sich zu<br />

Gesamtnoten zusammenfassen, <strong>Noten</strong> erlauben (scheinbar) Vergleiche und damit die<br />

Festlegung von Leistungshierarchien, <strong>Noten</strong> steuern Bildungslaufbahnen und sind auch die<br />

Voraussetzungen für den Erwerb von Positionen im Arbeitsmarkt. Kurz: <strong>Noten</strong> ermöglichen


Seite 12 Einführung<br />

eine flexible, gesellschaftlich höchst anschlussfähige Kommunikation. Ihr Nachteil ergibt sich<br />

aus ihrem Vorteil. <strong>Die</strong> Eindeutigkeit von <strong>Noten</strong> suggeriert Objektivität, Reliabilität und<br />

Validität der Leistungsbeurteilung, die – wie Forschungen immer wieder belegen (vgl.<br />

Ingenkamp 1985) – nicht <strong>oder</strong> nur bedingt gegeben sind. <strong>Noten</strong> sind problematische<br />

diagnostische und pädagogische Instrumente, weil sie keine Hinweise geben, unter welchen<br />

Bedingungen eine Leistung zustande gekommen ist und möglicherweise verbessert werden<br />

kann. <strong>Noten</strong> sind wie Geld. Entwickelte Gesellschaften können auf sie nicht verzichten, aber<br />

je nach Marktlage kann man ihren Wert inflationieren, deflationieren <strong>oder</strong> auch stabil halten<br />

(vgl. Lütgert 1992). <strong>Die</strong>se Eigenschaft macht sie tauglich, das Bildungs- und das<br />

Beschäftigungssystem in ihren unterschiedlichen Konjunkturen miteinander zu verknüpfen;<br />

sie „verunreinigt” damit aber auch ihre Funktion als Beurteilungsinstrument, das den<br />

Individuen gerecht werden soll.<br />

Der Modus des Berichtszeugnisses ist die analoge Kommunikation. Deren Rezeptionsvorteil<br />

besteht in der Nutzung von (Alltags-)Sprache, in der das Lernpensum, die<br />

Lernvoraussetzungen, die Lernfortschritte und schließlich die Lernergebnisse von<br />

Schülerinnen und Schülern beschrieben werden. Analoge Kommunikation erlaubt<br />

Differenzierung. Im Hinblick auf Zeugnisse schließt sie die Möglichkeit der Lerndiagnose<br />

und der Lernberatung ein. Deshalb werden Berichtszeugnisse von reformorientierten<br />

Pädagogen – oft emphatisch – als einzig legitimierbare Form der <strong>schulische</strong>n<br />

Leistungsrückmeldung empfohlen (vgl. Bambach 1994; Bartnitzky/Christiani 1987). Auch bei<br />

der analogen Kommunikation ergibt sich der Nachteil aus ihrem Vorteil. (Alltags-)Sprache<br />

bedarf der Interpretation, Berichtszeugnisse sind deshalb rezeptionstheoretisch uneindeutig.<br />

Man kann sie zwar nicht willkürlich, aber in einem breiten Spielraum auslegen. Weil<br />

Berichtszeugnisse „viele Worte machen”, kann man sie nicht verrechnen, bei<br />

Selektionsentscheidungen nur unter Beachtung diffiziler Regeln „verwaltungsgerichtsfest”<br />

machen. Insofern sind Berichtszeugnisse im Hinblick auf die weitere gesellschaftliche<br />

Verwendbarkeit höchst unflexible Instrumente mit (bisher) geringer externer<br />

Anschlussfähigkeit. <strong>Die</strong>ser Zusammenhang mag erklären, warum wir Berichtszeugnisse in<br />

unserem Schulsystem nur an den Stellen der Bildungslaufbahnen von Schülerinnen und<br />

Schülern auffinden, an denen keine <strong>oder</strong> nur geringe Selektionsentscheidungen getroffen<br />

werden müssen. Und auch bei Reformschulen, die sich im Hinblick auf ihre<br />

Leistungsrückmeldungen ganz dem Prinzip der analogen Kommunikation verschrieben<br />

haben, treten zum Abschluss der von ihnen verantworteten Bildungslaufbahnen <strong>Noten</strong> als


Einführung Seite 13<br />

Ergänzungen zu den <strong>Berichte</strong>n hinzu 1 . Da wir noch über keine Erkenntnisse über<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse mit gesondertem Kommentarbogen verfügen, erscheint es bei der Analyse<br />

der Zeugnispräferenzen als besonders interessant zu erfahren, ob die dritte <strong>Hamburg</strong>er<br />

Zeugnisform, die beide Kommunikationsmodi einschließt, von den Betroffenen favorisiert<br />

<strong>oder</strong> abgelehnt wird.<br />

Abbildung 1/1 listet im Detail auf, welche Zeugnisformen im <strong>Hamburg</strong>er Schulsystem in<br />

welchen Jahrgängen möglich sind.<br />

1 Vgl. die Praxis der Bielefelder Laborschule <strong>oder</strong> der Schulen, die nach dem Jena-Plan arbeiten.


Abbildung 1/1: Zeugnisformen in <strong>Hamburg</strong>er Schulen (zum Zeitpunkt der Untersuchungen)<br />

Schulform 1 + 2 3 + 4<br />

Jahrgangsstufen<br />

5 + 6 7+ 8 9 + 10<br />

Grundschule<br />

Haupt-/Realschule<br />

Gymnasium bis Klasse 10<br />

Integrierte Gesamtschule<br />

Integrierte Haupt- und<br />

Realschule<br />

(Schulversuch)<br />

Integrationsklassen 2) an<br />

integrierten Haupt- und<br />

Realschule (Schulversuch)<br />

Integrationsklassen 2)<br />

an Gesamtschulen<br />

(Schulversuch)<br />

BZ<br />

(Jahreszeugnis)<br />

NZ<br />

+ Bemerkungen zum ASV<br />

(Halbjahr + Jahreszeugnis)<br />

BZ<br />

(Beschluss der Klasseneltern, bei<br />

Stimmengleichheit der Klassenkonferenz)<br />

NZ<br />

+ Bemerkungen zum ASV<br />

(Halbjahr + Jahreszeugnis)<br />

NZ<br />

+ Bemerkungen zum ASV<br />

(2x Halbjahreszeugnis)<br />

BZ (nur 5. Klasse)<br />

(Beschluss der Schulkonferenz)<br />

NZ<br />

+ Bericht<br />

(Halbjahr + Jahreszeugnis)<br />

BZ<br />

(nur Jahreszeugnis; nach<br />

Mehrheitsbeschluss der Eltern<br />

einer Jahrgangsstufe)<br />

BZ<br />

(Jahreszeugnis)<br />

BZ<br />

(2x Halbjahreszeugnis)<br />

NZ<br />

+ Bemerkungen zum ASV<br />

(Halbjahr + Jahreszeugnis)<br />

NZ<br />

+ Bemerkungen zum ASV<br />

(2x Halbjahreszeugnis)<br />

NZ<br />

+ Bericht<br />

(Halbjahr + Jahreszeugnis)<br />

BZ<br />

(nur Jahreszeugnis; nach<br />

Mehrheitsbeschluss der Eltern<br />

einer Jahrgangsstufe)<br />

wie an integr. Haupt- und<br />

Realschulen<br />

NZ<br />

+ Bericht<br />

(Halbjahr + Jahreszeugnis)<br />

BZ<br />

(Halbjahr + Jahreszeugnis nach<br />

Beschluss Schulkonferenz)<br />

NZ<br />

+ Bemerkungen zum ASV 1)<br />

(Halbjahr + Jahreszeugnis)<br />

NZ<br />

+ Bemerkungen zum ASV<br />

(Halbjahr + Jahreszeugnis)<br />

NZ<br />

+ Bericht<br />

(Halbjahr + Jahreszeugnis)<br />

NZ<br />

+ Bericht<br />

(Halbjahr + Jahreszeugnis)<br />

NZ<br />

+ Bemerkungen zum ASV<br />

(Halbjahr + Jahreszeugnis)<br />

BZ....Berichtszeugnis; NZ....<strong>Noten</strong>zeugnis; ASV...Arbeits- und Sozialverhalten, 1) außer in Abgangs- und Abschlusszeugnissen, 2) Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf erhalten in der Regel ein BZ, außer im<br />

Abschlusszeugnis


1.1.2 Fragestellungen und Forschungsansatz<br />

Einführung Seite 15<br />

Seit ihrer Einführung, und zwar zunächst im Gymnasium und erst sehr viel später (Beginn des<br />

20. Jahrhunderts) an Volksschulen spielen Zeugnisse und die verschiedenen Formen von<br />

Leistungsbewertung in deutschen Schulen eine wichtige Rolle, denn mit ihnen werden nicht<br />

nur Berechtigungen für die weitere Schullaufbahn ausgesprochen und damit Bildungs- und<br />

berufliche Chancen verteilt, sondern zugleich erfolgt damit auch eine soziale Auslese<br />

(Selektion). <strong>Die</strong> bereits in sich widersprüchliche Fülle der ihnen zugeschriebenen<br />

gesellschaftlichen und pädagogischen Funktionen (vgl. Tillmann/Vollstädt 1998, S. 16 ff.)<br />

veranlasste Ingenkamp zu der Feststellung, dass es schwer verständlich sei, wie man glauben<br />

könne, dass die Zensur so unterschiedliche Aufgaben gleichzeitig erfüllen könne (vgl.<br />

Ingenkamp 1985, S. 177). Unter Umständen sind mit dieser funktionalen Überforderung von<br />

Zensuren und Zeugnissen viele der hinlänglich bekannten und oft diskutierten<br />

Schwierigkeiten bei der Leistungsbewertung bereits vorprogrammiert. Kaum ein anderer<br />

Bereich pädagogischer Arbeit in den Schulen ist so umstritten wie die Verpflichtung zur<br />

Leistungsbewertung und zur Ausarbeitung von Zeugnissen. Trotzdem sind Lehrerinnen und<br />

Lehrer durch staatliche Regelungen gehalten, im Schulalltag dieser Aufgabe nachzukommen.<br />

Sicher kann erwartet werden, dass sie dabei mit viel Mühe den Spagat zwischen curricularen<br />

Leistungsanforderungen und individueller Förderung ihrer Schülerinnen und Schüler zu<br />

bewältigen versuchen, was aber mit recht unterschiedlichem Erfolg gelingt und erhebliche<br />

Probleme schafft. Auch der seit langem geführte erziehungswissenschaftliche Disput zur<br />

<strong>schulische</strong>n Leistungsbewertung konnte hierbei keine grundlegende Veränderung erreichen.<br />

Wir haben uns dafür interessiert, welche Erfahrungen die verschiedenen Personengruppen mit<br />

diesen unterschiedlichen Zeugnisformen (und den damit verbundenen Leistungsbewertungen)<br />

gesammelt haben. Welche Erwartungen werden an die Zeugnisse gerichtet? Welche<br />

Rezeptionsgewohnheiten haben sich herausgebildet? Welche Einstellungen sind damit<br />

verbunden? Welche Zeugnisformen werden bevorzugt? Warum?<br />

<strong>Die</strong>se Einstellungen und Sichtweisen haben wir bei den verschiedenen Personengruppen – bei<br />

Schülern, Lehrern und Eltern – ermittelt. Dabei haben wir uns auch dafür interessiert, welche<br />

Bedingungen dazu führen, dass hier unterschiedliche Einstellungen und Präferenzen<br />

ausgebildet werden: <strong>Die</strong> Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schulform, die Erfahrungen mit<br />

bestimmten Zeugnisformen, soziale Herkunft und Bildungsaspirationen (bei Eltern und<br />

Schülern), aber auch das Alter und die <strong>Die</strong>nstjahre (bei Lehrkräften) kommen hier als


Seite 16 Einführung<br />

Wirkfaktoren in Betracht. Im Ergebnis wollen wir beschreiben, welche Erfahrungskontexte<br />

bei Schülern, Lehrern und Eltern dazu führen, dass – bezogen auf die Leistungsbewertung –<br />

ganz bestimmte, jeweils „typische“ Positionen vertreten werden. <strong>Die</strong> dazu gewählten<br />

Forschungsdesigns werden im Detail in den einzelnen Kapiteln dargestellt. Es geht in dieser<br />

Studie somit darum, die Sichtweisen, Einstellungen und Bewertungen zu ermitteln, die in den<br />

drei beteiligten Gruppen zur <strong>schulische</strong>n Leistungsbewertung im Allgemeinen, zu den<br />

verschiedenen Zeugnisformen im Besonderen vertreten werden. Wir haben uns entschieden,<br />

für diesen Aspekt der eigenen Forschung vor allem mit standardisierten Fragebögen zu<br />

arbeiten. Im Anschluss an diese quantitativen Untersuchungen wurden qualitative Fallstudien<br />

an zwei Gesamtschulen, einer Haupt- und Realschule und an zwei Grundschulen<br />

durchgeführt, die nicht hier, sondern im Teil C des Endberichts berichtet werden. In der hier<br />

zu präsentierenden Forschung haben wir an einer Stelle ergänzend mit qualitativen Interviews<br />

gearbeitet: bei der Befragung von Grundschulkindern. Wir skizzieren im Folgenden zunächst<br />

das Vorgehen bei der standardisierten Befragung, um dann kurz auf das qualitative Vorgehen<br />

bei der Grundschüler-Befragung einzugehen.<br />

1.2 Standardisierte Befragungen von Schülern, Lehrern, Eltern<br />

Getrennt für Lehrer(innen), Eltern und Schüler(innen) haben wir standardisierte Fragebögen<br />

entwickelt und diese in Pretests erprobt. Dabei wurden insbesondere Einschätzungs- und<br />

Einstellungsskalen (Likert) für verschiedene Aspekte des Umgangs mit Leistungsbewertung<br />

und Zeugnisformen entwickelt. <strong>Die</strong>se Skalen wurden im Rahmen dieses Projekts<br />

überwiegend neu erarbeitet. Bei anderen Dimensionen – insbesondere bei den Schulklima-<br />

Skalen der Schülerbefragung – haben wir auf bewährte Instrumente aus anderen Studien<br />

zurückgegriffen.<br />

1.2.1 Stichproben und Rücklaufquoten<br />

Bevor diese Befragungen durchgeführt wurden, musste festgelegt werden, welche Schulen in<br />

die Studie einbezogen werden sollten. Dabei kam es uns vor allem darauf an, in diese<br />

standardisierte Befragung alle in <strong>Hamburg</strong> vertretenen Schulformen – insbesondere aber auch<br />

alle dort praktizierten Zeugnisformen – einzubeziehen. Nicht die Repräsentativität, sondern<br />

die Vollständigkeit der unterschiedlichen Erfahrungsfelder war deshalb für die Konstruktion<br />

der Stichprobe handlungsleitend. Davon ausgehend haben wir ein „theoretical sample“<br />

erstellt, das es uns ermöglicht, die Erfahrungen, die mit verschiedenen Zeugnisformen<br />

gesammelt wurden, miteinander zu vergleichen. <strong>Die</strong>s hat nun aber zur Folge, dass bestimmte


Einführung Seite 17<br />

Schulformen (Gesamtschule) und bestimmte Zeugnisformen (Berichtszeugnisse in der<br />

Sekundarstufe I) in unserer Stichprobe erheblich überrepräsentiert sind (verglichen mit ihrem<br />

Vorkommen im <strong>Hamburg</strong>er Schulwesen insgesamt). Deshalb erlaubt unsere Studie es nicht,<br />

repräsentative Aussagen über „die“ <strong>Hamburg</strong>er Lehrer, Schüler, Eltern zu machen. Sie kann<br />

aber sehr wohl nachzeichnen, welche unterschiedlichen Einstellungen sich unter welchen<br />

Bedingungen „typischerweise“ herausbilden. So gesehen handelt es sich um eine<br />

„sozialwissenschaftliche Heuristik“ (Kleining 1994), die nicht auf Repräsentativität<br />

angewiesen ist.<br />

1.2.1.1 Lehrerbefragung<br />

Wir haben die quantitative Befragung der Lehrkräfte an insgesamt dreißig Schulen<br />

durchgeführt: Bei einem Drittel dieser Schulen (also zehn) handelt es sich um Grundschulen:<br />

Davon vergeben in den Klassen 3 und 4 fünf Schulen in den meisten <strong>oder</strong> in allen Klassen<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse, die anderen fünf Schulen hingegen vor allem Berichtszeugnisse. An diesen<br />

Grundschulen wurden insgesamt 249 Lehrerinnen und Lehrer befragt, davon gaben 146 (=<br />

59%) einen auswertbaren Fragebogen zurück.<br />

Von den neun integrierten Gesamtschulen unserer Lehrer-Stichprobe erteilen in den<br />

Jahrgangsstufen 5 und 6 zwei <strong>Noten</strong>zeugnisse, drei <strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen<br />

und vier Berichtszeugnisse. In den höheren Jahrgangsstufen werden nur in Ausnahmefällen<br />

noch Berichtszeugnisse geschrieben (vor allem in sogenannten Integrationsklassen). Von 675<br />

befragten Lehrkräften haben 281 (= 42%) einen auswertbaren Fragebogen zurückgegeben.<br />

Von den acht Haupt- und Realschulen erteilen in den Jahrgangsstufen 5 und 6 zwei<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse, drei <strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen, drei Berichtszeugnisse. Von 274<br />

befragten Lehrkräften erhielten wir 151 (= 55%) auswertbare Fragebögen.<br />

Schließlich haben wir drei Gymnasien in die Erhebung einbezogen. Zwei vergeben, wie die<br />

meisten <strong>Hamburg</strong>er Gymnasien, ausschließlich <strong>Noten</strong>zeugnisse, ein Gymnasium erteilt<br />

zusätzlich Kommentarbogen zu den <strong>Noten</strong>. Von 160 befragten Lehrkräften erhielten wir 57<br />

Fragebögen (= 36%) zurück.<br />

<strong>Die</strong>s alles bedeutet: In unserer Lehrer-Stichprobe (N=637) sind Grundschulen und alle<br />

Schulformen der Sekundarstufe vertreten – und alle in <strong>Hamburg</strong> praktizierten Formen der<br />

Zeugniserstellung. <strong>Die</strong> folgende Tabelle fasst dies zusammen.


Seite 18 Einführung<br />

Tabelle 1/2 2 : Verteilung nach Schulformen (Lehrkräfte)<br />

Schulform<br />

Anzahl der<br />

Schulen<br />

Anzahl der<br />

Befragten<br />

Prozent der<br />

Gesamtstichprobe<br />

Grundschulen<br />

Haupt- und<br />

Realschulen<br />

Gesamtschulen<br />

Gymnasien Gesamt<br />

10 8 9 3 30<br />

n = 146 n = 151 n = 281 n = 57 N = 637<br />

22,9% 23,7% 44,1% 8,9% 100%<br />

<strong>Die</strong> Rücklaufquote von insgesamt 44% ist für eine schriftliche Lehrerbefragung erfreulich<br />

hoch – ansonsten müssen sich solche Befragungen oft mit einem Rücklauf von 25%<br />

bescheiden (vgl. z.B. Vollstädt u.a. 1999, S. 491). Freilich ist nicht auszuschließen, dass mit<br />

diesem Rücklauf Selektionsprozesse verbunden sind, über die wir aber keine präzisen<br />

Aussagen treffen können: Ob eher noten-kritische <strong>oder</strong> eher berichts-kritische Lehrkräfte die<br />

Beantwortung verweigert haben, kann nur spekuliert werden. Zu betonen ist noch einmal,<br />

dass wir es hier nicht mit einer repräsentativen Stichprobe zu tun haben. Ein unmittelbarer<br />

Schluss auf die Einstellungen „der” <strong>Hamburg</strong>er Lehrerschaft ist somit nicht möglich. Dazu<br />

sind die Abweichungen vor allem im Sekundarbereich viel zu groß (z. B. zu hoher<br />

Gesamtschul-, zu niedriger Gymnasialanteil, viel zu hoher Anteil von Berichtszeugnissen).<br />

<strong>Die</strong>se Abweichung ist freilich gewollt, um die Erfahrungen mit unterschiedlichen<br />

Zeugnisformen hinreichend einbeziehen zu können. Trotz der fehlenden Repräsentativität<br />

kann diese Untersuchung aber sehr wohl gesicherte Aussagen über „typische” Einstellungs-<br />

und Erfahrungsmuster unter unterschiedlichen <strong>schulische</strong>n Bedingungen machen.<br />

Der Lehrerfragebogen umfasst zwölf Seiten mit insgesamt 167 Fragen. <strong>Die</strong> Fragen sind<br />

zumeist geschlossene Items, zu denen auf einer Antwortskala von 1 bis 5 Zustimmung bzw.<br />

Ablehnung artikuliert werden kann. Neben den oben genannten unabhängigen Variablen<br />

(Lehramt, <strong>Die</strong>nstalter etc.) nehmen die Erfahrungen der Lehrenden mit ihrer<br />

<strong>Beurteilungspraxis</strong> einen großen Raum ein – so fragen wir beispielsweise nach der Anzahl der<br />

aktuell erstellten Zeugnissen, der Häufigkeit von Lernerfolgskontrollen, den Kriterien der<br />

Beurteilung, deren Entstehung und ähnlichem.<br />

Einen weiteren Schwerpunkt bildet die generelle Meinung zu Zeugnissen und Zensuren. In<br />

diesem Teil fragen wir nach der generellen Einstellung zur Bewertungsfunktion der Schule,<br />

2 Im Weiteren werden die Tabellen und Abbildungen fortlaufend je Kapitel nummeriert.


Einführung Seite 19<br />

nach Kommunikation mit den Schüler(innen), Eltern und im Kollegium sowie nach<br />

Meinungen zu unterschiedlichen Zeugnisformen.<br />

1.2.1.2 Elternbefragung<br />

In die Elternbefragung wurde nur ein Teil dieser 30 Schulen einbezogen, nämlich zwei<br />

Grundschulen und zwölf Sekundarschulen. Stichprobenauswahl und Fragebogenkonstruktion<br />

beruhen auf den gleichen Prinzipien wie bei den Lehrkräften.<br />

Tabelle 1/3: Verteilung nach Schulformen (Eltern)<br />

Anzahl der<br />

Schulen<br />

Anzahl der<br />

Befragten<br />

Prozent der<br />

Gesamtstichprobe<br />

Grundschulen Haupt- und<br />

Realschulen<br />

Gesamtschulen Gymnasien Gesamt<br />

2 4 5 3 14<br />

n = 312 n = 276 n = 430 n = 310 N = 1328<br />

23,5% 20,8% 32,4% 23,3% 100%<br />

<strong>Die</strong> Auswahl der Schulen erfolgte nach den Zeugnisformen, die sie einsetzen: Jede Schulart<br />

mit jeder in <strong>Hamburg</strong> vorkommenden Kombination von Zeugnissen ist in unserer Stichprobe<br />

vertreten. Um auch jene Elternhäuser zu erreichen, in denen nicht Deutsch gesprochen wird,<br />

setzten wir Kurzfragebögen in den Sprachen Deutsch, Russisch, Türkisch und Polnisch ein.<br />

Etwa 7% der Rücklaufstichprobe besteht aus diesen Kurzfragebögen. Dabei liegt der<br />

Rücklauf der Elternfragebögen insgesamt bei 70%. <strong>Die</strong>se hohe Quote wurde erreicht, weil die<br />

Fragebögen über die Schulen ausgegeben und eingesammelt wurden. Zugleich wird man die<br />

Auskunftsbereitschaft der Eltern auch als Zustimmung zu der hier vorgelegten Befragung<br />

werten dürfen. <strong>Die</strong> Überrepräsentanz der Gesamtschulen (32,4%) hängt mit den vielfältigen<br />

Zeugniskombinationen zusammen, die an dieser Schulform vorkommen. Auch wenn die<br />

Befragung der Eltern nicht nach Gesichtspunkten der Repräsentativität erfolgte, lassen die<br />

Ergebnisse trotzdem Aussagen darüber zu, welche Erfahrungen <strong>Hamburg</strong>er Eltern mit den<br />

drei Zeugnisformen gesammelt und welche Einstellungen sie entwickelt haben.<br />

1.2.1.3 Schülerbefragung<br />

<strong>Die</strong> standardisierte Schülerbefragung erfolgte ausschließlich in der Sekundarstufe an<br />

insgesamt zwölf <strong>Hamburg</strong>er Schulen. Am Beginn des Schuljahres 1998/99 wurden insgesamt<br />

1476 Sekundarschülerinnen und -schüler in den Klassenstufen 6, 8 und 10 schriftlich befragt.<br />

Neben der aus ökonomischen Gründen erforderlichen Beschränkung der Stichprobe erfolgte


Seite 20 Einführung<br />

die Auswahl gerade dieser Klassenstufen, weil damit alle Zeugnisformen erfasst werden<br />

konnten und die Meinungen zu den Zeugnissen in verschiedenen Altersstufen mit<br />

berücksichtigt wurden. Der verwendete Fragebogen wurde deshalb für jede Klassenstufe<br />

differenziert und in zwei teilweise unterschiedlichen Fassungen verwendet: eine für die<br />

Zeugnisform Berichtszeugnis (BZ), die andere für <strong>Noten</strong>zeugnisse mit bzw. ohne<br />

Kommentarbogen (NZ). Außerdem wurde eine Kurzform des Fragebogens eingesetzt, und<br />

zwar für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf bzw. für solche, die Schwierigkeiten<br />

mit der deutschen Sprache haben. <strong>Die</strong> Verteilung der Stichprobe nach Jahrgangsstufen und<br />

nach Variante des Fragebogens ist aus Tabelle 1/4 ersichtlich.<br />

Tabelle 1/4: Schriftliche Befragung von Schülerinnen und Schülern an <strong>Hamburg</strong>er<br />

Schulen (Verteilung nach Klassen)<br />

Fragebogenform<br />

Anzahl n =<br />

212<br />

Anteil im<br />

Jahrgang<br />

Anteil an<br />

Stichprobe<br />

Klasse 6 Klasse 8 Klasse 10 alle<br />

BZ NZ* KurzformGesamt<br />

40%<br />

14%<br />

n =<br />

317<br />

59%<br />

22%<br />

n =<br />

5<br />

1%<br />

0<br />

n =<br />

534<br />

100%<br />

36%<br />

BZ NZ KurzformGesamt<br />

n =<br />

23<br />

5%<br />

2%<br />

n =<br />

474<br />

95%<br />

32%<br />

n =<br />

3<br />

0<br />

n =<br />

500<br />

100%<br />

BZ NZ KurzformGesamt<br />

n =<br />

2<br />

0<br />

n =<br />

438<br />

100%<br />

* Der Fragebogen NZ wurde sowohl bei reinen <strong>Noten</strong>zeugnissen als auch bei <strong>Noten</strong>zeugnissen mit<br />

Kommentarbogen eingesetzt.<br />

0<br />

34%<br />

1.2.2 Durchführung und Auswertung der Erhebungen<br />

0<br />

30%<br />

n =<br />

2<br />

0<br />

0<br />

n =<br />

442<br />

100%<br />

30%<br />

N =<br />

1476<br />

100%<br />

Im September/Oktober 1998 hielten sich die Mitarbeiter(innen) des Forschungsprojekts über<br />

mehrere Wochen in <strong>Hamburg</strong> auf, um die verschiedenen Erhebungen durchzuführen. Dabei<br />

ging es insbesondere darum, die standardisierten Fragebögen den Probanden so nahe zu<br />

bringen, dass eine möglichst hohe Rücklaufquote erreicht werden konnte. <strong>Die</strong>s ist – was nicht<br />

verwundert – bei den unterschiedlichen Personengruppen unterschiedlich gut gelungen.<br />

Um die Befragung der Lehrenden gut vorzubereiten, wurde das Projekt den Schulleitungen<br />

der betroffenen 30 Schulen in einer Versammlung vorgestellt. Dabei wurden denjenigen<br />

Schulen, in denen ausschließlich die Lehrerinnen und Lehrer befragt werden sollten, die<br />

entsprechenden Fragebögen ausgehändigt. <strong>Die</strong>se wurden dann an die einzelnen Lehrkräfte<br />

weitergegeben. Dem Fragebogen war zudem ein Anschreiben beigefügt, in dem unser<br />

Forschungsanliegen erläutert wurde. Bei den Schulen, in denen auch Schülerinnen und


Einführung Seite 21<br />

Schüler befragt wurden, haben wir die Fragebögen und Anschreiben vor Ort verteilt, indem<br />

wir sie in die Fächer der Lehrkräfte gelegt haben. <strong>Die</strong> ausgefüllten Fragebögen sind dann<br />

entweder von uns direkt in Empfang genommen worden <strong>oder</strong> an eine zentrale Schule<br />

geschickt worden, wo wir sie dann abgeholt haben. <strong>Die</strong> Anonymität der Befragten war bei<br />

diesem Verfahren in jedem Fall gesichert. Allerdings wurde eine Zuordnung der Fragebögen<br />

zu den Einzelschulen vorgenommen, damit eine differenzierte Auswertung möglich war.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Hamburg</strong>er Schülerinnen und Schüler wurden im Rahmen einer Unterrichtsstunde in<br />

Anwesenheit der Lehrkraft und eines Mitglieds des Forschungsteams befragt, so dass<br />

eventuelle Rückfragen zu den Fragebögen direkt beantwortet werden konnten. <strong>Die</strong><br />

Langfassungen der Fragebögen umfassten insgesamt dreizehn Seiten mit mehr als 130<br />

Einzelfragen. Bei den Fragen handelt es sich fast ausschließlich um geschlossene Items, zu<br />

denen auf einer Antwortskala von 1 bis 5 Zustimmung bzw. Ablehnung artikuliert werden<br />

kann. Von der Möglichkeit, eine Kurzfassung des Bogens zu beantworten, haben nur sehr<br />

wenige Schülerinnen und Schüler Gebrauch gemacht. <strong>Die</strong> Befragungen in den Schulklassen<br />

verliefen überwiegend problemlos. <strong>Die</strong> Schülerinnen und Schüler bearbeiteten den<br />

Fragebogen meist recht konzentriert. In den 6. Klassen wurde recht oft die ganze Schulstunde<br />

für die Beantwortung des Fragebogens benötigt – einzelne Kinder arbeiteten auch noch einige<br />

Minuten der darauffolgenden Stunde weiter. In den älteren Jahrgängen wurde mehrheitlich<br />

weniger als die vorgesehene Schulstunde benötigt. Da nur sehr wenige Eltern die<br />

Genehmigung zur Befragung ihres Kindes verweigerten, kann von einem Rücklauf knapp<br />

unter 100% ausgegangen werden.<br />

Bei der Befragung der Eltern sind wir auf zwei Weisen vorgegangen: Der größte Teil Eltern<br />

hat die Fragebögen und ein entsprechendes Anschreiben durch die Schülerinnen und Schüler<br />

bekommen; dies wurde verbunden mit dem Hinweis, den ausgefüllten Bogen in einem<br />

verschlossenen Umschlag den Kindern wieder mitzugeben. In den Grundschulen haben wir<br />

zunächst die Elternabende der betroffenen Klassen dazu genutzt, unsere Fragebögen zu<br />

verteilen und für unser Forschungsvorhaben zu werben. Teilweise sind die Fragebögen dann<br />

sofort ausgefüllt worden, teilweise mit nach Hause genommen worden und erst später an die<br />

Schule zurückgegeben worden. Den an diesen Abenden nicht anwesenden Eltern ist der<br />

Fragebogen samt Anschreiben durch ihre Kinder zugestellt worden. <strong>Die</strong> insgesamt sehr hohe<br />

Rücklaufquote bei den Eltern ist sicherlich auch auf diese direkte Beteiligung der Schule<br />

zurückzuführen.


Seite 22 Einführung<br />

<strong>Die</strong> Auswertung der standardisierten Befragung erfolgte nach den üblichen Prozeduren mit<br />

dem Statistikprogramm SPSS an den Universitäten Bielefeld und Jena. <strong>Die</strong> präsentierten<br />

Prozentwerte beziehen sich immer auf die Grundgesamtheit der gültigen Antworten. Fehlende<br />

bzw. ungültige Antworten sind nicht als Kategorie aufgeführt. Bei der Zusammenfassung von<br />

Daten haben wir besonderen Wert darauf gelegt, die Vielzahl der Fragen zu<br />

Einstellungsskalen nach Likert zusammenzufassen. Bei der Präsentation der Daten haben wir<br />

zwei Abstraktionsschritte vorgenommen: Zum einen werden die fünf konkreten<br />

Antwortoptionen „stimmt völlig“, „stimmt überwiegend“, „teils/teils“, „stimmt überwiegend<br />

nicht“ und „stimmt gar nicht“ für jedes einzelne Item zu einem Mittelwert zusammengefasst.<br />

<strong>Die</strong>ser repräsentiert somit die Verteilung der Prozentwerte auf unserer Fünferskala der<br />

Zustimmung und Ablehnung. Hohe Werte (größer als 3 bis 5) verweisen auf Zustimmung,<br />

niedrige Werte (kleiner als 3 bis 1) verweisen auf Ablehnung. Bei Vorliegen von Likert-<br />

Skalen fassen wir dann die Mittelwerte der verschiedenen Items zu einem Skalenwert<br />

zusammen. Dabei werden die Mittelwerte derjenigen Items, die negativ formuliert sind,<br />

selbstverständlich umgepolt, so dass eine einheitliche Richtung der Skala gewährleistet ist. In<br />

einigen Tabellen werden wir bei Likert-Skalen auch einen zweiten Abstraktionsschritt wählen<br />

und nur die Skalenmittelwerte darstellen, ohne die Einzelitems aufzuführen. <strong>Die</strong>s geschieht<br />

immer dann, wenn wir komplexe Zusammenhänge in prägnanter Form zusammenfassen<br />

wollen. Mittelwertunterschiede zwischen Gruppen wurden entweder mit einem T-Test (bei<br />

zwei Gruppen) bzw. mit einem Scheffè-Test (bei mehr als zwei Gruppen) auf Signifikanz<br />

untersucht. Dabei haben wir in den Kapiteln 2 bis 4 folgende Darstellungsform gewählt: Sind<br />

bei Mittelwertvergleichen einzelne Werte fett gedruckt, so bedeutet dies, dass sich dieser<br />

gegenüber allen anderen Werten eines Items bzw. einer Skala (auf dem 5%-Niveau)<br />

signifikant unterscheidet. Unterstreichungen verweisen darauf, dass sich jeweils die<br />

unterstrichenen Werte eines Items <strong>oder</strong> einer Skala signifikant voneinander unterscheiden. Im<br />

Kapitel 5 werden die Interviews qualitativ analysiert, so dass keine statistischen Tests<br />

gerechnet wurden.<br />

1.3 Qualitative Interviews mit Grundschulkindern<br />

Neben der standardisierten Befragung haben wir im Rahmen der Fallstudien mit allen<br />

Personengruppen qualitative Interviews geführt. <strong>Die</strong>se Ergebnisse werden nicht hier, sondern<br />

in Teil C des Endberichts referiert. Für die Ermittlung der Einstellung von Grundschülerinnen<br />

und Grundschülern haben wir keine standardisierten Fragebögen eingesetzt, sondern


Einführung Seite 23<br />

qualitative Interviews durchgeführt. <strong>Die</strong>ser besondere methodische Ansatz wird im Folgenden<br />

beschrieben, die Ergebnisse werden in Kapitel 5 ausführlich dargestellt.<br />

Standardisierte Befragungen, wie wir sie bei den anderen Gruppen durchgeführt haben, sind<br />

bei Kindern unter einem gewissen Alter kaum möglich, da sie mit dem konzentrierten Lesen<br />

und Verstehen der umfangreichen Itembatterien überfordert wären. In der Schulforschung<br />

werden daher bei Befragungen von Kindern häufig qualitative Interviews eingesetzt. Auch bei<br />

unseren Studien folgen wir bei dieser Altersgruppe aus guten Gründen diesem Weg. Anders<br />

als bei standardisierten Befragungsinstrumenten wie beispielsweise Fragebögen können auf<br />

diese Weise gerade auch jüngere Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit erhalten, ein<br />

Element ihres Alltagsverhaltens auf die Befragungssituation zu übertragen: das Erzählen.<br />

Deshalb haben wir leitfadengestützte, halboffene Interviews mit Grundschulkindern<br />

durchgeführt und dabei versucht, die Vergleichbarkeit der Interviewaussagen mit den<br />

Vorzügen narrativer Erhebungsstrategien zu verbinden (Friebertshäuser 1997, S. 371 ff.).<br />

Mit Hilfe eines Leitfadens können Themen eingegrenzt und vorgegeben werden. Zugleich<br />

erlaubt die Gesprächssituation dem Interviewer, den narrativen Korridoren der<br />

Kindererzählung Raum zu geben, also mit den Betroffenen im Gespräch dahin zu gehen, wo<br />

sie etwas erzählen wollen. Dabei kommt dem Interviewer eine methodisch bedeutsame<br />

Funktion zu (Atteslander 1988, S. 107), da seine Art der Gesprächsführung, der Bestätigung<br />

<strong>oder</strong> Ablehnung von Gesagtem und der Nachfrage wesentlich das Gespräch beeinflusst. <strong>Die</strong>se<br />

Form der Gesprächsführung erschien uns nicht zuletzt deshalb wichtig, da die<br />

Grundschulkinder zeitlich nicht allzusehr in Anspruch genommen worden sind. Darüber<br />

hinaus lassen sich die Ergebnisse der Einzelinterviews zueinander in Beziehung setzen, ohne<br />

dass individuelle Akzente nivelliert werden müssen.<br />

1.3.1 Stichprobe<br />

Tabelle 1/6 gibt eine Übersicht über die der Erhebung zugrunde gelegten Zeugnisse. Aus zwei<br />

<strong>Hamburg</strong>er Grundschulen – der Schule A und der Schule B – liegen insgesamt 61 Zeugnisse<br />

vor.<br />

Tabelle 1/6: Anzahl der Zeugnisse in den untersuchten Schulen<br />

Schule Jahrgang 1 Jahrgang 2 Jahrgang 3<br />

BZ<br />

Jahrgang 3<br />

NZ<br />

gesamt Prozent<br />

Grundschule A 10 10 10 - n = 30 49,2%<br />

Grundschule B 9 9 6 7 n = 31 50,8%<br />

Gesamt 19 19 16 7 N = 61 100%


Seite 24 Einführung<br />

Bei der Schule A handelt es sich um 30 Berichtszeugnisse der Klassen 1, 2 und 3, also<br />

insgesamt zehn pro Jahrgangsstufe. Von Schule B liegen 18 Berichtszeugnisse der Klassen 1<br />

und 2 vor und aus Klasse 3 sieben <strong>Noten</strong>zeugnisse (NZ) – die in <strong>Hamburg</strong> einen Kommentar<br />

zum Arbeits- und Sozialverhalten enthalten – sowie sechs Berichtszeugnisse. <strong>Die</strong> Tatsache,<br />

dass in einer Jahrgangsstufe zwei verschiedene Zeugnistypen auftauchen, erklärt sich daraus,<br />

dass seit der Novellierung des <strong>Hamburg</strong>er Schulgesetzes von 1985 die<br />

Erziehungsberechtigten der Klassen 3 und 4 mit einfacher Mehrheit darüber entscheiden<br />

dürfen, welche Zeugnisform sie für ihre Kinder wünschen. <strong>Die</strong> Schule A liegt in einem<br />

Einzugsgebiet, in dem die Eltern im Vergleich zu Schule B bildungsaufgeschlossener sind<br />

und Kinder in sozial günstigen Lagen aufwachsen. Demzufolge präferieren diese Eltern eher<br />

pädagogisch wünschenswerte Formen der Leistungsrückmeldung (Lehmann/Peek 1997, S. 81<br />

ff.).<br />

Im Blick auf das Geschlecht gehören zur Stichprobe 28 Zeugnisse, die sich an Mädchen und<br />

33 Zeugnisse, die sich an Jungen richten. Mit allen Kindern wurden Interviews durchgeführt.<br />

<strong>Die</strong> Altersspanne der Gesprächspartnerinnen und -partner liegt bei acht bis zehn Jahren.<br />

1.3.2 Durchführung und Auswertung der Interviews<br />

<strong>Die</strong> Gespräche fanden im September 1998 an Vormittagen in den jeweiligen Schulen statt.<br />

Drei Projektmitarbeiter(innen) haben parallel Interviews mit jeweils einer Schülerin bzw.<br />

einem Schüler geführt. Mit allen Kindern gab es eine Vorstellungsrunde und allen wurde der<br />

Anlass des Interviews erläutert. <strong>Die</strong> Kinder kamen meistens in Gruppen zu dritt, so dass eines<br />

sprechen konnte, während die anderen zuhörten, etwas lasen <strong>oder</strong> sich unterhielten. Den<br />

Kindern hat bei dem Gespräch das jeweils letzte Berichtszeugnis zur Verfügung gestanden,<br />

das sie im Sommer erteilt bekommen hatten. Schon der erste Blick der Betroffenen auf das<br />

Papier hat angedeutet, wie vertraut <strong>oder</strong> fremd dieses Zeugnis ist. Manchen war es sehr<br />

gegenwärtig, sie konnten auch sofort über dessen Inhalte sprechen. Anderen hingegen war es<br />

fremd und sie mussten sich erst einmal wieder in den Text hineinlesen.<br />

<strong>Die</strong> Interviews sind auf Tonband aufgenommen worden. Sie wurden transkribiert und das<br />

sprachliche Material wurde unter inhaltsanalytischen Gesichtspunkten ausgewertet (Mayring<br />

1995). Dabei begegneten wir allerdings folgendem Problem: Es gibt unter den Interviewten<br />

engagierte und weniger engagierte Gesprächspartner. Es sind – anders gesprochen – in<br />

Abhängigkeit von den Interviewten Texte von unterschiedlicher Qualität und Dichte<br />

entstanden. Um einerseits alle Antworten der Kinder zu erfassen, andererseits bei den


Einführung Seite 25<br />

vorgesehenen qualitativen inhaltsanalytischen Verfahren auch ein effektives Verhältnis von<br />

Arbeit und Ertrag zu wahren, sind wir bei der folgenden Auswertung mehrschrittig<br />

vorgegangen: Alle Interviews wurden in einem ersten Schritt auf einer Matrix festgehalten,<br />

die die zentralen Dimensionen des Leitfadens widerspiegelt und je nach Anforderung in<br />

weitere Kategorien unterdifferenziert. Durch ein deduktives Vorgehen (Lissmann 1989)<br />

entstand so ein Kategoriensystem, das die semantisch bedeutsamen Aussagen in einer<br />

„vorhanden vs. nicht vorhanden“ -Matrix erfasst. <strong>Die</strong>se Matrix aller Interviews wurde mit<br />

Hilfe des Statistikprogramms SPSS ausgewertet. <strong>Die</strong>se Auswertung ist die Grundlage der<br />

beschreibenden Interviewanalyse in Abschnitt 3 des 5. Kapitels.<br />

In einem zweiten Schritt werden vier besonders aussagekräftige Kinderinterviews als<br />

Gesamttext vorgestellt und analysiert. An den beispielhaft ausgewählten Gesprächen mit<br />

Nina, Annika, Hakan und Yang werden vor allem Varianzen der Leseerfahrung deutlich. Ihre<br />

Interpretation ist ein Schritt im Blick auf Erkenntnisse zur <strong>schulische</strong>n und familiären<br />

Leseerziehung und -förderung, die sich im Rezeptionsverhalten und im Umgang mit den<br />

Lernberichten niederschlägt.<br />

Dabei ist die hier herangezogene Auswahl von Interviews als Ganztexte in verschiedener<br />

Richtung bedeutsam. Nina ist ein Mädchen, das sich selbstbewusst mit dem Urteil ihrer<br />

Lehrerin auseinander setzt und ihren Bericht als Angebot zu Gespräch und<br />

Auseinandersetzung versteht. Für Annika ist die selbständige Lektüre ihres Berichts der Weg<br />

zur Reflexion einerseits über sich selbst, andererseits über die Prinzipien verbaler<br />

Leistungsbeurteilung. Sie ist eine wirkliche Expertin für Berichtszeugnisse. Hakan weicht der<br />

Rezeption des Berichts aus und verweigert auch größtenteils die mündliche Kommunikation<br />

darüber. An dem Gespräch mit ihm werden Faktoren von Lesehemmung und -verweigerung<br />

deutlich. Yang schließlich ist ein Junge, für den die Sprache und der Spracherwerb der<br />

Schlüssel zur Verbesserung des eigenen Lernens, aber auch der Weg zum Vertrauen<br />

gegenüber seinen Altersgenossen ist.<br />

<strong>Die</strong> Auswahl dieser vier Interviews und der zugehörigen <strong>Berichte</strong> für die qualitative<br />

Interpretation begründet sich aus den Schwerpunkten der Interpretation in Abschnitt 3 des<br />

fünften Kapitels. <strong>Die</strong> mit dieser Auswahl einhergehenden Determinanten wie Geschlecht und<br />

soziale und ethnische Herkunft spielen zwar eine Rolle, markieren hier aber keine<br />

erkenntnisleitenden Interessen.


Seite 26 Einführung<br />

1.4 Gang der Argumentation<br />

In den weiteren Kapiteln werden die Ergebnisse der quantitativen Befragung und den<br />

qualitativen Kinderinterviews präsentiert. In den Kapiteln 2 bis 4 werden die Analysen der<br />

standardisierten Befragung referiert, indem wir jede Gruppe zunächst für sich betrachten und<br />

nach den entsprechenden Merkmalen differenzieren.<br />

• <strong>Die</strong> Einschätzungen der Lehrenden werden dazu nach Schulformen unterschieden. Dabei<br />

werden die Erfahrungen mit den bisher geschrieben Zeugnisformen sowie die aktuell zu<br />

erstellenden Zeugnisse berücksichtigt. Eine weitere Differenzierungskategorie stellt die<br />

Arbeitsbelastung beim Zeugnisschreiben dar. Im Weiteren wird auch das <strong>Die</strong>nstalter und<br />

die Frage, ob eine Teilzeit- bzw. Vollzeit-Beschäftigung vorliegt, mit in die Analyse<br />

einbezogen.<br />

• Im Kapitel über die Eltern wird ebenfalls nach Einstellungen zu verschiedenen<br />

Beurteilungsdimensionen gefragt, darüber hinaus auch nach den Rezeptionsgewohnheiten<br />

und nach der Akzeptanz der verschiednen Zeugnisformen. Als unabhängige Variablen<br />

werden ebenfalls die Schulform und Erfahrungen mit Zeugnisversionen verwendet.<br />

Zudem werden die Einschätzungen nach eigenem Schulabschluss sowie nach den<br />

Bildungsaspirationen für ihre Kinder differenziert.<br />

• Den Einstellungen der Schülerinnen und Schüler sind zwei Kapitel gewidmet. <strong>Die</strong><br />

Ergebnisse der standardisierten Befragung durch Fragebögen bezieht sich nur auf die<br />

Sekundarstufe – genauer gesagt auf die Jahrgänge 6, 8 und 10. <strong>Die</strong> Variablen, nach denen<br />

hier differenziert wird, sind – wie auch bei Lehrenden und Eltern – die Schulform und die<br />

Erfahrungen mit verschiedenen Zeugnisformen. Dazu kommt die Jahrgangsstufe und die<br />

relative Leistungsposition in der Klasse.<br />

• <strong>Die</strong> Ergebnisse der qualitativen Interviews mit den Grundschulkindern werden im<br />

anschließenden 5. Kapitel präsentiert. <strong>Die</strong>s Kapitel enthält neben einer themenbezogenen<br />

Analyse aller Interviews vier ausführliche Interpretationen von exemplarisch<br />

ausgewählten Interviews mit Grundschulkindern und den dazugehörigen<br />

Berichtszeugnissen.<br />

• Im 6. Kapitel werden die gruppeninternen Ergebnisse der Kapitel 2 bis 5 in Beziehung<br />

zueinander gesetzt. <strong>Die</strong> vergleichende Präsentation von Einstellungen aller drei Gruppen<br />

zu ausgewählten Bereichen der Leistungsproblematik verdeutlicht die unterschiedlichen<br />

Sichtweisen von Schülern, Lehrern und Eltern auf Beurteilungen und Zeugnisse.<br />

• Das Kapitel 7 fasst die wichtigsten Ergebnisse dieses Forschungsberichts zusammen.


2. Leistungsbeurteilung und Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er<br />

Lehrerinnen und Lehrer<br />

<strong>Die</strong> Bewertung von Leistungen ist eine der zentralen Aufgaben, die Lehrerinnen und Lehrer<br />

alltäglich vollziehen müssen: Das Erstellen von Zensuren, <strong>Berichte</strong>n, Zeugnissen ist Teil ihrer<br />

„<strong>Die</strong>nstpflicht” – und zugleich eine ihrer folgenreichsten Tätigkeiten; denn mit Zeugnissen<br />

und Schulabschlüssen sind immer auch Ausleseentscheidungen verbunden, werden somit<br />

individuelle Lebenschancen eröffnet <strong>oder</strong> verbaut (vgl. Tillmann/Vollstädt 1999). Zugleich<br />

gibt es kaum einen Bereich der Lehrertätigkeit, der so stark umstritten ist wie dieser. Ob<br />

Lehrkräfte fachliche Leistungen überhaupt auch nur annähernd objektiv bewerten können, ist<br />

genauso strittig wie die Frage, ob Zensuren pädagogisch nicht mehr schaden als nützen. Und<br />

ob der hohe Aufwand bei Berichtszeugnissen sich pädagogisch rechtfertigt, wird ebenfalls<br />

kontrovers diskutiert (vgl. Jürgens 1997). All diese Kontroversen ändern jedoch nichts daran,<br />

dass die Lehrkräfte tagtäglich immer wieder Leistungsbewertungen vornehmen (müssen):<br />

Alltägliches Routinehandeln mit erheblichen Folgen für die Schülerinnen und Schüler ist<br />

gefordert, obwohl die Handlungsgrundlagen als höchst unsicher eingeschätzt werden. Im<br />

Rahmen unseres Forschungsprojekts haben wir uns für die Frage interessiert, wie Lehrerinnen<br />

und Lehrer diesen Prozess (und ihre eigene Einbindung) reflektieren. Dabei beziehen wir uns<br />

auf eine Schullandschaft, in der aufgrund der amtlichen Vorgaben drei verschiedene<br />

Zeugnisformen (BZ, NZ, NZK) erteilt werden können.<br />

2.1. Lehrereinstellungen zur Leistungsbewertung<br />

Im Kern geht es bei dieser schriftlichen Befragung um die Positionen, die Lehrerinnen und<br />

Lehrer gegenüber ihrer bewertenden und auslesenden Tätigkeit einnehmen. <strong>Die</strong>s bezieht sich<br />

zum einen auf ihre grundlegende Haltung gegenüber der – institutionell geforderten –<br />

Bewertungs- und Zensierungstätigkeit. Zum zweiten geht es um die Frage, ob Zensuren und<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse als eine sinnvolle, angemessene Form <strong>schulische</strong>r Leistungsbewertung<br />

angesehen werden – <strong>oder</strong> ob das Gegenmodell, die Verbalbeurteilung, bevorzugt wird.<br />

Ermittelt werden somit Sichtweisen und Einstellungen, die in engem Bezug zur eigenen<br />

alltäglichen Berufspraxis stehen.<br />

Das damit verbundene Forschungsdesign lässt sich in vereinfachter Form wie folgt darstellen:


Abbildung 2/1: Lehrereinstellungen zu Leistungsbewertung und Zeugnisformen<br />

Personale Merkmale<br />

(Geschlecht, Lehramt, etc.)<br />

Gegenwärtige Berufssituation:<br />

(Schulform, Jahrgang, Vollzeit/Teilzeit etc.)<br />

Erfahrungen mit verschiedenen Zeugnisformen<br />

(BZ, NZ, NZK)<br />

Arbeitsbelastung bei der Zeugniserstellung<br />

(Zahl der Zeugnisse, Arbeitszeit)<br />

Einstellungen<br />

- zur Leistungsbewertung generell<br />

- zu <strong>Noten</strong>zeugnissen<br />

- zu <strong>Noten</strong>zeugnissen mit<br />

Kommentarbogen<br />

- zu Berichtszeugnissen


<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 29<br />

Abbildung 2/1 zeigt die unterschiedlichen Merkmale der Gruppe der Lehrenden auf. Sie<br />

enthalten nicht nur personale Merkmale, auch die gegenwärtige <strong>schulische</strong> Situation sowie die<br />

Erfahrungen mit verschiedenen Zeugnisformen werden berücksichtigt. <strong>Die</strong> Auswirkungen<br />

dieser Faktoren auf die Einstellungen zur Leistungsbewertung und zu den Zeugnisformen sind<br />

dabei zentrale Fragestellung. <strong>Die</strong> in der Abbildung 2/1 angesprochenen<br />

Einstellungsdimensionen lassen sich wie folgt einander zuordnen:<br />

Abbildung 2/2: Leistungsmessung und -bewertung;<br />

Dimensionen der Lehrereinstellungen<br />

Vorteile der<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

(Skala L2)<br />

( - ) (?) ( + )<br />

( - )<br />

Für jede der vier in Abbildung 2/2 verzeichneten Einstellungsdimensionen haben wir eine<br />

Likert-Einstellungsskala entwickelt. <strong>Die</strong> Skalen haben minimal drei, maximal elf Items; ihre<br />

Reliabilitätswerte liegen zwischen .74 und .95. 3 <strong>Die</strong> grafische Anordnung in Abbildung 2/2<br />

verdeutlicht auch, dass wir bestimmte Zusammenhänge zwischen den verschiedenen<br />

Einstellungsdimensionen vermuten. Greift man zurück auf die recht umfangreiche Forschung<br />

zu grundlegenden pädagogischen Einstellungen von Lehrkräften (vgl. z.B. Fend 1998, S. 280<br />

ff.) und nimmt man die eher seltenen Studien hinzu, die Lehrereinstellungen zur<br />

Leistungsbewertung erhoben haben (vgl. z.B. Terhart u.a. 1999), so lassen sich folgende<br />

Hypothesen formulieren:<br />

Generelle Ablehnung<br />

von Zeugnissen und Zensuren<br />

(Skala L1)<br />

(?)<br />

Vorteile der<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse mit<br />

Kommentarbogen<br />

(Skala L4)<br />

(?)<br />

Vorteile der<br />

Berichtszeugnisse<br />

(Skala L3)<br />

3 <strong>Die</strong>se Skalen wurden im Rahmen dieser Studie entwickelt, genauere Angaben erfolgen weiter unten.


Seite 30 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

a) Wer Zeugnisse und Zensuren grundsätzlich ablehnt (Skala L1), sieht bei<br />

<strong>Noten</strong>beurteilungen (Skala L2) vor allem Nachteile (-), bei Berichtszeugnissen (Skala L3)<br />

hingegen eher Vorteile (+).<br />

b) Wer <strong>Noten</strong>zeugnisse positiv bewertet (Skala L2), sieht bei Berichtszeugnissen eher<br />

Nachteile (Skala L3) – und umgekehrt (-).<br />

c) Ob und wie in diesem Einstellungskomplex das „<strong>Noten</strong>zeugnis mit Kommentarbogen”<br />

bewertet wird, muss hier noch offen bleiben (dies wird in der Abbildung 2/2 durch ein<br />

„(?)“ angedeutet). Weil darüber bisher keine Forschung vorliegt, können wir hier keine<br />

begründete Hypothese formulieren.<br />

Insgesamt vermuten wir ein Einstellungssyndrom, das sich zwischen den Polen „eher<br />

notenorientiert” und „eher berichtsorientiert” ansiedeln lässt. Ob diese Vermutung stimmt, ist<br />

freilich eine empirische Frage, die im Folgenden – neben anderen Fragestellungen –<br />

bearbeitet werden soll. Dazu werden wir abschließend eine korrelationsstatistische<br />

Auswertung präsentieren.<br />

Einstellungen bilden sich vor dem Hintergrund von Erfahrungen – und werden durch<br />

veränderte Erfahrungen möglicherweise auch modifiziert. <strong>Die</strong> von uns befragten Lehrkräfte<br />

verfügen fast alle über langjährige Berufserfahrungen, die Mehrheit von ihnen ist 20 Jahre<br />

und länger im <strong>Die</strong>nst. Allerdings haben sie ihre Berufsarbeit in sehr unterschiedlichen<br />

<strong>schulische</strong>n Kontexten verrichtet, und dabei haben sie Erfahrungen mit unterschiedlichen<br />

Zeugnisformen gesammelt. In unserer Befragung haben wir in vier Bereichen Grunddaten zur<br />

bisherigen Berufsbiografie erhoben, um auf diese Weise einen Zusammenhang zwischen den<br />

beruflichen Erfahrungen und zu den o.g. Einstellungen herstellen zu können.<br />

(1.) Personenmerkmale und bisheriger Berufsweg<br />

- Geschlecht<br />

- <strong>Die</strong>nstalter<br />

- studiertes Lehramt<br />

(2.) Gegenwärtige Berufssituation<br />

- Schulform<br />

- Jahrgangsstufen-Einsatz<br />

- Fächer-Einsatz<br />

- Vollzeit- <strong>oder</strong> Teilzeitbeschäftigung


(3.) Erfahrung mit unterschiedlichen Zeugnisformen<br />

- Erfahrungen mit Berichtszeugnissen<br />

- Erfahrungen mit <strong>Noten</strong>zeugnissen<br />

<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 31<br />

- Erfahrungen mit <strong>Noten</strong>zeugnissen mit Kommentarbogen<br />

- aktuell erstellte Zeugnisform<br />

(4.) Zeitaufwand bei der Zeugniserstellung<br />

- Zeitaufwand für die Erstellung von Zeugnissen<br />

- Zeitaufwand für die Zuarbeit zu Zeugnissen<br />

In der empirischen Fachsprache werden die soeben benannten Faktoren auch als<br />

„unabhängige Variablen” bezeichnet: Es wird vermutet, dass die damit verbundenen<br />

Lehrererfahrungen einen Einfluss auf die weiter vorn beschriebenen Einstellungen ausüben.<br />

Hierzu drei Beispiele – wiederum als empirische Hypothesen formuliert:<br />

(a) Lehrkräfte an Grundschulen stehen der Bewertungs- und Zensierungsfunktion der Schule<br />

(Skala L1) deutlich ablehnender gegenüber als Lehrkräfte an Gymnasien.<br />

(b) Lehrkräfte, die Erfahrungen mit Berichtszeugnissen gesammelt haben, stehen diesen<br />

positiver gegenüber (Skala L3) als solche, die bisher nur <strong>Noten</strong>zeugnisse erteilt haben.<br />

(c) Je höher der Zeitaufwand bei der Zeugniserstellung ist, desto skeptischer ist die<br />

Bewertung der Berichtszeugnisse (Skala L3), desto positiver die Bewertung von<br />

<strong>Noten</strong>zeugnissen (Skala L2).<br />

In unserer Untersuchung sollen auch diese – hier beispielhaft genannten – Hypothesen<br />

überprüft werden, um auf diese Weise ein klares Bild zu erhalten: Welche Erfahrungskontexte<br />

führen dazu, dass Lehrkräfte bestimmte Beurteilungsformen bevorzugen, andere hingegen<br />

eher ablehnen? Dazu werden wir abschließend eine varianzanalytische Auswertung<br />

präsentieren.<br />

2.2 Welche Zeugnisse werden bevorzugt?<br />

Vor dem Hintergrund ihrer überwiegend langjährigen Berufserfahrung haben 637 <strong>Hamburg</strong>er<br />

Lehrer(innen) ihre Sichtweise der <strong>schulische</strong>n Bewertungsfunktion und ihre Einschätzung der<br />

unterschiedlichen Zeugnisformen mitgeteilt. Wir präsentieren im Folgenden zunächst die<br />

Ergebnisse für die Gesamtstichprobe – und zwar als Prozentverteilung der Antworten bei den<br />

einzelnen Items. Zudem werden diese Prozentwerte zu einem Mittelwert verrechnet. Liegt


Seite 32 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

dieser Mittelwert unterhalb des Wertes 3, so überwiegt die Ablehnung der Aussage, liegt er<br />

höher als 3, so wird der Aussage mehrheitlich zugestimmt. <strong>Die</strong>s sind gleichsam die<br />

„Basisdaten”, die später dann zu komplexeren statistischen Kennwerten verarbeitet werden.<br />

Zugleich zeigen wir im Folgenden auf, wie stark sich die Lehrer(innen) verschiedener<br />

Schulformen in ihren Einstellungen unterscheiden.<br />

2.2.1 Eine Schule ohne Zeugnisse?<br />

Um festzustellen, welche grundsätzliche Position die Lehrerinnen und Lehrer zur<br />

Bewertungs- und Auslesefunktion der Schule vertreten, haben wir die Skala L1 konstruiert,<br />

die wir als „generelle Ablehnung von Zeugnissen und Zensuren” bezeichnen. Obwohl sie nur<br />

aus drei Items besteht, weist sie einen akzeptablen Reliabilitäts-Koeffizienten auf.<br />

Tabelle 2/3: Generelle Ablehnung von Zeugnissen und Zensuren<br />

N = 618<br />

Cronbach`s alpha = .739<br />

127 Ich bin grundsätzlich für eine<br />

Schule ohne Zensuren.<br />

135 Am liebsten würde ich in der<br />

Schule grundsätzlich auf<br />

Zeugnisse verzichten.<br />

136 Zeugnisse braucht man nur bei<br />

Studienbewerbungen <strong>oder</strong> bei der<br />

Lehrstellensuche.<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

� 4<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwert<br />

47,3% 16,1% 17,1% 6,7% 12,8% 2,22<br />

45,6% 23,0% 13,8% 6,3% 11,3% 2,15<br />

30,2% 27,1% 13,1% 18,1% 11,4% 2,54<br />

Skala L1: Generelle Ablehnung von Zeugnissen und Zensuren 2,31<br />

<strong>Die</strong> Verteilung der Antworten zeigt zunächst: <strong>Die</strong> Mehrheit der Lehrkräfte steht der<br />

<strong>schulische</strong>n Bewertungsfunktion positiv gegenüber: 63,4% sind gegen eine Schule ohne<br />

Zensuren, 68,6% wollen auf Zeugnisse nicht verzichten. Dem steht eine Gruppe von ca. 18%<br />

gegenüber, die sich prinzipiell gegen Zeugnisse und Zensuren ausspricht. Kurz: Von der<br />

breiten Mehrheit der Lehrenden wird die Bewertungsfunktion der Schule – und damit die<br />

eigene Bewertungsaufgabe – als sinnvoll akzeptiert. Eine differenziertere Analyse der Daten<br />

zeigt, dass hier allerdings erhebliche Schulformunterschiede bestehen – und zwar in der<br />

4 Im eingesetzten Fragebogen ist die Antwortkodierung umgekehrt, hier haben wir - der plausiblen Darstellung<br />

wegen - die Zustimmung den hohen Werten zugeordnet. <strong>Die</strong>s gilt auch für alle weiteren Antwortkodierungen<br />

dieser Form.


<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 33<br />

weiter vorn bereits erwarteten Richtung. <strong>Die</strong> nachfolgende Tabelle 2/4 enthält (um die Menge<br />

der Daten zu reduzieren) nicht mehr die Prozentverteilung, sondern pro Statement einen<br />

Mittelwert, der zwischen 1 und 5 liegt. Je niedriger der Wert ist, desto stärker werden<br />

Zensuren und Zeugnisse gerechtfertigt; je höher der Wert ist, desto stärker werden sie<br />

abgelehnt. Der rechnerische Mittelpunkt von 3 scheidet dabei eher kritische und eher<br />

zustimmende Positionen.<br />

Tabelle 2/4: Generelle Ablehnung von Zeugnissen und Zensuren – nach Schulformen*<br />

(Mittelwerte)<br />

Schulform Grundschule <br />

Gesamtschule<br />

Haupt-/<br />

Realschule <br />

Gymnasium<br />

Gesamt<br />

Anzahl der Antworten n = 163 n = 277 n = 106 n = 54 N = 600<br />

127 Ich bin grundsätzlich für eine Schule<br />

ohne Zensuren.<br />

135 Am liebsten würde ich in der Schule<br />

grundsätzlich auf Zeugnisse verzichten.<br />

136 Zeugnisse braucht man nur bei<br />

Studienbewerbungen <strong>oder</strong> bei der<br />

Lehrstellensuche.<br />

Skala L1: Generelle Ablehnung von<br />

Zeugnissen und Zensuren<br />

2,87 2,27 1,58 1,28 2,22<br />

2,33 2,28 1,83 1,51 2,15<br />

2,38 2,68 2,53 2,31 2,54<br />

2,53 2,41 1,99 1,78 2,31<br />

*<strong>Die</strong> signifikanten Unterschiede (nach Scheffé) werden hier und im weiteren wie folgt gekennzeichnet: Setzt<br />

sich ein Wert signifikant zu allen anderen ab, wird er fett gedruckt. Unterscheiden sich zwei Mittelwerte (bzw. -<br />

gruppen) signifikant voneinander, werden beide unterstrichen.<br />

Insbesondere bei den ersten beiden Statements wird deutlich: Grundschullehrerinnen und<br />

-lehrer vertreten am stärksten eine generelle Zeugniskritik, gefolgt von den Lehrkräften an<br />

Gesamtschulen. Am „anderen Ende” finden sich die Gymnasiallehrerinnen und<br />

-lehrer, die sich mit zeugniskritischen Positionen überhaupt nicht anfreunden können. In<br />

Prozentwerten ausgedrückt: Eine „Schule ohne Zensuren” fordern 34% der<br />

Grundschullehrer(innen), 19% der Gesamtschullehrer(innen) – und 4% der gymnasialen<br />

Lehrkräfte (ohne Tabelle). Bei der Gesamtskala sind die Unterschiede zwischen Grundschul-<br />

und Gesamtschullehrer(innen) auf der einen Seite und den Gymnasiallehrkräften auf der<br />

anderen Seite signifikant. Offensichtlich übt die Schulformzugehörigkeit – verglichen mit<br />

allen anderen Erfahrungsvariablen – hier einen besonders großen Einfluss aus; denn ohne<br />

Einfluss auf die Lehrereinstellungen sind bei dieser Skala all die Faktoren, die mit<br />

Schulformzugehörigkeit nichts zu tun haben (z. B. <strong>Die</strong>nstalter). Statistische Zusammenhänge<br />

finden sich hingegen immer dann, wenn eine Variable mit „Schulformzugehörigkeit” deutlich


Seite 34 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

kovariiert, so z.B. Geschlecht, da an der Grundschule der Frauenanteil höher ist als an den<br />

Sekundarschulen, <strong>oder</strong> Erfahrung mit Zeugnisformen, da es beispielsweise an Gymnasien<br />

keine Erfahrungen mit Berichtszeugnissen gibt.<br />

2.2.2 <strong>Noten</strong>zeugnisse <strong>oder</strong> Berichtszeugnisse?<br />

<strong>Die</strong> Stichprobe der Erhebung wurde so zusammengesetzt, dass in allen Schulformen<br />

Lehrkräfte befragt wurden, die zuletzt entweder <strong>Noten</strong>zeugnisse (z. T. mit Kommentarbogen)<br />

<strong>oder</strong> Berichtszeugnisse erteilt haben. Lediglich im Gymnasium, in dem es hamburgweit nur<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse gibt, konnte nur diese eine Lehrergruppe befragt werden. Sowohl die<br />

Grundschul- wie die Sekundarschullehrkräfte verfügen somit über einen unterschiedlichen<br />

Erfahrungshintergrund: <strong>Noten</strong>zeugnisse haben sie (fast) alle schon einmal erteilt, etwa die<br />

Hälfte hat in jüngerer Zeit Berichtszeugnisse erstellt. Vor diesem Hintergrund haben wir sehr<br />

differenziert nach den Vor- und Nachteilen der beiden Zeugnisformen gefragt. Wir stellen<br />

zunächst die Ergebnisse zu den <strong>Noten</strong>zeugnissen, dann die zu den Berichtszeugnissen dar.<br />

Um hierzu die Einschätzungen der Lehrerinnen und Lehrer zu erheben, haben wir eine<br />

größere Zahl von Statements formuliert. Es zeigte sich dabei, dass die Items, die die Nachteile<br />

der jeweiligen Zeugnisformen benennen, spiegelbildlich zu denen beantwortet werden, die die<br />

Vorzüge hervorheben. Wir haben deshalb die Aussagen zu drei Skalen zusammengefasst, die<br />

jeweils die Vorteile ansprechen:<br />

Skala L2: Vorteile der <strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

Skala L3: Vorteile der Berichtszeugnisse<br />

Skala L4: Vorteile der <strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen


2.2.2.1 Einstellungen zu <strong>Noten</strong>zeugnissen<br />

<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 35<br />

In den Aussagen der nächsten Tabelle werden Vorzüge der <strong>Noten</strong>zeugnisse behauptet. Zum<br />

Teil werden die <strong>Noten</strong> dabei explizit mit den Berichtszeugnissen verglichen. <strong>Die</strong> Befragten<br />

haben dazu die folgenden Einschätzungen vorgenommen:<br />

Tabelle 2/5: Vorteile der <strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

N = 621<br />

Cronbach`s alpha = .950<br />

88 <strong>Noten</strong>zeugnisse informieren<br />

genauer als Berichtszeugnisse<br />

über die Leistungen der<br />

Schüler(innen).<br />

92 <strong>Noten</strong> sind objektiver als eine<br />

verbale Beurteilung.<br />

102 <strong>Noten</strong>zeugnisse vermitteln vor<br />

allem klarere Informationen über<br />

die fachlichen Leistungen als<br />

Berichtszeugnisse.<br />

117 Zensuren lassen sich effektiver<br />

ermitteln als Lernberichte.<br />

119 Ohne Zensuren würden die<br />

meisten Schüler(innen) bald<br />

nichts mehr tun.<br />

121 Schüler(innen) wünschen sehr oft<br />

eine „Übersetzung” verbaler<br />

Beurteilungen in <strong>Noten</strong>.<br />

124 Mit <strong>Noten</strong> sind die<br />

Schüler(innen) leichter für das<br />

Lernen zu motivieren.<br />

128 <strong>Noten</strong> auf dem Zeugnis finde ich<br />

gerechter als verbale<br />

Beurteilungen.<br />

129 Schüler(innen) müssen sich<br />

frühzeitig an <strong>Noten</strong> gewöhnen.<br />

130 Für den weiteren Bildungsweg<br />

eines Kindes sind Zensuren<br />

besser als Lernberichte.<br />

131 Gute <strong>Noten</strong> spornen die<br />

Schüler(innen) an.<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwerte<br />

25,3% 22,2% 23,3% 21,1% 8,1% 2,64<br />

31,2% 21,6% 23,0% 16,4% 7,7% 2,48<br />

17,0% 24,9% 21,5% 25,2% 11,4% 2,89<br />

10,6% 14,5% 22,3% 33,1% 19,6% 3,37<br />

24,6% 20,9% 26,2% 17,5% 10,8% 2,68<br />

3,1% 10,9% 24,5% 33,4% 28,1% 3,72<br />

15,6% 21,5% 33,0% 23,2% 6,8% 2,84<br />

33,5% 22,7% 22,0% 14,1% 7,6% 2,40<br />

24,8% 24,6% 18,0% 20,8% 11,8% 2,70<br />

23,3% 20,6% 23,8% 21,2% 11,1% 2,76<br />

4,2% 4,0% 24,3% 38,2% 29,3% 3,84<br />

Skala L2: Vorteile der <strong>Noten</strong>zeugnisse 2,91


Seite 36 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

<strong>Die</strong> Antwortverteilungen in unserer Stichprobe zeigen insgesamt eine recht kritische<br />

Einstellung gegenüber Zensuren und <strong>Noten</strong>zeugnissen. Lediglich bei drei Statements sehen<br />

mehr als 50% der Befragten Vorzüge bei den <strong>Noten</strong>: Dass gute <strong>Noten</strong> anspornen (131), dass<br />

sie sich effektiv ermitteln lassen (117) und dass bei verbalen Beurteilungen Schüler oft eine<br />

Zensur einfordern (121). Bei allen anderen Behauptungen über Zensuren sind die Meinungen<br />

gespalten, die ablehnenden Positionen überwiegen meist. So stimmen 28% der Befragten der<br />

Behauptung (überwiegend <strong>oder</strong> völlig) zu, ohne „Zensuren würden die meisten<br />

Schüler(innen) bald nichts mehr tun” (119), aber 46% lehnen dies ab. Und auch die<br />

Behauptung, <strong>Noten</strong> seien „objektiver als eine verbale Beurteilung” (92), wird mehrheitlich<br />

abgelehnt (53%); der zustimmende Anteil ist mit 24% nicht einmal halb so groß. Angesichts<br />

einer solchen Polarisierung der Meinungen stellt sich sofort die Frage, welche Lehrergruppen<br />

eher die Pro-, welche eher die Kontra-Position vertreten. Auch hier fällt unser erster Verdacht<br />

auf die Schulformzugehörigkeit. <strong>Die</strong> folgende Tabelle stellt die Unterschiede dar – und zwar<br />

erneut anhand des Mittelwerts der fünfpoligen Skala. Hier gilt: Je höher der Wert, desto<br />

stärker werden die Vorteile der <strong>Noten</strong> betont.


<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 37<br />

Tabelle 2/6: Vorteile der <strong>Noten</strong>zeugnisse – nach Schulform (Mittelwerte)<br />

Schulform bzw. -stufe<br />

Grundschule <br />

Gesamtschule<br />

Haupt-<br />

/Realschule <br />

Gymnasium<br />

Gesamt<br />

Anzahl der Antworten n = 166 n = 279 n = 108 n = 54 N = 607<br />

88 <strong>Noten</strong>zeugnisse informieren genauer als<br />

Berichtszeugnisse über die Leistungen<br />

der Schüler(innen).<br />

92 <strong>Noten</strong> sind objektiver als eine verbale<br />

Beurteilung.<br />

102 <strong>Noten</strong>zeugnisse vermitteln vor allem<br />

klarere Informationen über die<br />

fachlichen Leistungen als<br />

Berichtszeugnisse.<br />

117 Zensuren lassen sich effektiver<br />

ermitteln als Lernberichte.<br />

119 Ohne Zensuren würden die meisten<br />

Schüler(innen) bald nichts mehr tun.<br />

121 Schüler(innen) wünschen sehr oft eine<br />

„Übersetzung” verbaler Beurteilungen<br />

in <strong>Noten</strong>.<br />

124 Mit <strong>Noten</strong> sind die Schüler(innen)<br />

leichter für das Lernen zu motivieren.<br />

128 <strong>Noten</strong> auf dem Zeugnis finde ich<br />

gerechter als verbale Beurteilungen.<br />

129 Schüler(innen) müssen sich frühzeitig<br />

an <strong>Noten</strong> gewöhnen.<br />

130 Für den weiteren Bildungsweg eines<br />

Kindes sind Zensuren besser als<br />

Lernberichte.<br />

131 Gute <strong>Noten</strong> spornen die Schüler(innen)<br />

an.<br />

2,16 2,61 2,99 3,57 2,64<br />

1,94 2,39 3,14 3,30 2,48<br />

2,43 2,87 3,33 3,58 2,89<br />

2,66 3,51 3,82 3,87 3,37<br />

1,96 2,73 3,36 3,38 2,68<br />

3,28 3,82 3,94 4,24 3,72<br />

2,22 2,92 3,29 3,47 2,84<br />

1,74 2,41 2,97 3,19 2,40<br />

2,01 2,78 3,13 3,64 2,70<br />

1,14 2,73 3,41 3,58 2,76<br />

3,45 3,86 4,15 4,30 3,84<br />

Skala L2: Vorteile der <strong>Noten</strong>zeugnisse 2,34 2,94 3,39 3,61 2,91<br />

<strong>Die</strong> Daten zeigen das uns schon bekannte Bild: <strong>Die</strong> Lehrkräfte an Grundschulen sind die<br />

entschiedensten Kritiker von <strong>Noten</strong> und <strong>Noten</strong>zeugnissen, die Gymnasiallehrer(innen)<br />

hingegen die entschiedensten Verfechter(innen). <strong>Die</strong> Lehrkräfte der Gesamtschulen und der<br />

Haupt- und Realschulen befinden sich in mittleren Positionen. In Prozenten beschrieben: Dass<br />

„ohne Zensuren die meisten Schüler bald nichts mehr lernen würden” (119), glauben 43%<br />

der Gymnasiallehrer(innen), aber nur 11% der Grundschullehrkräfte. Und dass sich „Schüler


Seite 38 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

frühzeitig an <strong>Noten</strong> gewöhnen” müssen (129), finden 62% der Gymnasiallehrer(innen), aber<br />

nur 12% der Grundschullehrer(innen). Betrachtet man die bisher präsentierten Ergebnisse im<br />

Zusammenhang, so lässt sich feststellen: Während die große Mehrheit der Lehrerschaft der<br />

<strong>schulische</strong>n Bewertungsfunktion insgesamt positiv gegenübersteht (Tabelle 2/3), gibt es<br />

erhebliche Zweifel, ob Zensuren und <strong>Noten</strong>zeugnisse das richtige Instrument für diese<br />

Bewertung sind. <strong>Die</strong>se Zweifel werden besonders stark von Grundschullehrer(innen)<br />

artikuliert, besonders selten von Gymnasiallehrer(innen).<br />

2.2.2.2 Einstellungen zu Berichtszeugnissen<br />

Analog zu den Vor- und Nachteilen der <strong>Noten</strong>beurteilung haben wir auch nach dem „Für und<br />

Wider” der Berichtszeugnisse gefragt. Dabei bilden die angenommenen Vorzüge der<br />

Verbalbeurteilungen den Schwerpunkt. Einige der möglichen Nachteile verbaler<br />

Beurteilungen sind schon in der Skala „Vorteile der <strong>Noten</strong>zeugnisse” angeklungen.<br />

Tatsächlich ist es so, dass ein hoher Zusammenhang zwischen der Zustimmung zu<br />

<strong>Noten</strong>zeugnissen und der Ablehnung von Berichtszeugnissen (und umgekehrt) besteht. Im<br />

Folgenden stellen wir die Einstellungen der befragten Lehrkräfte zu den Vorteilen verbaler<br />

Beurteilungen dar 5 .<br />

5 Eine statistisch abgesicherte Skala von Nachteilen der verbalen Beurteilungen ließ sich aus unseren Daten nicht<br />

konstruieren. Daher werden wir die möglichen Probleme von Berichtszeugnissen an einer einzelnen Aussagen<br />

verdeutlichen.


Tabelle 2/7: Vorteile der Berichtszeugnisse<br />

N = 624<br />

Cronbach`s alpha = .913<br />

86 Berichtszeugnisse geben eine<br />

genauere Auskunft über die<br />

Entwicklung eines Kindes als<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse.<br />

87 In der Grundschule sollte es nur<br />

Berichtszeugnisse geben.<br />

90 Berichtszeugnisse geben auch den<br />

Eltern die Information, wie sie ihr<br />

Kind fördern können.<br />

97 Berichtszeugnisse können die<br />

Schüler(innen) auf ihre Stärken<br />

aufmerksam machen und anspornen.<br />

100 Wenn ich Berichtszeugnisse schreibe,<br />

wende ich mich jedem einzelnen Kind<br />

intensiver zu als bei <strong>Noten</strong>zeugnissen.<br />

109 Berichtszeugnisse können die<br />

Schwächen der Schüler(innen)<br />

genauer als <strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

charakterisieren.<br />

112 Berichtszeugnisse verlangen eine<br />

systematische Beobachtung der<br />

Schüler(innen).<br />

116 In Berichtszeugnissen lässt sich das<br />

Lernverhalten differenzierter<br />

beurteilen als in <strong>Noten</strong>zeugnissen.<br />

<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 39<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwerte<br />

5,9% 9,0% 21,8% 22,6% 40,7% 3,83<br />

12,1% 11,3% 21,3% 15,9% 39,4% 3,59<br />

2,8% 10,1% 30,7% 37,3% 19,2% 3,60<br />

1,6% 2,7% 24,6% 34,9% 36,2% 3,02<br />

8,6% 13,3% 11,6% 25,9% 40,5% 3,75<br />

3,9% 6,1% 19,6% 29,5% 40,9% 3,97<br />

2,1% 4,1% 13,2% 36,7% 43,8% 4,16<br />

3,1% 6,2% 16,4% 27,4% 47,0% 4,09<br />

Skala L3: Vorteile der Berichtszeugnisse 3,71<br />

Es zeigt sich, dass die Mehrheit der befragten Lehrer und Lehrerinnen zustimmen, wenn<br />

Vorteile von Verbalbeurteilungen formuliert werden. In den Aussagen, in denen auf einen<br />

höheren Informationsgehalt der Berichtszeugnisse abgehoben wird (86, 97, 109 und 116),<br />

finden sich sogar Anteile der Zustimmungen um die 70%. <strong>Die</strong> Stärken von<br />

Berichtszeugnissen – wie z. B. die genauere Charakterisierung der Schüler und Schülerinnen<br />

– scheinen also durchaus im Bewusstsein der meisten Lehrkräfte zu stehen. Allerdings findet<br />

sich auch hier eine „abweichende” Minderheit: Bei den meisten Items bestreiten zwischen<br />

10% und 20% der Lehrer(innen) die Vorteile der Berichtszeugnisse. <strong>Die</strong> möglichen Probleme<br />

bei Berichtszeugnissen sind in Ansätzen schon angesprochen worden. Exemplarisch sollen


Seite 40 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

hierzu die Antworten zu einer weiteren Aussage präsentiert werden, die nicht in eine Skala<br />

einbezogen wurde:<br />

Tabelle 2/8: Nachteil von Berichtszeugnissen<br />

N = 611<br />

93 Berichtszeugnisse könnten anders<br />

gedeutet werden, als es die<br />

Lehrer(innen) gemeint haben.<br />

�<br />

stimmt<br />

gar<br />

nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwert<br />

1,8% 13,4% 39,4% 23,3% 22,3% 3,52<br />

Immerhin sehen über 46% der Befragten hier ein Problem von Berichtszeugnissen, das es zu<br />

bedenken gilt. Daran wird deutlich, dass trotz relativ großer Zustimmung zu den Vorteilen in<br />

der Lehrerschaft auch Lernberichte durchaus kritisch gesehen werden. Nach den bisherigen<br />

Erkenntnissen verwundert es nicht, dass auch hier die Schulform, in der die Befragten zurzeit<br />

arbeiten, einen großen Einfluss auf die geäußerten Meinungen hat. <strong>Die</strong> nachfolgende Tabelle<br />

enthält die entsprechenden Mittelwerte, differenziert nach Schulformen. Werte zwischen 1<br />

und 3 weisen dabei auf eine tendenzielle Skepsis gegenüber Berichtszeugnissen hin, während<br />

Werte zwischen 3 und 5 mehrheitliche Zustimmung signalisieren.


<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 41<br />

Tabelle 2/9: Vorteile von Berichtszeugnissen – nach Schulformen (Mittelwerte)<br />

Schulform Grundschule <br />

Gesamtschule<br />

Haupt-<br />

/Realschule <br />

Gymnasium<br />

Gesamt<br />

Anzahl der Antworten n = 166 n = 278 n = 106 n = 53 N = 603<br />

86 Berichtszeugnisse geben eine genauere<br />

Auskunft über die Entwicklung eines<br />

Kindes als <strong>Noten</strong>zeugnisse.<br />

87 In der Grundschule sollte es nur<br />

Berichtszeugnisse geben.<br />

90 Berichtszeugnisse geben auch den<br />

Eltern die Information, wie sie ihr Kind<br />

fördern können.<br />

97 Berichtszeugnisse können die<br />

Schüler(innen) auf ihre Stärken<br />

aufmerksam machen und anspornen.<br />

100 Wenn ich Berichtszeugnisse schreibe,<br />

wende ich mich jedem einzelnen Kind<br />

intensiver zu als bei <strong>Noten</strong>zeugnissen.<br />

109 Berichtszeugnisse können die<br />

Schwächen der Schüler(innen) genauer<br />

als <strong>Noten</strong>zeugnisse charakterisieren.<br />

112 Berichtszeugnisse verlangen eine<br />

systematische Beobachtung der<br />

Schüler(innen).<br />

116 In Berichtszeugnissen lässt sich das<br />

Lernverhalten differenzierter beurteilen<br />

als in <strong>Noten</strong>zeugnissen.<br />

4,38 3,79 3,53 2,94 3,83<br />

3,89 3,68 3,30 2,75 3,59<br />

3,95 3,57 3,43 3,04 3,60<br />

4,39 3,97 3,78 3,57 3,02<br />

3,98 3,87 3,38 3,12 3,75<br />

4,37 3,98 3,75 3,15 3,97<br />

4,46 4,14 4,01 3,60 4,16<br />

4,38 4,14 3,86 3,35 4,09<br />

Skala L3: Vorteile von Berichtszeugnissen 3,94 3,74 3,53 3,17 3,71<br />

<strong>Die</strong> Datenlage ist klar: <strong>Die</strong> Befürwortung der Verbalbeurteilung ist unter den<br />

Grundschullehrkräften am ausgeprägtesten, in einem gewissen Abstand folgen die<br />

Lehrerinnen und Lehrer an den Gesamtschulen, etwas weniger zustimmend liegen die Werte<br />

der Lehrkräfte an Haupt- und Realschulen. Am wenigsten zustimmend äußern sich die<br />

Lehrkräfte der Gymnasien. In dieser Gruppe erscheinen auch die einzigen Mittelwerte, die auf<br />

eine mehrheitliche Ablehnung hindeuten (Aussagen 86 und 87). So teilen die Lehrerinnen und<br />

Lehrer der Gymnasien die Meinung der übrigen Lehrkräfte nicht, dass „Berichtszeugnisse [...]<br />

eine genauere Auskunft über die Entwicklung eines Kindes [geben] als <strong>Noten</strong>zeugnisse” (86).


Seite 42 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

Auch mit einer Grundschule, in der nur Berichtszeugnisse erteilt werden (87), zeigen sie sich<br />

mehrheitlich nicht einverstanden.<br />

<strong>Die</strong> Unterschiede zwischen den Einschätzungen der Grundschullehrkräfte und denen des<br />

Gymnasiums sind nicht nur auf der Skalenebene signifikant, sondern auch bei allen<br />

Einzelitems. Auch die Unterschiede zwischen den anderen Schulformen sind statistisch sehr<br />

häufig bedeutsam, etwa derart, dass sich die Primarstufe signifikant zu allen Schulen der<br />

Sekundarstufe absetzt. Nicht selten unterscheiden sich die Meinungen der<br />

Gymnasiallehrerinnen und -lehrer auch signifikant von den Einschätzungen der beiden<br />

anderen Sekundarschulen. Mit anderen Worten: <strong>Die</strong> Lehrenden der Gymnasien betonen die<br />

Nachteile von Berichtszeugnissen besonders stark, die Grundschullehrkräfte sehen besonders<br />

deutlich die Vorteile.<br />

2.2.2.3 Einstellungen zu <strong>Noten</strong>zeugnissen mit Kommentarbogen<br />

Insbesondere in <strong>Hamburg</strong>er Gesamtschulen findet sich eine spezifische Variante des<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisses: ein Zeugnis, das Fachnoten enthält und in dem jede Fachnote auf einem<br />

Kommentarbogen zusätzlich knapp verbal kommentiert wird (vgl. Kapitel 1). <strong>Die</strong>se<br />

Kommentierung der einzelnen Fachnoten ist eine verbale Erweiterung der Zeugnisse, die<br />

zusätzlich zu den ohnehin obligatorischen Bemerkungen zum Arbeits- und Sozialverhalten,<br />

die Note ergänzen. Um die Einstellungen der Lehrkräfte zu dieser Zeugnisform zu ermitteln,<br />

haben wir die folgende Skala entwickelt:


<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 43<br />

Tabelle 2/10: Vorteile der <strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen<br />

N = 621<br />

Cronbach`s alpha = .770<br />

138 Schriftliche Kommentare zu einzelnen<br />

Fächern können ein <strong>Noten</strong>zeugnis<br />

verständlicher machen.<br />

139 Wenn schon <strong>Noten</strong>zeugnisse, dann bin<br />

ich auf jeden Fall für schriftliche<br />

Kommentare zu einzelnen Fächern<br />

bzw. <strong>Noten</strong>.<br />

140 Schriftliche Kommentare haben für<br />

Eltern meist zu wenig<br />

Informationsgehalt. Sie können<br />

weggelassen werden.*<br />

�<br />

stimmt<br />

gar<br />

nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwerte<br />

1,1% 1,3% 11,0% 33,7% 53,0% 4,36<br />

3,5% 6,0% 14,8% 23,7% 51,9% 4,16<br />

42,1% 36,5% 16,3% 3,1% 2,0% 1,86<br />

Skala L4: Vorteile der <strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen 4,21<br />

* In diesem Item wird nicht ein Vorteil, sondern ein Nachteil formuliert, der Item-Mittelwert sagt also – in<br />

Abweichung zu den anderen beiden Items – aus: Je höher der Wert, desto stärker ist die Ablehnung der NZK.<br />

Bei der Zusammenfassung zum Skalenmittelwert wurde diese umgekehrte Polung berücksichtigt. Der Skalen-<br />

Mittelwert drückt somit – für alle drei Items zusammenfassend – die Betonung der Vorteile aus: Je höher der<br />

Wert, desto stärker werden die Vorteile der NZK betont.<br />

<strong>Die</strong> Antworten zeigen zunächst eine überraschend große Zustimmung zu dieser Zeugnisform:<br />

Zwischen 76% und 87% der Befragten stimmen bei den einzelnen Items der Pro-Kommentar-<br />

Position (völlig <strong>oder</strong> überwiegend) zu. <strong>Die</strong> Meinungspolarisierung, die wir zuvor bei der<br />

Beurteilung von <strong>Noten</strong>zeugnissen heraus gearbeitet haben, findet sich hier nicht. Vielmehr ist<br />

ein breiter Konsens erkennbar, der sich etwa wie folgt formulieren läßt: Wenn schon<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse erteilt werden, dann sollten sie durch Kommentare zu den einzelnen <strong>Noten</strong><br />

ergänzt werden. Doch auch vor dem Hintergrund dieser breiten Zustimmung gibt es zwischen<br />

den Schulformen deutliche Meinungsunterschiede:


Seite 44 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

Tabelle 2/11: Vorteile der <strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen (Mittelwerte)<br />

Schulform Grundschule <br />

Gesamtschule<br />

Haupt-<br />

/Realschule <br />

Gymnasium<br />

Gesamt<br />

durchschnittl. Anzahl der Antworten 166 278 106 55 605<br />

138 Schriftliche Kommentare zu einzelnen<br />

Fächern können ein <strong>Noten</strong>zeugnis<br />

verständlicher machen.<br />

139 Wenn schon <strong>Noten</strong>zeugnisse, dann bin<br />

ich auf jeden Fall für schriftliche<br />

Kommentare zu einzelnen Fächern<br />

bzw. <strong>Noten</strong>.<br />

140 Schriftliche Kommentare haben für<br />

Eltern meist zu wenig<br />

Informationsgehalt. Sie können<br />

weggelassen werden.<br />

Skala L4: Vorteile der <strong>Noten</strong>zeugnisse mit<br />

Kommentarbogen<br />

4,38 4,42 4,33 4,0 4,36<br />

4,50 4,11 4,15 3,33 4,16<br />

1,65 1,95 1,79 2,20 1,86<br />

4,41 4,19 4,23 3,70 4,21<br />

Grundschullehrer(innen) sprechen sich am stärksten für solche fachbezogenen Kommentare<br />

aus, Gymnasiallehrer(innen) am seltensten. <strong>Die</strong> Unterschiede zwischen diesen beiden<br />

Schulformen sind durchweg signifikant. Doch darf man nicht übersehen, dass immerhin fast<br />

die Hälfte der gymnasialen Lehrkräfte solche Kommentare für sinnvoll hält: 49% von ihnen<br />

erklären, dass sie „auf jeden Fall für schriftliche Kommentare zu einzelnen Fächern bzw.<br />

<strong>Noten</strong>” sind (139). Im Gegensatz zu den Berichtszeugnissen (siehe oben) stößt diese<br />

Veränderung der Zeugnisform auch im Gymnasium nicht auf Ablehnung.<br />

Insgesamt lässt sich somit festhalten:<br />

(1) <strong>Die</strong> Lehrerschaft in unserer Stichprobe steht der Bewertungs- und Zensierungsaufgabe<br />

zwar kritisch, aber nicht ablehnend gegenüber. Sie fordert in ihrer Mehrheit keineswegs<br />

eine „zeugnisfreie” Schule, aber sie betrachtet die übliche Form der Benotung recht<br />

skeptisch.<br />

(2) Berichtszeugnisse werden von der Mehrheit der Befragten positiv bewertet. Ihnen werden<br />

– verglichen mit <strong>Noten</strong>zeugnissen – deutliche pädagogische Vorteile zugesprochen.<br />

(3) Das Einstellungsmuster bei den Lehrkräften ist allerdings nicht homogen, sondern weist<br />

typische Differenzen auf. Dabei kommt der Schulformzugehörigkeit eine zentrale<br />

Bedeutung zu: Gymnasiallehrer(innen) sprechen sich ungebrochen für <strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

aus, Grundschullehrer(innen) plädieren am entschiedensten für Berichtszeugnisse. <strong>Die</strong>


<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 45<br />

Lehrer(innen) von Gesamtschulen und Haupt- und Realschulen lassen sich zwischen<br />

diesen beiden Polen ansiedeln.<br />

(4) Angesichts dieser erheblichen Einstellungsdiskrepanzen halten wir es für bemerkenswert,<br />

dass das „<strong>Noten</strong>zeugnis mit Kommentarbogen” auf eine weitgehend konsenshafte<br />

Bewertung stößt: Alle Lehrergruppen – von der Grundschule bis zum Gymnasium –<br />

bewerten es mehrheitlich positiv. Dabei sind allerdings zwei Interpretationen möglich: Für<br />

Anhänger der Berichtszeugnisse ist es möglicherweise nur die zweitbeste Lösung,<br />

während Verfechter von <strong>Noten</strong> die Beibehaltung der <strong>Noten</strong> für wichtig hält. Für diese<br />

Gruppe stellt die Ergänzung durch Kommentare zu den Fächern eine Art akzeptablen<br />

Kompromiss dar.<br />

2.3 Lehrereinstellungen und unterschiedliche Arbeitserfahrungen<br />

Dass die Positionen, die Lehrerinnen und Lehrer zu Zeugnissen und Zensuren einnehmen,<br />

sehr stark von der Schulformzugehörigkeit abhängig sind, haben wir aufgezeigt. Wir gehen<br />

jedoch davon aus, dass die Schulform nicht der einzige Erfahrungskontext ist, der hier<br />

Wirksamkeit entfaltet. Vielmehr vermuten wir, dass die unmittelbaren Erfahrungen mit den<br />

unterschiedlichen Zeugnisformen auch zur Modifizierung von Einstellungen führen können.<br />

Um dieses herauszuarbeiten, betrachten wir im Folgenden zwei Aspekte der Zeugnispraxis:<br />

die Erfahrung mit unterschiedlichen Zeugnisformen (NZ, BZ, NZK) und die Arbeitsbelastung<br />

bei der Zeugniserstellung. Für beide Aspekte werden wir prüfen, ob hier mit<br />

unterschiedlichen Lehrererfahrungen auch unterschiedliche Einstellungsmuster verbunden<br />

sind.<br />

2.3.1 Erfahrungen mit unterschiedlichen Zeugnisformen<br />

Wie eingangs dargestellt wurde, gibt es an <strong>Hamburg</strong>er Schulen unterschiedliche Formen von<br />

Zeugnissen. <strong>Die</strong>se Zeugnisse werden meist zum Schulhalbjahr erstellt und ausgegeben – und<br />

zwar in aller Regel durch die jeweiligen Klassenlehrer(innen). Auf diese Form der<br />

Zeugniserstellung – und auf die damit gewonnene Erfahrungen – bezieht sich der folgende<br />

Abschnitt. Wir haben diese Lehrererfahrungen in zweifacher Weise ermittelt:<br />

(1) Zum ersten haben wir nach den Erfahrungen in der gesamten Berufslaufbahn gefragt:<br />

Welche der Zeugnisformen hat der/die Befragte im bisherigen Berufsleben als<br />

Klassenlehrer(in) schon erstellt?<br />

(2) Zum zweiten haben wir nach der ganz aktuellen Erfahrung gefragt: Welche Zeugnisform<br />

wurde am Ende des letzten Schuljahres erstellt?


Seite 46 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

Beide Fragen beziehen sich auf die Tätigkeit als Klassenlehrer(in). Lehrkräfte, die<br />

ausschließlich als Fachlehrer(innen) eingesetzt waren (und die den Klassenlehrer(innen) bei<br />

der Zeugniserstellung zuarbeiten), werden deshalb in der folgenden Analyse in der Rubrik<br />

„keine Erfahrungen” (mit der jeweiligen Zeugnisform) geführt. Wir präsentieren die<br />

Ergebnisse im Folgenden getrennt für die Primarstufe und für die Sekundarstufe I. 6<br />

2.3.1.1 Primarstufe<br />

Wie bereits dargestellt, gibt es an den <strong>Hamburg</strong>er Grundschulen zwei verschiedene<br />

Zeugnisformen: In den ersten beiden Klassen werden generell keine <strong>Noten</strong> vergeben, dort<br />

werden einheitlich Berichtszeugnisse geschrieben. In den Klassen 3 und 4 sind hingegen zwei<br />

Optionen möglich: <strong>Die</strong> Elternschaft einer Klasse stimmt darüber ab, ob <strong>Noten</strong> erteilt werden<br />

<strong>oder</strong> ob <strong>Berichte</strong> verfasst werden. Im Folgenden thematisieren wir zunächst die Erfahrungen,<br />

die die Lehrenden in ihrer gesamten Berufslaufbahn bisher gemacht haben. Auf die Frage<br />

„Welche Zeugnisse haben Sie während Ihrer bisherigen Tätigkeit als Klassenlehrer/-in<br />

bereits erstellt?” hatten die Befragten die Möglichkeit anzugeben, ob sie die jeweilige<br />

Zeugnisform „mehrmals”, „einmal” <strong>oder</strong> „noch nie” erstellt hatten. Da die Antwort „einmal”<br />

recht selten gewählt wurde, fassen wir die beiden Antwortmöglichkeiten „mehrmals” und<br />

„einmal” zu einer Kategorie zusammen und stellen sie der Kategorie „noch nie” gegenüber.<br />

<strong>Die</strong> folgende Tabelle gibt Aufschluss über die Antworten der Grundschullehrkräfte:<br />

6 Dabei werden nur die Erfahrungen in der Stufe berücksichtigt, in der die Lehrkraft gegenwärtig eingesetzt<br />

wird. Anders formuliert: Hauptschullehrer(innen), die auch schon einmal Grundschulzeugnisse erstellt haben,<br />

werden in die Grundschulstatistik nicht einbezogen. Wir verme iden damit, dass die Einstellung einzelner<br />

Personen mehrfach in die Auswertungen eingehen.


<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 47<br />

Tabelle 2/12: Erfahrungen der Primarstufenlehrkräfte mit verschiedenen<br />

Zeugnisformen in der bisherigen Berufslaufbahn (absolut und in Prozent)<br />

Zeugnisform<br />

Erfahrung keine Erfahrung Gesamt<br />

Berichtszeugnisse in den 1. und 2.<br />

Klassen der Grundschule<br />

Berichtszeugnisse in den 3. und 4.<br />

Klassen der Grundschule<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse in den 3. und 4. Klassen<br />

der Grundschule<br />

(mehrmals/einmal erstellt)<br />

155<br />

(93%)<br />

110<br />

(66%)<br />

101<br />

(61%)<br />

(noch nie erstellt)<br />

12<br />

(7%)<br />

56<br />

(34%)<br />

65<br />

(39%)<br />

167<br />

(100%)<br />

166<br />

(100%)<br />

166<br />

(100%)<br />

Fast alle Primarstufenlehrkräfte haben bereits Erfahrungen mit Berichtszeugnissen in den<br />

ersten beiden Klassen gemacht. Bei den beiden anderen Zeugnisformen gibt jeweils eine<br />

deutliche Mehrheit an, diese bereits erstellt zu haben. Damit liegen bei den<br />

Grundschullehrer(innen) insgesamt recht unterschiedliche Erfahrungen vor, was die<br />

Zeugniserstellung in den Jahrgängen 3 und 4 angeht. Nun ist die Situation der Lehrenden in<br />

den 3. und 4. Jahrgängen eine besondere: Welche Zeugnisform hier erstellt wird, liegt im<br />

Prinzip in der Hand der Eltern; denn die Eltern entscheiden mehrheitlich darüber, ob<br />

Berichtszeugnisse geschrieben <strong>oder</strong> ob <strong>Noten</strong> erteilt werden. Es stellt sich also nun die Frage,<br />

ob diese Erfahrung der Lehrenden, Berichtszeugnisse schreiben zu „müssen“, auch<br />

Auswirkungen hat auf die Einstellungen zu den Zeugnisformen. <strong>Die</strong>s soll im Folgenden<br />

geprüft werden.


Seite 48 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

Tabelle 2/13: Einstellungen der Primarstufenlehrkräfte – nach Erfahrungen mit<br />

verschiedenen Zeugnisformen (Mittelwerte)<br />

Zeugnisform Berichtszeugnisse in<br />

den 3. und 4. Klassen<br />

der Grundschule<br />

Erfahrungen mit der Zeugnisform ja<br />

Einstellungsskalen<br />

Skala L1: „Generelle Ablehnung von<br />

Zensuren und Zeugnissen”<br />

(n=108)<br />

nein<br />

(n= 56)<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse in den<br />

3. und 4. Klassen der<br />

Grundschule<br />

ja<br />

(n= 101)<br />

nein<br />

(n= 63)<br />

2,73 2,19 2,38 2,78<br />

Skala L2: „Vorteile der <strong>Noten</strong>zeugnisse” 2,06 2,84 2,51 2,04<br />

Skala L3: „Vorteile der Berichtszeugnisse” 4,15 3,58 3,76 4,24<br />

Skala L4. „Vorteile der <strong>Noten</strong>zeugnisse mit<br />

Kommentarbogen”<br />

4,50 4,25 4,43 4,40<br />

<strong>Die</strong> Lehrenden in der Primarstufe unterscheiden sich in ihren Einschätzungen zumeist höchst<br />

signifikant, wenn sie danach differenziert werden, ob sie bereits Berichtszeugnisse in den<br />

Klassen 3 und 4 ausgestellt haben <strong>oder</strong> nicht. <strong>Die</strong> Differenzen gehen dabei alle in die gleiche<br />

Richtung: Erfahrungen mit dieser Zeugnisform gehen parallel mit einer höheren Zustimmung<br />

zu den „Vorteilen von Berichtszeugnissen”. <strong>Die</strong> Skepsis gegenüber <strong>Noten</strong> ist ausgeprägter<br />

und sogar die generelle Ablehnung gegen Zensuren und Zeugnissen fällt signifikant stärker<br />

aus. Ein paralleles Ergebnis findet man, wenn man die Lehrkräfte, die in den Jahrgängen 3<br />

und 4 schon <strong>Noten</strong>zeugnisse erteilt haben, mit denen vergleicht, die solche Zeugnisse noch<br />

nie ausgegeben haben. <strong>Die</strong> letztgenannte Gruppe ist besonders interessant, denn es handelt<br />

sich hier um Lehrkräfte, die vermutlich noch nie ein <strong>Noten</strong>zeugnis erstellt haben (da in den<br />

ersten beiden Klassen generell keine <strong>Noten</strong> erteilt werden). <strong>Die</strong> Präferenzen dieser 65<br />

Kolleginnen und Kollegen stehen eindeutig auf Seiten der Verbalbeurteilungen. Ihre Skepsis<br />

gegen <strong>Noten</strong> ist auch im Vergleich zur Gruppe der anderen Grundschullehrkräfte deutlich<br />

ausgeprägter.<br />

Der zweite Teil dieses Abschnitts bezieht sich auf die Frage: „Welche Zeugnisse haben Sie am<br />

Ende des letzten Schuljahres (Juni/Juli) hauptsächlich erstellt?” Hier heben wir also nicht auf<br />

die generellen – möglicherweise schon weit zurückliegenden – Erfahrungen ab, sondern auf<br />

die aktuell präsenten. In unserer Stichprobe stellt sich die Situation wie folgt dar: An fünf


<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 49<br />

Grundschulen werden in den Jahrgängen 3 und 4 vorwiegend Berichtszeugnisse geschrieben,<br />

an den anderen fünf vorwiegend <strong>Noten</strong>zeugnisse. An allen zehn Schulen – das ist<br />

selbstverständlich – werden in den Jahrgängen 1 und 2 Berichtszeugnisse erstellt. Daraus<br />

ergeben sich folgende Daten: 149 Grundschullehrkräfte haben am Ende des Schuljahres<br />

1997/98 als Klassenlehrer(in) Zeugnisse erstellt. Davon entfallen 78 auf die Berichtszeugnisse<br />

in den Klassen 1 und 2, 45 haben Berichtszeugnisse in den Klassen 3 <strong>oder</strong> 4 geschrieben, 26<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse in 3 <strong>oder</strong> 4 erstellt. <strong>Die</strong> folgende Tabelle stellt die Mittelwerte der<br />

Einstellungsskalen dar – unterschieden nach der letzten Zeugniserstellung in der Grundschule:<br />

Tabelle 2/14: Einstellungen zu Zensuren und Zeugnissen – nach dem zuletzt erstellten<br />

Zeugnis in der Primarstufe (Mittelwerte)<br />

N = 149<br />

Einstellungsskalen<br />

Skala L1: „Generelle<br />

Ablehnung von Zensuren und<br />

Zeugnissen”<br />

Skala L2: „Vorteile der<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse”<br />

Skala L3: „Vorteile der<br />

Berichtszeugnisse”<br />

Skala L4. „Vorteile der<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse mit<br />

Kommentarbogen”<br />

Berichtszeugnisse in<br />

den 1. und 2. Klassen<br />

der Grundschule<br />

(n = 78)<br />

Zeugnisformen in der Grundschule<br />

Berichtszeugnisse in<br />

den 3. und 4. Klassen<br />

der Grundschule<br />

(n = 45)<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse in den<br />

3. und 4. Klassen der<br />

Grundschule<br />

(n = 26)<br />

2,40 3,04 2,20<br />

2,29 1,90 3,16<br />

3,97 4,29 3,41<br />

4,35 4,52 4,40<br />

<strong>Die</strong> Mittelwertunterschiede in Tabelle 2/14 bestätigen die zuvor gefundenen<br />

Ergebnisstrukturen; sie zeigen erneut, dass die in den Jahrgängen 3 und 4 erstellte<br />

Zeugnisform mit deutlichen Einstellungsunterschieden bei den Lehrkräften verbunden ist:<br />

Wer in den Jahrgängen 3 und 4 ein Berichtszeugnis erteilt hat, entspricht sehr stark dem Bild<br />

eines kindorientierten und leistungskritischen Grundschulpädagogen. Er bzw. sie steht<br />

Zensuren generell kritisch gegenüber, sieht bei <strong>Noten</strong>zeugnissen keine Vorteile, betont<br />

stattdessen ganz entschieden die Vorteile der Berichtszeugnisse. Nun zeigen die Ergebnisse<br />

aber auch, dass längst nicht alle Grundschullehrkräfte so denken. <strong>Die</strong>jenigen, die am Ende des<br />

letzten Schuljahres in den Jahrgängen 3 <strong>oder</strong> 4 ein <strong>Noten</strong>zeugnis erstellt haben, bieten<br />

vielmehr ein deutliches Gegenbild: Sie stützen die Zeugnisfunktion der Schule, sehen bei den<br />

<strong>Noten</strong>zeugnissen deutliche Vorteile und stehen den Berichtszeugnissen zugleich skeptisch<br />

gegenüber. In allen drei Einstellungsdimensionen sind die Unterschiede zwischen diesen<br />

beiden Lehrergruppen signifikant, obwohl die Gruppengrößen (n = 45 bzw. 26) recht niedrig<br />

sind. Wie stark die Positionen auseinander fallen, lässt sich auch daran erkennen, dass die


Seite 50 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

„notengebende” Gruppe der Grundschullehrer(innen) Einstellungen vertritt, die in ihrer<br />

Zensurenorientierung die Mittelwerte der Sekundarschullehrkräfte übertrifft (vgl. Tabelle<br />

2/16).<br />

Wir halten diesen Befund für bemerkenswert – insbesondere vor dem Hintergrund der<br />

rechtlichen Regelungen: Denn nicht die Lehrer(innen), sondern die Eltern der jeweiligen<br />

Klasse entscheiden ja darüber, ob <strong>Noten</strong>- <strong>oder</strong> Berichtszeugnisse erstellt werden. Aus der<br />

Lehrerperspektive gesehen handelt es sich somit um eine Fremdentscheidung; dennoch<br />

befürworten die Lehrkräfte genau die Zeugnisform, die in ihrer Klasse ausgegeben wird. Zur<br />

Erklärung dieses Sachverhalts haben wir zwei unterschiedliche Interpretationen anzubieten.<br />

<strong>Die</strong> eine geht davon aus, dass sich Lehrkräfte hier mit einer Elternentscheidung abfinden<br />

müssen. <strong>Die</strong> andere unterstellt, dass die Lehrkräfte diese Entscheidung stark beeinflussen <strong>oder</strong><br />

gar dominieren.<br />

(1) Unterstellt man, dass die Entscheidung über die Zeugnisform von den Eltern getroffen<br />

wird – und zwar ohne große Rücksichtnahme auf die Präferenz der Lehrkraft – so ergibt<br />

sich: Ein erheblicher Teil der Lehrer(innen) in den Klassen 3 und 4 müsste dann eine<br />

Zeugnisform erstellen, die nicht mit der eigenen Präferenz übereinstimmt. Wie lässt sich<br />

dann aber erklären, dass die Lehrer(innen) zum Zeitpunkt der Befragung genau die<br />

Zeugnisform hochschätzen, die sie erteilen (müssen)? Hier liefert die<br />

sozialpsychologische Theorie zur „kognitiven Dissonanz“ (vgl. Festinger 1978) eine<br />

Erklärungsfolie: Lehrer(innen) möchten – wie andere Menschen auch – in<br />

Übereinstimmung mit dem eigenen Verhalten leben. Kurz: Man möchte positiv bewerten,<br />

was man tut. Wenn ein Individuum ein Verhalten zeigt (zeigen muss), „das seinen<br />

Einstellungen, Meinungen und Überzeugungen widerspricht“ (Cofer 1975, S. 201), so<br />

leidet es unter der dadurch entstandenen Dissonanz. Das Individuum entwickelt dann<br />

Aktivitäten zur Dissonanzreduktion. Ist die Verhaltensänderung schwierig <strong>oder</strong> nicht<br />

möglich, so erfolgt eine Anpassung der Einstellungen an das Verhalten: „Änderung in der<br />

Bewertung von Menschen, Gruppen, Objekten ..., selektive Wahrnehmung von<br />

Informationen ... Verzerrung der Wahrnehmung” (ebenda) sind dann typische Formen der<br />

Dissonanzreduzierung. Auf unseren Fall angewandt, würde das bedeuten: Lehrkräfte, die<br />

– möglicherweise über längere Zeit – dazu verpflichtet werden, eine bestimmte<br />

Zeugnisform zu erstellen, neigen auch dazu, diese Zeugnisform positiv zu bewerten. Sie<br />

passen ihre Einstellungen dem eigenen Verhalten an.<br />

(2) Unterstellt man hingegen, dass die Entscheidung über die Zeugnisform in der 3. und 4.


<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 51<br />

Klasse zwar formal von den Eltern getroffen wird, dass die Lehrkraft mit ihrer<br />

„Expertenmeinung“ diese Entscheidung jedoch sehr stark beeinflusst, so stellt sich die<br />

Interpretation deutlich anders dar: <strong>Die</strong> vorgängige Meinung der Lehrkraft führt dann dazu,<br />

dass in der Klasse genau die Zeugnisse erstellt werden, die die Lehrerin/der Lehrer für<br />

vorzugswürdig hält. <strong>Die</strong> hohe Übereinstimmung zwischen der Zeugnispraxis und ihrer<br />

Bewertung käme dann dadurch zustande, dass Lehrer(innen) aufgrund ihrer<br />

Einflussnahme in der Elternversammlung genau die Zeugnisform erstellen dürften, die sie<br />

für „besser“ halten. Dissonanzen treten in einem solchen Fall nicht auf, deshalb muss man<br />

auch keine entsprechende Theorie zur Interpretation bemühen.<br />

Während die erste Interpretation somit davon ausgeht, dass die Einstellungen der<br />

Zeugnispraxis nachfolgen, wird das in der zweiten Sichtweise umgekehrt gesehen: Hier sind<br />

die Einstellungen der jeweiligen Lehrkraft der Ausgangspunkt, die Zeugnispraxis folgt diesen<br />

Einstellungen nach. Welche der beiden Interpretationen eher zutrifft, vermögen wir aufgrund<br />

der quantitativen Daten nicht zu entscheiden. Allerdings gibt es in unseren Befragungsdaten<br />

einen Hinweis, der eher für die zweite Interpretation spricht: <strong>Die</strong> Zustimmungswerte der<br />

Lehrenden, die in den Jahrgängen 1 und 2 Berichtszeugnisse erteilt haben, sind weit geringer<br />

als die Werte bei den Lehrkräften, die in den Jahrgängen 3 <strong>oder</strong> 4 Berichtszeugnisse erteilen.<br />

<strong>Die</strong>s spricht gegen die These von der Dissonanz (die in beiden Gruppen ja gleich bearbeitet<br />

werden müsste) und für die These vom Lehrereinfluss (der ja nur in den Jahrgängen 3 und 4<br />

wirken kann).


Seite 52 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

2.3.1.2 Sekundarstufe I<br />

Für die Darstellung der Befunde in der Sekundarstufe nehmen wir wieder die bereits bekannte<br />

Zweiteilung vor: Zunächst stellen wir die Angaben zu den Erfahrungen in der bisherigen<br />

Berufslaufbahn dar und kommen im zweiten Teil auf die Erfahrungen mit den aktuell<br />

geschriebenen Zeugnisse zu sprechen.<br />

Tabelle 2/15: Erfahrungen der Sekundarstufenlehrkräfte mit verschiedenen Zeugnisformen<br />

in der bisherigen Berufslaufbahn (absolut und in Prozent)<br />

Schulform<br />

Gesamtschule Haupt-/Real-<br />

schule<br />

Gymnasium<br />

Erfahrung mit der Zeugnisform ja nein ja nein ja nein<br />

Zeugnisform<br />

Berichtszeugnisse in der Sekundarstufe I<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse in der Sekundarstufe I mit<br />

Kommentarbogen zu einzelnen Fächern bzw.<br />

<strong>Noten</strong><br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse in der Sekundarstufe I<br />

177<br />

(66%)<br />

241<br />

(88%)<br />

215<br />

(79%)<br />

91<br />

(34%)<br />

34<br />

(32%)<br />

59<br />

(22%)<br />

25<br />

(23%)<br />

66<br />

(61%)<br />

78<br />

(72%)<br />

84<br />

(77%)<br />

42<br />

(39%)<br />

30<br />

(28%)<br />

1<br />

(6%)<br />

27<br />

(48%)<br />

46<br />

(82%)<br />

56<br />

(94%)<br />

29<br />

(52%)<br />

10<br />

(18%)<br />

Bei der Interpretation dieser Ergebnisse ist zu beachten, dass hier nur die Erfahrungen der<br />

Klassenlehrer(innen) ermittelt werden; denn nur diese stellen Zeugnisse aus. <strong>Die</strong> Erfahrungen<br />

der Lehrkräfte, die ausschließlich als Fachlehrer(innen) gearbeitet haben (und als solche<br />

natürlich auch Leistungsbewertungen vorgenommen haben), werden hier nicht erfasst. Im<br />

Gegensatz zur Grundschule stellen reine Verbalbeurteilungen in den Schulformen der<br />

Sekundarstufe eher die Ausnahme dar: In unserer Stichprobe hingegen gibt es einen recht<br />

ansehnlichen Anteil von Personen, die Erfahrungen mit Berichtszeugnissen an der<br />

Sekundarstufe gesammelt haben; dies war allerdings auch Kriterium bei der Auswahl der<br />

Schulen, so dass an dieser Stelle kein Rückschluss auf die gesamte <strong>Hamburg</strong>er Lehrerschaft<br />

gezogen werden darf. Ebenfalls muss hier deutlich gemacht werden, dass diese Erfahrungen<br />

vor allem in den Gesamtschulen vertreten sind. In unserer Stichprobe sind es zwei Drittel der<br />

Lehrenden an den Gesamtschulen, die Erfahrungen mit Berichtszeugnissen gesammelt haben.<br />

Von den befragten Haupt- und Realschullehrern geben immerhin 23% an, bereits<br />

Berichtszeugnisse erstellt zu haben. Unter den Lehrenden am Gymnasium gibt es – von einer


<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 53<br />

Ausnahme abgesehen 7 – hingegen keine Erfahrungen mit dieser Zeugnisform. Anders ist die<br />

Situation bei der Zeugnisform „<strong>Noten</strong> mit Kommentarbogen": Fast 90% der<br />

Gesamtschullehrkräfte in unserer Stichprobe geben Erfahrungen damit an, gut 60% der<br />

Haupt- und Realschullehrer(innen) und knapp die Hälfte der Lehrenden (27) am Gymnasium.<br />

Erfahrungen mit reinen <strong>Noten</strong>zeugnissen hat in allen Sekundarschulformen die große<br />

Mehrheit der Lehrer(innen): 72% an Haupt-/Realschulen, 79% an Gesamtschulen, 82% an<br />

Gymnasien. <strong>Die</strong> übrigen haben als reine Fachlehrer bisher keine Zeugnisse abgefasst.<br />

<strong>Die</strong> Nennung aller Skalenwerte für jede dieser Untergruppen würde zu einer extrem<br />

unübersichtlichen Darstellung führen, deshalb fassen wir die Unterschiede wie folgt<br />

zusammen (ohne Tabelle): Wer in der Sekundarstufe Berichtszeugnisse schreibt, steht diesen<br />

auch besonders positiv gegenüber. <strong>Die</strong>s gilt auch dann, wenn Lehrergruppen innerhalb einer<br />

Schulform miteinander verglichen werden. Mit anderen Worten: Das Schreiben von<br />

Verbalbeurteilungen steht in einem positiven Zusammenhang mit der Zustimmung zu dieser<br />

Zeugnisform. <strong>Die</strong>s ist insofern plausibel, als das Verfassen von <strong>Berichte</strong>n in der<br />

Sekundarstufe nur in Schulversuchen <strong>oder</strong> auf besonderen Beschluss der Schulkonferenz<br />

erfolgt, und man daher ein besonders engagiertes Kollegium an diesen Schulen vermuten<br />

kann.<br />

<strong>Die</strong> Unterscheidung der Lehrenden in diejenigen mit Erfahrungen mit der Zeugnisform NZK<br />

und denen ohne diese Erfahrung bringt keine so eindeutigen Unterschiede. Möglicherweise<br />

polarisiert diese Zeugnisversion die Einstellungen der Lehrenden nicht im gleichen Maße wie<br />

die reinen <strong>Berichte</strong>. Dennoch findet sich auch hier die Tendenz: Wer Texte (hier zusätzlich zu<br />

den einzelnen Fachnoten) in das Zeugnis schreibt, ist gegenüber <strong>Noten</strong> skeptischer und steht<br />

Verbalbeurteilungen aufgeschlossener gegenüber. Besonders die Zustimmung in der Skala<br />

„Vorteile der <strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen” ist in dieser Gruppe sehr ausgeprägt und<br />

signifikant höher als in der Vergleichsgruppe. Insgesamt sind die Unterschiede aber nicht<br />

mehr so gravierend wie bei der vorherigen Unterscheidung (Erfahrung mit <strong>Berichte</strong>n in der<br />

Sekundarstufe). Es sind auch nicht mehr alle Unterschiede in den Skalenwerten signifikant.<br />

Nachdem wir auf diese Weise den Einfluss der Erfahrungen mit verschiedenen<br />

Zeugnisformen (und zwar bezogen auf die gesamte Berufslaufbahn) ermittelt haben, geht es<br />

im Folgenden um das zuletzt erstellte Zeugnis.<br />

7 Da es an <strong>Hamburg</strong>er Gymnasien keine Berichtszeugnisse gibt, muss diese eine Lehrkraft ihre Erfahrung an<br />

einer anderen Schulform gesammelt haben (z.B. Teilabordnung an eine Grundschule).


Seite 54 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

Gefragt wurde: „Welche Zeugnisse haben Sie am Ende des letzten Schuljahres (Juni/Juli)<br />

hauptsächlich erstellt?” <strong>Die</strong> Situation stellt sich hier allerdings anders dar als in der<br />

Primarstufe: 325 Lehrende in der Sekundarstufe haben als Klassenlehrer(-in) Zeugnisse<br />

geschrieben; eine Minderheit von 57 hat reine Berichtszeugnisse, 138 haben <strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

mit Kommentarbogen und weitere 134 haben reine <strong>Noten</strong>zeugnisse erstellt. 118 Personen<br />

geben an, dieses Jahr keine Zeugnisse geschrieben zu haben, da sie nicht als Klassenlehrer(in)<br />

eingesetzt waren. Vergleicht man nun die Ergebnisse der Einstellungsskalen anhand dieser<br />

Gruppierungen, so zeigt sich ein Ergebnis, das von der Datenlage in der Grundschule völlig<br />

verschieden ist:<br />

Tabelle 2/16: Einstellungen zu Zensuren und Zeugnissen – nach zuletzt erstelltem Zeugnis<br />

in der Sekundarstufe (Mittelwerte)<br />

Einstellungsskalen<br />

Skala L1: „Generelle<br />

Ablehnung von Zensuren<br />

und Zeugnissen”<br />

Skala L2: „Vorteile der<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse”<br />

Skala L3: „Vorteile der<br />

Berichtszeugnisse”<br />

Skala L4: „Vorteile der<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse mit<br />

Kommentarbogen“<br />

Berichtszeugnisse<br />

in<br />

der Sekundarstufe<br />

I<br />

(n = 57)<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

mit Kommentarbogen<br />

in der<br />

Sekundarstufe I.<br />

(n = 138)<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

in der<br />

Sekundarstufe I<br />

(n = 134)<br />

Gesamt<br />

(N = 329)<br />

2,42 2,12 2,20 2,23<br />

2,76 3,12 3,31 3,14<br />

4,04 3,59 3,47 3,61<br />

4,38 4,17 3,96 4,11<br />

Signifikant ist hier nur der Unterschied bei Skala L3. Insgesamt lässt sich somit sagen: <strong>Die</strong><br />

Unterschiede in den Einstellungen der Sekundarschullehrer(innen) sind nicht sehr gravierend,<br />

wenn nach erstellten Zeugnisformen differenziert wird. <strong>Die</strong>s weist zunächst einmal darauf<br />

hin, dass die jeweilige Zeugnispraxis in der Sekundarstufe weit weniger stark als in der<br />

Grundschule von entsprechenden pädagogischen Überzeugungen begleitet wird. Über die<br />

Gründe dafür hoffen wir, in den qualitativen Fallstudien einiges in Erfahrung zu bringen.<br />

2.3.2 Unterschiedliche Arbeitsbelastung bei der Zeugniserstellung<br />

In dem verwendeten Fragebogen sind die Befragten aufgefordert worden, ihre<br />

Arbeitsbelastung bei der Erstellung von Zeugnissen einzuschätzen. <strong>Die</strong> Erfassung dieser<br />

Arbeitsbelastung haben wir in mehreren Schritten vorgenommen: Zunächst waren die<br />

Klassenlehrer(innen) gebeten, die Anzahl der Zeugnisse anzugeben, die sie am Ende des


<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 55<br />

letzten Schuljahres erstellt haben. In einer weiteren Frage sollten sie einschätzen, wie viel Zeit<br />

sie insgesamt für die Erstellung dieser Zeugnisse aufgewendet haben. Um auch die Arbeit der<br />

Fachlehrer(innen) einschätzen zu können, haben wir auch gefragt, bei wie vielen Zeugnissen<br />

sie zugearbeitet haben und wie viel Zeit dazu benötigt wurde.<br />

2.3.2.1 Anzahl der erstellten Zeugnisse<br />

Auf die Frage: „Schätzen Sie bitte ein, wie viele Zeugnisse Sie am Ende des letzten<br />

Schuljahres (als Klassenlehrer/-in) erstellt haben" äußerten sich insgesamt 429<br />

Lehrer(innen), davon entfällt in unserer Stichprobe der größte Anteil auf Gesamtschulen<br />

(44%), ein weiterer Anteil (31%) auf die Grundschulen, 18% auf die Haupt- und Realschulen<br />

und nur ein kleiner Teil auf Gymnasien (7%). Wie zu erwarten war, hatte der größte Teil<br />

(etwa zwei Drittel) der Lehrenden zwischen 20 und 30 Zeugnisse zu erstellen. Nur wenige<br />

Lehrkräfte schreiben mehr, die übrigen (knapp ein Drittel) weniger. Es zeigt sich, dass die<br />

Angaben leichte schulformspezifische Unterschiede aufweisen: In der Grundschule, den<br />

Haupt-/Realschulen sowie den Gesamtschulen werden von gut zwei Drittel der<br />

Klassenlehrer(innen) zwischen 20 und 30 Zeugnisse geschrieben, ein Drittel schreibt weniger.<br />

Ähnlich sind die Antworten in den Gesamtschulen und an den Haupt- und Realschulen<br />

verteilt, während an den Gymnasien im Durchschnitt mehr Zeugnisse geschrieben werden.<br />

Insgesamt gilt aber, dass bei den weitaus meisten (95%) Klassenlehrer(innen) die Anzahl der<br />

zu schreibenden Zeugnisse zwischen 10 und 30 liegt. Nur wenige von ihnen (insgesamt 3,3%)<br />

haben weniger als 10 Zeugnisse geschrieben. Noch weniger (insgesamt nur 1,6 %) geben an,<br />

mehr als 30 Zeugnisse geschrieben zu haben.<br />

2.3.2.2 Zeitaufwand für die Erstellung von Zeugnissen<br />

<strong>Die</strong> nächste Frage zielte auf die zeitliche Arbeitsbelastung durch das Schreiben dieser<br />

Zeugnisse ab: „Schätzen Sie ein, wie viele Stunden Sie für das Erstellen dieser Zeugnisse am<br />

Ende des letzten Schuljahres benötigt haben.” <strong>Die</strong> insgesamt 424 Antworten zu dieser Frage<br />

differieren ganz erheblich. Während 27,6% der Befragten angeben, weniger als 10 Stunden<br />

gebraucht zu haben, geben immerhin 16,7 % an, über 50 Stunden dazu benötigt zu haben. <strong>Die</strong><br />

Spannweite reicht bis zur Aussage von einigen Lehrkräften, mehr als 100 Stunden dafür<br />

aufgewendet zu haben. Da uns die z. T. sehr hohen Werte verwundert haben, sind wir einigen<br />

Vermutungen nachgegangen, um diese Extrembelastungen näher einzugrenzen. „Extrem<br />

belastet” nennen wir im Folgenden diejenigen, die für das Schreiben von Zeugnissen einen


Seite 56 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

Zeitaufwand von mehr als 40 Stunden nennen. Es zeigt sich, dass diese Extrembelastungen<br />

vor allem in Grundschulen vorkommen, weniger in Gesamtschulen und Haupt-/Realschulen<br />

und quasi gar nicht in Gymnasien. <strong>Die</strong> naheliegendste Vermutung, dass diejenigen, die<br />

überdurchschnittlich viele Zeugnisse zu schreiben haben, auch besonders viel Zeit dafür<br />

aufwenden, hat sich erstaunlicherweise nicht bestätigt. Vielmehr schreibt ein ganz erheblicher<br />

Teil der „extrem Belasteten” sogar unterdurchschnittlich viele Zeugnisse. Dann haben wir<br />

vermutet, dass es vor allem die jüngeren Lehrkräfte sein dürften, die noch unsicher in ihrer<br />

Arbeit sind und daher einen höheren Zeitaufwand benötigen. <strong>Die</strong>se Annahme hat sich<br />

ebenfalls nicht bestätigt. Es gibt in unseren Daten keinen Zusammenhang zwischen dem<br />

<strong>Die</strong>nstalter und der geäußerter Arbeitsbelastung. Auch die Vermutung, dass sich die hoch<br />

belasteten Personen auf wenige Schulen konzentrieren, hat sich nicht bestätigt. <strong>Die</strong> Frage<br />

nach der Ursache der Extrembelastung ist einerseits bisher noch nicht ausreichend geklärt,<br />

andererseits ist sie aber auch nicht zu vernachlässigen – immerhin sind es mehr als 27%, die<br />

angeben, mehr als 40 Stunden für das Schreiben von Zeugnissen aufgewendet zu haben. Zu<br />

einem gewissen Anteil findet sich die hohe Belastung bei denjenigen, die nicht<br />

vollzeitbeschäftigt sind. Zu vermuten ist hier, dass sich diese Lehrkräfte mehr Zeit für diese<br />

Aufgabe nehmen, weil ihr Zeitdeputat insgesamt nicht so eng ist. Es sind allerdings nicht nur<br />

die Lehrenden extrem belastet, die Berichtszeugnisse schreiben; vielmehr geben auch solche,<br />

die <strong>Noten</strong>zeugnisse verfassen, mitunter einen sehr hohen Zeitaufwand an. Doch selbst wenn<br />

man an der Validität der Angaben Zweifel anmelden mag, so sind sie doch zumindest ein<br />

Ausdruck subjektiver Belastung und als solche ernst zu nehmen. Wegen der gravierenden<br />

Unterschiede zwischen den Schulstufen stellen wir die Ergebnisse für die Primar- und<br />

Sekundarstufe gesondert dar. Dabei untersuchen wir, welche Zusammenhänge zwischen der<br />

Arbeitsbelastung, der Form der Zeugnisse und (in der Sekundarstufe I) der Schulform besteht.<br />

Primarstufe<br />

Wir unterteilen die Gruppe der Klassenlehrer(innen) in der Primarstufe nach den Formen der<br />

Zeugnisse, die sie am Ende des letzten Schuljahres erstellt haben. Von den 132 auswertbaren<br />

Fällen fallen 70 auf die „Berichtszeugnisse in den 1. und 2. Klassen”. 41 haben<br />

„Berichtszeugnisse in den 3. und 4. Klassen“ geschrieben, 21 „<strong>Noten</strong>zeugnisse in den 3. und<br />

4. Klassen“. In Tabelle 2/16 präsentieren wir die Angaben zur Arbeitsbelastung, differenziert<br />

nach dieser Einteilung. <strong>Die</strong> angegebenen Werte wurden in Zehnerintervalle zusammengefasst,<br />

um sie übersichtlich zu halten.


<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 57<br />

Tabelle 2/17: Zeitaufwand für das Erstellen der Zeugnisse in der Primarstufe<br />

18 „Schätzen Sie ein, wie viele Stunden Sie für das Erstellen dieser Zeugnisse am Ende des letzten<br />

Schuljahres benötigt haben (ohne Zeugniskonferenzen)“:<br />

Berichtszeugnisse<br />

in<br />

den Klassen<br />

1 und 2<br />

Berichtszeugnisse<br />

in<br />

den Klassen<br />

3 und 4<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

in<br />

den Klassen<br />

3 und 4<br />

Grundschule<br />

gesamt<br />

Anzahl n = 66* n = 39* n = 22* N =132<br />

bis zu 10 Stunden 6,1% 0 9,1% 5%<br />

zw. 10 und 20<br />

zw. 20 und 30<br />

7,6%<br />

13,6%<br />

2,6%<br />

15,4%<br />

13,6%<br />

18,2%<br />

8%<br />

15%<br />

(= 28%)<br />

zw. 30 und 40 9,1% 15,4% 18,2% 12%<br />

zw. 40 und 50 18,0% 15,4% 13,6% 17%<br />

zw. 50 und 60 9,1% 23,1% 13,6% 15%<br />

zw. 60 und 70 3,0% 7,7% 0 4%<br />

zw. 70 und 80 13,6% 10,3% 0 10%<br />

zw. 80 und 90 3,0% 2,6% 4,5% 3%<br />

zw. 90 und 100 9,1% 5,1% 0 6%<br />

mehr als 100 Stunden 7,6% 2,6% 9,1% 6%<br />

Mittelwert der aufgewendeten<br />

Stunden<br />

58h 53h 47h 55 h<br />

(= 15%)<br />

* Wenn hier unüblicherweise auch bei absoluten Werten unter 100 die Prozentangaben gemacht werden, so um<br />

die Vergleichbarkeit mit den übrigen Werten zu gewährleisten.<br />

<strong>Die</strong> Tabelle zeigt zunächst, dass die Einschätzungen der eigenen Zeitbelastung breit streuen:<br />

Während 28% der Klassenlehrer(innen) bis zu 30 Stunden aufwenden, geben 15% an, 80<br />

Stunden und mehr benötigt zu haben. <strong>Die</strong> „mittlere” Belastung scheint hier zwischen 40 und<br />

60 Stunden zu liegen. In der folgenden Tabelle wird diese Zeiteinschätzung präzisiert, indem<br />

die durchschnittliche Anzahl der erstellten Zeugnisse mit einbezogen wird, um auf dieser<br />

Basis eine Durchschnittszeit pro Zeugnis zu berechnen.<br />

Tabelle 2/18: Arbeitsaufwand für das Erstellen der Zeugnisse – nach Zeugnisform in<br />

der Primarstufe<br />

Zeugnisform Anzahl der<br />

erstellten Zeugnisse<br />

(Durchschnitt)<br />

Berichtszeugnis in Klasse<br />

1 und 2<br />

Berichtszeugnis in Klasse<br />

3 und 4<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis in Klasse<br />

3 und 4<br />

Primarstufe gesamt<br />

gesamte dafür<br />

verwendete Zeit<br />

Zeit pro Zeugnis<br />

22 58h 2 Stunden 36 Min.<br />

21 53h 2 Stunden 30 Min.<br />

22 47h 2 Stunden 6 Min.<br />

22 55h 2 Stunden 30 Min.


Seite 58 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

Während die Anzahl der zu schreibenden Zeugnisse im Schnitt gleich bleibt (um die 22), liegt<br />

die aufgewendete Zeit bei Berichtszeugnissen in den 3. und 4. Klassen um etwa sechs<br />

Stunden höher als bei den <strong>Noten</strong>zeugnissen. Für die Berichtszeugnisse in den ersten beiden<br />

Klassen werden im Durchschnitt sogar etwa elf Stunden mehr aufgewendet. Aus den Angaben<br />

der Grundschullehrer(innen) wird also deutlich, dass das Anfertigen eines Berichtszeugnisses<br />

etwa eine halbe Stunde länger dauert als das eines <strong>Noten</strong>zeugnisses. Abbildung 2/19<br />

veranschaulicht diese Differenzen grafisch.<br />

Abbildung2/19: Arbeitsbelastung durch Zeugnisschreiben in der Primarstufe<br />

Es zeigt sich, dass für das Erstellen von Berichtszeugnissen mehr Zeit benötigt wird als für<br />

die Erstellung von <strong>Noten</strong>zeugnissen. <strong>Die</strong> Unterschiede liegen allerdings im nicht-<br />

signifikanten Bereich.<br />

Sekundarstufe I<br />

Wie bereits ausgeführt, erweist sich, dass Klassenlehrer(innen) für das Erstellen von<br />

Zeugnissen in der Sekundarstufe generell weniger Zeit aufwenden als in der Primarstufe: Hier<br />

werden auch deutliche Unterschiede ersichtlich, die mit der Schulform zusammenhängen und<br />

die vor allem auf die Art der Zeugnisse zurückzuführen sind.


<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 59<br />

Tabelle 2/20: Zeitaufwand für das Erstellen von Zeugnissen in der Sekundarstufe I<br />

18 Schätzen Sie ein, wie viele Stunden Sie für das Erstellen dieser Zeugnisse am Ende des letzten<br />

Schuljahres benötigt haben (ohne Zeugniskonferenzen):<br />

Haupt-/Realschule<br />

Gymnasium Gesamtschule Sekundarstufe<br />

gesamt<br />

Anzahl n = 75* n = 30* n = 187 N = 292<br />

bis zu 10 Stunden 29,3 % 60,0 % 38,0 % 38,0%<br />

zw. 10 und 20 26,7 % 23,3 % 29,4 % 28,1% (= 73%)<br />

zw. 20 und 30 28,0 % 6,7 % 13,4% 16,4%<br />

zw. 30 und 40 9,3 % 3,3 % 6,4 % 6,8%<br />

zw. 40 und 50 2,7 % 0 9,4 % 6,2%<br />

zw. 50 und 60 1,3 % 3,3 % 1,1 % 1,4%<br />

zw. 60 und 70 0 3,3 % 0 0,3%<br />

zw. 70 und 80 1,3 % 0 1,1 % 1,0%<br />

zw. 80 und 90 0 0 0 0<br />

zw. 90 und 100 1,3 % 0 1,6 % 1,4% (= 2%)<br />

mehr als 100 Stunden 0 0 0,5 % 0,3%<br />

Mittelwert der aufgewendeten<br />

Stunden<br />

22h 14h 21h 21h<br />

* Wenn hier unüblicherweise auch von absoluten Werten unter 100 die Prozentangaben gemacht werden, so um<br />

die Vergleichbarkeit mit den übrigen Werten zu gewährleisten.<br />

Auch hier streut die Einschätzung der eigenen Arbeitsbelastung sehr stark; während etwa 38%<br />

angeben, weniger als 11 Stunden aufzuwenden, schätzen 2% ihren Arbeitsaufwand mit mehr<br />

als 80 Stunden ein. <strong>Die</strong> mittlere Belastung scheint hier etwa bei 15 Stunden zu liegen. Damit<br />

wird deutlich, dass Klassenlehrer(innen) der Sekundarstufe ihre Arbeitsbelastung wesentlich<br />

geringer einschätzen als Klassenlehrer(innen) der Primarstufe. Betrachtet man die<br />

Schulformunterschiede in der Sekundarstufe, so zeigt sich: An den Gymnasien wird ca. ein<br />

Drittel weniger an Zeit gebraucht (ca. 14 h) als an den Haupt- und den Realschulen <strong>oder</strong> den<br />

Gesamtschulen (22 bzw. 21 h). <strong>Die</strong>s gilt sogar, obwohl im Durchschnitt die Anzahl an<br />

geschriebenen Zeugnissen am Gymnasium höher liegt. Weiter unten werden wir sehen, dass<br />

sich diese Differenzen zu einem großen Teil aus den unterschiedlichen Zeugnisformen, die an<br />

den Schulen ausgestellt werden, ergeben. In der folgenden Tabelle 2/21 wird dargestellt, wie<br />

stark die Arbeitsbelastung der Klassenlehrer(innen) in der Sekundarstufe variiert, wenn<br />

unterschiedliche Zeugnisformen ausgegeben werden. In der Gruppe der Sekundarstufen-<br />

lehrer(innen) differiert weniger die Anzahl der zu schreibenden Zeugnisse – ca. 20 bei BZ und<br />

ca. 23 bei NZ mit <strong>oder</strong> ohne Kommentarbogen – als vielmehr die Zeit, die dafür aufgewendet<br />

wird. Der Mittelwert der Gesamtzeit für das Zeugnisschreiben weist folgende Unterschiede<br />

auf:


Seite 60 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

Tabelle 2/21: Arbeitsaufwand für das Erstellen der Zeugnisse – nach Zeugnisform in<br />

der Sekundarstufe I<br />

Zeugnisform Anzahl der<br />

erstellten Zeugnisse<br />

(Durchschnitt)<br />

Berichtszeugnisse in der<br />

Sekundarstufe I (n = 48)<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse mit<br />

Kommentarbogen (n = 114)<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse ohne<br />

Kommentarbogen (n = 130)<br />

Gesamt Sek. I (N = 292)<br />

gesamte dafür<br />

verwandte Zeit<br />

Zeit pro Zeugnis<br />

20,4 36,3h 1 Stunde 48 Min.<br />

23,7 24,6h 1 Stunde<br />

23,1 13,4h 36 Minuten<br />

22,9 20,9h 56 Minuten<br />

<strong>Die</strong> Tabelle zeigt, dass sich der zeitliche Aufwand zwischen verschiedenen Zeugnisformen in<br />

der Sekundarstufe I deutlicher unterscheidet. <strong>Die</strong> nachfolgende Abbildung 2/22 stellt dies<br />

grafisch dar.<br />

Abbildung 2/22: Arbeitsbelastung durch Zeugnisschreiben in der Sekundarstufe I<br />

<strong>Die</strong> Werte zeigen, dass in der Sekundarstufe im Durchschnitt dreimal so viel Zeit für ein<br />

Berichtszeugnis (1 Stunde 48 Minuten) aufgewendet wird als für ein reines <strong>Noten</strong>zeugnis (36<br />

Minuten). <strong>Die</strong> kombinierte Version – <strong>Noten</strong> mit Kommentarbogen – liegt mit einer Stunde<br />

pro Zeugnis dazwischen. <strong>Die</strong>se Unterschiede in der Gruppe der Sekundarstufenlehrkräfte sind<br />

signifikant. Insgesamt ist aber der Aufwand pro Zeugnis deutlich geringer als in den


<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 61<br />

Grundschulen: Während der Abstand bei den Berichtszeugnissen (1,8 zu 2,5 Stunden)<br />

deutlich ist, ist er bei den <strong>Noten</strong>zeugnissen (0,6 zu 2,1) erheblich: <strong>Die</strong> Grundschullehrkräfte<br />

brauchen – immer nach eigenen Angaben – für ein <strong>Noten</strong>zeugnis 3,5-mal so viel Zeit wie die<br />

Lehrkräfte der Sekundarschulen. <strong>Die</strong> Erklärung dieser erheblichen Diskrepanzen liegt unter<br />

Umständen in folgenden Punkten: Zu verweisen ist zunächst einmal darauf, dass eine<br />

Klassenlehrerin <strong>oder</strong> ein Klassenlehrer in der Sekundarstufe nicht so viele Fächer zu<br />

beurteilen hat wie eine Klassenlehrerin in der Grundschule, so dass sich allein deshalb schon<br />

der Aufwand für ein Zeugnis erheblich reduziert; denn dem Sekundarstufenlehrer wird ein<br />

größerer Teil der Beurteilungsarbeit durch die zuarbeitenden Fachlehrer abgenommen.<br />

Insbesondere der hohe Zeitaufwand für <strong>Noten</strong>zeugnisse in der Primarstufe erklärt sich<br />

möglicherweise damit, dass die Kommentare zum Arbeits- und Sozialverhalten in der<br />

Grundschule ausführlicher ausfallen.<br />

2.3.3 Arbeitsbelastung und Einstellung zu Zeugnisformen<br />

Im Folgenden gehen wir der Frage nach, ob ein Zusammenhang zwischen der (selbst<br />

eingeschätzten) Arbeitsbelastung der Lehrkräfte und ihren Einstellungen zu Zeugnissen und<br />

Zensuren besteht. Zu Anfang dieses Kapitels haben wir dazu die folgende Hypothese<br />

formuliert:<br />

„c) Je höher der Zeitaufwand bei der Zeugniserstellung ist, desto skeptischer ist<br />

die Bewertung der Berichtszeugnisse, und desto positiver ist die Bewertung von<br />

<strong>Noten</strong>zeugnissen.”<br />

Bei der Formulierung dieser Hypothese sind wir von der Überlegung ausgegangen, dass die<br />

zeitliche Arbeitsbelastung für Lehrer(innen) ein wichtiger Faktor bei der eigenen<br />

Positionsbestimmung ist – und dass sich diese eher ungünstig für Berichtszeugnisse auswirkt.<br />

Um diese Hypothese zu prüfen, haben wir die Lehrkräfte nach ihrer Arbeitsbelastung in vier<br />

Gruppen eingeteilt. Etwa ein Viertel der Angaben (27%) lagen in der Antwortkategorie „bis<br />

zu 10 Stunden”. <strong>Die</strong>se Gruppe wird im Folgenden als mit „sehr niedrige Arbeitsbelastung”<br />

bezeichnet, in der zweiten Kategorie „zwischen 10 und 20 Stunden” lagen weitere 21,5% der<br />

Antworten. <strong>Die</strong>se nennen wir „niedrig belastet”. <strong>Die</strong> nächste Gruppe umfasst ein weiteres<br />

Viertel der Antworten: Ein Zeitaufwand von 20 bis 40 Stunden kennzeichnet die „hoch<br />

belasteten”. <strong>Die</strong> übrigen 27,2% machen die „extrem hoch belasteten” aus (s. o). <strong>Die</strong> folgende<br />

Tabelle zeigt, ob es zwischen diesen Gruppen Unterschiede in den Einstellungen (Skalen-<br />

Mittelwerte) gibt.


Seite 62 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

Tabelle 2/23: Einstellung zu Zeugnisformen – nach Arbeitsbelastung (Mittelwerte)<br />

sehr niedrige<br />

Arbeitsbelastung<br />

niedrige<br />

Arbeitsbelastung<br />

hohe<br />

Arbeitsbelastung<br />

extrem hohe<br />

Arbeitsbelastung<br />

Anzahl N = 431 n = 116 n = 93 n = 104 n = 118<br />

Skala L1. „Generelle Ablehnung von<br />

Zeugnissen und Zensuren”<br />

Skala L2: „Vorteile der<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse”<br />

Skala L3: „Vorteile der<br />

Berichtszeugnisse”<br />

Skala L4: „Vorteile der <strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

mit Kommentarbogen”<br />

2,32 2,22 2,25 2,52<br />

3,14 3,03 2,88 2,39<br />

3,59 3,62 3,76 3,96<br />

4,02 4,08 4,28 4,36<br />

Ein Blick auf die Tabelle zeigt, dass der erwartete Zusammenhang nicht besteht. Bei keiner<br />

der vier Einstellungsdimensionen vertreten die zeitlich hoch belasteten Lehrkräfte<br />

Einstellungen, die zensurenfreundlicher sind. In der Tendenz gilt sogar das Gegenteil: <strong>Die</strong><br />

Gruppe mit der höchsten Arbeitsbelastung steht in ihren Einschätzungen deutlich stärker auf<br />

Seiten von Berichtszeugnissen (Skala L3) und gibt auf der anderen Seite auch stärkere<br />

Skepsis gegenüber <strong>Noten</strong> an (Skala L2). Zugleich spricht sie sich deutlich positiver zu den<br />

<strong>Noten</strong>zeugnissen mit Kommentarbogen aus (Skala L4). Bei allen drei Skalen sind die<br />

Unterschiede zu anderen Gruppen signifikant. <strong>Die</strong>se Einstellung wird auch an zwei<br />

Einzelaussagen deutlich, in denen wir die Arbeitsbelastung explizit ansprechen. Hier die<br />

Mittelwertergebnisse – differenziert nach den vier Kategorien zur Arbeitsbelastung:<br />

Tabelle 2/24: Aussagen zu den Items 117 und 122 – nach Arbeitsbelastung (Mittelwerte)<br />

sehr niedrige<br />

Arbeitsbelastung<br />

niedrige<br />

Arbeitsbelastung<br />

hohe<br />

Arbeitsbelastung<br />

extrem hohe<br />

Arbeitsbelastung<br />

Anzahl N = 409 n = 112 n = 85 n = 98 n = 114<br />

117 Zensuren lassen sich effektiver<br />

ermitteln als Lernberichte.<br />

122 Weil die Arbeitsbelastung der<br />

Lehrer(innen) generell zu hoch ist, bin<br />

ich für <strong>Noten</strong>zeugnisse.<br />

3,32 3,71 3,38 2,75<br />

3,03 3,03 2,52 2,08<br />

<strong>Die</strong> Werte dieser Aussagen liegen – wie auch schon die präsentierten Skalenmittelwerte -<br />

völlig konträr zu unserer anfangs formulierten Hypothese. Tatsächlich finden sich ablehnende


<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 63<br />

Werte zu der Aussage 117 (Effektivität von Zensuren) vor allem bei denjenigen, die eine<br />

extrem hohe Arbeitsbelastung angeben. Der fett gedruckte Wert differiert signifikant zu den<br />

übrigen. Auch die Aussage 122 findet die stärkste Ablehnung in dieser Gruppe. Signifikant<br />

sind die Unterschiede zwischen den unterstrichenen Werten. Es lässt sich also<br />

zusammenfassen, dass die Präferenz für <strong>Berichte</strong> durch eine überdurchschnittlich hohe<br />

Arbeitsbelastung nicht gebrochen wird. Es scheint eher so zu sein, dass sich die<br />

Lehrer(innen), die sich für <strong>Berichte</strong> engagieren und diese für gut heißen, dies im Bewusstsein<br />

der damit verbundenen Mehrarbeit tun und diese billigend in Kauf nehmen.<br />

An dieser Stelle lassen sich unsere Ergebnisse wie folgt zusammenfassen:<br />

(1) Lehrkräfte bevorzugen ganz überwiegend die Zeugnisform, die sie gegenwärtig tatsächlich<br />

ausstellen. <strong>Die</strong>s gilt für die Primarstufenlehrer(innen), die weit überwiegend<br />

Berichtszeugnisse schreiben, genauso wie für die <strong>Noten</strong> schreibenden<br />

Gymnasiallehrer(innen). Allerdings sind innerhalb der Grundschullehrerschaft die<br />

Meinungen deutlich polarisierter als in der Sekundarstufe.<br />

(2) Bei der selbstberichteten Arbeitsbelastung stoßen wir auf breit streuende Angaben.<br />

Deutlich wird dabei, dass Klassenlehrer(innen) an Grundschulen sich wesentlich stärker<br />

belastet fühlen als die an Sekundarschulen. Während in der Sekundarstufe die Zeugnisform<br />

(Bericht <strong>oder</strong> Note) deutlich den Zeitverbrauch beeinflusst, ist dies in der Primarstufe<br />

erstaunlicherweise nicht der Fall.<br />

(3) Unsere Hypothese, dass eine hohe zeitliche Belastung zur Ablehnung von<br />

Berichtszeugnissen führt, konnte widerlegt werden. Im Gegenteil: Über alle Schulformen<br />

hinweg lässt sich sogar die Tendenz feststellen, dass bei hoher Arbeitsbelastung die<br />

Berichtszeugnisse besonders positiv eingeschätzt werden.


Seite 64 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

2.4 Lehrereinstellungen: Strukturen und Verflechtungen<br />

<strong>Die</strong> bisherigen Ergebnisse – vor allem die schulformspezifischen Unterschiede - lassen bereits<br />

auf typische Einstellungskonstellationen schließen, die zu Beginn diese Kapitels als<br />

Hypothesen formuliert wurden. <strong>Die</strong> dort geäußerte Vermutung, dass sich eine Befürwortung<br />

von <strong>Noten</strong>zeugnissen sowohl zu einer Präferenz von <strong>Berichte</strong>n als auch zu einer generellen<br />

Skepsis gegenüber der Bewertungsfunktionen der Schule konträr verhält, soll nun überprüft<br />

werden. Ebenfalls werden die noch offen gelassenen Zusammenhänge zu der Skala „Vorteile<br />

der <strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen“ ausgefüllt. Im Folgenden werden die<br />

Zusammenhänge zwischen den Einstellungsskalen durch Korrelationskoeffizienten 8<br />

veranschaulicht:<br />

Tabelle 2/24: Korrelationen zwischen den einzelnen Einstellungsskalen<br />

Skala L1. „Generelle<br />

Ablehnung von Zeugnissen<br />

und Zensuren”<br />

Skala L2: „Vorteile der<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse”<br />

Skala L3: „Vorteile von<br />

Berichtszeugnissen”<br />

Skala L2: „Vorteile<br />

der <strong>Noten</strong>zeugnisse”<br />

-,584<br />

Skala L3: „Vorteile<br />

von Berichtszeugnissen”<br />

,497<br />

-,750<br />

Skala L4: „Vorteile der<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse mit<br />

Kommentarbogen”<br />

,152<br />

-,360<br />

• Der stärkste Zusammenhang besteht mit -,75 zwischen den Skalen L2 und L3. Er<br />

veranschaulicht, dass – wie vermutet – die Zustimmung zu <strong>Noten</strong> (Skala L2) im negativen<br />

Zusammenhang steht mit der Befürwortung von <strong>Berichte</strong>n (Skala L3). Anders formuliert:<br />

Wer die <strong>Berichte</strong> präferiert, steht in der Tendenz den <strong>Noten</strong> ablehnend gegenüber. Eine<br />

deutliche Zustimmung zu den Vorteilen der <strong>Noten</strong> steht im klaren Gegensatz zu einem<br />

Engagement für <strong>Berichte</strong> – und umgekehrt.<br />

• Zwei weitere Werte liegen bei 0,5 und deuten damit ebenfalls auf deutliche<br />

Zusammenhänge hin. Sie beziehen sich auf die Verflechtungen der Skalen L1, L2 und L3.<br />

<strong>Die</strong> Interpretation dieser Zusammenhänge lautet wie folgt: <strong>Die</strong> generelle Ablehnung von<br />

Zeugnissen und Zensuren (Skala L1) steht in negativem Zusammenhang zu den Vorteilen<br />

von <strong>Noten</strong>zeugnissen (Skala L2). Damit geht die Zustimmung zu <strong>Noten</strong> auch einher mit<br />

8 Da bei den Verteilungen zu den Skalen nicht durchgängig von Normalverteilung ausgegangen werden kann,<br />

verwenden wir einen nicht-parametrischen Korrelationskoeffizienten (nach Spearman).<br />

,414


<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 65<br />

einer höheren Zustimmung zur Bewertungsaufgabe der Schule durch Zeugnisse. Der<br />

positive Zusammenhang mit den Vorteilen der Berichtszeugnisse (Skala L3) zeigt, dass mit<br />

der Zustimmung zu Verbalbeurteilungen auch die Skepsis gegenüber der allgemeinen<br />

Bewertungsaufgabe der Schule ausgeprägter ist. Oder anders gewendet: Wer Zeugnissen<br />

generell kritisch gegenübersteht, plädiert eher für Berichtszeugnisse als für<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse.<br />

• Weitere nennenswerte Koeffizienten erscheinen bei der Skala L4, welche die<br />

Befürwortung von Kommentarbögen zu <strong>Noten</strong> darstellt. Sie verdeutlichen, dass diese<br />

Zwischenform von Zeugnissen in einem positiven Zusammenhang mit der Befürwortung<br />

von <strong>Berichte</strong>n steht, aber in einem negativen Zusammenhang mit der Skala L2 (Vorteile<br />

von <strong>Noten</strong>zeugnissen). <strong>Die</strong>s bedeutet: Eine ausgeprägte Zustimmung zu <strong>Noten</strong>zeugnissen<br />

geht einher mit einer etwas verhalteneren Zustimmung zu einem zusätzlichen<br />

Kommentarbogen zu den <strong>Noten</strong> – eine ausgeprägte Zustimmung zu Berichtszeugnissen<br />

hingegen geht einher mit einer deutlicheren Zustimmung zu ergänzenden<br />

Fachkommentaren.<br />

Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Skala L2 – in unterschiedlichen Ausprägungen – in<br />

negativen Zusammenhängen mit allen anderen Skalen steht. Deshalb lässt sich formulieren:<br />

Wer eher auf die Vorteile der <strong>Noten</strong> rekurriert, dessen Aussagen zu den übrigen Skalen sind –<br />

relativ zum Durchschnitt – eher ablehnend bzw. weniger zustimmend. <strong>Die</strong> Typisierung der<br />

Lehrenden lässt sich damit vornehmen auf einer Dimension, an deren einem Ende die<br />

deutliche Befürwortung von (reinen) Berichtszeugnissen steht, teilweise verbunden mit<br />

kritischen Einstellungen gegenüber dem prinzipiellen Anspruch von Schule, Beurteilungen<br />

mit Zeugnissen und <strong>Noten</strong> vorzunehmen. Und an dem anderen Ende steht eine Ablehnung<br />

von verbalen Beurteilungen, die verbunden ist mit einer hohen Akzeptanz der<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse.<br />

In Anlehnung an Abbildung 2/2 können die Zusammenhänge in folgendem Schaubild<br />

zusammengefasst werden:


Seite 66 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

Abbildung 2/26: Zusammenhänge zwischen den erhobenen Einstellungsskalen<br />

Vorteile der<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

(Skala L2)<br />

<strong>Die</strong> angegebenen Korrelationen sind alle signifikant, die stärksten Zusammenhänge wurden in der Grafik noch<br />

hervorgehoben.<br />

-,584<br />

<strong>Die</strong> zuvor präsentierten Gruppenvergleiche haben bereits auf einige Aspekte von<br />

Lehrererfahrungen verwiesen, die auf die hier untersuchten Einstellungen Einfluss nehmen.<br />

Zu nennen ist hier zu allererst die Schulform: Wir konnten aufzeigen, dass sich die<br />

„typischen” Einstellungen von Grundschullehrer(inne)n erheblich von denen der<br />

Gymnasiallehrkräfte unterscheiden – und dass sich die mehrheitlichen Positionen in Haupt-<br />

und Realschulen und den Gesamtschulen zwischen diesen beiden „extremen” Sichtweisen<br />

einordnen lassen. <strong>Die</strong> Zugehörigkeit zu einer Schulform ist damit der Hauptfaktor, der die<br />

Einstellungen zu Zeugnissen, <strong>Noten</strong> und Lernberichten prägt. Doch auch innerhalb einer<br />

Schulform gehen die Einschätzungen und Bewertungen weit auseinander, und auch diese<br />

Varianz der Einstellungen ist von einigen Aspekten der Lehrererfahrungen abhängig. Um dies<br />

systematisch aufzuklären, beziehen wir uns im Folgenden exemplarisch auf eine einzige<br />

Schulform – auf die Lehrer(innen) der Grundschule. In einer mehrfaktoriellen Varianzanalyse<br />

haben wir überprüft, welche Faktoren bei ihnen die Einstellungen zu den Berichtszeugnissen<br />

(Skala L4) beeinflussen. Dabei wurden als Faktoren der Lehrererfahrung einbezogen:<br />

a) das <strong>Die</strong>nstalter,<br />

b) Vollzeit- <strong>oder</strong> Teilzeitbeschäftigung,<br />

Generelle Ablehnung von<br />

Zeugnissen und Zensuren<br />

(Skala L1)<br />

Vorteile der<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse mit<br />

Kommentaren<br />

(Skala L4)<br />

-,750<br />

,152<br />

-,360 ,414<br />

c) Erfahrungen mit Berichtszeugnissen in den Jahrgängen 3 und 4,<br />

d) Erfahrungen mit <strong>Noten</strong>zeugnissen in den Jahrgängen 3 und 4.<br />

,497<br />

Vorteile der<br />

Berichtszeugnisse<br />

(Skala L3)


<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 67<br />

In einer solchen Varianzanalyse wird untersucht, inwieweit die Unterschiedlichkeiten der<br />

befragten Lehrer(innen) in bezug auf ein Merkmal (hier: Einstellung zu Vorteilen der<br />

Berichtszeugnisse) auf die genannten vier Faktoren und deren Interaktionen zurückgeführt<br />

werden können. Zudem wird für jeden einzelnen Faktor (und für die Interaktionen zwischen<br />

mehreren dieser Faktoren) die sog. „Effektstärke” errechnet. Damit wird ausgedrückt, wie<br />

stark der jeweilige Faktor die Einstellung über „Vorteile der Berichtszeugnisse” beeinflusst.<br />

Dargestellt wird dies durch einen Prozentwert; dieser besagt, wie viel Prozent der Varianz der<br />

Einstellungsdimension durch diesen Faktor erklärt werden kann. Tabelle 2/26 zeigt die<br />

Ergebnisse dieser multifaktoriellen Varianzanalyse:<br />

Tabelle 2/26: Einstellung der Grundschullehrer(innen) zu den „Vorteilen der<br />

Berichtszeugnisse” – multifaktorielle Varianzanalyse (signifikante Effekte)<br />

a) Haupteffekte Signifikanzen Effektstärke (Eta-Quadrat)<br />

1. <strong>Die</strong>nstalter ,023 10%<br />

2. Erfahrung mit BZ in 3 u. 4 ,003 7%<br />

3. Erfahrung mit NZ in 3 u. 4 ,011 5%<br />

b) Interaktionseffekte<br />

4.1 Vollzeit/Teilzeit<br />

<strong>Die</strong>nstalter<br />

Erfahrung mit NZ in 3 u.4<br />

4.2 Vollzeit/Teilzeit<br />

Erfahrung mit NZ in 3u.4<br />

Erfahrung mit BZ in 3u.4<br />

,043 9%<br />

,015 5%<br />

Insgesamt klären diese Effekte mehr als 35% der Varianz auf. Nimmt man weitere (nicht-<br />

signifikante) Interaktionseffekte der gleichen Faktoren hinzu, so steigt die aufgeklärte Varianz<br />

auf mehr als 50%. <strong>Die</strong>s ist ein recht hoher Wert, der verdeutlicht: <strong>Die</strong> wichtigsten Faktoren,<br />

die bei Grundschullehrern unterschiedliche Einstellungen bewirken, sind in diese Rechnung<br />

einbezogen worden. Im Einzelnen sind die Effekte wie folgt zu erläutern:<br />

(1.) <strong>Die</strong>nstalter: Hier zeigt sich, dass Lehrkräfte, die besonders lange im <strong>Die</strong>nst sind (mehr als<br />

25 Jahre), den Berichtszeugnissen eher distanziert gegenüberstehen.<br />

(2.) Erfahrungen mit Berichtszeugnissen im 3./4. Jahrgang: <strong>Die</strong> Lehrkräfte, die in diesen<br />

Schuljahren mit Berichtszeugnissen Erfahrungen gesammelt haben, stehen diesen<br />

wesentlich positiver gegenüber als solche, die diese Erfahrungen nicht haben.<br />

(3.) Erfahrungen mit <strong>Noten</strong>zeugnissen im 3./4. Jahrgang: Spiegelbildlich stehen die<br />

Lehrkräfte, die im 3./4. Jahrgang Erfahrungen mit <strong>Noten</strong>zeugnissen gesammelt haben, den<br />

Berichtszeugnissen skeptischer gegenüber.


Seite 68 <strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer<br />

(4.) Vollzeit- bzw. Teilzeitbeschäftigung in Interaktion mit weiteren Faktoren: Auch die<br />

Vollzeit- bzw. Teilzeitbeschäftigung der Lehrkräfte hat hier einen Einfluss; allerdings nicht<br />

allein, sondern nur in Interaktion mit anderen Faktoren:<br />

(4.1) Lehrkräfte, die 25 Jahre und länger im <strong>Die</strong>nst sind und Erfahrungen mit<br />

<strong>Noten</strong>zeugnissen haben, sind gegenüber Berichtszeugnissen besonders ablehnend<br />

eingestellt, wenn sie vollzeitbeschäftigt sind. Haben sie eine Teilzeitstelle inne, sind sie<br />

gegenüber Berichtszeugnissen etwas aufgeschlossener.<br />

(4.2) Lehrkräfte, die in der 3./4. Klasse bisher ausschließlich Erfahrungen mit<br />

<strong>Noten</strong>zeugnissen (keine mit Berichtszeugnissen) gesammelt haben, lehnen<br />

Berichtszeugnisse besonders stark ab. <strong>Die</strong>se Ablehnung steigert sich noch einmal, wenn<br />

diese Lehrkräfte eine Vollzeitstelle innehaben.<br />

Insgesamt zeigt diese Varianzanalyse somit: Auch bei den Grundschullehrerinnen und -<br />

lehrern, die – verglichen mit allen anderen Lehrergruppen – eine sehr reformorientierte<br />

Position vertreten, gibt es intern erhebliche Einstellungsunterschiede. Und es zeigt sich, dass<br />

diese Unterschiede in systematischer Weise von bestimmten Erfahrungen der Lehrerbiografie<br />

abhängig sind. Dabei erscheint uns besonders bemerkenswert: Wenn Lehrkräfte hinreichend<br />

umfassende Erfahrungen mit Berichtszeugnissen gesammelt haben und wenn ihr eigenes<br />

Zeitdeputat nicht allzu eng gefasst ist (Teilzeit), betonen sie besonders stark die Vorteile der<br />

Berichtszeugnisse.<br />

2.5 Fazit<br />

Unsere Ergebnisse zeigen vor allem, dass es innerhalb der <strong>Hamburg</strong>er Lehrerschaft sehr<br />

unterschiedliche Einstellungen zur Leistungsbewertung, zur Zensierung, zu den Zeugnis-<br />

formen gibt. Dabei ergibt sich – auf die verschiedenen Einstellungsdimensionen bezogen –<br />

ein recht konsistentes Bild. Es lässt sich deutlich unterscheiden zwischen eher traditionellen<br />

(pro <strong>Noten</strong>, kontra <strong>Berichte</strong>) und eher reformorientierten (kontra <strong>Noten</strong>, pro <strong>Berichte</strong>)<br />

Positionen. Dabei ordnen sich diese Positionen in komplexere Zusammenhänge ein. <strong>Die</strong><br />

Zugehörigkeit zu einer Schulform spielt eine dominierende Rolle und übt auf die<br />

Einstellungen zur Leistungsbeurteilung generell, zu <strong>Noten</strong> und zu verbalen Beurteilungen in<br />

Form von Fachkommentaren auf gesonderten Bögen und <strong>Berichte</strong>n den stärksten Einfluss<br />

aus. Dabei finden sich – im Aggregat – eher die Grundschul- und Gesamtschullehrkräfte in<br />

einer notenkritischen Position. Sie unterscheiden sich von den Lehrerinnen und Lehrern der<br />

Haupt- und Realschulen und der Gymnasien, die eher <strong>Noten</strong> befürwortend sind und weniger<br />

Vorteile in Berichtszeugnissen sehen. Es konnte zudem aufgezeigt werden, dass


<strong>Die</strong> Sichtweise der Lehrerinnen und Lehrer Seite 69<br />

unterschiedliche Erfahrungs- und Arbeitskontexte der Lehrkräfte in systematischem<br />

Zusammenhang mit diesen unterschiedlichen Positionen stehen. So finden sich positivere<br />

Einschätzungen zu Berichtszeugnissen eher bei denen, die umfassende Erfahrungen mit<br />

diesem Beurteilungsinstrument gesammelt haben 9 . Besonders an den Grundschulen scheint<br />

sich eine Befürwortung von Berichtszeugnissen deutlich zu koppeln an eine dauerhafte<br />

Verwendung dieser Zeugnisform. Umgekehrt finden <strong>Noten</strong>zeugnisse auch unter denjenigen<br />

Primarstufenlehrkräften die stärksten Befürworter, die bisher keine Berichtszeugnisse (in den<br />

Jahrgängen 3 und 4) geschrieben haben. An den Grundschulen finden sich somit starke<br />

Polarisierungen in den Einstellungen der Lehrenden. Wer als Lehrender an der Primarstufe –<br />

möglicherweise in einer Vollzeitstelle und über eine recht lange <strong>Die</strong>nstzeit hinweg – das<br />

Schreiben von Berichtszeugnissen vermeiden konnte, hat auch eine deutlich kritischere<br />

Haltung zu Berichtszeugnissen. Ein mit dem Schreiben von Berichtszeugnissen verbundener<br />

erhöhter Arbeitsaufwand bewirkt dabei nicht eine kritischere Haltung zu verbalen<br />

Beurteilungen, sondern er wird von den Befürwortern der Berichtszeugnisse anscheinend als<br />

unvermeidbare Konsequenz in Kauf genommen.<br />

9 In der Sekundarstufe steht die Möglichkeit, Erfahrungen mit Berichtszeugnissen sammeln zu können,<br />

allerdings in engem Zusammenhang mit der Schulform. Da in den Gymnasien keine Berichtszeugnisse erteilt<br />

werden, können hier auch keine Erfahrungen damit gesammelt werden (vgl. dazu auch Abb. 1/1 in der<br />

Einführung).


3. Leistungsbeurteilung und Zeugnisse<br />

aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

In diesem Kapitel beschäftigen wir uns nicht mit den Akteuren <strong>schulische</strong>n Beurteilens,<br />

sondern mit einer Gruppe der Betroffenen: den Eltern. Fragen, auf die wir in unseren Daten<br />

nach Antworten suchen, lauten:<br />

1. Wie schätzen Eltern den Informationsgehalt von Zeugnissen ein? Wie rezipieren sie die<br />

Dokumente? In welcher Form sprechen sie mit ihren Kindern über sie?<br />

2. Wie steht es um die Akzeptanz der Leistungsurteile, die in Zeugnissen ausgesprochen<br />

werden? Wie reagieren Eltern darauf? Ermuntern sie ihre Kinder, belohnen sie sie <strong>oder</strong><br />

sprechen sie auch Strafen für schlechte Beurteilungen aus? Und schließlich:<br />

3. Welche Erwartungen und Einstellungen haben Eltern gegenüber den drei Zeugnisformen<br />

(vgl. Kap.1), die das <strong>Hamburg</strong>er Schulsystem als Beurteilungsinstrumente kennt?<br />

Antworten auf diese Frage bilden den größten Teil des folgenden Berichts.<br />

Wie schon weiter oben ausgeführt, haben wir für unsere Untersuchung eine Stichprobe<br />

gewählt, die nicht dem Gesamtbild des <strong>Hamburg</strong>er Schulwesens entspricht. <strong>Die</strong><br />

Besonderheiten, die sich durch die Auswahl von Schulen mit innovativen Beurteilungsformen<br />

ergeben, spiegeln sich auch bei den Eltern wider: Es zeigt sich, dass in der von uns befragten<br />

Eltern-Stichprobe am Ende des vorangegangenen Schuljahrs<br />

- die meisten Grundschulkinder und ein erheblicher Teil der Schülerinnen und Schüler aus<br />

Gesamtschulen Berichtszeugnisse erhalten haben,<br />

- in den Haupt- und Realschulen und den Gymnasien <strong>Noten</strong>zeugnisse vorherrschen,<br />

- in Gesamtschulen und an einem Gymnasium zu bedeutsamen Anteilen <strong>Noten</strong>zeugnisse mit<br />

Kommentarbogen erstellt worden sind.<br />

<strong>Die</strong>se Zeugnisformen sind in dieser Verteilung sicherlich nicht typisch, sondern resultieren<br />

daraus, dass wir gezielt nach Schulen gesucht haben, deren <strong>Beurteilungspraxis</strong> als innovativ<br />

gelten kann.<br />

3.1 Elterneinstellungen zur Leistungsbeurteilung<br />

<strong>Die</strong> Eltern stehen in einem deutlich anderen Verhältnis zu Zeugnissen und Beurteilungen als<br />

die Schülern und Schülerinnen selbst. Sie sind selbst nicht <strong>oder</strong> kaum an den erbrachten<br />

beurteilten Leistungen beteiligt und sie haben auch – im Prinzip – keinen Einfluss auf das<br />

Zustandekommen der <strong>Noten</strong> bzw. <strong>Berichte</strong>. Sie stehen also gewissermaßen neben dem


Seite 72 Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

System der Schülerinnen und Schüler – als den Beurteilten – und den Lehrkräften – als deren<br />

Beurteiler.<br />

Dennoch <strong>oder</strong> gerade deswegen haben sie normalerweise ein ausgeprägtes Interesse an den<br />

<strong>schulische</strong>n Rückmeldungen, die ihre Kinder betreffen, da sie um die Wichtigkeit von<br />

Abschlüssen und <strong>schulische</strong>r Bildung wissen und das Wohl ihrer Kinder im Auge haben.<br />

Unter diesen Gesichtspunkten haben wir die Fragebögen der Eltern so konstruiert, dass sie<br />

uns Aufschluss geben über ihren Umgang und ihre Einstellungen zur <strong>schulische</strong>n<br />

Leistungsbeurteilung. Dabei differenzieren wir innerhalb der Stichprobe nach einer Reihe von<br />

unabhängigen Variablen. Dazu gehören einerseits Merkmale, die die <strong>schulische</strong> Situation<br />

(Schulform, Jahrgangsstufe, Zeugnisform der Kinder) kennzeichnen, aber auch die personalen<br />

Merkmale (eigener Schulabschluss, Bildungsaspiration für die Kinder). Nach diesen<br />

Merkmalen der befragten Eltern differenzieren wir die erhobenen Einstellungsdimensionen.<br />

<strong>Die</strong> folgende Abbildung stellt dies schematisch dar:


Abbildung 3/1: Elterneinstellungen zu Leistungsbewertung und Zeugnisformen<br />

personale Merkmale<br />

(Eigener Schulabschluss)<br />

gegenwärtige Schulsituation der Kinder:<br />

(Schulform, Jahrgangsstufe)<br />

zuletzt erhaltene Zeugnisform der Kinder<br />

(BZ, NZ, NZK)<br />

Bildungsaspiration für die Kinder<br />

(Hauptschulabschluss, Fachoberschulreife,<br />

Abitur)<br />

- Einstellungen<br />

- zu <strong>Noten</strong>zeugnissen<br />

- zu <strong>Noten</strong>zeugnissen mit Kommentarbogen<br />

- zu Berichtszeugnissen<br />

- Akzeptanz und Informationsgehalt der<br />

Zeugnisse<br />

- Rezeptionsgewohnheiten und Reaktionen auf<br />

Zeugnisse


Seite 74 Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

Wie im vorhergehenden Kapitel fassen wir eine Reihe von Aussagen zu Skalen zusammen,<br />

die zu einem gemeinsamen thematischen Feld Aussagen machen. So ließen sich zur<br />

allgemeinen Einstellung zu Zeugnissen die Skalen<br />

• E1: Informationsgehalt der Zeugnisse und<br />

• E2: Akzeptanz der Zeugnisse konstruieren.<br />

• <strong>Die</strong> Aussagen zu den Rezeptionsgewohnheiten stehen nicht in einem so engen<br />

statistischen Zusammenhang, dass sie sich zu einer Skala verbinden lassen. <strong>Die</strong> einzelnen<br />

Aussagen werden aber dennoch gemeinsam präsentiert, da sie inhaltlich in einem<br />

Zusammenhang stehen.<br />

• Ebenso verhält es sich mit den Items, die die Reaktionen der Eltern auf Zeugnisse<br />

thematisieren.<br />

Neben diesen beiden Analysen, die den konkreten Umgang mit Zeugnissen und die generellen<br />

Einstellungen zu ihnen beschreiben, haben wir aus den Items unseres Fragebogens weitere<br />

sechs Skalen konstruiert, um die Präferenzen der Eltern für die drei <strong>Hamburg</strong>er<br />

Zeugnisformen zu prüfen.<br />

• Skala E3: Erwartungen an den Informationsgehalt der Zeugnisse<br />

• Skala E4: Vorteile von <strong>Noten</strong> und <strong>Noten</strong>zeugnissen<br />

• Skala E5: Nachteile von <strong>Noten</strong>zeugnissen<br />

• Skala E6: Vorteile von Berichtszeugnissen<br />

• Skala E7: Nachteile von Berichtszeugnissen<br />

• Skala E8: Vorteile von <strong>Noten</strong>zeugnissen mit Kommentarbogen<br />

<strong>Die</strong>se sechs Einstellungsskalen haben wir in einem hypothetischen Modell zueinander in<br />

Beziehung gesetzt. <strong>Die</strong> folgende Abbildung stellt dies schematisch dar:


+<br />

Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern Seite 75<br />

Abbildung 3/2: Modell der Beziehungen zwischen den Einstellungsskalen<br />

E6: Vorteile<br />

Berichtszeugnisse<br />

E7: Nachteile<br />

Berichtszeugnisse<br />

a) Wir gehen von der Skala „Informationserwartungen” (E3) aus und unterstellen, dass<br />

diejenigen Eltern, die hohe Informationserwartungen an Zeugnisse haben, die „Vorteile<br />

von Berichtszeugnissen” (E6) und die „Nachteile von <strong>Noten</strong>zeugnissen” (E5)<br />

hervorheben.<br />

b) Wir vermuten andererseits, dass diejenigen Eltern, die geringere Informationserwartungen<br />

haben, die „Vorteile von <strong>Noten</strong>zeugnissen” (E4) und die „Nachteile von Berichts-<br />

zeugnissen” (E7) betonen.<br />

c) Ferner unterstellen wir, dass Befürworter von <strong>Noten</strong>zeugnissen (E4) Berichtszeugnisse<br />

und Befürworter von Berichtszeugnissen (E6) <strong>Noten</strong>zeugnisse ablehnen.<br />

d) Welche Erwartungen <strong>Hamburg</strong>er Eltern an <strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen haben,<br />

können wir nur vermuten. Forschungen zu diesem Zeugnistyp liegen bisher nicht vor. <strong>Die</strong><br />

Auswertung der Skala E8: „Vorteile von <strong>Noten</strong>zeugnissen mit Kommentarbogen” könnte<br />

darüber Aufschluss geben.<br />

E3: Informationserwartungen<br />

an Zeugnisse<br />

3.1.1 Informationsgehalt und Rezeption durch die Eltern<br />

–<br />

E8: Vorteile <strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

mit Kommentarbogen<br />

E4: Vorteile<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

– –<br />

+ +<br />

–<br />

? ?<br />

E5: Nachteile<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

Um die Daten im folgenden Abschnitt zu interpretieren, wählen wir das einfache<br />

kommunikationstheoretische Modell von Sender und Empfänger. Mit Blick auf Zeugnisse<br />

sind die Schulen – vermittelt über die Lehrerinnen und Lehrer – Sender. Den Sendungen –<br />

+


Seite 76 Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

den Zeugnissen – kann man einen bestimmten Informationsgehalt entnehmen. Eltern sind die<br />

Empfänger, die die Sendungen rezipieren. Informationsgehalt und Rezeption sind zwar<br />

aufeinander bezogen, aber nicht starr miteinander verbunden. Ein von den Eltern<br />

wahrgenommener Informationsgehalt der Zeugnisse führt bei ihnen nicht automatisch zu<br />

einer gleichsinnigen Rezeption. <strong>Die</strong>se bleibt immer eine eigenständige Leistung der<br />

Empfänger.<br />

Im ersten Teil dieses Abschnitts stellen wir im Überblick den Informationsgehalt der<br />

Zeugnisse aus der Sicht der Eltern dar. Dabei ist zu beachten, dass auf dieser Stufe der<br />

Analyse noch nicht nach den drei <strong>Hamburg</strong>er Zeugnisformen differenziert, sondern eine<br />

allgemeine Einschätzung erfragt wird. Im zweiten Teil des Abschnitts fragen wir nach den<br />

Rezeptionsgewohnheiten. Aus vier Items unseres Fragebogens haben wir die Skala E1<br />

„Informationsgehalt der Zeugnisse” konstruieren können.<br />

Tabelle 3/2: Informationsgehalt der Zeugnisse<br />

N = 1291<br />

Cronbach’s alpha: ,798<br />

23 Aus dem Zeugnis habe ich erfahren, was<br />

mein Kind in den Fächern kann.<br />

24 Durch das Zeugnis weiß ich, was mein<br />

Kind in den Fächern noch üben muss.<br />

26 Aus dem Zeugnis habe ich viel über das<br />

Arbeits- und Sozialverhalten meines<br />

Kindes in der Schule erfahren.<br />

27 Aus dem Zeugnis habe ich erfahren, was<br />

mein Kind im letzten Schuljahr neu<br />

gelernt hat.<br />

Skala E1: Informationsgehalt der Zeugnisse<br />

�<br />

stimmt<br />

gar<br />

nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwerte<br />

5,8% 7,1% 23,3% 30,6% 33,2% 3,78<br />

9,1% 9,6% 18,5% 27,0% 35,8% 3,66<br />

8,2% 10,1% 29,5% 28,0% 24,2% 3,48<br />

31,6% 16,5% 18,5% 17,9% 15,5% 2,65<br />

Betrachtet man die einzelnen Items, dann fühlen sich 64% der Eltern über die Fachkenntnisse<br />

ihrer Kinder angemessen informiert (23), nur 13% lehnen diese Aussage ab. Fast ebenso viele<br />

Eltern (63%) heben hervor, aufgrund des Zeugnisses zu wissen, was ihr Kind in den Fächern<br />

noch üben muss (24). Über das Arbeits- und Sozialverhalten fühlen sich jedoch nur noch gut<br />

die Hälfte der Eltern informiert (25), während die Frage nach dem curricularen<br />

Informationsgehalt des Zeugnisses („Was hat mein Kind neu hinzugelernt” 27) sogar nur<br />

noch 33% der Befragten positiv beantworten; fast die Hälfte der Eltern stimmt dieser Aussage<br />

3,39


Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern Seite 77<br />

ausdrücklich nicht zu. Der Abfall der Zustimmung wird an den Mittelwerten deutlich 10 . Das<br />

erste Item erreicht einen Wert von 3,78; er signalisiert eine relativ ausgeprägte Zustimmung.<br />

Das letzte Item erreicht nur noch einen Mittelwert von 2,65; er weist insgesamt auf eine<br />

leichte Ablehnung hin. Der Informationswert der Zeugnisse als Sendungen der Schulen bzw.<br />

der Lehrer wird also von den Eltern differenziert beurteilt. Ob er ihnen ausreicht, lässt sich an<br />

dieser Stelle der Auswertung noch nicht entscheiden, dazu bedarf es einer differenziellen<br />

Analyse der vorliegenden Skala und einer Auswertung der Daten nach der<br />

Informationserwartung der Elternhäuser.<br />

Tabelle 3/3: Rezeptionsgewohnheiten der Eltern<br />

N = 1310<br />

(<strong>Die</strong>se fünf Items sind als Einzelaussagen<br />

und nicht als Skala zu<br />

verstehen.)<br />

14 Das Zeugnis habe ich gemeinsam mit<br />

meinem Kind gelesen.<br />

20 Ich habe mit der Lehrerin/dem Lehrer<br />

ausführlich über das Zeugnis meines<br />

Kindes gesprochen.<br />

21 Mit meinem Kind habe ich ausführlich<br />

über das Zeugnis gesprochen.<br />

22 Ich hatte den Eindruck, dass mein Kind<br />

sein Zeugnis verstanden hat.<br />

89 Bei Fragen zum Zeugnis wende ich<br />

mich auf jeden Fall an die jeweiligen<br />

Lehrer(innen) der Schule.<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwerte<br />

2,3% 1,1% 10,0% 15,2% 71,4% 4,53<br />

52,7% 9,6% 15,1% 9,8% 12,8% 2,17<br />

2,7% 2,8% 14,5% 23,7% 56,4% 4,26<br />

0,7% 1,7% 10,2% 27,7% 59,7% 4,46<br />

1,3% 3,0% 11,7% 21,7% 62,3% 4,42<br />

Außer nach dem Informationsgehalt der Zeugnisse, den Eltern wahrnehmen, haben wir auch<br />

nach den Rezeptionsgewohnheiten gefragt. 87% aller Eltern geben an, das Zeugnis mit ihrem<br />

Kind gelesen zu haben (14), nur 3% sagen nein, 10% antworten „teil/teils”, was wohl eine<br />

oberflächliche Kenntnisnahme signalisiert. 80% der Eltern haben nach ihren Angaben das<br />

Zeugnis ausführlich mit ihren Kindern besprochen (21). <strong>Die</strong>se intensive Auseinandersetzung<br />

führt dazu, dass 87% der Eltern den Eindruck haben, dass ihr Kind die Botschaften ihres<br />

Zeugnisses auch verstanden hat (22). <strong>Die</strong> Items 20 und 89 muss man zusammen<br />

interpretieren: Nur ein Drittel der Eltern hat mündliche Informationen zusätzlich zum Zeugnis<br />

eingeholt, d.h. mit den Lehrkräften ausführlich über die Implikationen der<br />

Leistungsrückmeldung gesprochen, während mehr als 60% dies nicht getan haben.<br />

10 <strong>Die</strong> Mittelwerte sind auch hier so kodiert, dass Werte zwischen 3 und 5 Zustimmung signalisieren, Werte<br />

kle iner als 3 hingegen Ablehnung.


Seite 78 Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

Anscheinend hat für diese Eltern über die schriftliche Mitteilung des Zeugnisses hinaus kein<br />

mündlicher Informationsbedarf bestanden; denn 84% der Eltern geben an, auf jeden Fall mit<br />

den Lehrern zu sprechen, wenn offene Fragen bestehen. Nur 4% der Befragten stimmen<br />

dieser Aussage explizit nicht zu.<br />

Für die weitergehende differenzielle Analyse haben wir die Daten nach dem Einfluss<br />

– der zuletzt erhaltenen Zeugnisform,<br />

– der Schulform,<br />

– der Bildungsaspirationen für die eigenen Kinder und<br />

– des eigenen elterlichen Bildungsniveaus<br />

untersucht. Dabei vergleichen wir nicht mehr prozentuale Verteilungen der Antworten,<br />

sondern die zu Mittelwerten verrechneten Antworten. Genauso wie in Kapitel 2 variieren<br />

diese zwischen 1 (Ablehnung) und 5 (Zustimmung). Um die Darstellung nicht zu überlasten,<br />

teilen wir nur Ergebnisse mit, die auf besonders bedeutsame Zusammenhänge verweisen.<br />

Tabelle 3/4: Informationsgehalt der Zeugnisse nach Zeugnisform (Mittelwerte)<br />

zuletzt erhaltene Zeugnisform<br />

(des Kindes)<br />

Berichtszeugnis<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis<br />

mit<br />

Kommentarbogen <br />

<strong>Noten</strong>zeugnis<br />

Gesamt<br />

Anzahl der Antworten n = 429 n = 291 n = 581 N = 1301<br />

23 Aus dem Zeugnis habe ich erfahren,<br />

was mein Kind in den Fächern kann.<br />

24 Durch das Zeugnis weiß ich, was<br />

mein Kind in den Fächern noch<br />

üben muss.<br />

26 Aus dem Zeugnis habe ich viel über<br />

das Arbeits- und Sozialverhalten<br />

meines Kindes in der Schule<br />

erfahren.<br />

27 Aus dem Zeugnis habe ich erfahren,<br />

was mein Kind im letzten Schuljahr<br />

neu gelernt hat.<br />

Skala E1: Informationsgehalt der<br />

Zeugnisse<br />

4,08 3,77 3,56 3,78<br />

4,06 3,75 3,42 3,66<br />

4,10 3,54 3,02 3,48<br />

3,39 2,69 2,15 2,65<br />

3,91 3,44 3,04 3,39<br />

In der vorliegenden Tabelle 3/4 sind die Signifikanzen besonders auffällig, weil sie<br />

durchgehend bei allen Items auftreten. D. h., der Informationsgehalt von Berichtszeugnissen<br />

wird entscheidend besser eingeschätzt als der Informationsgehalt der <strong>Noten</strong>zeugnisse mit<br />

Kommentarbogen und der der bloßen <strong>Noten</strong>zeugnisse. Der Informationsgehalt der


Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern Seite 79<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen ist weniger hoch als der der Berichtszeugnisse, aber<br />

besser als der der bloßen <strong>Noten</strong>zeugnisse. <strong>Die</strong>ses Ergebnis ist für sich genommen nicht<br />

erstaunlich, sind doch Berichtszeugnisse Träger weitaus differenzierterer Informationen als<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse mit gesonderten Kommentarbogen und letztere informationsreicher als bloße<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse. Aber das Ergebnis fällt in seiner Deutlichkeit klarer als erwartet aus. Dabei<br />

wird der Informationsgehalt reiner <strong>Noten</strong>zeugnisse von den befragten Eltern problematisiert.<br />

<strong>Die</strong> Einschätzungen liegen nahe am sog. „Kippwert” 3, der einen Umschlag zwischen<br />

ausreichender und nicht mehr ausreichender Unterrichtung signalisiert.<br />

Tabelle 3/5: Informationsgehalt der Zeugnisse nach Schulformen (Mittelwerte)<br />

23<br />

Schulform GrundschuleGesamtschule<br />

Haupt-<br />

/Realschule <br />

Gymnasium<br />

Gesamt<br />

Anzahl der Antworten n = 305 n = 424 n = 271 n = 306 N =1306<br />

Aus dem Zeugnis habe ich<br />

erfahren, was mein Kind in den<br />

Fächern kann.<br />

24 Durch das Zeugnis weiß ich, was<br />

mein Kind in den Fächern noch<br />

üben muss.<br />

26 Aus dem Zeugnis habe ich viel<br />

über das Arbeits- und<br />

Sozialverhalten meines Kindes in<br />

der Schule erfahren.<br />

27 Aus dem Zeugnis habe ich<br />

erfahren, was mein Kind im letzten<br />

Schuljahr neu gelernt hat.<br />

Skala E1: Informationsgehalt der<br />

Zeugnisse<br />

4,18 3,68 3,88 3,43 3,78<br />

4,19 3,65 4,00 3,05 3,71<br />

4,11 3,38 3,39 3,15 3,50<br />

3,55 2,65 2,72 1,85 2,69<br />

4,01 3,34 3,50 2,87 3,42<br />

Betrachtet man den Informationsgehalt der Zeugnisse unter dem Einfluss der Schulform, dann<br />

vergrößert sich die Differenz der Mittelwerte noch einmal. Während Grundschuleltern die<br />

Informationen in allen Einschätzungsdimensionen für hoch bzw. angemessen halten und der<br />

Skalenmittelwert respektable 4,01 ausweist, sind die Gymnasialeltern durchweg gegenteiliger<br />

Meinung. Der Skalenmittelwert liegt hier bei 2,87, also jenseits des „Kippwertes” 3, der<br />

Informationsdefizite signalisiert. <strong>Die</strong> schlechten Werte kommen vor allem zustande, weil<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse, die ja an den Gymnasien vorherrschen, zum Fortschritt im Curriculum nichts<br />

aussagen und, da sie keine diagnostischen Hinweise geben, kaum erkennen lassen, was man<br />

in den Fächern noch üben muss.


Seite 80 Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

Tabelle 3/6: Informationsgehalt der Zeugnisse: Einflüsse (a) des Aspirations<br />

niveaus für die Kinder und (b) der Bildungsnähe der Elternhäuser<br />

(Mittelwerte)<br />

(a)<br />

(b)<br />

erwünschter Schulabschluss<br />

(für das Kind)<br />

niedriges<br />

Aspirationsniveau<br />

(bis HS*)<br />

mittleres<br />

Aspirationsniveau<br />

(RS* und<br />

Fachabitur)<br />

hohes<br />

Aspirationsniveau<br />

(Abitur)<br />

Gesamt<br />

Anzahl der Antworten n = 104 n = 440 n = 752 N = 1296<br />

Skala E1: Informationsgehalt<br />

der Zeugnisse<br />

Schulabschlüsse der Eltern<br />

3,80 3,54 3,29 3,42<br />

geringe<br />

Bildungsnähe<br />

(beide Eltern<br />

HS*)<br />

mittlere<br />

Bildungsnähe<br />

(beide Eltern<br />

RS*)<br />

hohe<br />

Bildungsnähe<br />

(beide Eltern<br />

Abitur)<br />

Gesamt<br />

Anzahl der Antworten n = 217 n = 345 n = 304 N = 866<br />

Skala E1: Informationsgehalt<br />

der Zeugnisse<br />

*(HS = Hauptschulabschluss, RS= Realschulabschluss)<br />

3,67 3,34 3,26 3,39<br />

<strong>Die</strong> Betrachtung der Skala „Informationsgehalt” nach (a) den Einflüssen der<br />

Bildungsaspiration für die eigenen Kinder und (b) nach der Bildungsnähe der Elternhäuser 11<br />

ergibt folgende Zusammenhänge: Eltern mit hoher Bildungsaspiration halten den<br />

Informationsgehalt der Zeugnisse für signifikant niedriger als die übrigen Eltern. <strong>Die</strong> Eltern<br />

mit der geringsten Bildungsnähe schätzen den Informationsgehalt hingegen am höchsten ein.<br />

Es bleibt offen, ob dieser Befund, mit den Einflüssen „Zeugnis-” und „Schulform” kovariiert<br />

(und damit vor allem den Zeugnissen in ihrer unterschiedlichen „Produktgestalt” geschuldet<br />

ist) <strong>oder</strong> aber ob sich darin ein höherer Informationsanspruch der einen Eltern und ein<br />

niedrigerer der anderen Eltern widerspiegelt (also den Rezeptionsprozess repräsentiert).<br />

Bei der differenziellen Auswertung des zweiten Befragungsschwerpunktes, der Rezeption,<br />

muss man wie im vorangehenden Abschnitt darauf achten, dass die Items einzeln zu<br />

interpretieren sind.<br />

11 <strong>Die</strong> niedrigere Gesamtzahl der Befragten kommt dadurch zustande, dass wir bei den Bildungsabschlüssen der<br />

Eltern sog. Extremgruppen gebildet haben, d.h. nur die Elternhäuser wurden berücksichtigt, in denen jeweils<br />

beide Elternteile entweder den Hauptschulabschluss <strong>oder</strong> den Realschulabschluss <strong>oder</strong> beide das Abitur<br />

besitzen.


Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern Seite 81<br />

Tabelle 3/7: Rezeptionsgewohnheiten der Eltern nach Zeugnisform (Mittelwerte)<br />

zuletzt erhaltene Zeugnisform<br />

(des Kindes)<br />

Berichtszeugnis<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis<br />

mit Kommentarbogen <br />

<strong>Noten</strong>zeugnis<br />

Gesamt<br />

Anzahl der Antworten n = 428 n = 293 n = 582 N = 1.303<br />

14 Das Zeugnis habe ich gemeinsam<br />

mit meinem Kind gelesen.<br />

20 Ich habe mit der Lehrerin/dem<br />

Lehrer ausführlich über das<br />

Zeugnis meines Kindes<br />

gesprochen.<br />

21 Mit meinem Kind habe ich<br />

ausführlich über das Zeugnis<br />

gesprochen.<br />

22 Ich hatte den Eindruck, dass mein<br />

Kind sein Zeugnis verstanden hat.<br />

89 Bei Fragen zum Zeugnis wende<br />

ich mich auf jeden Fall an die<br />

jeweiligen Lehrer(innen) der<br />

Schule.<br />

4,63 4,55 4,43 4,53<br />

2,39 2,10 2,12 2,17<br />

4,37 4,26 4,22 4,26<br />

4,19 4,51 4,58 4,46<br />

4,56 4,22 4,39 4,42<br />

Eltern, deren Kinder Berichtszeugnisse erhalten, unterscheiden sich in ihrer Rezeption von<br />

den übrigen Eltern am deutlichsten: Sie lesen das Zeugnis häufiger mit ihren Kindern als<br />

Eltern, deren Töchter und Söhne <strong>Noten</strong>zeugnisse mit nach Hause bringen (14); sie haben<br />

trotzdem den Eindruck, dass ihre Kinder – relativ zu denjenigen, die andere Zeugnisformen<br />

erhalten – Zeugnisse schlechter verstehen (22), und sie suchen bei offenen Fragen eher als die<br />

übrigen Eltern das Gespräch mit den jeweiligen Lehrer(innen) (89). Da Berichtszeugnisse vor<br />

allem Zeugnisse der Grundschule sind, drückt sich in diesen Antworten die Beziehung<br />

zwischen Elternhaus und Schule dieser Schulform aus, die bekanntlich besonders intensiv ist.<br />

Bei diesem Item fällt auf, dass Eltern, deren Kinder <strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen<br />

erhalten, sich signifikant weniger als alle anderen Eltern bei offenen Fragen an die<br />

Lehrerinnen und Lehrer wenden.


Seite 82 Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

Tabelle 3/8: Rezeptionsgewohnheiten der Eltern – nach Schulform des Kindes<br />

(Mittelwerte)<br />

Schulform<br />

(des Kindes)<br />

GrundschuleGesamtschule<br />

Haupt-/<br />

Realschule <br />

Gymnasium<br />

Gesamt<br />

Anzahl der Antworten n = 306 n = 426 n = 275 n = 307 N =1314<br />

14 Das Zeugnis habe ich<br />

gemeinsam mit meinem Kind<br />

gelesen.<br />

20 Ich habe mit der Lehrerin/dem<br />

Lehrer ausführlich über das<br />

Zeugnis meines Kindes<br />

gesprochen.<br />

21 Mit meinem Kind habe ich<br />

ausführlich über das Zeugnis<br />

gesprochen.<br />

22 Ich hatte den Eindruck, dass<br />

mein Kind sein Zeugnis<br />

verstanden hat.<br />

89 Bei Fragen zum Zeugnis wende<br />

ich mich auf jeden Fall an die<br />

jeweiligen Lehrer(innen) der<br />

Schule.<br />

4,66 4,52 4,44 4,46 4,52<br />

2,54 2,17 2,55 1,62 2,21<br />

4,38 4,37 4,31 4,04 4,28<br />

4,23 4,41 4,51 4,61 4,44<br />

4,52 4,32 4,48 4,36 4,41<br />

<strong>Die</strong> Betrachtung der Items nach dem Einfluss der Schulform differenziert das bisher<br />

entworfene Bild. Item 89 zeigt, dass sich Gesamtschuleltern gemessen an Grundschuleltern<br />

signifikant weniger an Lehrer(innen) wenden, wenn sie offene Fragen zu den Zeugnissen<br />

haben. Bei Item 22 erweist sich erwartungsgemäß, dass die Grundschuleltern meinen, ihr<br />

Kind habe sein Zeugnis weniger gut verstanden. Haben wir diese Einschätzung auf das Alter<br />

der Kinder zurückgeführt, so deutet der Gesamtschulwert im Vergleich zum Gymnasialwert<br />

darauf hin, dass hier u.U. auch Einflüsse geltend gemacht werden müssen, die an der<br />

Zeugnisform liegen. In unserer Stichprobe bekommt immerhin ein knappes Drittel der<br />

Gesamtschüler Berichtszeugnisse. Spätere Analysen werden zeigen müssen, ob – aus der<br />

Sicht der Eltern – die analoge Kommunikation dieser Zeugnisform zu größeren<br />

Verständnisschwierigkeiten bei Kindern und Jugendlichen führt als die digitale<br />

Kommunikation der <strong>Noten</strong>zeugnisse. Item 20 verweist darauf, dass Gesamtschuleltern<br />

signifikant weniger als Grundschuleltern und Haupt-/Realschuleltern mit den Lehrenden über<br />

die Zeugnisse ihrer Kinder sprechen, dass sie es aber immer noch signifikant häufiger tun als<br />

Gymnasialeltern. Gymnasialeltern wiederum sind überzeugt, dass ihre Kinder die Zeugnisse<br />

(72% in <strong>Noten</strong>form) recht gut verstehen (22), sie sprechen signifikant weniger als alle


Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern Seite 83<br />

anderen Eltern mit ihren Kindern über die Zeugnisse (21) und suchen auch deren Lehrerinnen<br />

und Lehrer kaum auf (20).<br />

<strong>Die</strong> bisher präsentierten Daten belegen, dass Zeugnisse als formale Medien der<br />

Leistungsrückmeldung von den Eltern angesehen und als wichtige Übermittlungen von<br />

Informationen wahrgenommen und sorgsam rezipiert werden. Anlässe für weitergehende<br />

mündliche Kommunikation zwischen Eltern und Lehrer(innen) sind sie nur zum Teil. <strong>Die</strong><br />

Eltern erweisen sich als gute Kommunikationstheoretiker. Sie unterscheiden zwischen dem<br />

Informationsgehalt einer Sendung – den sie bei den analog kommunizierten Berichts-<br />

zeugnissen sehr hoch einschätzen – und dem Verstehen als Leistung des Empfängers – die bei<br />

Berichtszeugnissen unter größeren Anstrengungen erbracht werden muss als bei digital<br />

kommunizierten <strong>Noten</strong>zeugnissen. Grundschuleltern und Empfänger von Berichtszeugnissen<br />

(die wegen Kovarianz der Faktoren zu großen Teilen die gleiche Personengruppe darstellen)<br />

sind die eifrigsten Rezipienten, Gymnasialeltern die distanziertesten. Vor allem Grundschul-<br />

aber auch Gesamtschuleltern haben den Eindruck, dass ihre Kinder – relativ zu den anderen –<br />

mehr Mühe bei der Rezeption der Zeugnisse aufbringen müssen, obwohl sie deren<br />

Informationsgehalt als hoch einschätzen. Gymnasialeltern werten hingegen den<br />

Informationsgehalt der Zeugnisse als besonders niedrig, sie investieren aber auch am<br />

wenigsten in den Prozess der Rezeption, obwohl sie mit dessen Ergebnis, dem Verständnis<br />

der Zeugnisse durch ihre Kinder, recht zufrieden sind.<br />

3.1.2 Akzeptanz der Zeugnisse und Reaktionen gegenüber den eigenen Kindern<br />

Legt man der Interpretation der Daten – wie bisher schon geschehen – das kommunikations-<br />

theoretische Modell von Sender und Empfänger zugrunde, dann sind im vorangegangenen<br />

Abschnitt die Qualitäten der Sendungen (Informationsgehalt der Zeugnisse) und die Formen<br />

des Empfangs (Rezeptionsgewohnheiten) aus der Sicht der Eltern untersucht worden. In der<br />

Sprache desselben Modells geht es im folgenden Abschnitt um die responses auf Sendung<br />

und Empfang, d.h., es wird analysiert, welche Formen der Akzeptanz Eltern bei sich selbst<br />

und bei ihren Kindern auf der Grundlage von Informationsgehalt und Rezeption der<br />

Zeugnisse wahrnehmen und wie sie angesichts dieser Grundhaltung gegenüber ihren Kindern<br />

als Antwort auf die Zeugnisse handeln. <strong>Die</strong> Daten, die in diesem Abschnitt analysiert werden,<br />

liegen also kommunikationstheoretisch betrachtet gegenüber den Daten des vorangehenden<br />

Abschnitts auf einer höheren Ebene; die ersten setzen die zweiten voraus.<br />

Aus drei Items unseres Fragebogens konnten wir die Skala „Akzeptanz der Zeugnisse”<br />

konstruieren.


Seite 84 Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

Tabelle 3/9: Akzeptanz der Zeugnisse bei Eltern<br />

N = 1321<br />

Cronbach´s alpha ,765<br />

17 Das Zeugnis entsprach meinen<br />

Erwartungen.<br />

43 Mein Kind hat die Bewertungen<br />

im Zeugnis akzeptiert.<br />

�<br />

stimmt<br />

gar<br />

nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwert<br />

3,1% 4,9% 24,1% 35,4% 32,5% 3,90<br />

2,3% 3,2% 23,8% 33,9% 36,8% 4,03<br />

44 Mein Kind hat sich über sein<br />

Zeugnis gefreut. 9,0% 6,9% 29,2% 27,2% 27,7% 3,62<br />

Skala E2: Akzeptanz der Zeugnisse 3,85<br />

<strong>Die</strong> Überblickstabelle zeigt, dass in der gesamten Skala die zustimmenden Einschätzungen<br />

überwiegen; die Ablehnungen bewegen sich in einer Spannweite zwischen 8% und 16%,<br />

wobei die Anteile von Unentschiedenheit („teils – teils”) relativ hoch sind (zwischen 24% und<br />

29%). Immerhin stimmen 69% der Eltern der Aussage „Das Zeugnis entsprach meinen<br />

Erwartungen.” zu, 70% der Aussage „Mein Kind hat die Bewertungen im Zeugnis akzeptiert”<br />

und 55% der Aussage „Mein Kind hat sich über sein Zeugnis gefreut.".<br />

<strong>Die</strong> folgende Tabelle stellt eine Sammlung von Items dar, die statistisch nicht zu einer Skala<br />

zusammengefasst werden können und daher als einzelne Äußerungen in einem<br />

hermeneutischen Zusammenhang zu interpretieren sind:<br />

Tabelle 3/10: Reaktionen von Eltern auf die Zeugnisse<br />

N = 1320<br />

<strong>Die</strong>se Items sind als<br />

Einzelaussagen zu<br />

interpretieren und nicht als<br />

Skala.<br />

Nachdem ich das Zeugnis<br />

kannte, habe ich mein Kind ...<br />

34 ... aufgefordert, im Unterricht<br />

mehr mitzuarbeiten.<br />

37 ... aufgefordert, in einzelnen<br />

Fächern mehr zu tun.<br />

39 ... ermuntert, weiter so zu<br />

lernen.<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwerte<br />

17,4% 9,3% 18,9% 21,1% 33,3% 3,44<br />

18,0% 7,0% 18,9% 24,4% 31,7% 3,46<br />

5,6% 6,0% 16,7% 26,2% 45,5% 4,00<br />

40 ... belohnt. 24,8% 7,6% 17,7% 16,6% 33,3% 3,26<br />

41 ... bestraft. 90,4% 3,7% 4,0% 0,9% 1,1% 1,19


Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern Seite 85<br />

Unter dem Gesichtspunkt der „responses” ist das Item 39 als das wichtigste einzuschätzen:<br />

Insgesamt 72% der Eltern bestärken ihr Kind, d.h., sie muntern es nach Kenntnisnahme des<br />

Zeugnisses auf, „weiter so zu lernen”; nur 12% berichten, nicht im Sinne von Ermutigungen<br />

zu reagieren. Vor diesem Hintergrund muss man die Items 34 und 37 interpretieren, die dem<br />

Item 39 nicht widersprechen: 54% der Eltern fordern ihre Kinder auf, „im Unterricht mehr<br />

mitzuarbeiten”, 27% lehnen dies ab, 19% sind unentschieden; 56% ermuntern ihre Kinder „in<br />

einzelnen Fächern mehr zu tun”, 25% lehnen dies ab, die Zahl der Unentschiedenen bleibt<br />

gleich groß. Belohnungen und Bestrafungen sind eine nochmals stärkere Antwort auf<br />

Zeugnisse; sie sind über die sprachlichen Reaktionen hinaus Medien des Drucks und<br />

Anreizes. Zu den Anreizen, den Belohnungen, bekennt sich die Hälfte der Eltern, ein Drittel<br />

lehnt sie ab, 18% sind unentschieden. Ganz anders ist das Bild beim Druck: 94% der Eltern<br />

berichten, nicht zu strafen; nur 2% bekennen, gestraft zu haben und 4% weichen in ein „teils –<br />

teils” aus.<br />

Tabelle 3/11: Akzeptanz der Zeugnisse – nach Schulform (Mittelwerte)<br />

17<br />

43<br />

44<br />

Schulform<br />

(des Kindes)<br />

GrundschuleGesamtschule<br />

Haupt-/<br />

Realschule <br />

Gymnasium<br />

Gesamt<br />

Anzahl der Antworten n = 309 n = 427 n = 276 n = 309 N = 1321<br />

Das Zeugnis entsprach meinen<br />

Erwartungen. 4,07 3,81 3,47 4,20 3,89<br />

Mein Kind hat die Bewertungen im<br />

Zeugnis akzeptiert.<br />

4,27 3,87 3,89 3,99 4,00<br />

Mein Kind hat sich über sein Zeugnis<br />

gefreut. 4,09 3,34 3,12 3,80 3,58<br />

Skala E2: Akzeptanz der Zeugnisse 4,13 3,68 3,50 3,99 3,82<br />

<strong>Die</strong> Akzeptanz der Zeugnisse ist bei den Gesamtschuleltern signifikant geringer als bei den<br />

Grundschul- und der Gymnasialeltern; sie liegt aber signifikant höher, wenn man sie mit den<br />

Äußerungen der Haupt- und Realschuleltern vergleicht. Letztere erzielen den niedrigsten<br />

Mittelwert 3,47 (17). Wenn man das Item 44 hinzunimmt, wird man schließen dürfen, dass<br />

am Gymnasium und noch einmal verstärkt an der Grundschule die emotionale Zustimmung<br />

der Kinder und Jugendlichen zu den Zeugnissen (aus der Sicht ihrer Eltern) besonders groß<br />

ist. Da Grundschuleltern Zeugnisse besonders stark akzeptieren (43), ergibt sich als<br />

Gesamtbild der Skala ein relativ negativer response aus den Gesamt- und den Haupt-<br />

/Realschulen: Eltern von Gesamtschüler(innen) sehen weniger Gründe zur Akzeptanz der<br />

Zeugnisse als Grundschul- und Gymnasialeltern, und Haupt-/Realschuleltern verstärken diese


Seite 86 Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

Einschätzung noch einmal gegenüber allen anderen Eltern. <strong>Die</strong>ser Befund dürfte<br />

vielschichtige Gründe haben: Grundschuleltern akzeptieren nicht nur die Berichtsform, sie<br />

identifizieren sich auch – im Vergleich mit den übrigen Eltern – stärker mit ihrer Schule und<br />

deren Medien der Leistungsrückmeldung. <strong>Die</strong> geringere Akzeptanz bei den Haupt-/Realschul-<br />

und den Gesamtschuleltern kann man auf die enttäuschten Erwartungen, also auf vermehrt<br />

schlechte <strong>Noten</strong> an diesen Schulformen, zurückführen.<br />

Tabelle 3/12: Akzeptanz der Zeugnisse – nach Zeugnisformen (Mittelwerte)<br />

zuletzt erhaltene Zeugnisform<br />

(des Kindes)<br />

Berichtszeugnis<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis<br />

mit<br />

Kommentarbogen <br />

<strong>Noten</strong>zeugnis<br />

Gesamt<br />

Anzahl der Antworten n = 428 n = 290 n = 576 N = 1321<br />

17 Das Zeugnis entsprach meinen<br />

Erwartungen.<br />

4,00 3,80 3,85 3,89<br />

43 Mein Kind hat die Bewertungen im<br />

Zeugnis akzeptiert. 4,23 3,87 3,89 4,00<br />

44 Mein Kind hat sich über sein Zeugnis<br />

gefreut.<br />

3,90 3,38 3,44 3,58<br />

Skala E2: Akzeptanz der Zeugnisse 4,04 3,69 3,73 3,82<br />

Mit der Tabelle 3/12 können wir in differenzierter Form zeigen, dass die Akzeptanz bei den<br />

Empfängern der reinen Berichtsform – die wir am häufigsten an den Grundschulen finden –<br />

gegenüber allen anderen Zeugnisformen besonders positiv ausgeprägt ist.<br />

Tabelle 3/13: Akzeptanz der Zeugnisse nach Bildungsaspirationen der Eltern<br />

(Mittelwerte)<br />

erwünschter Schulabschluss<br />

(für das Kind)<br />

niedriges<br />

Aspirations<br />

niveau<br />

(bis HS*)<br />

mittleres<br />

Aspirationsniveau<br />

(RS* und<br />

Fachabitur)<br />

hohes<br />

Aspirations<br />

niveau<br />

(Abitur)<br />

Gesamt<br />

Anzahl der Antworten n = 105 n = 440 n = 746 N = 1291<br />

17 Das Zeugnis entsprach meinen<br />

Erwartungen.<br />

3,72 3,72 4,01 3,89<br />

43 Mein Kind hat die Bewertungen<br />

im Zeugnis akzeptiert. 3,86 3,96 4,04 4,00<br />

44 Mein Kind hat sich über sein<br />

Zeugnis gefreut. 3,37 3,33 3,74 3,57<br />

Skala E2: Akzeptanz der Zeugnisse 3,44 3,67 3,93 3,82<br />

*(HS = Hauptschulabschluss, RS= Realschulabschluss)


Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern Seite 87<br />

Aufschlussreich ist die Betrachtung der Zeugnisakzeptanz nach dem Einfluss der<br />

Bildungsaspirationen der Eltern für ihr eigenes Kind. <strong>Die</strong> Akzeptanz ist am stärksten<br />

ausgeprägt bei Eltern mit hohen Erwartungen. <strong>Die</strong>se finden wir nicht nur unter den<br />

Empfängern von Berichtszeugnissen (vgl. Tabelle 3/12). Im zweiten Teil dieses Abschnitts<br />

untersuchen wir als responses die Reaktionen der Eltern, nachdem sie das Zeugnis ihres<br />

Kindes zur Kenntnis genommen haben.<br />

Tabelle 3/14: Reaktionen der Eltern nach Zeugnisformen (Mittelwerte)<br />

Zuletzt erhaltene Zeugnisform<br />

(des Kindes)<br />

Berichtszeugnis<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis mit<br />

Kommentarbogen<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis<br />

Anzahl der Antworten n = 428 n = 293 n = 582<br />

Nachdem ich das Zeugnis kannte,<br />

habe ich mein Kind ...<br />

34 - aufgefordert, im Unterricht mehr<br />

mitzuarbeiten.<br />

37 - aufgefordert, in einzelnen<br />

Fächern mehr zu tun.<br />

3,25 3,60 3,49<br />

3,27 3,61 3,51<br />

39 - ermuntert, weiter so zu lernen. 4,11 3,92 3,93<br />

40 - belohnt. 3,48 3,07 2,81<br />

41 - bestraft. 1,21 1,21 1,16<br />

An dieser Tabelle ist abzulesen, dass alle Einzelitems signifikante Unterschiede für die Eltern<br />

aufweisen, deren Kinder ein Berichtszeugnis erhalten haben. Gegenüber Eltern, deren Kinder<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse erhalten, ermuntern sie am stärksten, „weiter so zu lernen”, sie belohnen ihre<br />

Kinder am nachhaltigsten und lehnen Aufforderungen, „im Unterricht mehr mitzuarbeiten”<br />

und „in einzelnen Fächern mehr zu tun”, am ausdrücklichsten ab.


Seite 88 Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

Tabelle 3/15: Reaktionen der Eltern nach Schulform des Kindes (Mittelwerte)<br />

Schulform GrundschuleGesamtschule<br />

Haupt-<br />

/Realschule <br />

Gymnasium<br />

Gesamt<br />

Anzahl der Antworten n = 306 n = 426 n = 274 n = 308 N = 1314<br />

Nachdem ich das Zeugnis kannte,<br />

habe ich mein Kind ...<br />

34 - aufgefordert, im Unterricht mehr<br />

mitzuarbeiten.<br />

37 - aufgefordert, in einzelnen<br />

Fächern mehr zu tun.<br />

3,36 3,47 3,93 3,03 3,44<br />

3,18 3,65 3,91 3,06 3,45<br />

39 - ermuntert, weiter so zu lernen. 4,39 3,87 3,86 3,92 4,00<br />

40 - belohnt. 2,38 2,98 3,09 3,44 3,26<br />

41 - bestraft. 1,24 1,19 1,31 1,03 1,19<br />

Tabelle 3/15 differenziert das bisher vorliegende Ergebnis. Sie macht deutlich, dass der<br />

Einfluss der Berichtszeugnisse wahrscheinlich mit dem der Schulform Grundschule<br />

kovariiert. Aber es werden auch zusätzliche, differenzierende Tendenzen sichtbar. <strong>Die</strong><br />

meisten Ermahnungen, „im Unterricht mehr mitzuarbeiten”, gibt es von Haupt- und<br />

Realschuleltern (34). <strong>Die</strong>s gilt (in vergleichbarer Ausprägung mit den Gesamtschuleltern)<br />

auch für die Aufforderung, „in den Fächern mehr zu tun” (37). <strong>Die</strong>se Elterngruppe belohnt<br />

ihre Kinder auch am wenigsten für die Zeugnisse. Auffällig ist das Verhalten der Gymnasial-<br />

eltern. Sie ermahnen ihre Kinder am wenigsten (34) und sie betonen am stärksten (Mittelwert<br />

1,03, das sind fast 100%), ihre Kinder nicht für mögliche schlechte <strong>Noten</strong> bestraft zu haben.


Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern Seite 89<br />

Tabelle 3/16: Reaktionen der Eltern nach Bildungsaspiration (Mittelwerte)<br />

erwünschter Schulabschluss<br />

niedriges<br />

Aspirationsniveau<br />

(bis HS*)<br />

mittleres<br />

Aspirationsniveau<br />

(RS* und<br />

Fachabitur)<br />

hohes<br />

Aspirationsniveau<br />

(Abitur)<br />

Gesamt<br />

Anzahl der Antworten n = 105 n = 443 n = 752 N = 1300<br />

Nachdem ich das Zeugnis<br />

kannte, habe ich mein Kind ...<br />

34 - aufgefordert, im Unterricht<br />

mehr mitzuarbeiten<br />

37 - aufgefordert, in einzelnen<br />

Fächern mehr zu tun<br />

39 - ermuntert, weiter so zu<br />

lernen<br />

3,53 3,92 3,14 3,44<br />

3,52 4,01 3,12 3,46<br />

4,11 3,93 4,03 4,00<br />

40 - belohnt 3,26 3,11 3,34 3,26<br />

41 - bestraft 1,33 1,27 1,13 1,19<br />

Tabelle 3/17: Reaktionen der Eltern nach Schulabschluss der Eltern<br />

(Mittelwerte)<br />

Schulabschlüsse der Eltern<br />

(Teilstichprobe)<br />

geringe<br />

Bildungsnähe<br />

(beide Eltern<br />

HS*)<br />

mittlere<br />

Bildungsnähe<br />

(beide Eltern<br />

RS*)<br />

hohe<br />

Bildungsnähe<br />

(beide Eltern<br />

Abitur)<br />

Gesamt<br />

Anzahl der Antworten n = 218 n = 348 n = 305 N = 871<br />

Nachdem ich das Zeugnis<br />

kannte, habe ich mein Kind ...<br />

34 - aufgefordert, im Unterricht<br />

mehr mitzuarbeiten<br />

3,93 3,39 3,08 3,42<br />

37 - aufgefordert, in einzelnen<br />

Fächern mehr zu tun 3,91 3,50 2,99 3,42<br />

39 - ermuntert, weiter so zu lernen 4,23 3,98 3,90 4,02<br />

40 - belohnt 3,31 3,31 3,22 3,28<br />

41 - bestraft 1,26 1,14 1,19 1,18<br />

*(HS = Hauptschulabschluss, RS= Realschulabschluss)<br />

<strong>Die</strong> Tabellen 3/16 und 3/17 kann man zusammen interpretieren. Sie zeigen, dass sich beim<br />

Aspekt Ermahnungen die Eltern mit unterschiedlichen Bildungsaspirationen und die Eltern<br />

mit unterschiedlichen eigenen Schulabschlüssen signifikant in ihren Einschätzungen<br />

unterscheiden – allerdings mit einer spezifischen Differenz: <strong>Die</strong> Eltern, die für ihre Kinder<br />

den mittleren Abschluss anstreben, ermahnen diese am stärksten zur Mitarbeit; es folgen die<br />

Eltern mit einem niedrigen Aspirationsniveau, am liberalsten sind die Eltern, die für ihre


Seite 90 Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

Kinder das Abitur anstreben (Tabelle 3/16). In Tabelle 3/17 bewegt sich dieser Unterschied in<br />

einer aufsteigenden Linie: Eltern mit Hauptschulabschluss ermahnen ihre Kinder am meisten,<br />

es folgen mit deutlicher Differenz die Eltern mit einem mittleren Abschluss. <strong>Die</strong> Eltern mit<br />

Abitur sind wiederum die liberalsten und halten sich mit Ermahnungen am meisten zurück.<br />

Insgesamt betrachtet, drückt sich in den Responses eine hohe Akzeptanz der Zeugnisse aus,<br />

und auch die Reaktionen der Eltern auf die Leistungsrückmeldungen verweisen auf einen<br />

rationalen Umgang mit der Tatsache der Selektion. Vor allem ist bemerkenswert, dass die<br />

meisten Befragten angeben, Zeugnisse nicht zum Anlass für Strafen zu nehmen. <strong>Die</strong><br />

Akzeptanz der Zeugnisse hängt zum einen von der Schulform und der Zeugnisform ab (wobei<br />

Schul- und Zeugnisform wohl kovariieren, aber nicht ineinander aufgehen). Eltern von<br />

Gesamtschülern und Haupt-/Realschülern zeigen eine relativ geringe Akzeptanz. Eltern, deren<br />

Kinder auf die Grundschule gehen und/<strong>oder</strong> Berichtszeugnisse erhalten, zeigen eine hohe<br />

Akzeptanz. Zum anderen spielen die Bildungsaspirationen der Eltern für ihre Kinder eine<br />

besondere Rolle: Je höher die Aspirationen, desto eher werden ganz allgemein Zeugnisse<br />

akzeptiert. Bei den Reaktionen auf Zeugnisse kann man einerseits einen Einfluss der<br />

Schulform und Zeugnisform und andererseits einen Einfluss der Bildungsaspirationen und der<br />

Bildungsabschlüsse feststellen: Am liberalsten sind Gymnasial- und Grundschuleltern. <strong>Die</strong><br />

Eltern mit hohen Aspirationen für die eigenen Kinder und mit hohem eigenen Schulabschluss<br />

unterstützen ihre Kinder am nachdrücklichsten und üben am wenigsten Druck auf sie aus.


3.2 Welche Zeugnisse werden bevorzugt?<br />

Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern Seite 91<br />

Um der Frage nach zu gehen, welche Zeugnisformen von den Eltern bevorzugt werden,<br />

referieren wir zunächst die Erwartungen, die von den Befragten formuliert werden.<br />

3.2.1 Informationserwartungen<br />

Tabelle 3/19: Erwartungen an den Informationsgehalt der Zeugnisse<br />

N = 1192<br />

Cronbach´s alpha = ,731<br />

77 Aus dem Zeugnis würde ich gern<br />

erfahren, wie sich mein Kind im<br />

jeweiligen Schuljahr entwickelt<br />

hat.<br />

78 Durch ein Zeugnis möchte ich<br />

erfahren, was mein Kind im<br />

jeweiligen Schuljahr dazugelernt<br />

hat.<br />

79 Ich finde es gut, dass im Zeugnis<br />

auch etwas zum Arbeits- und<br />

Sozialverhalten geschrieben<br />

wird.<br />

82 Aus dem Zeugnis möchte ich<br />

erfahren, wo mein Kind Hilfe<br />

beim Lernen braucht.<br />

84 Aus dem Zeugnis möchte ich<br />

erfahren, wie sich mein Kind in<br />

der Schule verhält.<br />

90 Ich finde, Lehrer(innen) sollten<br />

im Zeugnis erläutern, warum das<br />

Kind so beurteilt wurde.<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwert<br />

0,8% 1,3% 6,0% 24,1% 67,8% 4,57<br />

3,8% 5,5% 11,3% 24,0% 55,4% 4,21<br />

0,8% 0,5% 4,5% 17,4% 76,8% 4,69<br />

2,0% 3,2% 7,3% 22,0% 65,5% 4,46<br />

2,2% 2,5% 9,3% 28,0% 58,0% 4,37<br />

7,4% 6,8% 21,5% 22,3% 42,1% 3,85<br />

Skala E3: Erwartungen an den Informationsgehalt der Zeugnisse 4,29<br />

Der Gesamtmittelwert der Skala (4,29) zeigt, dass die Eltern hohe Informationserwartungen<br />

an Zeugnisse haben. Sie begrüßen mit Nachdruck, dass ein Zeugnis Aussagen zum Arbeits-<br />

und Sozialverhalten macht (insgesamt 94% Zustimmung), sie möchten im Zeugnis erfahren,<br />

wie sich ihr Kind im jeweiligen Schuljahr entwickelt hat (insgesamt 92% Zustimmung) und<br />

wo es Hilfe beim Lernen braucht (insgesamt 88% Zustimmung). Wichtig ist ihnen auch,<br />

darüber informiert zu werden, wie sich ihr Kind ganz allgemein in der Schule verhält<br />

(insgesamt 86% Zustimmung) und was es im jeweiligen Schuljahr dazugelernt hat (insgesamt<br />

79% Zustimmung). Nicht ganz so nachdrücklich, aber immer noch deutlich, wird von den<br />

Befragten eine zusätzliche Dimension der Information nachgefragt: Lehrer sollen im Zeugnis<br />

erläutern, nach welchen Gesichtspunkten ein Kind beurteilt wird (insgesamt 64%


Seite 92 Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

Zustimmung). Eltern haben somit nicht nur das Bedürfnis nach Informationen über das<br />

Lernverhalten, sondern auch nach dessen Diagnose.<br />

<strong>Die</strong> letzte Interpretation wird durch zusätzliche Aussagen der Eltern noch verstärkt (ohne<br />

Tabelle). Für 78% war die Bewertung der <strong>schulische</strong>n Leistungen ihrer Kinder im Zeugnis<br />

deutlich erkennbar (Item 15), aber nach welchen Kriterien die Bewertung der Kinder erfolgte,<br />

war fast der Hälfte der Eltern unklar und ein Viertel konnte sich nicht entscheiden (Item 29).<br />

Betrachtet man die Skala E3 insgesamt, dann wird die hohe Informationserwartung der Eltern<br />

an die Zeugnisse deutlich. Man könnte annehmen, dass sie eine Zeugnisform, die für sie diese<br />

Bedingungen erfüllt, besonders favorisieren. <strong>Die</strong>s trifft, wie die folgenden Tabellen zeigen<br />

werden, für die <strong>Noten</strong>- und Berichtszeugnisse nicht zu. Insgesamt wird deutlich, dass das<br />

Elternurteil über die Zeugnisformen höchst behutsam ausfällt. Man kann – in<br />

unterschiedlichen Akzentuierungen – beiden Varianten Vorzüge abgewinnen, schreibt aber<br />

ebenso differenziert auch beiden Nachteile zu.<br />

3.2.2 Einstellungen zu <strong>Noten</strong>zeugnissen<br />

Tabelle 3/20: Vorteile von <strong>Noten</strong> und <strong>Noten</strong>zeugnissen<br />

N = 1200<br />

Cronbach´s alpha = ,909<br />

66 <strong>Noten</strong>zeugnisse sind objektiver<br />

als Berichtszeugnisse.<br />

76 <strong>Noten</strong>zeugnisse vermitteln<br />

klare Informationen über die<br />

fachlichen Leistungen eines<br />

Kindes in der Schule.<br />

91 <strong>Noten</strong>zeugnisse verstehe ich<br />

besser als Berichtszeugnisse.<br />

92 Gute <strong>Noten</strong> spornen die Kinder<br />

an.<br />

93 Kinder müssen sich frühzeitig<br />

an <strong>Noten</strong> gewöhnen.<br />

94 Für den weiteren Bildungsweg<br />

meines Kindes sind Zensuren<br />

besser als Lernberichte.<br />

95 <strong>Noten</strong> im Zeugnis finde ich<br />

gerechter als Berichtszeugnisse.<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwert<br />

15,1% 14,1% 28,3% 22,2% 20,3% 3,19<br />

6,8% 12,8% 27,9% 29,4% 23,1% 3,49<br />

23,7% 15,9% 21,7% 16,6% 22,1% 2,97<br />

2,1% 2,4% 23,5% 28,4% 43,6% 4,09<br />

13,3% 12,5% 25,4% 22,5% 26,3% 3,36<br />

13,1% 10,0% 22,4% 23,6% 30,9% 3,49<br />

21,7% 13,9% 28,8% 16,1% 19,5% 2,98<br />

Skala E4: Vorteile von <strong>Noten</strong> und <strong>Noten</strong>zeugnissen 3,20<br />

„Gute <strong>Noten</strong> spornen Kinder an“, in diesem Urteil sind sich die meisten Eltern einig: 72%<br />

der Befragten stimmen diesem Urteil zu, nur 5% lehnen es ab. Immer noch deutlich, aber


Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern Seite 93<br />

nicht mehr so eindeutig, sind sie der Meinung, dass <strong>Noten</strong>zeugnisse klare Informationen über<br />

die fachlichen Leistungen eines Kindes in der Schule vermitteln und für den weiteren<br />

Bildungsweg des eigenen Kindes geeigneter sind als Lernberichte. <strong>Die</strong>se Aussage könnte als<br />

Widerspruch zu den Aussagen der Skala E3 (Tabelle 3/19) gewertet werden und somit auf<br />

Inkonsistenz im Urteil der Eltern hinweisen. <strong>Die</strong> Semantik des Items 76 ermöglicht jedoch<br />

eine andere Interpretation: <strong>Die</strong> Eltern wünschen klare Aussagen. Sie möchten wissen, wo<br />

genau die eigenen Kinder in der Leistungshierarchie stehen. Bei dieser Forderung bieten<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse, die aufgrund ihrer digitalen Kommunikation keinen Interpretationsspielraum<br />

zulassen, gegenüber den Berichtszeugnissen einen Vorteil; denn diese sind als analoge<br />

Kommunikationsmedien auf Interpretationen angewiesen. Bei der Frage nach dem eigenen<br />

Verstehen von <strong>Noten</strong>zeugnissen ist die Elternschaft gespalten (Tabelle 3/20): 39% der Eltern<br />

meinen, <strong>Noten</strong>zeugnisse besser zu verstehen als Berichtszeugnisse, ebenso viele stimmen<br />

dieser Aussage ausdrücklich nicht zu und 21,7% sind unentschieden. Ähnlich gespalten fällt<br />

die Elterneinschätzung bei der Frage nach der Gerechtigkeit von <strong>Noten</strong> aus: 36% halten<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse für gerechter, ebenso viele sind nicht dieser Meinung und 29% sind<br />

unentschieden. Insgesamt schätzen die Eltern mit einer leichten Tendenz die Vorzüge von<br />

<strong>Noten</strong> und <strong>Noten</strong>zeugnissen positiv ein. Aber das Urteil fällt nicht eindeutig aus, es ist ebenso<br />

gespalten wie das Urteil über die Nachteile von <strong>Noten</strong>.<br />

Tabelle 3/21: Nachteile von <strong>Noten</strong>zeugnissen<br />

N = 1.186<br />

Cronbach´s alpha = ,850<br />

63 Schlechte <strong>Noten</strong> schaden dem<br />

Selbstbewusstsein der Kinder.<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwert<br />

14,3% 16,5% 32,7% 17,0% 19,6% 3,11<br />

69 Schlechte <strong>Noten</strong> erhöhen die<br />

Schulangst. 6,9% 13,3% 31,2% 23,9% 24,7% 3,41<br />

72 <strong>Noten</strong> führen zu Rivalität<br />

zwischen den Kindern.<br />

9,6% 16,1% 37,8% 19,1% 17,5% 3,19<br />

73 <strong>Noten</strong> können Eltern dazu<br />

verleiten, Druck auf ihr Kind<br />

auszuüben.<br />

75 <strong>Die</strong> Angst vor schlechten<br />

<strong>Noten</strong> behindert die<br />

Lernfähigkeit der Kinder.<br />

8,9% 11,7% 33,2% 26,8% 19,4% 3,36<br />

9,6% 18,0% 35,4% 18,1% 18,8% 3,19<br />

Skala E5: Nachteile von <strong>Noten</strong>zeugnissen 3,26


Seite 94 Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

Dass schlechte <strong>Noten</strong> die Schulangst erhöhen, glaubt ungefähr die Hälfte der Eltern: 20% sind<br />

von einer solchen Einschätzung nicht überzeugt (69). Eine Befürchtung ähnlichen Ausmaßes<br />

besteht bei Item 73 „<strong>Noten</strong> können Eltern dazu verleiten, Druck auf ihr Kind auszuüben”. Bei<br />

allen übrigen Items gibt es 37% Befürworter und 26% bis 30% Ablehner. <strong>Die</strong><br />

Unentschiedenen bilden eine Teilgruppe von 33% bis 38%. Ob <strong>Noten</strong> dem Selbstbewusstsein<br />

von Kindern schaden, zu Rivalität unter den Kindern führen <strong>oder</strong> ihre Lernfähigkeit<br />

behindern: diese Möglichkeiten werden von den Eltern nicht ausgeschlossen, aber auch nicht<br />

eindeutig unterstellt; die Mittelwerte dieser Items liegen bei 3,19 und 3,11. Insgesamt<br />

beurteilen die Eltern die Nachteile von <strong>Noten</strong> und <strong>Noten</strong>zeugnissen höchst ambivalent.<br />

3.2.3 Einstellungen zu Berichtszeugnissen<br />

Ebenso wie bei den <strong>Noten</strong>zeugnissen äußern sich die Eltern auch zu den Berichtszeugnissen<br />

sehr differenziert: Sowohl Vor- als auch Nachteile dieser Beurteilungsform werden gesehen.<br />

Tabelle 3/22: Vorteile von Berichtszeugnissen<br />

N = 1.183<br />

Cronbach´s alpha = , 895<br />

60 Berichtszeugnisse geben eine<br />

genauere Auskunft über die<br />

Entwicklung eines Kindes als<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse.<br />

62 Ein Berichtszeugnis informiert<br />

genauer über das Kind.<br />

64 Berichtszeugnisse bieten auch den<br />

Eltern die Möglichkeit, ihr Kind<br />

gezielt zu fördern.<br />

71 Ein Berichtszeugnis kann das<br />

Kind auf seine Stärken<br />

aufmerksam machen und<br />

anspornen.<br />

83 Berichtszeugnisse können die<br />

Schwächen eines Kindes genauer<br />

als <strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

charakterisieren.<br />

88 Berichtszeugnisse tragen dazu<br />

bei, dass die Kinder nicht so<br />

schnell die Lust am Lernen<br />

verlieren.<br />

�<br />

stimmt<br />

gar<br />

nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwert<br />

11,7% 11,3% 31,0% 21,4% 24,7% 3,36<br />

11,0% 10,2% 27,9% 22,4% 28,5% 3,47<br />

10,7% 15,8% 31,9% 21,2% 20,3% 3,25<br />

5,5% 8,2% 28,8% 27,3% 30,2% 3,69<br />

7,6% 9,4% 24,2% 25,4% 33,4% 3,67<br />

12,2% 16,5% 35,1% 21,2% 15,0% 3,1<br />

Skala E6: Vorteile von Berichtszeugnissen 3,55


Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern Seite 95<br />

Der Wunsch der Eltern nach ausführlicher Information über das Lernverhalten ihrer Kinder<br />

mag erklären, dass insgesamt gesehen das Urteil über die Berichtszeugnisse zwar differenziert<br />

ausfällt, aber tendenziell positiv formuliert wird. Berichtszeugnisse können Kinder auf ihre<br />

Stärken aufmerksam machen und anspornen, ebenso wie sie ihre Schwächen genauer<br />

charakterisieren, als dies <strong>Noten</strong>zeugnisse vermögen: <strong>Die</strong>sen Aussagen stimmen immerhin<br />

knapp 60% der Befragten zu, während nur 14% bzw. 17% sie ablehnen (Items 71 und 83).<br />

<strong>Die</strong> Überzeugung, dass Berichtszeugnisse eine präzisere Auskunft über die Entwicklung von<br />

Kindern geben als <strong>Noten</strong>zeugnisse, teilen immerhin 51% der Befragten, während nur 21%<br />

gegenteiliger Meinung sind. Nicht mehr ganz so eindeutig ist die Zustimmung der Eltern bei<br />

den Aussagen, dass Berichtszeugnisse sie in die Lage versetzen, ihre Kinder gezielt zu<br />

fördern <strong>oder</strong> deren Lernmotivation zu stimulieren (Items 64 und 88).<br />

Tabelle 3/23: Nachteile von Berichtszeugnissen<br />

N = 1.184<br />

Cronbach’s alpha = ,753<br />

67 Ein Berichtszeugnis könnte<br />

anders gedeutet werden, als es<br />

die Lehrerin/der Lehrer gemeint<br />

hat.<br />

85 Mit Berichtszeugnissen kann ich<br />

nichts anfangen, ich hätte lieber<br />

Zensuren.<br />

87 Berichtszeugnisse bereiten die<br />

Kinder nicht genügend auf den<br />

Ernst des Lebens vor.<br />

�<br />

stimmt<br />

gar<br />

nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwert<br />

6,4% 11,5% 35,6% 23,6% 22,9% 3,45<br />

29,3% 13,5% 28,4% 11,1% 17,7% 2,75<br />

22,0% 15,4% 25,1% 20,0% 17,5% 2,96<br />

Skala E7: Nachteile von Berichtszeugnissen 3,01<br />

Als Nachteil der Berichtszeugnisse wird die Gefahr gesehen, dass ihre Botschaften für die<br />

Rezipienten unklar sind und die Intentionen der Lehrer(innen) verfehlen können (46%<br />

stimmen zu, 18% lehnen ab). Von Zeugnissen verlangen Eltern jedoch eindeutige<br />

Informationen, und die lassen Berichtszeugnisse, weil sie auf Interpretationen angewiesen<br />

sind, vermissen. Alle anderen Aussagen zu den Nachteilen von Berichtszeugnissen – man<br />

kann mit verbalen Urteilen nichts anfangen, verbale Urteile bereiten Kinder nicht genügend<br />

auf den Ernst des Lebens vor – spalten die Elternschaft wieder in Befürworter, Ablehner und<br />

Unentschiedene. Dass – im Rahmen der eingangs geschilderten Zurückhaltung der<br />

Elternschaft – die Voten für Berichtszeugnisse tendenziell durchaus positiv und die Voten


Seite 96 Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

gegen Berichtszeugnisse nicht gravierend negativ ausfallen, ist ein Hinweis darauf, dass es<br />

unter den Eltern Unentschiedene und auch Gegner, aber auch eine große Zahl von<br />

Befürwortern dieser Zeugnisform gibt. Der Mittelwert der Skala liegt bei 3,01 und signalisiert<br />

damit ein breites Spektrum von Meinungen.<br />

3.2.4 Einstellungen zu <strong>Noten</strong>zeugnissen mit Kommentarbogen<br />

<strong>Die</strong> Kombination der digitalen Information (Note) mit der analogen Information (<strong>Berichte</strong>)<br />

wird in den folgenden Items thematisiert. Dabei muss man sich bewusst sein, dass sowohl<br />

Vorteile als auch Nachteile dieser beiden Varianten der Beurteilung in diese Kombination<br />

eingehen können, zugleich aber eine Wechselwirkung entsteht, in der sich Nachteile<br />

ausgleichen können, etwa wenn das Zustandekommen einer Note erläutert wird. Es ist aber<br />

auch denkbar, dass sich Vorteile verwischen, etwa wenn ein ermutigender Text durch eine<br />

schlechte Note an Motivationswirkung verliert. In der folgenden Tabelle 3/24 sind drei Items<br />

zu einer Skala zusammengefasst, die die Vorzüge einer kombinierten Rückmeldung<br />

thematisieren.<br />

Tabelle 3/24: Vorzüge von <strong>Noten</strong>zeugnissen mit Kommentarbogen<br />

N = 941<br />

(nur Sekundarstufe I-Eltern)<br />

Cronbach’s alpha = ,727<br />

116 Schriftliche Kommentare zu<br />

einzelnen Fächern können ein<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis verständlicher<br />

machen.<br />

117 Wenn schon <strong>Noten</strong>zeugnisse,<br />

dann bin ich auf jeden Fall für<br />

schriftliche Kommentare zu<br />

einzelnen Fächern.<br />

118 Schriftliche Kommentare haben<br />

für Eltern meist zu wenig<br />

Informationsgehalt. Sie können<br />

weggelassen werden.<br />

�<br />

stimmt<br />

gar<br />

nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwert<br />

2,1% 0,9% 9,8% 23,9% 63,3% 4,46<br />

2,6% 2,4% 9,4% 17,5% 68,1% 4,46<br />

65,6% 18,5% 10,3% 3,4% 2,2% 1,58<br />

Skala E8: Vorteile von <strong>Noten</strong>zeugnissen mit Komme ntaren 4,44<br />

An dem Skalenmittelwert von 4,44 kann man ablesen, dass die Grundsatzdebatte, die in der<br />

veröffentlichten Pädagogenmeinung die Lager in Befürworter und Gegner der einen <strong>oder</strong><br />

anderen Zeugnisform spaltet, von den Eltern weniger dogmatisch beurteilt wird. Eltern (im<br />

Aggregat betrachtet) sind offensichtlich Pragmatiker, die die Vor- und Nachteile der


Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern Seite 97<br />

Zeugnisformen auf ganz verschiedenen Ebenen abwägen, dann aber zu einem Vorschlag<br />

zusammenbringen: Man möchte Eindeutigkeit im Bewertungsurteil sowie ergänzende<br />

Informationen und Diagnosen, um das Bewertungsurteil nachvollziehen zu können. Ganz klar<br />

wird die Meinung abgelehnt, dass schriftliche Kommentare zu <strong>Noten</strong>zeugnissen zu wenig<br />

Informationsgehalt bieten (Item 118). Eindeutig befürwortet werden Kommentare, die die<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse verständlicher machen (Item 116: 87%). Unter der realistischen Einschätzung<br />

der Nichtabschaffung von <strong>Noten</strong> werden auf jeden Fall schriftliche Kommentare zu den<br />

Ziffernnoten gewünscht (Item 117: 86%).<br />

In den folgenden vier Teilabschnitten untersuchen wir die Präferenzen der Eltern für die drei<br />

<strong>Hamburg</strong>er Zeugnisformen unter dem Einfluss von vier Faktoren: Zeugnisform, Schulform,<br />

Bildungsaspirationen für die eigenen Kinder und Höhe des eigenen Bildungsabschlusses.<br />

3.2.5 Der Einfluss der Zeugnisform<br />

Es ist zu erwarten, dass die Einstellungen der Eltern zu den Zeugnisformen differieren, je<br />

nachdem welche Versionen ihre Kinder erhalten. Dabei kann man unterstellen, dass Eltern der<br />

Zeugnisform, mit der sie aktuell nicht konfrontiert sind, größere Nachteile zuschreiben als<br />

derjenigen, mit der sie sich in dem vorausgegangenen Schuljahr auseinander setzen mussten:<br />

Was man kennt, weiß man zu schätzen, was man nicht kennt, dem unterstellt man Probleme.


Seite 98 Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

Tabelle 3/25: Erwartungen der Eltern an den Informationsgehalt der Zeugnisse nach<br />

Zeugnisform (Mittelwerte)<br />

zuletzt erhaltene Zeugnisform Berichts- <strong>Noten</strong>zeugnis mit<br />

(des Kindes)<br />

zeugnis Kommentarbogen <strong>Noten</strong>zeugnis<br />

Gesamt<br />

Anzahl der Antworten n = 387 n = 253 n = 545 N = 1185<br />

77 Aus dem Zeugnis würde ich gern<br />

erfahren, wie sich mein Kind im<br />

jeweiligen Schuljahr entwickelt hat.<br />

4,70 4,54 4,49 4,57<br />

78 Durch ein Zeugnis möchte ich<br />

erfahren, was mein Kind im<br />

jeweiligen Schuljahr dazugelernt hat.<br />

79 Ich finde es gut, dass im Zeugnis auch<br />

etwas zum Arbeits- und<br />

Sozialverhalten geschrieben wird.<br />

82 Aus dem Zeugnis möchte ich<br />

erfahren, wo mein Kind Hilfe beim<br />

Lernen braucht.<br />

84 Aus dem Zeugnis möchte ich<br />

erfahren, wie sich mein Kind in der<br />

Schule verhält.<br />

90 Ich finde, Lehrer(innen) sollten im<br />

Zeugnis erläutern, warum das Kind so<br />

beurteilt wurde.<br />

Skala E3: Erwartungen an den<br />

Informationsgehalt der Zeugnisse<br />

4,51 4,23 4,00 4,21<br />

4,77 4,72 4,62 4,49<br />

4,66 4,53 4,29 4,46<br />

4,54 4,45 4,21 4,37<br />

3,91 3,91 3,77 3,85<br />

4,45 4,30 4,17 4,29<br />

<strong>Die</strong> vergleichende Analyse der Mittelwerte macht deutlich, dass diejenigen Eltern, deren<br />

Kinder die ausführliche Zeugnisform, das Berichtszeugnis, erhalten, den größten Wert auf<br />

umfassende Informationen zum Lernverhalten legen und eine differenzierte Diagnose<br />

einfordern (Mittelwert der Skala 4,45). Es folgen die Eltern, deren Kinder <strong>Noten</strong>zeugnisse mit<br />

Kommentaren erhalten (Mittelwert 4,30), noch einmal signifikant weniger Informationen<br />

erwarten Eltern, deren Kinder <strong>Noten</strong>zeugnisse erhalten (Mittelwert 4,17). Bei den genannten<br />

Differenzen muss man allerdings beachten, dass alle Mittelwerte deutlich im<br />

Zustimmungsbereich verbleiben. Also auch die Eltern, deren Kinder <strong>Noten</strong>zeugnisse erhalten,<br />

wünschen sich Informationen, die über das bloße <strong>Noten</strong>bild hinausgehen.<br />

Tabelle 3/26: Vor- und Nachteile von <strong>Noten</strong>zeugnissen nach Zeugnisform<br />

(Skalen-Mittelwerte)<br />

zuletzt erhaltene Zeugnisform<br />

Berichtszeugnis<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis mit<br />

Kommentarbogen<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis<br />

Anzahl der Antworten n = 393 n = 258 N = 551<br />

Skala E4: Vorteile von <strong>Noten</strong> und<br />

<strong>Noten</strong>zeugnissen<br />

3,13 3,37 3,55<br />

Skala E5: Nachteile von <strong>Noten</strong> 3,43 3,29 3,13


Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern Seite 99<br />

Der Vergleich der Mittelwerte der beiden Skalen zu den <strong>Noten</strong>zeugnissen verweist auf<br />

folgenden Zusammenhang: <strong>Die</strong> Eltern von Kindern mit Berichtszeugnissen sind am<br />

wenigsten davon überzeugt, dass <strong>Noten</strong>zeugnisse Vorzüge besitzen, und sie heben am<br />

stärksten die nachteiligen Wirkungen von schlechten <strong>Noten</strong> hervor. Eltern von Kindern <strong>oder</strong><br />

Jugendlichen mit <strong>Noten</strong>zeugnissen sind dagegen von den Vorzügen dieser Zeugnisform<br />

relativ überzeugt und schätzen die negativen Folgen von <strong>Noten</strong> als weniger gravierend ein.<br />

Tabelle 3/27: Vor- und Nachteile von Berichtszeugnissen nach Zeugnisform<br />

(Skalen-Mittelwerte)<br />

zuletzt erhaltene Zeugnisform<br />

Berichts-<br />

zeugnis<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis mit<br />

Kommentarbogen<br />

<strong>Noten</strong>-<br />

zeugnis<br />

Anzahl der Antworten n = 388 n = 257 n = 553<br />

Skala E6: Vorteile von Berichtszeugnissen<br />

Skala E7: Nachteile von Berichtszeugnissen<br />

3,81 3,57 3,37<br />

2,70 3,00 3,24<br />

<strong>Die</strong> Elternurteile in den untersuchten Teilgruppen bleiben konsistent. <strong>Die</strong> Eltern, deren<br />

Kinder Berichtszeugnisse erhalten, stimmen stärker den Vorzügen von Berichtszeugnissen zu<br />

als Eltern, deren Kinder <strong>Noten</strong>zeugnisse erhalten. Das gleiche gilt mit umgekehrten<br />

Vorzeichen für die Nachteile von Berichtszeugnissen. Hier unterscheiden sich die<br />

Einschätzungen in allen drei Dimensionen signifikant.<br />

Tabelle 3/28: Vorteile von <strong>Noten</strong>zeugnissen mit Kommentarbogen nach<br />

Zeugnisform (Skalen-Mittelwerte)<br />

zuletzt erhaltene Zeugnisform<br />

Berichtszeugnis<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis mit<br />

Kommentarbogen <strong>Noten</strong>zeugnis<br />

Anzahl der Antworten n = 157 n = 260 n = 524<br />

Skala E8: Vorteile von <strong>Noten</strong>zeugnissen<br />

mit Kommentarbogen<br />

4,59 4,56 4,34<br />

<strong>Die</strong> Vorzüge der <strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen werden – wie die Überblicks-<br />

darstellung zeigte – von allen Elterngruppen anerkannt. Selbst der schwächste Mittelwert von<br />

4,34 signalisiert noch deutliche Zustimmung zu dieser Zeugnisform. Trotzdem stimmen die<br />

Eltern von Kindern, die <strong>Noten</strong>zeugnisse erhalten, den <strong>Noten</strong>zeugnissen mit Kommentarbogen<br />

signifikant weniger zu als die anderen beiden Elterngruppen.


Seite 100 Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

3.2.6 Der Einfluss der Schulformen<br />

In diesem Abschnitt soll der Einfluss der Schulformen auf die Präferenzen für Zeugnisformen<br />

untersucht werden. Aufgrund der Verteilung der Zeugnisformen auf die von uns ausgewählten<br />

Schulen ist eine Kovarianz zwischen beiden Faktoren anzunehmen. Doch bilden die Tabellen<br />

zu den Schulformen die verschiedenartigen Einstellungen der Eltern nicht so deutlich ab wie<br />

die Tabellen zu den Zeugnisformen. Deshalb werden nur in der folgenden Tabelle 3/29 die<br />

Mittelwerte der Items mitgeteilt. <strong>Die</strong> dann folgende Tabelle 3/30 fasst alle Skalenmittelwerte,<br />

die für diesen Abschnitt relevant sind, zusammen.<br />

Tabelle 3/29: Informationserwartungen der Eltern – nach Schulform (Mittelwerte)<br />

Schulform GrundschuleGesamtschule<br />

Haupt-<br />

/Realschule <br />

Gymnasium<br />

Gesamt<br />

Anzahl der Antworten n = 266 n = 258 n = 379 n = 308 N=1211<br />

77 Aus dem Zeugnis würde ich gern<br />

erfahren, wie sich mein Kind im<br />

jeweiligen Schuljahr entwickelt hat.<br />

78 Durch ein Zeugnis möchte ich erfahren,<br />

was mein Kind im jeweiligen Schuljahr<br />

dazugelernt hat.<br />

79 Ich finde es gut, dass im Zeugnis auch<br />

etwas zum Arbeits- und Sozialverhalten<br />

geschrieben wird.<br />

82 Aus dem Zeugnis möchte ich erfahren,<br />

wo mein Kind Hilfe beim Lernen<br />

braucht.<br />

84 Aus dem Zeugnis möchte ich erfahren,<br />

wie sich mein Kind in der Schule<br />

verhält.<br />

90 Ich finde, Lehrer(innen) sollten im<br />

Zeugnis erläutern, warum das Kind so<br />

beurteilt wurde.<br />

Skala E3: Informationserwartungen der<br />

Eltern<br />

4,63 4,58 4,60 4,45 4,57<br />

4,48 4,36 4,29 3,76 4,21<br />

4,70 4,73 4,68 4,66 4,69<br />

4,64 4,62 4,53 4,07 4,46<br />

4,54 4,44 4,39 4,15 4,37<br />

3,89 4,10 4,88 3,56 3,85<br />

4,42 4,43 4,33 4,00 4,29<br />

<strong>Die</strong> Tabelle 3/29 zeigt, dass Eltern, deren Kinder ein Gymnasium besuchen, die relativ<br />

geringsten Informationserwartungen an Zeugnisse haben. Insbesondere ist es ihnen nicht so<br />

wichtig zu erfahren, „wo mein Kind Hilfe beim Lernen braucht” (32), und sie sind auch<br />

weniger der Meinung, dass eine Lehrerin im Zeugnis erläutern sollte, „warum das Kind so<br />

beurteilt wurde” (90).


Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern Seite 101<br />

Tabelle 3/30: Vor- und Nachteile der verschiedenen Zeugnisformen – nach<br />

Schulform (Skalen-Mittelwerte)<br />

Schulform GrundschuleGesamtschule<br />

Haupt-<br />

/Realschule <br />

Gymnasium<br />

Gesamt<br />

Anzahl der Antworten n = 266 n = 379 n = 258 n = 308 N = 1211<br />

Skala E4: Vorteile von<br />

<strong>Noten</strong>zeugnissen<br />

Skala E5: Nachteile von<br />

<strong>Noten</strong>zeugnissen<br />

3,26 3,23 3,68 3,39 3,37<br />

3,43 3,34 3,14 3,13 3,26<br />

Skala E6: Vorteile von<br />

Berichtszeugnissen 3,74 3,65 3,34 3,43 3,55<br />

Skala E7: Nachteile von<br />

Berichtszeugnissen<br />

Skala E8: Vorteile von<br />

<strong>Noten</strong>zeugnissen mit<br />

Kommentaren<br />

* Wurde bei Grundschuleltern nicht erhoben.<br />

2,75 2,89 3,34 3,11 3,01<br />

* 4,55 4,32 4,42 4,44<br />

<strong>Die</strong> Zusammenfassung dieser Skalen lässt gut erkennen, dass sich die Eltern der Haupt-/Real-<br />

schüler(innen) in ihren Zeugnispräferenzen mit einer konservativen Orientierung von allen<br />

anderen Eltern unterscheiden. Sie heben die Vorzüge von <strong>Noten</strong> am stärksten hervor. Als<br />

Vertreter der schwächsten Schulklientel legen sie am meisten Wert auf eindeutige<br />

Zertifizierung, weil – so ist zu vermuten – für den Bildungsaufstieg ihrer Kinder <strong>Noten</strong><br />

besonders wichtig sind. Mit dieser Orientierung loben sie die Vorzüge von<br />

Berichtszeugnissen nur zurückhaltend und betonen deren Nachteile. Auch ist die Zustimmung<br />

der Haupt-/Realschuleltern zu den <strong>Noten</strong>zeugnissen mit Kommentarbogen signifikant die<br />

geringste.


Seite 102 Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

3.2.7 Der Einfluss der Bildungsaspirationen<br />

Auch in diesem Abschnitt werden der Übersichtlichkeit halber die Mittelwerte für alle Skalen<br />

gemeinsam mitgeteilt.<br />

Tabelle 3/31: Vor- und Nachteile der verschiedenen Zeugnisformen<br />

– nach Aspirationsniveau der Eltern (Skalen-Mittelwerte)<br />

erwünschter Schulabschluss<br />

niedriges<br />

Aspirationsniveau<br />

(bis HS*)<br />

mittleres<br />

Aspirationsniveau<br />

(RS* und<br />

Fachabitur)<br />

hohes<br />

Aspirationsniveau<br />

(Abitur)<br />

Anzahl der Antworten n = 94 n = 398 n = 706<br />

Skala E3: Informationserwartungen der<br />

Eltern<br />

Skala E4: Vorteile von <strong>Noten</strong> und<br />

<strong>Noten</strong>zeugnissen<br />

4,42 4,40 4,21<br />

3,20 3,54 3,20<br />

Skala E5: Nachteile schlechter <strong>Noten</strong> 3,54 3,21 3,26<br />

Skala E6: Vorteile von<br />

Berichtszeugnissen<br />

Skala E7: Nachteile von<br />

Berichtszeugnissen<br />

Skala E8: Vorteile von<br />

<strong>Noten</strong>zeugnissen mit<br />

Kommentarbogen<br />

3,80 3,45 3,58<br />

2,84 3,17 2,95<br />

4,49 4,45 4,43<br />

<strong>Die</strong> Skalenübersicht zeigt: Eltern mit hohen Bildungsaspirationen für ihre Kinder haben im<br />

Hinblick auf Zeugnisse relativ die geringsten Informationserwartungen, sie sehen durchaus<br />

die Nachteile von Berichtszeugnissen und sind von den Vorzügen der <strong>Noten</strong>zeugnisse relativ<br />

zu den anderen Elterngruppen weniger überzeugt. Nachteile von schlechten <strong>Noten</strong> fürchten<br />

die Eltern am meisten, die für ihre Kinder die niedrigsten Bildungsaspirationen artikulieren.<br />

Trotzdem bilden nicht sie, sondern die Eltern mit einem mittleren Aspirationsniveau für die<br />

eigenen Kinder die Gruppe, die am stärksten auf <strong>Noten</strong>zeugnisse fixiert ist und<br />

Berichtszeugnisse ablehnt.


3.2.8 Der Einfluss der Schulabschlüsse der Eltern<br />

Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern Seite 103<br />

Tabelle 3/32: Vor- und Nachteile der verschiedenen Zeugnisformen nach<br />

Bildungsniveau der Eltern (Skalen-Mittelwerte)<br />

Bildungsnähe/Schulabschlüsse der Eltern<br />

(Teilstichprobe)<br />

geringe<br />

Bildungsnähe<br />

(beide Eltern<br />

HS*)<br />

mittlere<br />

Bildungsnähe<br />

(beide Eltern<br />

RS*)<br />

hohe<br />

Bildungsnähe<br />

(beide Eltern<br />

Abitur)<br />

Anzahl der Antworten n = 218 n = 353 n = 307<br />

Skala E3: Informationserwartungen der Eltern 4,39 4,29 4,19<br />

Skala E4: Vorteile von <strong>Noten</strong>zeugnissen 3,72 3,45 3,08<br />

Skala E5: Nachteile von <strong>Noten</strong>zeugnissen 3,41 3,20 3,71<br />

Skala E6: Vorteile von Berichtszeugnissen 3,36 3,48 3,72<br />

Skala E7: Nachteile von Berichtszeugnissen 3,20 3,11 2,83<br />

Skala E8: Vorteile von <strong>Noten</strong>zeugnissen mit<br />

Kommentarbogen<br />

4,41 4,43 4,42<br />

Betrachtet man die Einflüsse des eigenen Bildungsabschlusses auf die Zeugnispräferenzen,<br />

dann ist eine klare Tendenz zu erkennen. Eltern mit Hauptschulabschluss ziehen<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse vor. Eltern mit Abitur sind hier weit offener. Zwar legen auch sie viel Wert<br />

auf Zeugnisinformationen, aber signifikant weniger als alle übrigen Eltern. <strong>Die</strong> Vorzüge von<br />

<strong>Noten</strong> und <strong>Noten</strong>zeugnissen schätzen sie viel geringer ein als alle übrigen Eltern, aber ebenso<br />

die Nachteile (gegenüber den Eltern mit Hauptschulabschluss). Eltern mit Abitur sind nicht<br />

davon überzeugt, dass <strong>Noten</strong>zeugnisse objektiver <strong>oder</strong> gerechter sind als Berichtszeugnisse<br />

(ohne Tabelle). Deshalb können sie Berichtszeugnissen viele Vorteile abgewinnen und sehen<br />

nur geringe Nachteile. Aber in einer Einschätzung stimmen alle in diesem Zusammenhang<br />

betrachteten Elterngruppen wieder überein: Sie haben eine gleich hohe Präferenz für<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen.<br />

Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Eltern haben allgemein hohe Informations-<br />

erwartungen an Zeugnisse. Weder die <strong>Noten</strong>- noch die Berichtszeugnisse erfüllen diese<br />

Erwartungen vollständig. Das Urteil der Eltern ist im Hinblick auf diese beiden<br />

Zeugnisformen gespalten:<br />

- <strong>Noten</strong>(zeugnisse) spornen an, vermitteln als digitale Kommunikationsmedien klare<br />

Informationen und erscheinen für den weiteren Bildungsweg des eigenen Kindes<br />

geeigneter als Lernberichte.


Seite 104 Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

- Berichtszeugnisse weisen Stärken und Schwächen eines Schülers differenziert aus und<br />

informieren als analoge Kommunikationsmedien genauer als <strong>Noten</strong>zeugnisse über den<br />

<strong>schulische</strong>n Entwicklungsstand der eigenen Kinder.<br />

Das Urteil über die dritte <strong>Hamburg</strong>er Zeugnisform fällt eindeutiger aus:<br />

- <strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen vereinigen große Zustimmung auf sich. Bei dieser<br />

Zeugnisform scheinen die <strong>Noten</strong> die Eindeutigkeit der Information zu garantieren, der<br />

Kommentarbogen enthält willkommene Zusatzinformationen zur Lernentwicklung des<br />

eigenen Kindes.<br />

<strong>Die</strong> differenzielle Analyse unserer Daten führt zunächst zu der Einsicht, dass Eltern sich mit<br />

der Zeugnisform, die sie in der Schule ihrer Kinder vorfinden, durchaus identifizieren und die<br />

nicht verwendeten Formen eher distanziert betrachten.<br />

- Analysiert man die Daten nach dem Einfluss der Schulformen, dann zeigt sich, dass die<br />

Eltern der Haupt- und Realschüler die Vorzüge von <strong>Noten</strong> am stärksten hervorheben. Ihre<br />

Kinder repräsentieren die schwächste Schulklientel, deshalb legen sie am meisten Wert<br />

auf eindeutige Zertifizierung. <strong>Die</strong>se Einstellung mag auch ein Grund dafür sein, dass ihre<br />

Zustimmung zu den <strong>Noten</strong>zeugnissen mit Kommentaren (zwar auf einem generell sehr<br />

hohen Zustimmungsniveau) die relativ geringste ist.<br />

- Unter dem Einfluss der Bildungsaspirationen für die eigenen Kinder betrachtet, sind die<br />

Eltern mit einem mittleren Aspirationsniveau am meisten auf <strong>Noten</strong>zeugnisse fixiert; sie<br />

lehnen Berichtszeugnisse tendenziell ab.<br />

- Legt man der Analyse die Bildungsgänge der Eltern zugrunde, zeigt sich: je höher der<br />

Bildungsabschluss, desto liberaler die Einstellungen zu Zeugnissen. Unter allen<br />

Elternhäusern sind diejenigen, in denen beide Eltern das Abitur besitzen, am wenigsten<br />

auf <strong>Noten</strong>zeugnisse fixiert. Sie erkennen den Wert von Berichtszeugnissen durchaus an.<br />

Im Hinblick auf die Vorzüge der <strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen stimmen die<br />

Elternhäuser mit hohem Abschlussniveau jedoch in den Chor aller übrigen mit ein. In<br />

dieser Hinsicht bestehen keine Einstellungsunterschiede.<br />

3.2.9 Fremdsprachige Kurzform des Elternfragebogens<br />

Von den 1328 Fragebögen der Eltern wurden 95 (das sind etwa 7,2%) in der Kurzform<br />

ausgefüllt, die wir in den Sprachen Deutsch, Türkisch, Russisch und Polnisch angeboten<br />

haben: 3% aus der Grundschule, 0,8 % aus den Haupt-/Realschulen und 3,4% aus den<br />

Gesamtschulen. Von den Gymnasialeltern wurde keine Kurzversion ausgefüllt. <strong>Die</strong>se<br />

Kurzformen sind eingesetzt worden, um auch Eltern, die mit der deutschen Sprache


Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern Seite 105<br />

Schwierigkeiten haben, die Möglichkeit zu geben, ihre Einschätzungen zu <strong>schulische</strong>r<br />

Leistungsbeurteilung zu äußern. Bei der Interpretation ist nun davon auszugehen, dass<br />

diejenigen, die eine Kurzfassung des Bogens ausgefüllt haben, ausländischer Herkunft sind.<br />

Es werden aber sicherlich auch unter den normalen Fragebögen einige von ausländischen<br />

Eltern ausgefüllt worden sein. Wir vergleichen im Folgenden somit die Teilstichprobe der<br />

„ausländischen“ Eltern, die einen Kurzfragebogen in nicht-deutscher Sprache ausgefüllt<br />

haben, mit allen anderen befragten Eltern.<br />

Auf Skalenebene lässt sich diese Teilstichprobe in zwei Skalen (E1: Informationsgehalt der<br />

Zeugnisse und E6: Akzeptanz der Zeugnisse) mit den übrigen vergleichen. <strong>Die</strong> anderen<br />

Skalen konnten nicht konstruiert werden, da ein großer Teil der Items in dieser Version nicht<br />

erhoben wurde. Es lassen sich aber anhand von Einzelitems einige Unterschiede feststellen:<br />

- Der Anteil derer, die „mit der Lehrerin/dem Lehrer ausführlich über das Zeugnis<br />

gesprochen“ haben, ist sowohl an der Grundschule als auch an der Sekundarstufe deutlich<br />

geringer als in der Gesamtstichprobe. Es lässt sich somit eine gewisse Schulferne<br />

konstatieren, die auf Sprachbarrieren beruhen könnte.<br />

- Im Durchschnitt finden sich bei den Eltern, die einen fremdsprachlichen Kurzfragebogen<br />

ausgefüllt haben, weniger hohe Bildungsaspirationen für ihre Kinder. <strong>Die</strong> Erwartungen<br />

der ausländischen Eltern bezüglich des Schulabschlusses ihrer Kinder sind demnach nicht<br />

genauso hoch wie die der deutschen Eltern.<br />

- Aufgrund einer Reihe von Items lässt sich zudem vermuten, dass die Eltern, die einen<br />

Kurzfragebogen ausgefüllt haben, einen größeren Druck auf die Kinder und Jugendlichen<br />

ausüben: <strong>Die</strong> Zustimmung zu dem Item 34 („Nachdem ich das Zeugnis kannte, habe ich<br />

mein Kind aufgefordert, im Unterricht mehr mitzuarbeiten.“) und 37 („Nachdem ich das<br />

Zeugnis kannte, habe ich mein Kind aufgefordert, in den einzelnen Fächern mehr zu<br />

tun.“) liegt bei diesen Eltern signifikant höher.<br />

- Zu den Items der Skala E1 (Informationsgehalt der Zeugnisse) äußern die ausländischen<br />

Eltern mehr Zustimmung als die deutschen Eltern. Doch obwohl die fremdsprachlichen<br />

Eltern angeben, dass sie mehr Informationen aus den Zeugnissen ihrer Kinder entnehmen,<br />

plädieren sie für noch ausführlichere Zeugnisse.<br />

- Durch die Skala E6 zeigt sich, dass die Akzeptanz der erteilten Zeugnisse bei den<br />

ausländischen Eltern der Sekundarstufe weniger ausgeprägt ist. Sie stimmen der Aussage<br />

„Das Zeugnis entsprach meinen Erwartungen.“ im Vergleich zu den deutschsprachigen<br />

Eltern seltener zu. Bei dem Item 44 „Mein Kind hat sich über das Zeugnis gefreut.“<br />

überwiegen – im Gegensatz zu den Einschätzungen der übrigen Eltern – sogar die


Seite 106 Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

ablehnenden Einschätzungen. <strong>Die</strong> Aussagen der ausländischen Primarstufeneltern<br />

unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht von denen der deutschen Eltern.<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die sprachlichen Schwierigkeiten durchaus<br />

problematische Wirkungen zeigen können, hinsichtlich der Eltern-Lehrer-Kommunikation<br />

<strong>oder</strong> bei der Zufriedenheit mit den Zeugnissen. Für die Familien nicht-deutscher Herkunft<br />

sind Zeugnisse – vor allem in der Sekundarstufe – eher stärker belastend als für die deutschen<br />

Familien.<br />

3.3 Elterneinstellungen: Strukturen und Verflechtungen<br />

Um die Zusammenhänge der von uns verwendeten Skalen der Elternbefragung abschließend<br />

zu prüfen, haben wir die Korrelationen zwischen ihnen berechnet. Dabei ergibt sich, dass wir<br />

die eingangs genannten Hypothesen zum Teil revidieren und unser Modell der Beziehungen<br />

(siehe Abschnitt 3.1) in zwei Teilmodelle zerlegen müssen.<br />

Abbildung 3/33: Vor- und Nachteile der verschiedenen Zeugnisformen:<br />

Korrelationen zwischen den Skalen<br />

E4: Vorteile <strong>Noten</strong>-<br />

zeugnisse<br />

-,535<br />

E5: Nachteile <strong>Noten</strong>-<br />

zeugnisse<br />

-,741<br />

-,497<br />

Das erste Modell zeigt die korrelativen Beziehungen 12 zwischen den Skalen „Vorteile von<br />

<strong>Noten</strong>zeugnissen“ (E4) bzw. von Berichtszeugnissen (E6) und „Nachteile von<br />

<strong>Noten</strong>zeugnissen“ (E5) bzw. von Berichtszeugnissen (E7). <strong>Die</strong> Anordnung der Grafik weist<br />

darauf hin, dass die Zusammenhänge ungleichgewichtig sind, d.h. die Einstellungen der<br />

12 Wir verwenden hier den Korrelationskoeffizienten nach Spearman.<br />

,681<br />

,832<br />

E6: Vorteile Berichts-<br />

zeugnisse<br />

-,729<br />

E7: Nachteile<br />

Berichtszeugnisse


Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern Seite 107<br />

Eltern sind nicht – wie bei den Lehrerinnen und Lehrern (siehe Kapitel 2) – klar polarisiert,<br />

sondern sie lassen Zwischenpositionen zu. <strong>Die</strong> stärksten Zusammenhänge finden sich bei der<br />

Gegenüberstellung von Vorzügen und Nachteilen der <strong>Noten</strong>- und Berichtszeugnisse.<br />

– Eltern, die die Vorzüge der <strong>Noten</strong>zeugnisse (E4) betonen, heben die Nachteile der<br />

Berichtszeugnisse (E7) stark hervor (r = ,832) und sehen weniger Vorzüge bei den<br />

Berichtszeugnissen (E6) (r = -,741).<br />

– Umgekehrt gilt: Eltern, die die Vorzüge von Berichtszeugnissen (E6) stark hervorheben,<br />

sehen – im Vergleich zum Durchschnitt – weniger die Vorzüge der <strong>Noten</strong>zeugnisse (E4)<br />

(r = -,741), sondern betonen eher die Nachteile von <strong>Noten</strong>zeugnissen (E6) (r = ,681).<br />

– Ebenfalls sehr deutlich ist der Zusammenhang zwischen den Skalen E6 und E7 (r = -,729),<br />

so dass sehr stringent gilt: Wer die Vorzüge der <strong>Berichte</strong> stark betont, verneint auch eher<br />

die Nachteile dieser Zeugnisform.<br />

– Immer noch sehr deutlich, aber nicht ganz so stark, ist der Zusammenhang zwischen den<br />

Skalen E4 und E5 (r = -,535): <strong>Die</strong>s bedeutet einerseits, dass eine Betonung der Vorzüge<br />

von <strong>Noten</strong> tendenziell einhergeht mit einer geringeren Skepsis gegenüber den <strong>Noten</strong>.<br />

Allerdings ist der Zusammenhang im Vergleich nicht so stark wie beispielsweise<br />

zwischen den Vorzügen und Nachteilen der Berichtszeugnisse (E6 und E7). Das bedeutet,<br />

dass diejenigen, die die Vorteile der <strong>Noten</strong> betonen, nicht zwangsläufig auch die Nachteile<br />

abstreiten.<br />

– Schließlich gilt: Eltern, die die Nachteile von <strong>Noten</strong> hervorheben (E5), sehen weniger die<br />

Nachteile von Berichtszeugnissen (E7) (r = -,497) und umgekehrt. <strong>Die</strong>s kann auch<br />

bedeuten, dass bestimmte Teilgruppen der Eltern (mit hohem Bildungsabschluss bzw. mit<br />

hohen Aspirationen für die eigenen Kinder) sowohl die Nachteile von <strong>Noten</strong>- als auch von<br />

Berichtszeugnissen sehen. Denkbar ist auch, dass ein nicht unerheblicher Teil der Eltern<br />

weder Nachteile in den <strong>Noten</strong>- noch in den Berichtszeugnissen sieht.<br />

– <strong>Die</strong> <strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen können in diesem Modell nicht eindeutig<br />

positioniert werden. Einerseits geht eine starke Befürwortung der <strong>Noten</strong> (E4) mit einer<br />

weniger deutlichen Zustimmung zu <strong>Noten</strong> mit Kommentarbogen (E8) einher. Allerdings<br />

ist der Zusammenhang mit -,250 nur gering ausgeprägt. <strong>Die</strong> Befürwortung von <strong>Berichte</strong>n<br />

(E6) hingegen steht in einem positiven, aber ebenfalls schwachen Zusammenhang zur<br />

Zustimmung zu <strong>Noten</strong> mit Kommentarbogen E8 (,283) (die letzten beiden Angaben ohne<br />

Grafik).


Seite 108 Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern<br />

In einem zweiten Korrelationsmodell können wir den Zusammenhang zwischen den Skalen<br />

„Informationserwartungen“ (E3) und „Vorteile <strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen“ (E8)<br />

ausdrücken:<br />

Abbildung 3/34: Zusammenhänge zwischen den Einstellungen zu den<br />

Zeugnisformen und den Informationserwartungen (Korrelationen)<br />

-0,094<br />

Vorteile<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

E4<br />

,248<br />

Nachteile<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

E5<br />

Informationserwartungen an<br />

Zeugnisse E3<br />

Es gibt quasi keine Zusammenhänge zwischen der Skala „Informationserwartungen“ (E3) und<br />

den Skalen „Vorteile der <strong>Noten</strong>zeugnisse“ (E4) und „Nachteile der Berichtszeugnisse“ (E7).<br />

Man kann somit sagen, dass eine hohe Erwartung an den Informationsgehalt an Zeugnisse<br />

nicht mit einer eindeutigen Präferenz zu <strong>Noten</strong>zeugnissen <strong>oder</strong> Berichtszeugnissen<br />

einhergeht. <strong>Die</strong> recht schwachen Zusammenhänge zu den Nachteilen der <strong>Noten</strong>zeugnisse (E5)<br />

und den Vorteilen der <strong>Berichte</strong> (E6) deuten tendenziell eher darauf hin, dass mit einer hohen<br />

Informationserwartung an Zeugnisse auch die Skepsis gegenüber <strong>Noten</strong> steigt – also<br />

einerseits den Nachteilen von <strong>Noten</strong> eher zugestimmt wird und andererseits die Vorteile der<br />

Berichtszeugnisse eher gesehen werden. Den deutlichsten Zusammenhang weist die Skala E3<br />

„Informationserwartungen an Zeugnisse“ allerdings mit der Skala „Vorteile von<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen“ (E8) auf (r = ,369). Es zeigt sich also, dass<br />

ausgeprägte Informationserwartungen an Zeugnisse mit einem verstärkten Votum für die<br />

dritte <strong>Hamburg</strong>er Zeugnisform einhergehen. Anders formuliert: <strong>Die</strong> Erwartungen an ein<br />

Zeugnis mit hohem Informationswert schließen ausdrücklich die <strong>Noten</strong> (als digitale<br />

Information) und die verbale Ergänzung (als analoge Information) mit ein.<br />

,369<br />

Vorteile <strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

mit Kommentarbogen<br />

E8<br />

Vorteile<br />

Berichtszeugnisse<br />

E6<br />

Nachteile<br />

Berichtszeugnisse<br />

E7<br />

Auf die Darstellung unserer varianzanalytischen Auswertung verzichten wir hier, da der<br />

Anteil an aufgeklärter Varianz zu gering ist. Das bedeutet, dass wir bei den Eltern kaum<br />

Aussagen darüber machen können, welche Merkmale für die Einstellungen zur<br />

,247<br />

-0,121


Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern Seite 109<br />

Beurteilungsform bedeutsam sind. Offensichtlich scheinen hier noch andere Variablen als die<br />

von uns erhobenen eine Rolle zu spielen.<br />

3.4 Fazit<br />

Verknüpfen wir die Ergebnisse der Korrelationsberechnungen mit unseren übrigen<br />

Interpretationen, können wir in aller Kürze folgendes Meinungsbild festhalten:<br />

(1) Berichtszeugnisse haben in der <strong>Hamburg</strong>er Elternschaft durchaus ihre Befürworter – und<br />

zwar an jenen Schulen, die bisher solche Zeugnisse ausstellen, und innerhalb der<br />

Elternschaft mit einem höheren Bildungsabschluss.<br />

(2) <strong>Die</strong> von uns untersuchten <strong>Hamburg</strong>er Eltern haben einen hohen Anspruch an Zeugnisse.<br />

<strong>Die</strong> hohen Erwartungen an Zeugnisse umfassen einerseits detaillierte Informationen, wie<br />

sie nur verbale Komponenten im Zeugnis liefern können, andererseits wollen sie im<br />

Verlauf des gesamten Bildungsgangs ihrer Kinder nicht auf <strong>Noten</strong> verzichten. Daher ist –<br />

außer an Haupt-/Realschulen – das klassische <strong>Noten</strong>zeugnis nicht die Leistungsrück-<br />

meldung ihrer Wahl. <strong>Die</strong> Eltern wollen vielmehr die eindeutige Note mit einem<br />

Fachkommentar verknüpfen, der ihnen erklärt, wie die Note zustande gekommen ist und<br />

was die Schule <strong>oder</strong> sie, die Eltern, tun können, um ggf. schlechte <strong>Noten</strong> ihrer Kinder zu<br />

verbessern.


4. Leistungsbeurteilung, Zeugnisse und Lernkultur aus der Sicht<br />

<strong>Hamburg</strong>er Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

Es fällt auf, dass es zur Situation und zu den Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern bei der<br />

Leistungsbewertung im Schulalltag zahlreiche theoretische Reflexionen und empirische<br />

Forschungsergebnisse gibt, demgegenüber aber den Einstellungen von Schülerinnen und<br />

Schülern zur Bewertung ihrer Leistungen, ihrer Akzeptanz von Zeugnissen und den<br />

tatsächlichen Auswirkungen <strong>schulische</strong>r Leistungsbewertung durch die Schulforschung in der<br />

Vergangenheit nur geringe Beachtung geschenkt worden ist. Welche Probleme aus<br />

Schülersicht generell mit den verschiedenen Formen der Leistungsbewertung verbunden sind,<br />

findet in der derzeitigen Struktur und Organisation von staatlicher Schule kaum<br />

Berücksichtigung. Mit Blick auf die einschlägige Literatur muss eingeräumt werden, dass<br />

keine aktuellen Erkenntnisse dazu vorliegen, wie Schüler(innen) darüber denken. Es ist nicht<br />

einmal bekannt, welche Schwierigkeiten sie mit den verschiedenen Formen <strong>schulische</strong>r<br />

Leistungsbewertung haben.<br />

Insofern bearbeitet ein Forschungsprojekt, das diese subjektiven Auffassungen von<br />

Schülerinnen und Schülern zu ihren Zeugnissen und generell zu den Formen <strong>schulische</strong>r<br />

Leistungsbewertung systematisch erfasst, deutliche Defizite der empirischen und<br />

theoretischen Schul- und Unterrichtsforschung.<br />

4.1 Sichtweisen und Einstellungen der Schülerinnen und Schüler<br />

Unsere schriftlichen und mündlichen Befragungen von Schülerinnen und Schülern an<br />

<strong>Hamburg</strong>er Schulen ermitteln vor allem<br />

• generelle Auffassungen und Einstellungen zu Zensuren und Lernberichten (Akzeptanz,<br />

Vor- und Nachteile, Stellung zur Schule ohne <strong>Noten</strong>),<br />

• Auffassungen zur Bedeutung der Bezugskriterien (individuelle, sachliche, soziale<br />

Normen),<br />

• Einschätzungen zu den eigenen bisherigen Leistungsbewertungen, differenziert nach <strong>Noten</strong><br />

und Lernberichten (Verständlichkeit, Objektivitätsgrad, Orientierungswert, Wirkungen,<br />

erkannte Beurteilungskriterien, offene Probleme),<br />

<strong>Die</strong> folgende Abbildung veranschaulicht die Erhebungsdimensionen und die unabhängigen<br />

Variablen.


Seite 112 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

Abbildung 4/1: Schülereinstellungen zu Leistungsbewertung und Zeugnisformen und schulbezogene Selbsteinschätzungen<br />

personale Merkmale<br />

(Geschlecht, relative Leistungsposition, Sprache)<br />

gegenwärtige Schulsituation:<br />

(Schulform, Jahrgangsstufe [6, 8 <strong>oder</strong> 10])<br />

Erfahrungen mit Zeugnisformen und zuletzt<br />

erhaltene Zeugnisform<br />

(BZ, NZ, NZK)<br />

eigene Bildungsaspiration<br />

(Hauptschulabschluss, mittlerer Abschluss,<br />

Abitur)<br />

- Einstellungen zu Zeugnissformen<br />

(<strong>Noten</strong>, <strong>Berichte</strong>, Kommentare)<br />

- Selbsteinschätzungen<br />

(Selbstwertgefühl, Schulangst u.a.)<br />

- Einschätzungen zur Lernumwelt<br />

(Schulzufriedenheit u.a.)


<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 113<br />

Wir haben die Schülerinnen und Schüler sowohl nach Sozialisationsbedingungen in der<br />

Schule gefragt als auch nach ihren Einstellungen zur Leistungsbeurteilung allgemein, zu<br />

Zeugnissen und zu den verschiedenen Formen der Leistungsrückmeldung. Damit hoffen wir<br />

etwaigen Zusammenhängen von der Praxis der Leistungsrückmeldung und den<br />

schulbezogenen Einschätzungen der Schülerinnen und Schüler nachgehen zu können. In den<br />

Fragebogen sind zum einen bekannte und erprobte Skalen zum Schulklima, zur Schulangst,<br />

zum Selbstwertgefühl und zur Lernkultur eingegangen, zum anderen haben wir Items in den<br />

Fragebogen aufgenommen, die die unterschiedlichen Zeugnisformen einbeziehen. Dazu<br />

haben wir Skalen aus den Daten konstruiert. Im Folgenden führen wir die eingesetzten Skalen<br />

lediglich auf, nähere Angaben folgen weiter unten. <strong>Die</strong> erhobenen Einschätzungen lassen sich<br />

in zwei Blöcke teilen. In dem einen Block werden die Selbsteinschätzungen und die<br />

Einschätzungen der Lernumwelt Schule zusammengefasst, in dem anderen die Einstellungen<br />

zu Zeugnissen.<br />

Block I<br />

Skala S1: Positives Selbstwertgefühl<br />

Skala S2: Schulische Ohnmachtgefühle<br />

Skala S3: Schulangst<br />

Skala S4: Schulunlust<br />

Skala S5: Lernkultur/Unterrichtsklima<br />

Skala S6: Klassenklima<br />

Block II<br />

Skala S7: Zufriedenheit mit dem Zeugnis<br />

Skala S8: Skeptische Haltung zum Zeugnis<br />

Skala S9: Informationsgehalt der Zeugnisse<br />

Skala S10: Orientierungswert von Zeugnissen<br />

Skala S11: Pro <strong>Berichte</strong>/Kontra <strong>Noten</strong><br />

Skala S12: Erwartungen an Zeugnisse<br />

Skala S13: Informationsgehalt der Bemerkungen zum Arbeits- und Sozialverhalten<br />

Bei der Ergebnis-Präsentation folgen wir – wegen der großen Fülle der Daten – nicht immer<br />

der Struktur der vorhergehenden Kapitel. Wir präsentieren die Befunde bei den Schülerinnen<br />

und Schülern nicht alle als Prozentangaben, sondern gleich als Mittelwerte und differenzieren


Seite 114 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

diese nach Schulformen. In Einzelfällen erläutern wir die Angaben durch die Ergebnisse zu<br />

einzelnen Items.<br />

In dem eingesetzten Fragebogen haben wir danach gefragt, welche Sprache die Schülerinnen<br />

zu Hause vorwiegend sprechen. Ein Anteil von 22,3% der Gesamtstichprobe gab dabei an,<br />

dass sie in ihrer Familie überwiegend nicht Deutsch sprechen. <strong>Die</strong>se Gruppe wird im<br />

Folgenden mit „ausländische“ Schülerinnen und Schüler bezeichnet. Wenn sich zwischen<br />

ihnen und denjenigen Kindern und Jugendlichen, die zu Hause vor allem Deutsch sprechen,<br />

Unterschiede finden, referieren wir diese Befunde themenbezogen.<br />

In den folgenden drei Abschnitten versuchen wir die Situation der von uns befragten<br />

Schülerinnen und Schüler darzustellen, bevor wir ihre Einschätzungen, Einstellungen und<br />

Erwartungen bezüglich Zeugnissen referieren. Zunächst werden also Ergebnisse präsentiert,<br />

die sich einerseits auf Selbsteinschätzungen im <strong>schulische</strong>n Kontext beziehen und andererseits<br />

eine direkte Beurteilung der <strong>schulische</strong>n Umgebung darstellen.<br />

4.1.1 Selbstbewusste Schüler(innen) – geringe Schulangst<br />

Für die gesamte Stichprobe kann eine mehrheitlich positive Selbsteinschätzung festgestellt<br />

werden. Beispielsweise stimmen etwa 58% der befragten der Aussage „Im großen und ganzen<br />

bin ich mit mir zufrieden.“ zu. Zwar gibt etwa ein Drittel mit der Votierung „teils – teils“<br />

keine eindeutige Selbsteinschätzung ab, aber dennoch überwiegt bei allen Items der positiv zu<br />

wertende Anteil. Auch die im Folgenden präsentierte differenzierte Auswertung nach<br />

Schulformen ergibt kein prinzipiell anderes Bild.<br />

Tabelle 4/2: Positives Selbstwertgefühl – nach Schulformen (Mittelwerte)<br />

Cronbach’s alpha = ,727<br />

Gesamt -<br />

schule<br />

Haupt- und<br />

Realschule<br />

Gymnasium Gesamt<br />

Antworten n = 606 n = 418 n = 434 N = 1458<br />

65 Im großen und ganzen bin ich mit mir<br />

zufrieden.<br />

72 Ich glaube, ich habe eine Reihe guter<br />

Eigenschaften.<br />

3,67 3,58 3,79 3,68<br />

3,96 3,93 3,95 3,95<br />

74 Ich habe Grund, auf mich stolz zu sein. 3,48 3,49 3,41 3,46<br />

75 In der Schule bin ich meist gut gelaunt. 3,75 3,75 3,63 3,71<br />

80 Im großen und ganzen halte ich mich für<br />

erfolgreich.<br />

3,40 3,32 3,43 3,49<br />

Skala S1: Positives Selbstwertgefühl 3,65 3,62 3,64 3,64


<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 115<br />

In allen Schulformen finden die vorgegebenen Antworten zum positiven Selbstwertgefühl<br />

deutliche Zustimmung, an erster Stelle die Einschätzung „Ich glaube, ich habe eine Reihe<br />

guter Eigenschaften.”. Bei der Gesamtskala gibt es somit keine signifikanten Unterschiede<br />

zwischen den verschiedenen Schulformen. Lediglich bei dem Item 65 („Im großen und<br />

ganzen bin ich mit mir zufrieden.“) äußern Schülerinnen und Schüler an Gymnasien eine<br />

signifikant höhere Zufriedenheit als an Haupt- und Realschulen.<br />

In der nächsten Skala wird ein stärkerer Bezug zur <strong>schulische</strong>n Situation hergestellt: Hier<br />

wird die Frage nach den „<strong>schulische</strong>n Ohnmachtgefühlen“ gestellt. <strong>Die</strong> Mittelwerte unter der<br />

Marke 3 weisen darauf hin, dass sich eine Mehrheit ablehnend zu den negativ formulierten<br />

Items äußert. So lehnen etwa 66% der Schülerinnen und Schüler die Aussage 101: „Ich kann<br />

lernen, soviel ich will: das, was in der Schule verlangt wird, kann ich gar nicht schaffen.“ ab,<br />

12% stimmen ihr zu, die übrigen 22% sind unentschieden.<br />

Allerdings zeigen sich bei den Fragen nach „<strong>schulische</strong>n Ohnmachtgefühlen” deutliche<br />

Schulformunterschiede, die in der nächsten Tabelle erläutert werden. Hier verweisen die<br />

Mittelwerte für die gesamte Skala auf signifikante Unterschiede zwischen den drei<br />

Schulformen.<br />

Tabelle 4/3: Schulische Ohnmachtgefühle nach Schulformen (Mittelwerte)<br />

Cronbach’s alpha = ,773<br />

Gesamt -<br />

schule<br />

Haupt- und<br />

Realschule<br />

Gymnasium Gesamt<br />

Antworten n = 602 n = 419 n = 434 N = 1455<br />

66 Wenn ich von einem Lehrer/einer<br />

Lehrerin ungerecht behandelt werde,<br />

fühle ich mich zu hilflos, um mich<br />

dagegen zu wehren.<br />

71 In der Schule habe ich oft das Gefühl,<br />

dass ich weniger zustande bringe als<br />

andere.<br />

73 Schon bevor ich mit einer Aufgabe<br />

anfange, weiß ich, dass ich sie nicht gut<br />

mache.<br />

101 Ich kann lernen, soviel ich will: das,<br />

was in der Schule verlangt wird, kann<br />

ich gar nicht schaffen.<br />

102 Ich bekomme meistens andere <strong>Noten</strong>,<br />

als ich erwartet habe.<br />

103 Oft schafft man es gar nicht, für alle<br />

Fächer zu lernen und auch die<br />

Hausaufgaben zu machen.<br />

116 Ich kann machen, was ich will: die<br />

Arbeiten der anderen finde ich immer<br />

besser als meine.<br />

2,64 2,62 2,48 2,59<br />

2,51 2,69 2,45 2,54<br />

2,26 2,44 2,10 2,26<br />

2,23 2,26 1,89 2,14<br />

2,97 3,31 2,64 2,97<br />

3,30 3,33 3,07 3,24<br />

2,69 2,85 2,56 2,70<br />

Skala S2: Schulische Ohnmachtgefühle 2,65 2,79 2,46 2,63


Seite 116 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

Besonders auffällig sind diese Schulformunterschiede bei den Leistungserwartungen (Item 71,<br />

73 und 102) der Kinder. Stets sind es die Schüler(innen) an Haupt- und Realschulen, die am<br />

ehesten mit ihrem Leistungsversagen rechnen, schon bevor sie mit einer Aufgabe beginnen.<br />

Erwartungsgemäß erhält Item 101 („Ich kann lernen, soviel ich will: das, was in der Schule<br />

verlangt wird, kann ich gar nicht schaffen.“) die geringste Zustimmung von den<br />

Schüler(innen) an Gymnasien. Es lässt sich also feststellen, dass die Zugehörigkeit zu einer<br />

bestimmten Schulform zunächst nicht unbedingt das Selbstwertgefühl bestimmen muss;<br />

dennoch wird aus den genannten Befunden deutlich, dass die Lernenden an den Haupt- und<br />

Realschulen größere Schwierigkeiten haben, den Anforderungen der Schule gerecht zu<br />

werden und die Schülerinnen und Schüler der Gymnasien am wenigsten Probleme bei der<br />

Bewältigung ihrer <strong>schulische</strong>n Aufgaben äußern. Für die gesamte Stichprobe gilt zudem, dass<br />

die ausländischen Schülerinnen und Schüler signifikant höhere Werte in der Skala S2<br />

aufweisen, also den <strong>schulische</strong>n Anforderungen gegenüber stärker Ohnmachtgefühle<br />

empfinden. Differenziert nach Schulformen, verschwinden diese Differenzen bei der<br />

Gesamtschule, in der Haupt-/Realschule und im Gymnasium sind sie nicht mehr signifikant<br />

(ohne Tabellen).<br />

Für die gesamte Stichprobe lässt sich eine hohe Akzeptanz der Institution Schule und ihrer<br />

Leistungsanforderungen feststellen. <strong>Die</strong> Mittelwerte zu den Aussagen der beiden<br />

nachfolgenden Skalen „Schulunlust“ und „Schulangst“ weisen darauf hin, dass man<br />

insgesamt von einer geringen Schulangst bei der Mehrheit der Schülerinnen und Schüler<br />

sprechen kann. Auch die Angaben zu den Items der Skala „Schulunlust“ weisen eher darauf<br />

hin, dass vielen Lernenden die Schule auch Spaß macht. Es ergibt sich allerdings die Frage,<br />

ob sich für diese (insgesamt geringe) Schulangst und Schulunlust Differenzen zwischen den<br />

Schulformen ergeben. <strong>Die</strong> entsprechende Überprüfung unserer empirischen Daten mit Hilfe<br />

der hier vorgestellten Skalen verweist auf eine Parallelität zwischen dem Selbstwertgefühl<br />

bzw. der Selbsteinschätzung der Schüler(innen) und deren Einstellung zur Schule.


<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 117<br />

Tabelle 4/4: Schulangst nach Schulformen (Mittelwerte)<br />

Cronbach’s alpha = ,818<br />

Gesamt -<br />

schule<br />

Haupt- und<br />

Realschule<br />

Gymnasium<br />

Gesamt<br />

Antworten n = 602 n = 419 n = 432 N = 1453<br />

83 Mir macht es zu schaffen, dass man<br />

dauernd damit rechnen muss, im<br />

Unterricht abgeprüft zu werden.<br />

84 Ich werde nervös, wenn ich an die Tafel<br />

gerufen werde, unabhängig davon, ob<br />

ich vorbereitet bin <strong>oder</strong> nicht.<br />

85 Ich bekomme Herzklopfen, wenn eine<br />

Lehrerin/ein Lehrer mich abfragen will.<br />

86 Aus Angst, etwas Falsches zu sagen,<br />

beteilige ich mich selten am Unterricht.<br />

87 Es kommt häufig vor, dass ich am<br />

Anfang einer Leistungsüberprüfung<br />

keinen klaren Gedanken fassen kann.<br />

3,03 3,09 2,98 3,03<br />

3,03 3,19 2,82 3,01<br />

2,84 2,89 2,70 2,81<br />

2,67 2,80 2,44 2,64<br />

2,93 3,04 2,90 2,95<br />

88 Ich habe Angst vor Klassenarbeiten. 2,60 2,47 2,58 2,55<br />

Skala S3: Schulangst 2,85 2,91 2,74 2,83<br />

So ist die Schulangst (vgl. Tabelle 4/4) an Gymnasien signifikant geringer ausgeprägt als an<br />

Haupt- und Realschulen. <strong>Die</strong>se Unterschiede gelten besonders für die Items 84 und 86.<br />

Für die ausländischen Schüler(innen) ergibt sich bei der Schulangst ein deutlicher<br />

Schulformbezug: Während an den Gesamtschulen und den Haupt- und Realschulen die<br />

angegebene Schulangst der ausländischen Schüler(innen) etwas geringer ist als bei den<br />

deutschen Mitschüler(innen), ist dies an den untersuchten Gymnasien umgekehrt. Signifikant<br />

ist dieser Unterschied zwischen den deutschen und den ausländischen Schüler(innen)<br />

allerdings lediglich an der Gesamtschule. Hier muss auch eine deutliche Kovariation zum<br />

relativen Leistungsniveau der betroffenen Schüler(innen) einbezogen werden (siehe unten).


Seite 118 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

Tabelle 4/5: Schulunlust nach Schulformen (Mittelwerte)<br />

Cronbach’s alpha = ,741<br />

Gesamt -<br />

schule<br />

Haupt- und<br />

Realschule<br />

Gymnasium Gesamt<br />

Antworten n = 602 n = 419 n = 432 N = 1453<br />

67 Schon der Gedanke an die Schule macht<br />

mich missmutig.<br />

2,29 2,42 2,37 2,35<br />

69 Ich gehe sehr gern zur Schule. 3,24 2,96 2,91 3,06<br />

79 Es gibt in der Schule eigentlich viele<br />

Dinge, die mir Spaß machen.<br />

81 Ich bin froh, wenn ich nicht mehr zur<br />

Schule gehen muss.<br />

82 Ich könnte meine Zeit besser außerhalb<br />

der Schule nutzen.<br />

3,88 3,82 3,51 3,75<br />

3,03 3,24 3,12 3,12<br />

2,86 3,15 3,08 3,01<br />

Skala S4: Schulunlust* 2,62 2,81 2,83 2,74<br />

*In dieser Skala bedeuten höhere Werte eine Zunahme der Schulunlust.<br />

<strong>Die</strong> signifikant geringste Schulunlust – positiv formuliert: die größte Freude an und in der<br />

Schule – signalisieren die Schülerinnen und Schüler an Gesamtschulen (vgl. Tabellen 4/5).<br />

<strong>Die</strong>ser Unterschied bezieht sich vor allem auf die Bestätigung, dass sie gern zur Schule gehen,<br />

und die geringere Zustimmung zur Behauptung, ihre Zeit besser außerhalb von Schule nutzen<br />

zu wollen. Nach Einschätzung der Schüler(innen) gibt es an Gymnasien seltener als an<br />

anderen Schulformen Dinge, die Spaß machen.<br />

<strong>Die</strong> ausländischen Schüler(innen) äußern an allen Schulformen geringere Schulunlust als ihre<br />

deutschen Mitschüler(innen). Betrachtet man die Schülerschaft insgesamt, so ist der<br />

Unterschied sogar signifikant (ohne Tabelle). <strong>Die</strong>s korrespondiert auch mit den Befunden von<br />

Lehmann u.a. (1999 S. 140), die eine höhere Schulzufriedenheit der ausländischen<br />

Schülerinnen und Schüler am Ende der Klassenstufe 6 an allen Schulformen gefunden haben.<br />

4.1.2 Schulangst und relatives Leistungsniveau<br />

In unserer Erhebung lässt sich die Hypothese, dass schlechte <strong>Noten</strong> zu stärkerer Schulangst<br />

führen, direkt überprüfen; denn wir haben nicht nur mit der oben präsentierten Skala<br />

Schulangst ermittelt, sondern die Schüler(innen) auch gebeten, ihren momentanen<br />

Leistungsstand durch <strong>Noten</strong> anzugeben. In der folgenden Tabelle wird der Zusammenhang<br />

zwischen der Schulangst und dem relativen Leistungsniveau dargestellt. <strong>Die</strong> Einteilung der<br />

Sekundarschüler(innen) in die hier verwendeten drei Leistungsniveaus ist folgendermaßen<br />

zustande gekommen: Im Fragebogen wurden nach den gegenwärtigen <strong>Noten</strong> in den Fächern


<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 119<br />

Mathematik, Deutsch, Englisch gefragt. Aus diesen drei <strong>Noten</strong> haben wir eine<br />

Durchschnittsnote errechnet und die Verteilung dieses Wertes unserer Einteilung nach<br />

Leistungsniveaus zugrunde gelegt. Damit ist auch klar, dass es sich nicht um eine<br />

„objektivierte“ Leistungsposition handelt, sondern dass die relative Stellung in der jeweiligen<br />

Lerngruppe/Klasse erfasst ist. <strong>Die</strong>jenigen mit einer Durchschnittsnote von 2,33 <strong>oder</strong> besser<br />

stellen die Gruppe I dar (etwa ein Viertel der Schüler(innen)). <strong>Die</strong> mittlere Gruppe II umfasst<br />

etwa die Hälfte der Schüler(innen) – ihre Durchschnittsnoten variieren zwischen 2,67 und<br />

3,33. Das Viertel mit den schlechtesten Durchschnittsnoten – also 3,67 und schlechter –<br />

fassen wir zu Gruppe III zusammen.<br />

Tabelle 4/6: Schulangst (Mittelwerte) – nach Leistungsniveaus (Schüler, die im letzten<br />

Zeugnis <strong>Noten</strong> erhalten haben)<br />

Leistungsniveau Schulangst Anzahl<br />

Gruppe I (mit den besten Durchschnittsnoten) 2,51 n = 277<br />

Gruppe II (mittlere Gruppe) 2,83 n = 575<br />

Gruppe III (mit den schlechtesten Durchschnittsnoten) 3,17 n = 302<br />

Gesamt 2,84 N = 1154<br />

Es bestätigt sich der vermutete Zusammenhang, der schon häufig in der <strong>schulische</strong>n<br />

Sozialisationsforschung nachgewiesen wurde: Schüler(innen) mit den besseren <strong>Noten</strong> haben<br />

auf der Schulangst-Skala signifikant niedrigere Werte als die übrigen. Von bemerkbarer<br />

Schulangst kann zudem erst bei einem Skalenwert von über 3 gesprochen werden. <strong>Die</strong>se<br />

finden sich vor allem bei der Gruppe III, also denjenigen mit den schlechten <strong>Noten</strong>. Mit<br />

diesem Ergebnis ist aber bisher nur ein Teil der Hypothese bestätigt: Es ist geklärt, dass es vor<br />

allem die schlechten <strong>Noten</strong> sind, die mit einer erhöhten Schulangst einhergehen. Bleibt zu<br />

klären, ob die Fokussierung auf <strong>Noten</strong> gerechtfertigt ist. Um hier zu genaueren Erkenntnissen<br />

zu gelangen, sind im Folgenden auch die Schulangst-Werte derjenigen aufgeführt, die im<br />

letzten Zeugnis keine <strong>Noten</strong> erhalten haben. Auch diese – kleinere – Gruppe haben wir mittels<br />

der Selbsteinschätzungen in drei Leistungsniveaus eingeteilt. Es zeigt sich, dass diejenigen,<br />

die sich im Vergleich mit den Mitschülern selbst für weniger leistungsstark halten, ebenfalls<br />

höhere Werte auf der Schulangst-Skala erreichen.


Seite 120 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

Tabelle 4/7: Schulangst (Mittelwerte) – nach Leistungsniveaus (Schüler, die im letzten<br />

Zeugnis keine <strong>Noten</strong> erhalten haben)<br />

Leistungsniveau Schulangst Anzahl<br />

Gruppe I (mit den besten Selbsteinschätzungen) 2,22 n = 77<br />

Gruppe II (mittlere Gruppe) 2,95 n = 100<br />

Gruppe III (mit den schlechtesten Selbsteinschätzungen) 3,13 n = 61<br />

Gesamt 2,76 N = 238<br />

<strong>Die</strong> Differenzierung der Schüler(innen) nach Leistungsniveaus zeigt also in beiden Fällen das<br />

gleiche Ergebnis: Je besser der <strong>Noten</strong>durchschnitt bzw. die Selbsteinschätzung der<br />

Betroffenen, desto geringer ist ihr Wert auf der Schulangst-Skala. Ausgeprägte Schulangst<br />

kommt vor allem bei den Schüler(innen) vor, die sich am Ende der Leistungshierarchie sehen.<br />

<strong>Die</strong>ses Ergebnis ist unabhängig von der Zeugnisform, die ausgegeben wurde. Man muss also<br />

davon ausgehen, dass auch die Schülerinnen und Schüler, die sich im Vergleich zu ihren<br />

Mitschülern als „leistungsschwächer“ erleben, zugleich auch die <strong>schulische</strong> Situation als<br />

unangenehm empfinden, und zwar unabhängig davon, ob sie <strong>Noten</strong> <strong>oder</strong> <strong>Berichte</strong> erhalten<br />

haben. <strong>Die</strong> betroffenen Schüler(innen) werden wohl auch ohne Fremdeinschätzung ihre<br />

Leistungsposition innerhalb der Klasse einschätzen können und sich daraufhin Sorgen über<br />

ihre weitere Schulkarriere machen. <strong>Noten</strong> können demnach nicht allein für eine erhöhte<br />

Schulangst verantwortlich gemacht werden. Dafür spricht auch die Differenzierung der<br />

Schulangst-Mittelwerte nach Schulformen: Es zeigt sich, dass Schulangst tendenziell an den<br />

Gymnasien am wenigsten ausgeprägt ist, durchschnittliche Werte treten an den befragten<br />

Gesamtschulen auf, über dem Durchschnitt liegt der Mittelwert aus den Haupt-/Realschulen.<br />

Da an den Gymnasien aber ausschließlich <strong>Noten</strong> erteilt werden, können diese also nicht allein<br />

<strong>oder</strong> überwiegend für geäußerte Schulangst ursächlich sein. Zur Erklärung dieses Befundes<br />

muss stattdessen die Tatsache hinzugezogen werden, dass eher leistungsschwächere<br />

Schüler(innen) Schulangst äußern. Der Anteil dieser Kinder und Jugendlichen dürfte aufgrund<br />

der bekannten Auslesemechanismen an den Gymnasien – im Vergleich zu den anderen<br />

Sekundarschulen – deutlich reduziert sein.<br />

Zur Situation der ausländischen Schüler(innen) ist Folgendes zu ergänzen: Während sich die<br />

ausländischen Kinder und Jugendlichen an der Haupt-/Realschule vermehrt in den oberen<br />

Leistungspositionen finden, kehrt sich dieses Verhältnis am Gymnasium um. Hier sind sie<br />

eher in den unteren Leistungspositionen überrepräsentiert. An der Gesamtschule findet sich<br />

eine ausgeglichene Situation, hier sind die ausländischen Schüler(innen) weder in der oberen<br />

noch in der unteren Leistungsgruppe stärker vertreten (ohne Tabelle). <strong>Die</strong>s verweist


<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 121<br />

möglicherweise darauf, dass die sprachlichen Barrieren für Schüler(innen), die zu Hause nicht<br />

überwiegend Deutsch sprechen, am Gymnasium am ausgeprägtesten sind. Denkbar ist auch,<br />

dass sich Eltern nicht-deutscher Herkunft scheuen, ihr Kind auf einem Gymnasium<br />

anzumelden, obwohl es durchaus gute <strong>schulische</strong> Leistungen erbringt. Der Befund, dass<br />

ausländischen Schüler(innen) an Gymnasien unterrepräsentiert sind, wurde auch von<br />

Lehmann u.a. (1999, S. 145) gefunden. Sie stellen sogar eine tendenzielle Benachteiligung<br />

dieser Schülergruppe bei Übergangsentscheidungen am Gymnasium fest (a.a.O., S. 162).<br />

4.1.3 Lernkultur und Unterrichtsklima<br />

Bei der Suche nach Gründen für diese Schulformdifferenzen bei der Einstellung zur Schule<br />

und zu deren Leistungsanforderungen konnten wir feststellen, dass von den Schüler(innen) an<br />

Gymnasien eine signifikant negativere Einschätzung der Lernkultur und des<br />

Unterrichtsklimas (vgl. Tabelle 4/8) als in den anderen Schulformen vorgenommen wurde.


Seite 122 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

Tabelle 4/8: Lernkultur nach Schulformen (Mittelwe rte)<br />

Cronbach’s alpha = ,728<br />

Gesamt -<br />

schule<br />

Haupt- und<br />

Realschule<br />

Gymnasium Gesamt<br />

Antworten n = 599 n = 411 n = 432 N = 1442<br />

99 Unsere Lehrer(innen) beurteilen uns und<br />

unsere Schulleistungen äußerst gerecht.<br />

100 Bei etwas Anstrengung hat in unserer<br />

Schule jeder eine gute Chance<br />

durchzukommen.<br />

104 Ich weiß genau, was ich machen muss,<br />

um gute Leistungen zu haben.<br />

110 In den normalen Unterrichtsstunden<br />

haben die Lehrer(innen) kaum Zeit, sich<br />

mit den Fragen und Problemen von<br />

einzelnen Schülern zu befassen.<br />

111 Wenn einzelne Schüler(innen) beim<br />

Lernen Probleme haben, geben ihnen<br />

die Lehrer(innen) meistens Tipps und<br />

Ratschläge, wie sie am besten<br />

weiterkommen.<br />

112 <strong>Die</strong> meisten Lehrer(innen) achten bei<br />

den Aufgaben darauf, dass niemand in<br />

der Klasse überfordert wird.<br />

113 Wir haben häufig Unterricht, wo<br />

einze lne Schüler(innen) <strong>oder</strong> Gruppen<br />

verschiedene Aufgaben haben.<br />

114 Arbeiten, die im Unterricht entstehen,<br />

werden im Unterricht auch angeschaut<br />

und bewertet.<br />

115 Ich erhalte von den Lehrerinnen und<br />

Lehrern häufig Hinweise, was ich gut<br />

gemacht habe und was ich noch besser<br />

machen muss.<br />

117 Auf Schüler(innen), die beim Lernen<br />

nicht mitkommen, wird in unserer<br />

Schule wenig Rücksicht genommen.<br />

3,50 3,52 3,41 3,48<br />

4,14 4,16 3,95 4,09<br />

3,96 4,02 3,74 3,91<br />

3,09 3,12 3,23 3,14<br />

3,73 3,72 3,12 3,55<br />

3,27 3,24 2,87 3,14<br />

2,98 2,88 2,43 2,79<br />

3,32 3,26 3,18 3,26<br />

3,67 3,71 3,34 3,59<br />

2,60 2,78 2,83 2,72<br />

Skala S5: Lernkultur 3,49 3,46 3,20 3,39<br />

<strong>Die</strong> höchsten Werte in dieser Skala erhalten hierbei die Gesamtschulen, dicht gefolgt von den<br />

Haupt- und Realschulen. Offenbar hängt diese Einschätzung damit zusammen, dass auf die<br />

Frage nach Rücksichtnahme auf Schüler(innen), die beim Lernen nicht mitkommen (Item<br />

117), die Gesamtschulen signifikant besser beurteilt werden als die Gymnasien. Bei fast allen<br />

anderen Items, die zur Skalenbildung herangezogen wurden, erleben die Schüler(innen) an<br />

Gymnasien die Lernkultur und das Unterrichtsklima signifikant schlechter als an den übrigen<br />

Schulen.


<strong>Die</strong>se Differenzen beziehen sich auf<br />

<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 123<br />

• die Erfüllbarkeit der Leistungsanforderungen,<br />

• die Klarheit der individuellen Lernanforderungen,<br />

• die stimulierende Bewertung individueller Leistungen,<br />

• die Häufigkeit von differenzierten Aufgaben für einzelne Schüler und Gruppen,<br />

• das Bemühen der Lehrer(innen), niemanden zu überfordern,<br />

• die Unterstützung bei Lernproblemen.<br />

Im Durchschnitt beurteilen die ausländischen Mitschüler(innen) die Lernkultur an den<br />

Schulen ähnlich wie die deutschen. Allerdings finden sich auch hier schulformbezogene<br />

Unterschiede. Am Gymnasium werden in der Skala „Lernkultur“ von den nicht-deutschen<br />

Schüler(innen) signifikant niedrigere Werte angegeben.<br />

Bei den Fragen nach dem Klassenklima (vgl. Tabelle 4/9) nimmt die Haupt- und Realschule<br />

eine besondere Stellung ein. <strong>Die</strong> Werte für die Gesamtskala weichen signifikant von denen in<br />

den beiden anderen Schulformen ab. Obwohl die Skalenwerte generell ein recht gutes<br />

Klassenklima bestätigen, lassen unsere Daten vermuten, dass sich Haupt- und Real-<br />

schüler(innen) in ihren Klassen weniger wohlfühlen und dass dort häufiger<br />

Leistungskonkurrenz und Missgunst auftreten, als das in den anderen Schulformen der Fall<br />

ist. Der größere Ausländeranteil der Haupt- und Realschule lässt sich für diesen Befund nicht<br />

verantwortlich machen. Zwar beurteilen die ausländischen Schüler(innen) insgesamt das<br />

Klassenklima weniger positiv als die deutschsprachigen, dieser Unterschied ist aber nicht<br />

signifikant.


Seite 124 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

Tabelle 4/9: Klassenklima nach Schulformen (Mittelwerte)<br />

Cronbach’s alpha = ,606<br />

Gesamt -<br />

schule<br />

Haupt- und<br />

Realschule<br />

Gymnasium Gesamt<br />

Antworten n = 600 n = 417 n = 430 N = 1447<br />

105 In meiner Schulklasse fühle ich mich<br />

wohl.<br />

106 <strong>Die</strong> meisten Schüler(innen) verstehen<br />

sich richtig gut miteinander.<br />

107 In unserer Klasse sieht jeder nur auf<br />

seinen eigenen Vorteil, wenn es um die<br />

<strong>Noten</strong> geht.<br />

108 Viele Schüler(innen) sind hier<br />

manchmal neidisch, wenn ein anderer<br />

bessere Leistungen hat als sie.<br />

109 In unserer Klasse versucht unter den<br />

Schüler(innen) jeder besser zu sein als<br />

der andere.<br />

3,98 3,74 4,03 3,92<br />

4,12 4,10 4,00 4,09<br />

3,26 3,31 2,98 3,19<br />

2,85 3,08 2,85 2,92<br />

2,82 3,17 2,54 2,84<br />

Skala S6: Klassenklima* 3,44 3,26 3,53 3,42<br />

* In dieser Zusammenfassung bedeuten höhere Werte eine besseres Klassenklima.<br />

Insgesamt überwiegen aber auch in dieser Skala die positiven Einschätzungen der Lernenden,<br />

so dass letztlich davon ausgegangen werden kann, dass die meisten Schülerinnen und Schüler<br />

eine angenehme Arbeits- und Lernatmosphäre vorfinden.<br />

4.1.4 Gewünschte Schulabschlüsse<br />

Bei der Frage nach dem angestrebten Schulabschluss zeigt sich, dass diese Stichprobe dem<br />

allgemeinen Trend nach hohen Bildungsabschlüssen recht deutlich folgt. Mehr als die Hälfte<br />

(55%) aller befragten Schülerinnen und Schüler, im Jahrgang 6 sogar fast 60%, beabsichtigt,<br />

die Schullaufbahn mit dem Abitur abzuschließen (vgl. Tabelle 4/10). Auch die auffällig<br />

geringe Nachfrage eines Hauptschulabschlusses (nur etwas über 5%) bestätigt den<br />

allgemeinen Trend bei der Wahl der Schulformen nach der Grundschule.


<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 125<br />

Tabelle 4/10: Angestrebter Schulabschluss nach Klassenstufe<br />

8 Schulische Pläne Klasse 6 Klasse 8 Klasse 10 Gesamt<br />

Einen Hauptschulabschluss nach der 9. Klasse 1,7% 3,4% 0,0% 1,8%<br />

Einen Hauptschulabschluss nach der 10. Klasse 3,0% 3,4% 4,3% 3,6%<br />

Einen Realschulabschluss nach der 10. Klasse 12,5% 27,2% 27,3% 21,9%<br />

Einen Realschulabschluss über eine berufliche<br />

Schule erwerben<br />

2,7% 3,2% 1,8% 2,6%<br />

die Fachhochschulreife (nach der 12. Klasse) 1,1% 3,2% 3,2% 4,1%<br />

das Abitur 58,3% 51,2% 51,2% 55,0%<br />

weiß nicht 20,6% 8,3% 7,3% 12,4%<br />

gesamt – in Prozent 100% 100% 100% 100%<br />

gesamt – n 528 496 439 1463<br />

Bemerkenswert ist dabei die hohe Zuversichtlichkeit der Kinder (vgl. Tabelle 4/11). Bereits in<br />

der 6. Klasse gibt fast die Hälfte der befragten Schülerinnen und Schüler an, ganz sicher bzw.<br />

ziemlich sicher den gewünschten Schulabschluss zu erreichen. Bis zum Beginn der 10. Klasse<br />

steigt dieser Anteil auf etwa 70%.<br />

Tabelle 4/11: Selbsteinschätzung über Erreichen des Schulabschlusses<br />

nach Klassenstufe<br />

9 Wie sicher bist du dir, dass du den Schulabschluss erreichst, den du haben willst?<br />

Klasse 6 Klasse 8 Klasse 10 alle<br />

Ganz sicher 7,3% 14,5% 26,2% 15,5%<br />

Ziemlich sicher 40,7% 43,6% 41,5% 41,9%<br />

Unklar 48,4% 36,1% 27,1% 37,8%<br />

Ziemlich unsicher 1,7% 3,7% 4,8% 3,3%<br />

Ganz unsicher 1,9% 2,0% 0,5% 1,5%<br />

gesamt – in Prozent 100% 100% 100% 100%<br />

gesamt – n 519 488 439 1446<br />

<strong>Die</strong>se Zuversichtlichkeit bezüglich ihrer <strong>schulische</strong>n Laufbahnen weist auf eine hohe<br />

Motivation hin, in der Schule Leistungen erbringen zu wollen. In einigen Fällen dürfte aber<br />

auch mit einer gewissen Enttäuschung zu rechnen sein, wenn sich die hohen Erwartungen<br />

nicht erfüllen und selbstgesteckte Ziele nicht erreicht werden.


Seite 126 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

4.2 Welche Zeugnisse werden bevorzugt?<br />

Nach diesen eher allgemeinen Einschätzungen der Schülerinnen und Schüler zur Institution<br />

Schule und ihren Erwartungen wenden wir uns nun der Thematik Leistungsbeurteilung zu:<br />

Auf welche Erfahrungen mit verschiedenen Zeugnisformen können die Befragten<br />

zurückgreifen? Welche Erwartungen stellen sie an Zeugnisse? Wie beurteilen sie die<br />

gegenwärtig geübte Praxis? Welche Einstellungen zu Fragen der Leistungsbeurteilung werden<br />

vertreten? Dabei haben wir nicht nur allgemein nach Zeugnissen gefragt, sondern auch<br />

konkret nach <strong>Noten</strong>, <strong>Berichte</strong>n, gesonderten Kommentarbögen sowie Kommentaren zum<br />

Arbeits- und Sozialverhalten.<br />

4.2.1 Erfahrungen mit Zeugnissen<br />

Besonders wichtig für die Aussagekraft der vorliegenden Studie sind die Erfahrungen der<br />

befragten Schülerinnen und Schüler, die sie bisher mit den verschiedenen Zeugnisformen<br />

sammeln konnten. Wir haben die Schüler(innen) der 6., 8. und 10. Klassen gefragt, welche<br />

Zeugnisform sie in der vorhergehenden Klassenstufe erhalten haben.<br />

Tabelle 4/12: Eigene Erfahrungen mit Zensuren und Zeugnissen nach<br />

Klassenstufe<br />

22 Am Ende der 5., 7. bzw. 9. Klasse bekam ich ...<br />

Klasse 6 Klasse 8 Klasse 10 alle<br />

ein Berichtszeugnis (ohne <strong>Noten</strong>) 40,2% 5,4% 1,6% 16,8%<br />

ein <strong>Noten</strong>zeugnis 31,3% 50,7% 89,3% 55,3%<br />

ein <strong>Noten</strong>zeugnis mit<br />

Kommentarbogen<br />

28,6% 43,9% 9,1% 27,9%<br />

gesamt – in Prozent 100% 100% 100% 100%<br />

gesamt - n 528 497 440 1465<br />

Es zeigte sich (vgl. Tabelle 4/12), dass zumindest im Jahrgang 6 der Anteil der Befragten mit<br />

einem Berichtszeugnis und im Jahrgang 8 der Anteil mit einem <strong>Noten</strong>zeugnis mit<br />

Kommentarbogen so hoch liegt, dass für alle Zeugnisformen gültige Antworten vorliegen,<br />

obwohl für die Gesamtstichprobe der Anteil der reinen <strong>Noten</strong>zeugnisse bei 55% liegt. <strong>Die</strong>ser<br />

Wert kommt auch dadurch zustande, dass am Ende der 9. Klasse fast ausschließlich<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse vergeben wurden.


4.2.2 Einstellungen zu Zeugnissen<br />

<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 127<br />

Zunächst lässt sich feststellen, dass die von uns befragten Schülerinnen und Schüler sich<br />

keineswegs ablehnend gegenüber <strong>schulische</strong>r Leistungsbeurteilung äußerten. <strong>Die</strong><br />

nachfolgende Tabelle 4/13 präsentiert die Antworten aller befragten Lernenden zur<br />

Zufriedenheit mit ihren Zeugnissen:<br />

Tabelle 4/13: Zufriedenheit mit den Zeugnissen<br />

Cronbach´s alpha = ,637<br />

N = 1406<br />

28 Meine Leistungen in der Schule<br />

wurden im Zeugnis richtig<br />

beurteilt.<br />

37 Meine Eltern waren mit meinem<br />

Zeugnis zufrieden.<br />

38 Im Vergleich mit den Zeugnissen<br />

meiner Mitschüler in der Klasse<br />

fühle ich mich in meinem Zeugnis<br />

gerecht beurteilt.<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

ganz<br />

genau<br />

Mittelwerte<br />

1,9% 2,9% 19,4% 42,8% 33,0% 4,02<br />

6,7% 8,2% 25,9% 24,3% 34,9% 3,73<br />

4,8% 5,7% 29,3% 36,2% 24,0% 3,69<br />

Skala S7: Zufriedenheit mit dem Zeugnis 3,81<br />

Für die gesamte Stichprobe gilt also, dass die Schülerinnen und Schüler mit ihrem Zeugnis<br />

vom Ende des Schuljahres 1997/98 – ganz gleich, ob es sich um ein Berichtszeugnis <strong>oder</strong> um<br />

ein <strong>Noten</strong>zeugnis handelte – recht zufrieden waren. Mehrheitlich geben die Schüler(innen) an,<br />

dass sie sich richtig beurteilt fühlten (76%) und auch ihre Eltern mit dem vorgelegten Zeugnis<br />

zufrieden waren (60%). Im Vergleich mit den Zeugnissen ihrer Mitschüler(innen) fühlen sich<br />

60% der Stichprobe in ihrem Zeugnis gerecht beurteilt. Wenn man diese deutliche<br />

Zustimmung, die sicherlich auch als Indiz für die gewissenhafte Beurteilungstätigkeit der<br />

<strong>Hamburg</strong>er Lehrerinnen und Lehrer genommen werden darf, mit einer Skala vergleicht, die<br />

wir aus den negativ formulierten Items gewonnen und vorwiegend auf die Bemerkungen im<br />

Zeugnis bezogen haben (vgl. Tabelle 4/14), verstärkt sich diese Tendenz. Eine ausgeprägte<br />

skeptische Haltung gegenüber Zeugnissen weisen in unserer Befragung nur recht wenige<br />

Schüler(innen) auf.


Seite 128 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

Tabelle 4/14: Skeptische Haltung zum Zeugnis<br />

Cronbach’s alpha = ,629<br />

N = 1167<br />

149 Ich weiß nicht so genau, was die<br />

Lehrer(innen) mit den Bemerkungen<br />

im Zeugnis eigentlich gemeint haben.<br />

150 <strong>Die</strong> Bemerkungen im Zeugnis sind für<br />

meine Eltern gedacht; ich habe das<br />

alles schon gewusst.<br />

151 Mich interessieren im Zeugnis nur die<br />

<strong>Noten</strong>, die Bemerkungen bzw.<br />

Ko mmentare habe ich gar nicht<br />

gelesen.<br />

152 In den Bemerkungen zum Arbeits-<br />

und Sozialverhalten steht immer<br />

dasselbe.<br />

154 Ein Zeugnis brauche ich nicht, wenn<br />

ich stattdessen ein Gespräch mit<br />

meiner Lehrerin (meinem Lehrer)<br />

habe.<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

ganz<br />

genau<br />

Mittelwerte<br />

39,5% 28,6% 18,5% 7,6% 5,1% 2,10<br />

20,4% 24,0% 36,4% 11,7% 6,9% 2,61<br />

48,0% 22,0% 15,4% 6,8% 7,1% 2,02<br />

13,1% 17,6% 34,2% 21,5% 13,0% 3,04<br />

47,8% 20,9% 17,4% 7,1% 6,1% 2,02<br />

Skala S8: Skeptische Haltung zum Zeugnis 2,36<br />

<strong>Die</strong>se von uns vorgegebenen skeptischen Haltungen zu den Bemerkungen im eigenen Zeugnis<br />

werden alle eindeutig abgelehnt. Lediglich bei der Feststellung, dass in den Bemerkungen<br />

zum Arbeits- und Sozialverhalten immer dasselbe stehe, sind die Meinungen geteilt. Es<br />

scheint also bei den Schülerinnen und Schülern kaum generelle Ablehnung von Zeugnissen zu<br />

geben. Um genauer zu erfahren, welche Rolle Zeugnisse für die Schüler(innen) spielen, haben<br />

wir nach dem Informationsgehalt des Zeugnisses vom Ende des letzten Schuljahres gefragt<br />

(vgl. Tabelle 4/15). <strong>Die</strong> nachfolgende Tabelle informiert über die Angaben.


<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 129<br />

Tabelle 4/15: Informationsgehalt der Zeugnisse<br />

Cronbach’s alpha = ,838<br />

N = 1434<br />

29 Durch mein Zeugnis habe ich<br />

erfahren, was ich in den Fächern kann.<br />

30 Durch mein Zeugnis habe ich<br />

erfahren, was ich in den Fächern noch<br />

üben muss.<br />

31 Durch mein Zeugnis habe ich<br />

erfahren, ob ich besser <strong>oder</strong> schlechter<br />

als andere Schüler(innen) bin.<br />

32 Durch mein Zeugnis habe ich viel<br />

über mein Arbeits- und<br />

Sozialverhalten in der Schule erfahren.<br />

33 Durch mein Zeugnis habe ich<br />

erfahren, was ich im letzten Schuljahr<br />

neu gelernt habe.<br />

34 Durch mein Zeugnis weiß ich, wo ich<br />

in der Klasse stehe.<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

ganz<br />

genau<br />

Mittelwerte<br />

6,1% 8,1% 20,7% 27,5% 37,6% 3,82<br />

9,8% 7,3% 16,1% 22,3% 44,6% 3,85<br />

15,3% 5,3% 18,1% 24,4% 36,9% 3,62<br />

13,3% 10,1% 24,8% 27,7% 24,1% 3,39<br />

24,0% 12,5% 19,4% 21,6% 22,6% 3,06<br />

15,3% 9,0% 22,5% 26,7% 26,5% 3,40<br />

Skala S9: Informationsgehalt der Zeugnisse 3,53<br />

Bei der Frage danach, was sie aus ihrem Zeugnis vor allem erfahren haben (vgl. Tabelle<br />

4/15), verwiesen die Schüler(innen) in erster Linie auf die Einschätzung ihrer fachlichen<br />

Leistungen (65,1%) und die Hinweise auf zusätzlichen Übungsbedarf (66,9%). Obwohl der<br />

gruppennormierte Maßstab bei Zeugnissen offiziell keine Anwendung mehr finden sollte,<br />

geben immerhin 61,3% an, dass sie durch Ihr Zeugnis auch erfahren haben, ob sie besser <strong>oder</strong><br />

schlechter als andere Schüler(innen) sind. Wo sie in der Klasse stehen, haben allerdings nur<br />

53,2% der Befragten ihrem Zeugnis entnehmen können. Weniger als die Hälfte (44,2%) der<br />

befragten Schülerinnen und Schüler stimmen zu, dass sie durch ihr Zeugnis erfahren haben,<br />

was sie im letzten Schuljahr neu gelernt haben.<br />

Neben dieser subjektiven Wahrnehmung des Informationsgehaltes von Zeugnissen haben wir<br />

mit einigen Items auch nach deren Orientierungswert gefragt. <strong>Die</strong> daraus konstruierte Skala<br />

(vgl. Tabelle 4/16) bestätigt den hohen Stellenwert von Zeugnissen aus der Sicht der<br />

Schülerinnen und Schüler.


Seite 130 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

Tabelle 4/16: Orientierungswert von Zeugnissen<br />

Cronbach’s alpha = ,824<br />

N = 1432<br />

Nachdem ich mein Zeugnis kenne,<br />

habe ich mir vorgenommen ...<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

ganz<br />

genau<br />

Mittelwerte<br />

39 - fleißiger zu lernen. 2,4% 3,1% 17,9% 25,9% 50,7% 4,19<br />

40 - im Unterricht mehr mitzuarbeiten. 2,3% 2,5% 13,9% 27,7% 53,6% 4,28<br />

41 - meine Hausaufgaben regelmäßiger<br />

zu machen.<br />

11,3% 5,3% 10,5% 18,6% 54,4% 4,00<br />

42 - im Unterricht weniger zu stören. 19,1% 7,6% 13,5% 17,6% 42,1% 3,56<br />

43 - in einze lnen Fächern mehr zu tun. 2,0% 3,0% 13,4% 26,1% 55,5% 4,30<br />

44 - mehr Hilfe bei anderen zu suchen. 24,5% 15,6% 27,4% 16,6% 15,8% 2,84<br />

Skala S10: Orientierungswert des Zeugnisses 3,86<br />

An erster Stelle der Wirkungen von Zeugnissen haben sie mit 81,6% den Entschluss genannt,<br />

in einzelnen Fächern mehr zu tun. 73% haben sich vorgenommen, ihre Hausaufgaben<br />

regelmäßiger zu machen. Im Unterricht mehr mitzuarbeiten, ist die Schlussfolgerung von<br />

81,3% der befragten Schüler(innen). Lediglich die Auswahlantwort „mehr Hilfe bei anderen<br />

zu suchen” findet eine deutlich geringere Zustimmung (32,4%) und eine höhere Ablehnung<br />

(40,1%) als die übrigen Items.<br />

Um die generelle Einstellung der Schülerinnen und Schüler zu den beiden hauptsächlichen<br />

Zeugnisformen genauer zu prüfen, haben wir fünf Items zu einer Skala zusammengefasst (vgl.<br />

Tabelle 4/17). Bewusst sind einige der Items positiv und andere negativ formuliert, damit der<br />

gleiche Sachverhalt mehrfach überprüft werden kann. Nach diesen Daten lehnen alle von uns<br />

befragten Schülerinnen und Schüler mehrheitlich eine Schule ohne Zensuren (76%) ab. <strong>Noten</strong><br />

auf dem Zeugnis werden von den Schülerinnen und Schülern als gerechter empfunden (57%)<br />

und bevorzugt, weil sie so ihre Leistungen besser einschätzen können (73%). Immerhin<br />

finden 62% Zensuren gut, weil sie sich dann besonders anstrengen.


<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 131<br />

Tabelle 4/17: Pro <strong>Berichte</strong>/Kontra <strong>Noten</strong><br />

Cronbach’s alpha = ,838<br />

N = 1434<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

ganz<br />

genau<br />

Mittelwerte<br />

52 Ich finde Berichtszeugnisse besser als<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse. 58,9% 11,3% 17,5% 3,8% 8,5% 1,92<br />

54 Ich bin für eine Schule ohne Zensuren. 66,0% 10,4% 11,5% 3,8% 8,2% 1,78<br />

55 Ich hätte im Zeugnis lieber <strong>Noten</strong>,<br />

dann kann ich meine Leistungen<br />

besser einschätzen.<br />

6,3% 4,7% 15,6% 17,7% 55,7% 4,12<br />

56 <strong>Noten</strong> auf dem Zeugnis finde ich<br />

gerechter als Berichtszeugnisse. 9,3% 6,2% 27,9% 17,3% 39,3% 3,71<br />

58 Ich finde Zensuren gut, weil ich mich<br />

dann besonders anstrenge. 7,8% 5,6% 24,6% 28,5% 33,5% 3,74<br />

Skala S11: Pro <strong>Berichte</strong>/Kontra <strong>Noten</strong>* 2,02<br />

* <strong>Die</strong>se Skala ist so kodiert, dass hohe Werte eine Zustimmung zu Berichtszeugnissen bedeutet und niedrige<br />

Werte ein Zustimmung zu <strong>Noten</strong>, d.h. die Items 55, 56 und 58 wurden für den Skalenwert gespiegelt.<br />

Nach diesem recht eindeutigen Votum der Schülerinnen und Schüler für <strong>Noten</strong> verwundert es<br />

nicht, dass sich bei einer freien Entscheidung für eine Zeugnisform nur wenige<br />

Sekundarschüler(innen) für ein Berichtszeugnis aussprechen. Aber auch das reine<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis wird von der Mehrheit der Lernenden nicht favorisiert. Obwohl <strong>oder</strong> vielleicht<br />

gerade weil mehr als die Hälfte der befragten Schüler(innen) in der Sekundarstufe lediglich<br />

Erfahrungen mit <strong>Noten</strong>zeugnissen aufweisen können, liegt der Anteil derer, die diese<br />

Zeugnisform bevorzugen, nur bei knapp 40% (vgl. Tabelle 4/18).<br />

Tabelle 4/18: Entscheidung für Zeugnisform nach Jahrgängen<br />

45 Wenn ich wählen dürfte,<br />

hätte ich gern ...<br />

ein Berichtszeugnis<br />

(ohne <strong>Noten</strong>)<br />

ein <strong>Noten</strong>zeugnis<br />

ein <strong>Noten</strong>zeugnis mit<br />

Kommentarbogen<br />

Klasse 6 n = 529 9,5% 40,5% 50,1%<br />

Klasse 8 n = 495 6,5% 39,8% 53,7%<br />

Klasse 10 n = 440 5,5% 38,0% 56,6%<br />

Alle N = 1464 7,2% 39,5% 53,3%<br />

Das <strong>Noten</strong>zeugnis mit Kommentarbogen wird somit eindeutig favorisiert. Zugleich stimmt es<br />

nachdenklich, dass von den Schüler(innen) der 6. Jahrgangsstufe nur etwa 10% ein<br />

Berichtszeugnis wählen und von ihnen genauso häufig wie in den anderen Jahrgängen ein<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis gewünscht wird. Sie unterscheiden sich bei dieser Frage nur geringfügig von


Seite 132 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

den übrigen Schüler(innen) und entscheiden sich wie diese mehrheitlich für ein <strong>Noten</strong>zeugnis<br />

mit Kommentarbogen. In allen Klassenstufen entscheiden sich mehr als die Hälfte der<br />

befragten Schülerinnen und Schüler für ein <strong>Noten</strong>zeugnis mit Kommentarbogen, obwohl<br />

nicht einmal ein Drittel von ihnen Erfahrungen mit dieser Zeugnisform sammeln konnte.<br />

<strong>Die</strong>se Präferenzen ergeben sich offensichtlich aus den generellen Erwartungen, die<br />

Schüler(innen) mit Zeugnissen verbinden. <strong>Die</strong> von uns dazu konstruierte Skala zeigt, dass die<br />

Schüler(innen) hohe Erwartungen an Zeugnisse knüpfen:<br />

1<br />

Tabelle 4/19: Erwartungen an Zeugnisse<br />

Cronbach’s alpha = ,646<br />

N = 1466<br />

46 Zeugnisse sollen mir sagen, was ich in<br />

den einzelnen Fächern kann.<br />

47 Durch ein Zeugnis möchte ich<br />

erfahren, ob ich besser <strong>oder</strong> schlechter<br />

als andere Schüler(innen) bin.<br />

48 Durch ein Zeugnis möchte ich<br />

erfahren, was ich in dem Schuljahr<br />

dazugelernt habe.<br />

49 Ich finde es gut, dass im Zeugnis auch<br />

etwas zu meinem Arbeits- und<br />

Sozialverhalten geschrieben wird.<br />

50 Ich finde, Lehrer(innen) sollten im<br />

Zeugnis erläutern, warum ich so<br />

beurteilt wurde.<br />

51 In einem Zeugnis erwarte ich<br />

Hinweise, wie ich mich verbessern<br />

kann.<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

ganz<br />

genau<br />

Mittelwerte<br />

2,0% 2,0% 10,4% 24,9% 60,6% 4,40<br />

20,2% 10,6% 24,8% 16,9% 27,5% 3,21<br />

7,4% 6,4% 20,5% 26,3% 39,5% 3,84<br />

6,3% 3,9% 19,5% 23,8% 46,6% 4,01<br />

7,2% 4,3% 18,8% 19,0% 50,7% 4,02<br />

5,6% 5,1% 16,4% 22,2% 50,8% 4,07<br />

Skala S12: Erwartungen an Zeugnisse 3,93<br />

<strong>Die</strong> Angaben lassen erkennen, dass Schüler(innen) in erster Linie aus den Zeugnissen<br />

erfahren wollen, wie sie in den einzelnen Fächern stehen (85,5%) und wie sie sich noch<br />

verbessern können (73%). Mit 70,4% finden die Bemerkungen zum Arbeits- und<br />

Sozialverhalten eine deutliche Zustimmung durch die befragten Schüler(innen). Außerdem<br />

wünschten 69,7%, dass die Lehrer(innen) im Zeugnis erläutern sollten, warum die Leistungen<br />

so beurteilt wurden. Mit 44,4% Zustimmung gegenüber 30,8% Ablehnung überwiegt zwar<br />

auch noch der Wunsch der Schüler(innen), durch das Zeugnis zu erfahren, ob sie besser <strong>oder</strong><br />

schlechter als andere sind. Er ist jedoch deutlich geringer als die übrigen Erwartungen an<br />

Zeugnisse. Insgesamt wird hieraus deutlich, dass – in den Augen der Lernenden – weder ein<br />

reines <strong>Noten</strong>zeugnis noch ein Berichtszeugnis ohne <strong>Noten</strong> diesen Ansprüchen gerecht wird.


<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 133<br />

<strong>Die</strong> Konsequenz daraus ist wohl das Votum für eine Kombination aus <strong>Noten</strong> und verbalen<br />

Ergänzungen.<br />

<strong>Die</strong> weiteren Analysen differenzieren die Einschätzungen der Schüler(innen) nach Schul-<br />

formen, um etwaige Unterschiede aufzudecken.<br />

Tabelle 4/20: Informationsgehalt der Zeugnisse – nach Schulformen<br />

(Mittelwerte)<br />

Cronbach’s alpha = ,646<br />

Gesamt -<br />

schule<br />

Haupt- und<br />

Realschule<br />

Gymnasium Gesamt<br />

Anzahl n = 608 n = 426 n = 429 N = 1463<br />

29 Durch mein Zeugnis habe ich erfahren,<br />

was ich in den Fächern kann.<br />

30 Durch mein Zeugnis habe ich erfahren,<br />

was ich in den Fächern noch üben muss.<br />

31 Durch mein Zeugnis habe ich erfahren,<br />

ob ich besser <strong>oder</strong> schlechter als andere<br />

Schüler(innen) bin.<br />

32 Durch mein Zeugnis habe ich viel über<br />

mein Arbeits- und Sozialverhalten in<br />

der Schule erfahren.<br />

33 Durch mein Zeugnis habe ich erfahren,<br />

was ich im letzten Schuljahr neu gelernt<br />

habe<br />

34 Durch mein Zeugnis weiß ich, wo ich in<br />

der Klasse stehe.<br />

Skala S13: Informationsgehalt der<br />

Zeugnisse<br />

3,94 4,03 3,46 3,82<br />

4,01 4,18 3,29 3,85<br />

3,61 3,88 3,40 3,62<br />

3,37 3,73 3,09 3,39<br />

3,26 3,49 2,37 3,06<br />

3,40 3,69 3,12 3,40<br />

3,60 3,84 3,12 3,53<br />

Dabei lassen die Daten erkennen, dass der Informationsgehalt von Zeugnissen von den<br />

befragten Schüler(innen) in allen drei Schulformen der Sekundarstufe I sehr unterschiedlich<br />

eingeschätzt wird. Am positivsten wird er an Haupt- und Realschulen und am negativsten an<br />

Gymnasien beurteilt. Das gilt für alle Items dieser Skala und auch für den Informationsgehalt<br />

der Bemerkungen zum Arbeits- und Sozialverhalten in den Zeugnissen (vgl. Tabelle 4/21).<br />

Letztere werden an den Gymnasien signifikant negativer beurteilt als in den übrigen Schulen.<br />

Danach sind offenbar vor allem die Schüler(innen) in Haupt- und Realschulen mit dem<br />

Informationsgehalt ihrer Zeugnisse zufrieden. Bemerkenswert ist, dass der Informationsgehalt<br />

der Zeugnisse von den ausländischen Schüler(innen) höher eingeschätzt wird als von den<br />

deutschen (ohne Tabelle). Möglicherweise versuchen die Lehrenden, diesen Schülerinnen und<br />

Schülern ihre Schwächen und Stärken besonders deutlich mitzuteilen.


Seite 134 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

Tabelle 4/21: Informationsgehalt der Bemerkungen zum Arbeits- und<br />

Sozialverhalten – nach Schulformen (Mittelwerte)<br />

Gesamt -<br />

schule<br />

Haupt- und<br />

Realschule<br />

Gymnasium Gesamt<br />

Antworten n = 388 n = 368 n = 430 N = 1186<br />

140 Mit den Bemerkungen im Zeugnis fühle<br />

ich mich persönlich angesprochen.<br />

142 <strong>Die</strong> Bemerkungen im Zeugnis haben<br />

mir Mut für das weitere Lernen<br />

gemacht.<br />

143 <strong>Die</strong> Bemerkungen sind so geschrieben,<br />

dass ich sie auch verstehe.<br />

144 Aus den Bemerkungen kann ich Wege<br />

zur Verbesserung meiner Leistungen<br />

erkennen.<br />

146 Ich weiß durch das Zeugnis, wie mein<br />

Leis tungsstand in den einzelnen Fächern<br />

eingeschätzt wird.<br />

Skala S13: Informationsgehalt der<br />

Bemerkungen zum Arbeits- und<br />

Sozialve rhalten<br />

3,87 3,93 3,84 3,88<br />

3,25 3,46 3,00 3,23<br />

3,96 4,13 4,06 4,05<br />

3,54 3,73 3,16 3,46<br />

3,85 3,83 3,69 3,78<br />

3,69 3,82 3,55 3,68<br />

Schaut man sich die von den Schüler(innen) bestätigten Wirkungen der Zeugnisse an (vgl.<br />

Tabelle 4/22), dann setzt sich diese Tendenz verstärkt fort. <strong>Die</strong> Einschätzungen an allen drei<br />

Schulformen unterscheiden sich signifikant voneinander. Schüler(innen) an Haupt- und<br />

Realschulen sprechen diesen Bemerkungen den höchsten Orientierungswert zu, während für<br />

die Gymnasien die niedrigsten Werte registriert werden. <strong>Die</strong> Werte für die Gesamtschulen<br />

liegen dazwischen. Dabei ergeben sich nicht nur für die gesamte Skala signifikante<br />

Unterschiede, sondern auch für jedes einzelne Item dieser Skala. Das signalisiert eine hohe<br />

Sicherheit der getroffenen Aussagen.


<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 135<br />

Tabelle 4/22: Orientierungswert von Zeugnissen – nach Schulformen<br />

(Mittelwerte)<br />

Gesamt -<br />

schule<br />

Haupt- und<br />

Realschule<br />

Gymnasium Gesamt<br />

Anzahl n =603 n = 420 n = 430 N = 1453<br />

Nachdem ich mein Zeugnis kenne, habe<br />

ich mir vorgenommen ...<br />

39 - fleißiger zu lernen. 4,31 4,46 3,77 4,19<br />

40 - im Unterricht mehr mitzuarbeiten. 4,32 4,50 4,00 4,28<br />

41 - meine Hausaufgaben regelmäßiger zu<br />

machen.<br />

4,06 4,36 3,54 4,00<br />

42 - im Unterricht weniger zu stören. 3,67 3,98 2,99 3,56<br />

43 - in einzelnen Fächern mehr zu tun. 4,36 4,52 4,00 4,30<br />

44 - mehr Hilfe bei anderen zu suchen. 3,00 3,05 2,39 2,84<br />

Skala S10: Orientierungswert von<br />

Zeugnissen<br />

3,96 4,15 3,45 3,86<br />

Eine zusätzliche Bestätigung des hohen Stellenwertes der Zeugnisse an Haupt- und<br />

Realschulen ergibt sich aus den Antworten zur Zufriedenheit mit dem Zeugnis (vgl. Tabelle<br />

4/23). Hierbei ergeben die Meinungen der Haupt- und Realschüler(innen) eine signifikant<br />

geringere Zufriedenheit als in den anderen Schulen.<br />

Tabelle4/23: Zufriedenheit mit dem Zeugnis nach Schulformen (Mittelwerte)<br />

Gesamt -<br />

schule<br />

Haupt- und<br />

Realschule<br />

Gymnasium Gesamt<br />

Anzahl n = 610 n = 429 n = 434 N = 1473<br />

28 Meine Leistungen in der Schule wurden<br />

im Zeugnis richtig beurteilt.<br />

37 Meine Eltern waren mit meinem<br />

Zeugnis zufrieden.<br />

38 Im Vergleich mit den Zeugnissen<br />

meiner Mitschüler in der Klasse fühle<br />

ich mich in meinem Zeugnis gerecht<br />

beurteilt.<br />

4,05 4,05 3,96 4,02<br />

3,78 3,41 3,96 3,73<br />

3,68 3,63 3,76 3,69<br />

Skala S7: Zufriedenheit mit dem Zeugnis 3,84 3,69 3,89 3,81<br />

Eine weiterführende Klärung, was Zeugnisse in den verschiedenen Schulformen für die<br />

Lernenden bedeuten, ermöglichen die auf den ersten Blick widersprüchlichen Ergebnisse zur<br />

Skala „Skeptische Haltung zu Zeugnissen” (vgl. Tabelle 4/24), die wider Erwarten insgesamt<br />

eine signifikant höhere Skepsis für die Haupt- und Realschulen im Vergleich zu den


Seite 136 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

Gymnasien ausweist. Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass dieses Ergebnis deshalb zustande<br />

kommt, weil einerseits die Schüler(innen) der Haupt- und Realschulen mehr als in Gymnasien<br />

die Auffassung vertreten haben, dass die Bemerkungen im Zeugnis eher für die Eltern gedacht<br />

seien (150). Andererseits trat in Gymnasien häufiger die Meinung auf, dass zwar in den<br />

Bemerkungen zum Arbeits- und Sozialverhalten immer dasselbe stünde (152), aber trotzdem<br />

klar wäre, was damit gemeint sei (149). Und letztlich widersprechen die Haupt- und<br />

Realschüler(innen) signifikant weniger als alle anderen, dass sie sich nur für die <strong>Noten</strong> in den<br />

Zeugnissen interessieren würden.<br />

Tabelle 4/24: Skeptische Haltung zu Zeugnissen nach Schulformen (Mittelwerte)<br />

Gesamt -<br />

schule<br />

Haupt- und<br />

Realschule<br />

Gymnasium Gesamt<br />

Anzahl n = 604 n = 427 n = 431 N = 1462<br />

149 Ich weiß nicht so genau, was die<br />

Lehrer(innen) mit den Bemerkungen im<br />

Zeugnis eigentlich gemeint haben.<br />

150 <strong>Die</strong> Bemerkungen im Zeugnis sind für<br />

meine Eltern gedacht; ich habe das alles<br />

schon gewusst.<br />

151 Mich interessieren im Zeugnis nur die<br />

<strong>Noten</strong>, die Bemerkungen bzw.<br />

Ko mmentare habe ich gar nicht gelesen.<br />

152 In den Bemerkungen zum Arbeits- und<br />

Sozialverhalten steht immer dasselbe.<br />

154 Ein Zeugnis brauche ich nicht, wenn ich<br />

stattdessen ein Gespräch mit meiner<br />

Lehrerin (meinem Lehrer) habe.<br />

Skala S8: Skeptische Haltung zu<br />

Zeugnissen<br />

2,14 2,25 1,92 2,10<br />

2,58 2,76 2,50 2,61<br />

2,04 2,33 1,75 2,02<br />

3,01 2,91 3,17 3,04<br />

2,06 2,00 2,00 2,02<br />

2,36 2,45 2,27 2,36<br />

Somit lässt sich feststellen, dass Zeugnisse besonders von Schülerinnen und Schülern an<br />

Haupt- und Realschulen als Information über ihr individuelles Leistungsverhalten geschätzt<br />

werden. Dabei wird vor allem auf die erteilten <strong>Noten</strong> geschaut. Nach eigener Einschätzung<br />

durch die Lernenden erzielen Zeugnisse auch in dieser Schulform die deutlichsten<br />

Wirkungen.<br />

<strong>Die</strong> Differenzierung der gesamten Schülerstichprobe nach ausländischen bzw. deutschen<br />

Schüler(innen) ergibt folgende Ergebnisse: Insgesamt sind die ausländischen Schüler(innen)<br />

weniger mit ihrem Zeugnis zufrieden und ihre Skepsis gegenüber den Zeugnissen ist<br />

ausgeprägter. Dennoch scheinen die Zeugnisse eine stärkere Wirkung bei ihnen auszuüben.<br />

<strong>Die</strong>s kommt in den höheren Werten der Skala „Orientierungswert der Zeugnisse“ zum


<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 137<br />

Ausdruck. <strong>Die</strong> ausländischen Schülerinnen und Schüler scheinen sich demnach noch stärker<br />

als die deutschen vorzunehmen ihr Verhalten schul-konformer zu gestalten, nachdem sie ihr<br />

Zeugnis zur Kenntnis genommen haben.<br />

4.2.3 Schülererwartungen an Zeugnisse: <strong>Noten</strong> und Kommentare<br />

Für die gesamte Stichprobe lässt sich feststellen, dass von den befragten <strong>Hamburg</strong>er<br />

Schülerinnen und Schülern mehrheitlich <strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen (mit 53,3%)<br />

gewünscht werden (vgl. Tabelle 4/25). Wird eine nach Schulformen getrennte Auswertung<br />

durchgeführt, so bestätigt sich dieser Befund in allen Schulformen der Sekundarstufe I.<br />

Allerdings zeichnen sich gewisse Unterschiede ab.<br />

Tabelle 4/25: Entscheidung für eine Zeugnisform nach Schulformen<br />

45 Wenn ich wählen dürfte, hätte<br />

ich gern ein ...<br />

Gesamt -<br />

schule<br />

Schulformen Gesamt<br />

Haupt- und<br />

Realschule Gymnasium<br />

in<br />

Prozent<br />

absolut<br />

Berichtszeugnis 8,3% 7,9% 5,1% 7,2% n = 106<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis 28,8% 54,2% 39,8% 39,5% n = 678<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis mit<br />

Kommentarbogen<br />

62,9% 37,9% 55,1% 53,3% n = 780<br />

Gesamt (100%) – absolut n = 606 n = 428 n = 430 N = 1464<br />

In allen Schulformen entscheiden sich die Schüler(innen) mit großer Mehrheit gegen das<br />

Berichtszeugnis und für ein <strong>Noten</strong>zeugnis. Dabei ist der Anteil derer, die sich<br />

Berichtszeugnisse wünschen, an Gesamtschulen (8,3%) etwas höher als in den anderen<br />

Schulformen. Insgesamt sind es jedoch nur 7,2% aller Befragten. <strong>Die</strong> Präferenz des<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisses liegt somit über 90%. Allerdings wünschen sich die Schüler(innen) an<br />

Gesamtschulen (62,9%) und Gymnasien (55,1%) mehrheitlich ein <strong>Noten</strong>zeugnis mit<br />

Kommentarbogen. Lediglich an den Haupt- und Realschulen hat sich eine Mehrheit der<br />

Schüler(innen) (54,2%) für das „reine” <strong>Noten</strong>zeugnis entschieden.<br />

Mit der Skala „Pro <strong>Berichte</strong>/Kontra <strong>Noten</strong>” kann nach Gründen für diese Entscheidung<br />

gesucht werden.


Seite 138 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

Tabelle 4/26: Pro <strong>Berichte</strong>/Kontra <strong>Noten</strong> – nach Schulformen (Mittelwerte)<br />

Gesamt -<br />

schule<br />

Haupt- und<br />

Realschule<br />

Gymnasium<br />

Gesamt<br />

Antworten n = 606 n = 426 n = 431 N = 1463<br />

52 Ich finde Berichtszeugnisse besser als<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse.<br />

2,10 1,80 1,78 1,92<br />

54 Ich bin für eine Schule ohne Zensuren. 1,86 1,73 1,70 1,78<br />

55 Ich hätte im Zeugnis lieber <strong>Noten</strong>, dann<br />

kann ich meine Leistungen besser<br />

einschätzen.<br />

56 <strong>Noten</strong> auf dem Zeugnis finde ich<br />

gerechter als Berichtszeugnisse.<br />

58 Ich finde Zensuren gut, weil ich mich<br />

dann besonders anstrenge.<br />

3,93 4,32 4,18 4,12<br />

3,55 3,99 3,66 3,71<br />

3,67 3,99 3,66 3,74<br />

Skala S11: Pro <strong>Berichte</strong>/Kontra <strong>Noten</strong> 2,16 1,85 2,01 2,02<br />

Tabelle 4/26 lässt erkennen, dass die Kritik an <strong>Berichte</strong>n und die Befürwortung von <strong>Noten</strong> in<br />

Gesamtschulen signifikant geringer ist als an den übrigen Schulen. <strong>Die</strong>se Tendenz ergibt sich<br />

insbesondere aus der Stellungnahme zu den Items „Ich finde Berichtszeugnisse besser als<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse.” und „Ich hätte im Zeugnis lieber <strong>Noten</strong>, dann kann ich meine Leistungen<br />

besser einschätzen.”. Haupt- und Realschüler(innen) allerdings finden signifikant häufiger<br />

<strong>Noten</strong> auf dem Zeugnis gerechter als Berichtszeugnisse. Eine höhere Zustimmung geben sie<br />

auch der Feststellung, dass sie sich bei Zensuren besonders anstrengen. In diesen<br />

Einschätzungen sind sich ausländische und deutschsprachige Schüler(innen) weitgehend<br />

einig. Lediglich an der Gesamtschule findet sich ein signifikanter Unterschied, der darauf<br />

verweist, dass die ausländischen Schüle(innen) weniger für <strong>Berichte</strong> votieren, als die<br />

deutschen Gesamtschüler(innen).<br />

Bei den Fragen nach den Erwartungen an Zeugnisse (vgl. Tabelle 4/27) heben sich die<br />

Antworten der Schüler(innen) an Gymnasien signifikant von den übrigen ab. Weniger als alle<br />

anderen Schüler(innen) wollen sie vom Zeugnis erfahren, was sie in dem Schuljahr<br />

dazugelernt haben und was sie in den einzelnen Fächern können. Da sich Haupt- und<br />

Realschüler(innen), wie oben erläutert, mehrheitlich für das „reine” <strong>Noten</strong>zeugnis<br />

entscheiden, erwarten sie auch signifikant weniger als alle anderen eine Begründung für die in<br />

ihrem Zeugnis vorgenommene Leistungsbeurteilung.


<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 139<br />

Tabelle 4/27: Erwartungen an Zeugnisse – nach Schulformen (Mittelwerte)<br />

Gesamt -<br />

schule<br />

Haupt- und<br />

Realschule<br />

Gymnasium Gesamt<br />

Antworten n = 606 n = 427 n = 433 N = 1466<br />

46 Zeugnisse sollen mir sagen, was ich in<br />

den einzelnen Fächern kann.<br />

47 Durch ein Zeugnis möchte ich erfahren,<br />

ob ich besser <strong>oder</strong> schlechter als andere<br />

Schüler(innen) bin.<br />

48 Durch ein Zeugnis möchte ich erfahren,<br />

was ich in dem Schuljahr dazugelernt<br />

habe.<br />

49 Ich finde es gut, dass im Zeugnis auch<br />

etwas zu meinem Arbeits- und<br />

Sozialverhalten geschrieben wird.<br />

50 Ich finde, Lehrer(innen) sollten im<br />

Zeugnis erläutern, warum ich so<br />

beurteilt wurde.<br />

51 In einem Zeugnis erwarte ich Hinweise,<br />

wie ich mich verbessern kann.<br />

4,48 4,48 4,22 4,40<br />

3,25 3,52 2,85 3,21<br />

4,02 4,13 3,30 3,84<br />

4,04 4,00 3,97 4,01<br />

4,10 3,85 4,06 4,02<br />

4,21 4,16 3,80 4,07<br />

Skala S12: Erwartungen an Zeugnisse 4,02 4,02 3,71 3,93<br />

<strong>Die</strong> Differenzierung der Ergebnisse nach Schulformen zeigt also ein sehr komplexes Bild, in<br />

dem die Unterschiede jeweils in ihrem Kontext zu erklären sind. Obwohl an den Gymnasien<br />

ein geringerer Informationsgehalt und ein weniger hoher Orientierungswert der Zeugnisse<br />

festgestellt werden, ist die Zufriedenheit mit den Zeugnissen recht hoch. Auch die Skepsis<br />

gegenüber Zeugnissen ist hier geringer als an der Haupt- und Realschule. <strong>Die</strong>ser<br />

Zusammenhang – verbunden mit einem hohen Selbstwertgefühl und einer insgesamt<br />

geringeren Schulangst – deutet darauf hin, dass Gymnasiast(innen) am ehesten in der<br />

Situation sind, gelassen und souverän mit Leistungsbeurteilungen umgehen zu können. Auch<br />

die insgesamt geringeren Erwartungen an Zeugnisse in dieser Schulform sind hierfür ein<br />

Indiz. Für die Schüler(innen) der Haupt- und Realschule gilt dies nicht im gleichen Maße. Sie<br />

betonen im Besonderen, dass sie sich nach Kenntnis ihres Zeugnisses vornehmen, ihr<br />

Verhalten zu ändern. Sie äußern am ehesten Skepsis gegenüber Zeugnissen und sind mit ihren<br />

konkreten Zeugnissen am wenigsten zufrieden. <strong>Die</strong> deutliche Entscheidung für <strong>Noten</strong> in<br />

dieser Schulform kann auch als Ausdruck gewertet werden, sich im Leistungsspektrum klar<br />

positionieren zu wollen.


Seite 140 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

4.2.4 Schülereinstellungen: Strukturen und Verflechtungen<br />

<strong>Die</strong> nächste Abbildung veranschaulicht die Zusammenhänge, die zwischen den Skalen zur<br />

Einschätzungen der Leistungsbeurteilung bestehen: Von den 21 Korrelationen, die sich aus<br />

den sieben Skalen ergeben, stellen wir in der folgenden Abbildung nur diejenigen dar, die<br />

vom Betrag her größer sind als 3.<br />

Abbildung 4/28: Korrelationen zwischen den Skalen zur<br />

Leistungsbeurteilung/bzw. Zeugnissen<br />

S9: Informationsgehalt der<br />

Zeugnisse<br />

,452<br />

S9: Informationsgehalt der<br />

Bemerkungen zum<br />

Arbeits- und<br />

Sozialverhalten<br />

-,345<br />

S11: Pro <strong>Berichte</strong>/<br />

Kontra <strong>Noten</strong><br />

,478<br />

-,389<br />

,374<br />

,301<br />

<strong>Die</strong> dargestellten Korrelationen sind folgendermaßen zu verstehen:<br />

(1) Eine zentrale Position nimmt die Skala „Informationsgehalt des Zeugnisses“ ein. Sie steht<br />

im Zusammenhang mit vier weiteren Skalen:<br />

S12: Erwartungen an<br />

Zeugnisse<br />

S10: Orientierungswert von<br />

Zeugnissen<br />

S7: Zufriedenheit mit dem<br />

Zeugnis<br />

- Ein positiver Zusammenhang besteht mit der Skala „Informationsgehalt der<br />

Bemerkungen zum Arbeits- und Sozialverhalten“ (r = ,452). Der Betrag der<br />

Korrelation und damit die Stärke des Zusammenhangs ist lediglich mittelmäßig.<br />

- Zur Skala „Erwartungen an Zeugnisse“ besteht eine positive Korrelation (r = ,478),<br />

die besagt, dass mit einem hohen Informationsgehalt der Zeugnisse auch eine höhere<br />

Erwartungshaltung einhergeht. Hier lässt sich ein Kausalzusammenhang vermuten,<br />

wenn man davon ausgeht, dass bei einem ausgeprägten Informationsgehalt auch<br />

,377<br />

-,307<br />

S8: Skepsis gegenüber dem<br />

Zeugnis<br />

entsprechende Erwartungen an spätere Zeugnisse geweckt werden.


<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 141<br />

- Der Korrelationskoeffizient von r = ,389 zur Skala „Orientierungswert von<br />

Zeugnissen“ zeigt, dass ein hoher Informationsgehalt des Zeugnisses tendenziell auch<br />

mit einem höheren Orientierungswert verknüpft ist.<br />

- Schließlich findet sich auch der plausible Zusammenhang von Informationsgehalt und<br />

„Zufriedenheit mit dem Zeugnis“.<br />

(2) Ebenfalls in einem positiven Zusammenhang mit der Skala „Zufriedenheit“ steht die<br />

Skala „Informationsgehalt der Bemerkungen zum Arbeits- und Sozialverhalten“ (r =<br />

,374). <strong>Die</strong> Erklärung dafür entspricht der bereits genannten: Je weniger Information die<br />

Bemerkungen enthalten, desto weniger sind die betroffenen Schüler(innen) mit dem<br />

Zeugnis zufrieden. Zudem findet sich eine negative Korrelation zur Skala „Pro<br />

<strong>Berichte</strong>/Kontra <strong>Noten</strong>“. <strong>Die</strong>s ist wie folgt zu verstehen: Je geringer der<br />

Informationsgehalt der Bemerkungen in den <strong>Noten</strong>zeugnissen ist, desto positiver werden<br />

Berichtszeugnisse bewertet. <strong>Die</strong> Stärke dieser Zusammenhänge ist aber ebenfalls nicht<br />

sehr ausgeprägt.<br />

(3) Schließlich zeigt sich erwartungsgemäß ein negativer Zusammenhang (r = -,307)<br />

zwischen der Zufriedenheit mit dem Zeugnis und der Skepsis gegenüber Zeugnissen<br />

generell.<br />

4.3 <strong>Die</strong> Wirkungen verschiedener Zeugnisformen im 6. Jahrgang<br />

Da sich die öffentliche Diskussion um Probleme <strong>schulische</strong>r Leistungsbewertung sehr stark<br />

auf die Gegenüberstellung von <strong>Noten</strong>zeugnissen und Berichtszeugnissen konzentriert, besteht<br />

eine wichtige Aufgabe dieser Studie auch darin, den unterschiedlichen pädagogischen<br />

Auswirkungen beider Zeugnisformen nachzugehen. Das kann sinnvollerweise nur in der<br />

Teilstichprobe der Schüler(innen) im 6. Jahrgang geschehen, weil sich deren Aussagen zum<br />

letzten Zeugnis auf die Klasse 5 beziehen. Und dort besteht zumindest für Gesamtschulen und<br />

für Integrationsklassen die rechtliche Möglichkeit, ein Berichtszeugnis zu erhalten.<br />

4.3.1 Untersuchungsfrage und Teilstichprobe<br />

<strong>Die</strong>se besondere Situation in der 6. Jahrgangsstufe gibt uns die forschungsmethodische<br />

Möglichkeit, in dieser Teilstichprobe die Einstellungen der Schülerinnen und Schüler zum<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis und zum Berichtszeugnis gegenüberzustellen und den unterschiedlichen<br />

Wirkungen nachzugehen. Wir konzentrieren uns dabei auf die in Abbildung 4/29<br />

zusammengestellten Dimensionen. Dabei vermuten wir, dass sich zwischen den<br />

Zeugnisformen auf der einen Seite und den pädagogisch-psychologischen Merkmalen


Seite 142 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

Schulunlust, Schulangst, Lernkultur, Klassenklima, Selbsteinschätzung der Leistungen und<br />

Einstellung zu Zeugnissen auf der anderen Seite Zusammenhänge nachweisen lassen, die sich<br />

auf den unterschiedlichen Anspruch bei beiden Zeugnisformen beziehen lassen. Dabei bleiben<br />

unsere Erkenntnisse allerdings im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten, die die eigene<br />

Querschnittstudie bietet: Wir können nur korrelative Zusammenhänge präsentieren und diese<br />

– in aller Vorsicht – kausal interpretieren. In diesem deutlich eingeschränkten Sinne wird hier<br />

von „Wirkungen“ gesprochen.<br />

Wir haben zu diesem Zweck eine Suchstrategie verwendet, die zunächst die anderen<br />

Klassenstufen und weitere mögliche Auswertungsgesichtspunkte der schriftlichen Schüler-<br />

befragung ausblendet. Dazu haben wir Skalen entwickelt bzw. aus anderen Untersuchungen<br />

entnommen, um diese Vermutung zu prüfen.<br />

Abbildung 4/29: Wirkungsfaktoren <strong>schulische</strong>r Leistungsbewertung und<br />

Zeugnisse<br />

Schulunlust<br />

NZ +<br />

NZK<br />

Zeugnisform<br />

Zunächst sei jedoch die Teilstichprobe charakterisiert, um die es in diesem Abschnitt geht. Im<br />

6. Jahrgang waren insgesamt 520 Schülerinnen und Schüler an der schriftlichen Befragung<br />

beteiligt. Davon hatten 40,2% (n = 210) am Ende der 5. Klasse ein Berichtszeugnis erhalten,<br />

21,2% (n=162) erhielten ein reines <strong>Noten</strong>zeugnis und 28,5% (n=148) ein <strong>Noten</strong>zeugnis mit<br />

Kommentarbogen. <strong>Die</strong> folgende Tabelle erläutert, wie sich diese Gruppe auf die befragten<br />

BZ<br />

Lernkultur/Unterrichtsklima<br />

Schulangst Klassenklima<br />

Selbsteinschätzung der Leistungen<br />

Einstellungen zu Zeugnissen


<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 143<br />

Schulformen verteilt. Dabei werden „reine <strong>Noten</strong>zeugnisse“ und „<strong>Noten</strong>zeugnisse mit<br />

Kommentarbogen“ zu einer Gruppe (<strong>Noten</strong>) zusammengefasst.<br />

Tabelle 4/30: Zusammensetzung der Teilstichprobe – nach<br />

Zeugnisform und Schulform<br />

7 Schüler(in) an ... Klasse 6<br />

einer Gesamtschule<br />

einem Gymnasium<br />

<strong>Berichte</strong><br />

Klasse 6<br />

<strong>Noten</strong><br />

Gesamt<br />

82,9% 15,8% n = 223<br />

- 50,3% n = 156<br />

einer Haupt- <strong>oder</strong> Realschule 17,1% 33,9% n = 141<br />

alle – in Prozent 100% 100% 100%<br />

alle – absolut n = 210 n = 310 N = 520<br />

Damit spiegelt diese Stichprobe allerdings die reale Verteilung in <strong>Hamburg</strong>er Schulen am<br />

Ende des 5. Jahrgangs nicht adäquat wider; denn der Anteil der Berichtszeugnisse liegt<br />

insgesamt deutlich niedriger. Wir haben aber bereits in Kapitel 1 dargestellt, dass diese<br />

Zusammensetzung von uns bewusst herbeigeführt wurde; denn auf diese Weise haben wir<br />

eine Verteilung erreicht, die es möglich macht, die Aussagen der Schüler(innen) mit<br />

Berichtszeugnis und <strong>Noten</strong>zeugnis gegenüberzustellen. In der folgenden Analyse fassen wir<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse mit und ohne Kommentar zusammen und vergleichen sie mit den<br />

Berichtszeugnissen.<br />

4.3.2 <strong>Noten</strong>angaben und Selbsteinschätzungen im Vergleich<br />

Zunächst kann festgestellt werden, dass für unsere Stichprobe in den 6. Klassen der<br />

<strong>Hamburg</strong>er Sekundarschulen ein weit verbreitetes Vorurteil nicht bestätigt werden konnte. So<br />

wird in der Diskussion um die Vor- und Nachteile von Lernberichten häufig mit dem<br />

Argument gearbeitet, dass Zeugnisse und Leistungsbeurteilungen ohne <strong>Noten</strong> bei den<br />

Schülerinnen und Schülern zu unrealistischer und meist überhöhter Einschätzung der eigenen<br />

Leistungen führen würden. <strong>Die</strong>s sei darauf zurückzuführen, dass die kritischen Bemerkungen<br />

nicht verstanden <strong>oder</strong> mitunter auch in den Beurteilungen nicht deutlich genug ausgesprochen<br />

würden. Bei erstmaliger Bekanntschaft mit Zensuren und <strong>Noten</strong>zeugnissen käme dann für<br />

viele Schüler(innen) das „böse Erwachen” bzw. das Unverständnis gegenüber der<br />

vorgenommenen Leistungsbewertung.


Seite 144 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

Schülerinnen und Schüler, die in der 5. Klasse ein Berichtszeugnis erhalten hatten, wurden<br />

gebeten, ihre Leistungen in Deutsch, Sport, Mathematik, Biologie und Englisch selbst<br />

einzuschätzen – und zwar mit Hilfe der Skala: „gut und besser“, „mittelmäßig“,<br />

„ausreichend“, „eher schlecht“. Wenn sie am Ende der 5. Klasse ein <strong>Noten</strong>zeugnis erhalten<br />

hatten, sollten sie die Zeugnisnoten in diesen Fächern angeben. Beabsichtigt war vor allem<br />

die Auswertung der Leistungen in den drei Hauptfächern Deutsch, Mathematik und Englisch.<br />

Sport und Biologie wurden aus psychologischen Gründen hinzugenommen, um allzu starke<br />

Frustrationen beim Beantworten der Fragen zu verhindern (ohne Tabelle). Der Vergleich der<br />

jeweiligen Angaben in Tabelle 4/31 zeigt, dass die selbst eingeschätzten Leistungen in<br />

Deutsch, Mathematik und Englisch deutlich geringer sind als die entsprechenden<br />

Selbsteinschätzungen der Schüler(innen), die <strong>Noten</strong> erhalten haben. <strong>Die</strong> vorliegenden Daten<br />

sprechen somit deutlich gegen einen Verdacht, dass Berichtszeugnisse in großem Ausmaß zu<br />

unrealistischen und überhöhten Selbsteinschätzungen von Schüler(innen) führen könnten.<br />

Offen bleibt allerdings, ob diese Selbsteinschätzungen nicht in einigen Fällen auf Unter- bzw.<br />

Überschätzung beruhen. <strong>Die</strong>s lässt sich mit unseren Mitteln aber nicht feststellen.<br />

Tabelle 4/31: Leistungsstand der Schüler(innen): <strong>Noten</strong>angaben und<br />

Selbsteinschätzungen<br />

<strong>Berichte</strong><br />

<strong>Noten</strong><br />

Deutsch<br />

10 Klasse 6<br />

<strong>Berichte</strong><br />

15 Klasse 6<br />

<strong>Noten</strong><br />

Mathematik<br />

12 Klasse 6<br />

<strong>Berichte</strong><br />

17 Klasse 6<br />

<strong>Noten</strong><br />

Englisch<br />

14 Klasse 6<br />

<strong>Berichte</strong><br />

19 Klasse 6<br />

<strong>Noten</strong><br />

gut und besser<br />

<strong>Noten</strong> 1 und 2<br />

mittelmäßig<br />

Note 3<br />

ausreichend<br />

Note 4<br />

eher schlecht<br />

<strong>Noten</strong> 5 und 6<br />

Anzahl<br />

16,2% 54,4% 27,0% 2,5% n = 204<br />

34,6% 41,3% 21,1% 3,0% n = 298<br />

23,9% 47,8% 24,4% 3,9% n = 205<br />

37,3% 36,2% 22,5% 4,0% n = 298<br />

24,1% 43,3% 29,6% 3,0% n = 203<br />

38,4% 37,7% 19,7% 4,3% n = 300


<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 145<br />

4.3.3 Einstellungen zur Schule und zu Zeugnissen<br />

Für die Ziele unserer Untersuchungen erwies es sich als vorteilhaft, mit verschiedenen<br />

Einstellungsskalen gearbeitet zu haben. Auf diese Weise lässt sich feststellen, ob<br />

unterschiedliche Zeugnisformen mit einem Sozialisationseffekt verbunden sind. So lassen<br />

unsere Ergebnisse erkennen, dass die Zeugnisform nach Meinung der befragten Schülerinnen<br />

und Schüler keinerlei Einfluss auf die Schulangst nimmt (ohne Tabelle). Lediglich bei einem<br />

Item, Angst vor Klassenarbeiten, lässt sich feststellen, dass diese Angst von Schülerinnen und<br />

Schülern mit <strong>Berichte</strong>n signifikant geringer eingeschätzt wird. Insgesamt kann allerdings<br />

vermutet werden, dass die Schulangst im 6. Jahrgang nicht sonderlich stark ausgeprägt ist.<br />

Auf keinen Fall ist es die Vergabe von Zensuren in der Schule, die den Schülerinnen und<br />

Schülern Angst macht. <strong>Die</strong> entsprechende Nachfrage wurde mit deutlicher Mehrheit (etwa<br />

75%) von Schülerinnen und Schülern der 6. Jahrgangsstufe abgelehnt. Auch hierbei gibt es<br />

keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (vgl. Tabelle 4/32).<br />

Tabelle 4/32: Einstellung zu <strong>Noten</strong> im 6. Jahrgang<br />

60 Ich finde <strong>Noten</strong> in der Schule schlecht, weil sie mir Angst machen.<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

ganz<br />

genau<br />

Mittelwerte<br />

Klasse 6 <strong>Berichte</strong> N = 205 60,0% 18,0% 11,2% 5,4% 5,4% 1,78<br />

Klasse 6 <strong>Noten</strong> N = 310 55,8% 17,7% 15,2% 6,1% 5,2% 1,87<br />

Klasse 6 Gesamt N = 515 57,5% 17,9% 13,6% 5,8% 5,2% 1,83<br />

Sehr signifikante Unterschiede zwischen beiden Schülergruppen existieren allerdings bei der<br />

Skala „Schulunlust” (vgl. Tabelle 4/33). Es kann demzufolge angenommen werden, dass das<br />

Wohlbefinden in der jeweiligen Schule deutlich mit der jeweiligen Zeugnisform<br />

zusammenhängt. Auf welche Weise der Zusammenhang zustande kommt, bedarf noch der<br />

genaueren Analyse. Generell gilt auch hier, dass von den Befragten wenig Kritik an der<br />

Institution Schule geäußert wird.


Seite 146 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

Tabelle 4/33: Schulunlust nach Zeugnisformen<br />

67 Schon der Gedanke an die Schule<br />

macht mich missmutig.<br />

<strong>Berichte</strong> <strong>Noten</strong><br />

2,08 2,27<br />

69 Ich gehe sehr gern zur Schule. 3,68 3,22<br />

79 Es gibt in der Schule eigentlich viele<br />

Dinge, die mir Spaß machen.<br />

81 Ich bin froh, wenn ich nicht mehr<br />

zur Schule gehen muss.<br />

82 Ich könnte meine Zeit besser<br />

außerhalb der Schule nutzen.<br />

4,32 4,04<br />

3,03 3,04<br />

2,87 3,05<br />

Skala S4: Schulunlust 2,40 2,62<br />

<strong>Die</strong> signifikanten Unterschiede entstehen dadurch, dass es bei zwei Items von der Gruppe mit<br />

den <strong>Berichte</strong>n eine deutlichere Zustimmung zur Schule bzw. eine stärkere Ablehnung der<br />

Distanz zur Schule gibt. <strong>Die</strong> Unterschiede zwischen beiden Gruppen beziehen sich somit vor<br />

allem auf die Aussagen 69 „Ich gehe sehr gern zur Schule.“ und 79 : „Es gibt in der Schule<br />

eigentlich viele Dinge, die mir Spaß machen.“. Fast 65% der Schülerinnen und Schüler, die in<br />

der 5. Klasse ein Berichtszeugnis erhalten, stimmen dem zu. In der Gruppe mit <strong>Noten</strong><br />

bestätigen dies nur etwa 41%. Das bedeutet: In Klassen und Schulen mit Berichtszeugnissen<br />

herrscht offensichtlich eine freudvollere Atmosphäre, die positiv auf die Einstellungen zur<br />

Schule wirkt. Allerdings darf dies nicht einfach der Zeugnisform als Wirkung zugeschrieben<br />

werden. Zu vermuten ist eher, dass es die gesamte <strong>schulische</strong> Atmosphäre ist, die auch<br />

Einfluss auf die Wahl der Zeugnisform nimmt und mit ihr gemeinsam ein solches<br />

lernfreundliches Klima schafft. Auch eine Kovariation mit der Schulform ist nicht<br />

ausgeschlossen.<br />

Dass die Konstruktion kausaler Beziehungen zwischen Zeugnisform und Einstellung<br />

Lernender zur Schule zu Fehlschlüssen führt, zeigen unsere Ergebnisse zu den Präferenzen<br />

der beiden grundlegenden Zeugnisformen (vgl. Tabelle 4/34).


<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 147<br />

Tabelle 4/34: Pro <strong>Berichte</strong>/Kontra <strong>Noten</strong> – nach Zeugnisformen<br />

(Mittelwerte)<br />

Item <strong>Berichte</strong> <strong>Noten</strong><br />

52 Ich finde Berichtszeugnisse besser<br />

als <strong>Noten</strong>zeugnisse.<br />

1,93 1,75<br />

54 Ich bin für eine Schule ohne <strong>Noten</strong>. 1,74 1,68<br />

55 Ich hätte im Zeugnis lieber <strong>Noten</strong>,<br />

dann kann ich meine Leistungen<br />

besser einschätzen.<br />

56 <strong>Noten</strong> auf dem Zeugnis finde ich<br />

gerechter als Berichtszeugnisse.<br />

58 Ich finde Zensuren gut, weil ich<br />

mich dann besonders anstrenge.<br />

4,05 4,27<br />

3,68 3,94<br />

3,79 4,00<br />

Skala S11: Pro <strong>Berichte</strong>/Kontra <strong>Noten</strong> * 2,03 1,84<br />

* Ein hoher Wert (zwischen 3 und 5) deutet auf eine Zustimmung zu <strong>Berichte</strong>n, ein niedriger<br />

(zwischen 1 und 3) eher auf eine Ablehnung.<br />

<strong>Die</strong> Daten der Befragung ergeben zwar für die gesamte Skala signifikante Unterschiede<br />

zwischen den Schülerinnen und Schülern, die am Ende der 5. Klasse verschiedene Zeugnis-<br />

formen erhalten haben. Jedoch zeigt der Vergleich der Mittelwerte in Tabelle 4/34, dass bei<br />

beiden Schülergruppen gleichgerichtete Antworttendenzen zu verzeichnen sind. Sie<br />

unterscheiden sich lediglich in der Deutlichkeit, in der sie <strong>Noten</strong> fordern und<br />

Berichtszeugnisse ablehnen. Drei Viertel der Schüler in beiden Gruppen lehnen eine Schule<br />

ohne Zeugnis und ohne <strong>Noten</strong> ab. Sie hätten auf dem Zeugnis lieber Zensuren, weil sie sich<br />

dann besser einschätzen können und besonders anstrengen. Sie plädieren somit für ein<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis und gegen das Berichtszeugnis. <strong>Die</strong> Zustimmung zum <strong>Noten</strong>zeugnis bzw.<br />

Ablehnung des Berichtszeugnisses ist bei den Schülerinnen und Schülern mit Berichtszeugnis<br />

etwas geringer. Dafür ist der generelle Wunsch nach irgendeinem Zeugnis bei der Gruppe mit<br />

<strong>Berichte</strong>n sogar noch stärker ausgeprägt als bei den übrigen Schülerinnen und Schülern. So<br />

fällt bei der Frage nach einer „Schule ohne Zeugnisse“ die Ablehnung bei der „<strong>Berichte</strong>“-<br />

Gruppe mit 74% signifikant höher aus als bei der „<strong>Noten</strong>“-Gruppe mit 66% (ohne Tabelle).<br />

Am deutlichsten gehen die Meinungen zu gerechter Bewertung auseinander. Während etwa<br />

64% der „<strong>Noten</strong>“-Gruppe, <strong>Noten</strong> im Zeugnis gerechter finden als Berichtszeugnisse, stimmen<br />

von der „<strong>Berichte</strong>“-Gruppe nur 56% dieser Behauptung zu. Mit Blick auf diese Einstellungen<br />

zu den beiden grundlegenden Zeugnisformen wird auch die geringe Zustimmung beider<br />

Schülergruppen zum Berichtszeugnis (etwa 10%) verständlich (vgl. Tabelle 4/35), obwohl


Seite 148 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

auch hier das Berichtszeugnis von denen, die ein solches in der 5. Klasse erhalten hatten,<br />

deutlich häufiger gewählt wird.<br />

Tabelle 4/35: Entscheidung für eine Zeugnisform - nach erhaltenem Zeugnis<br />

45 Wenn ich wählen<br />

dürfte, hätte ich gern<br />

ein<br />

Berichtszeugnis<br />

ein <strong>Noten</strong>zeugnis<br />

ein <strong>Noten</strong>zeugnis<br />

mit Kommentarbogen<br />

Gesamt<br />

in Prozent<br />

Gesamt<br />

Klasse 6 <strong>Berichte</strong> 12,6% 41,1% 46,4% 100% n = 207<br />

Klasse 6 <strong>Noten</strong> 6,8% 40,5% 52,8% 100% n = 309<br />

alle 9,1% 40,7% 50,2% 100% N = 516<br />

<strong>Die</strong> Zustimmung im 6. Jahrgang zum Berichtszeugnis liegt geringfügig höher als in der<br />

Gesamtstichprobe. Trotzdem findet das traditionelle <strong>Noten</strong>zeugnis mit 40% aller<br />

Schüler(innen) im 6. Jahrgang eine unerwartet hohe Zustimmung. Besonders bemerkenswert<br />

ist die Wahl des <strong>Noten</strong>zeugnisses mit Kommentarbogen zur bevorzugten Zeugnisform von<br />

etwa der Hälfte der Schülerinnen und Schüler (im 6. Jahrgang ), obwohl nur ein geringer Teil<br />

von ihnen mit dieser Zeugnisform Erfahrungen sammeln konnte. Offensichtlich steht hinter<br />

diesem Wahlverhalten der deutliche Wunsch der Schüler(innen) nach einer<br />

Leistungsrückmeldung, die präzise und knapp mit Zensuren Auskunft über die nach-<br />

gewiesenen Leistungen gibt und mit einem zusätzlichen Kommentar die erforderlichen<br />

Erläuterungen ergänzt.<br />

Wir haben diesen Trend zusätzlich in der Teilstichprobe des 8. Schülerjahrgangs überprüft<br />

und bestätigt gefunden (vgl. Tabelle 4/36).<br />

Tabelle 4/36: Entscheidung für Zeugnisform im 8. Jahrgang – nach erhaltenem<br />

Zeugnis<br />

45 Wenn ich wählen<br />

dürfte, hätte ich gern<br />

ein<br />

Berichtszeugnis<br />

(ohne <strong>Noten</strong>)<br />

ein<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis<br />

ein <strong>Noten</strong>zeugnis<br />

mit Kommentarbogen<br />

gesamt<br />

in Prozent<br />

Gesamt<br />

Klasse 8 <strong>Berichte</strong> 20,0% 28,0% 52,0% 100% n = 25<br />

Klasse 8 <strong>Noten</strong> 7,2% 57,0% 35,7% 100% n = 249<br />

Klasse 8 <strong>Noten</strong> mit<br />

Kommentarbogen<br />

4,1% 21,6% 74,3% 100% n = 218<br />

Alle 6,5% 39,8% 53,7% 100% N = 492<br />

Obwohl in dieser Teilstichprobe am Ende der 7. Klasse mehr als die Hälfte der Schüler(innen)<br />

ein einfaches <strong>Noten</strong>zeugnis erhielt, geben sie auch hier dem <strong>Noten</strong>zeugnis mit


<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 149<br />

Kommentarbogen den Vorzug (54%). Auch von den wenigen Schüler(innen) mit<br />

Berichtszeugnis (25 Schüler) entscheidet sich mehr als die Hälfte für diese Zeugnisform.<br />

4.3.4 Klassenklima und Unterrichtskultur<br />

Bei unseren Untersuchungen sind wir von der Hypothese ausgegangen, dass es einen<br />

Zusammenhang zwischen dem Lern- und Sozialklima in einer Klasse und der jeweiligen<br />

Zeugnisform gibt; denn in der einschlägigen Literatur wird davon berichtet, dass Zeugnisse<br />

ohne <strong>Noten</strong> positive Auswirkungen auf die individuelle und gemeinsame Lernsituation der<br />

Schüler(innen) besitzen, Lernstress verhindern und motiviertes Lernen stimulieren (vgl.<br />

Beutel 1998, S. 146 ff.). Ein solcher Zusammenhang lässt sich mit unseren empirischen Daten<br />

nicht nachweisen. <strong>Die</strong> hierfür genutzte Skala „Klassenklima” führt insgesamt und bei keinem<br />

einzelnen Item zu signifikanten Unterschieden zwischen den Schülerinnen und Schülern, die<br />

in der 5. Klasse ein Berichtszeugnis, und denen, die ein <strong>Noten</strong>zeugnis erhalten haben. Es kann<br />

somit angenommen werden, dass das Klassenklima offensichtlich von anderen Faktoren<br />

abhängt als von den Unterschieden zwischen Berichts- und <strong>Noten</strong>zeugnis.<br />

Ein gänzlich anderes Bild zeigt sich bei der Einschätzung der Lernkultur und des<br />

Unterrichtsklimas durch die Schüler(innen). Bei dem Vergleich der Antworten zwischen den<br />

beiden Teilgruppen im 6. Jahrgang stellten sich höchst signifikante Unterschiede heraus.<br />

Generell fällt die deutliche Zustimmung aller Schüler(innen) zur Lernkultur in ihren Klassen<br />

auf, positiven Items wird zugestimmt und negativ gepolte Items werden abgelehnt. Besonders<br />

hervorzuheben ist die hohe Zustimmung der Schüler(innen) zu den Bemühungen ihrer<br />

Lehrer(innen), mit differenzierten Hinweisen individuelle Lernprozesse zu unterstützen, bei<br />

Lernproblemen Hilfe und Ratschläge zu geben und die gezeigten Leistungen gerecht zu<br />

beurteilen. Insofern scheint es nur verständlich zu sein, dass die Schüler(innen) mehrheitlich<br />

bestätigen, genau zu wissen, was zu tun sei, um beim Lernen erfolgreich zu sein, und dass<br />

Anstrengungen zu Lernerfolgen führen.


Seite 150 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

Tabelle 4/37: Lernkultur nach Zeugnisform (Mittelwerte)<br />

99 Unsere Lehrer(innen) beurteilen uns und<br />

unsere Schulleistungen äußerst gerecht.<br />

100 Bei etwas Anstrengung hat in unserer<br />

Schule jeder eine Chance<br />

durchzuko mmen.<br />

104 Ich weiß genau, was ich machen muss,<br />

um gute Leistungen zu haben.<br />

110 In den normalen Unterrichtsstunden<br />

haben die Lehrer(innen) kaum Zeit, sich<br />

mit den Fragen und Problemen von<br />

einzelnen Schülern zu befassen.<br />

111 Wenn einzelne Schüler(innen) beim<br />

Lernen Problemen haben, geben ihnen<br />

die Lehrer(innen) meistens Tipps und<br />

Ratschläge, wie sie am besten<br />

weiterkommen.<br />

112 <strong>Die</strong> meisten Lehrer(innen) achten bei<br />

den Aufgaben darauf, dass niemand in<br />

der Klasse überfordert wird.<br />

113 Wir haben häufig Unterricht, wo<br />

einze lne Schüler(innen) <strong>oder</strong> Gruppen<br />

verschiedene Aufgaben haben.<br />

114 Arbeiten, die im Unterricht entstehen,<br />

werden im Unterricht auch angeschaut<br />

und bewertet.<br />

115 Lehrerinnen und Lehrern Hinweise, was<br />

ich gut gemacht habe und was ich noch<br />

besser machen muss.<br />

117 Auf Schüler(innen), die beim Lernen<br />

nicht mitkommen, wird in unserer<br />

Schule wenig Rücksicht genommen.<br />

<strong>Berichte</strong> <strong>Noten</strong><br />

3,83 3,82<br />

4,42 4,19<br />

4,17 3,90<br />

2,79 2,94<br />

4,22 3,73<br />

3,70 3,32<br />

3,07 2,58<br />

3,33 3,28<br />

4,07 3,70<br />

2,21 2,62<br />

Skala S5: Lernkultur 3,78 3,49<br />

Der Vergleich zwischen Schülerinnen und Schülern beider Gruppen zeigt höchst signifikante<br />

Unterschiede: <strong>Die</strong> Schüler(innen) mit Berichtszeugnis haben allen Items in höherem Maße<br />

zugestimmt bzw. bei negativ gepolten Items stärker abgelehnt als die Gruppe mit <strong>Noten</strong>.<br />

Damit darf zwar nicht ohne Weiteres gefolgert werden, dass Berichtszeugnisse eine positive<br />

Lernkultur bewirken. Fest steht allerdings, dass die Schüler(innen), die am Ende der 5. Klasse<br />

ein Berichtszeugnis erhalten hatten, die Lernkultur in ihrer Klasse deutlich besser bewerten.<br />

Zumindest kann damit im Umkehrschluss bestätigt werden, dass die Vergabe von<br />

Berichtszeugnissen Bestandteil einer Lernkultur und Unterrichtsqualität ist, die von den


<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 151<br />

betroffenen Schülerinnen und Schülern als besonders leistungsstimulierend und förderlich<br />

erlebt wird.<br />

4.4 Fazit<br />

Mit der gebotenen Vorsicht und unter Beachtung der Tatsache, dass wir weder eine<br />

Längsschnittstudie durchgeführt noch eine repräsentative Stichprobe befragt haben, lassen<br />

sich aus den empirischen Daten folgende grundlegende Tendenzen ableiten:<br />

• Hohes Selbstwertgefühl und Zufriedenheit mit der Schule<br />

Mehr als die Hälfte der von uns befragten Schüler(innen) in der Sekundarstufe I ist mit sich<br />

und ihrer Schule zufrieden. Zwar bestätigte etwa ein Drittel von ihnen Nervosität,<br />

Herzklopfen und Versagensängste, wenn es um die Überprüfung ihrer Leistungen geht.<br />

Trotzdem überwiegt insgesamt der Anteil der Schüler(innen), der kaum Schulangst besitzt.<br />

Selbst Klassenarbeiten lösen offenbar keine größeren Ängste aus. <strong>Die</strong> mehrheitlich positive<br />

Selbsteinschätzung der Lernenden führt wahrscheinlich auch dazu, dass lediglich etwa 20%<br />

Hilflosigkeit und Ohnmachtgefühle gegenüber <strong>schulische</strong>n Leistungsanforderungen<br />

bestätigen. Schon eher werden die hohen Leistungsanforderungen der Schule beklagt und<br />

kritisiert: Man schafft es oft nicht, für alle Fächer zu lernen und auch die Hausaufgaben zu<br />

machen. Mehr als 60% der Schüler(innen) bestätigten, dass sie sehr gern zur Schule gehen<br />

und an vielen Dingen in der Schule Spaß haben. Lediglich 38% von ihnen sind froh, wenn sie<br />

nicht mehr zur Schule gehen müssen. Aus der Sicht der Lernenden wird Schule offensichtlich<br />

als notwendige Pflicht akzeptiert, in die man sich schickt. Ob das Lernen Spaß macht, hängt<br />

maßgeblich von der jeweiligen Lernkultur bzw. vom Unterrichtsklima an der eigenen Schule<br />

ab. Dabei wird der Lernkultur an <strong>Hamburg</strong>er Schulen von ihren Schülerinnen und Schülern<br />

insgesamt ein recht gutes Zeugnis ausgestellt.<br />

• Individuelle Einstellungen und Schulformunterschiede<br />

Unsere Daten führen zur Schlussfolgerung, dass sich die öffentliche Meinung über die<br />

Leistungsfähigkeit der verschiedenen Schulformen in den persönlichen und <strong>schulische</strong>n<br />

Einstellungen ihrer Schüler(innen) widerspiegelt:<br />

- Schülerinnen und Schüler an Gymnasien sehen sich selbst deutlich positiver und besitzen<br />

eine höhere <strong>schulische</strong> Leistungserwartung als die Schüler(innen) an Haupt- und<br />

Realschulen. <strong>Die</strong> Selbsteinschätzung der Schüler(innen) an Gesamtschulen liegt<br />

dazwischen.


Seite 152 <strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler<br />

- <strong>Die</strong> beste Bewertung der Lernkultur und des Unterrichtsklimas vergeben die Schülerinnen<br />

und Schüler an Gesamtschulen. Gymnasien werden hier signifikant negativer<br />

eingeschätzt.<br />

- Den höchsten Stellenwert besitzen Zeugnisse nach Einschätzung der Schüler(innen) in<br />

Haupt- und Realschulen. Dabei wird vor allem auf die erteilten <strong>Noten</strong> geschaut, von<br />

denen sie sich klare Informationen über ihren Leistungsstand und deutliche<br />

Orientierungen für ihr weiteres Lernen erhoffen.<br />

• Schüler(innen) wollen <strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen<br />

Schulische Leistungsbewertungen, Zensuren und <strong>Noten</strong>zeugnisse finden unter den<br />

Schülerinnen und Schülern eine hohe Akzeptanz. <strong>Die</strong>se ist höher, als sie von uns aufgrund der<br />

Darstellungen in der einschlägigen Literatur erwartet wurde, sie ist sicher auch höher, als sie<br />

von reformpädagogisch orientierten Pädagogen erwünscht wird. Wenn Schüler(innen) ihre<br />

Zeugnisform selbst wählen dürften, würden sie sich mehrheitlich (zu 53%) für ein<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis mit Kommentarbogen und mit knapp 40% für ein <strong>Noten</strong>zeugnis entscheiden.<br />

<strong>Die</strong> Akzeptanz des Berichtszeugnisses liegt in der Schülerschaft somit deutlich unter 10%.<br />

<strong>Die</strong>ses Ergebnis gilt selbst für die im 6. Jahrgang Befragten, obwohl nur eine Minderheit von<br />

ihnen mit der gewünschten kombinierten Zeugnisform vertraut ist und 40% von ihnen am<br />

Ende der 5. Klasse ein Berichtszeugnis erhalten hatten. Gewünscht werden anscheinend<br />

Zeugnisse mit klaren Bewertungen der Leistungen in Form von Zensuren in Verbindung mit<br />

erläuternden, begründenden und ratgebenden Kommentaren zu den Fachnoten.<br />

• Schulqualität und Zeugnisform<br />

Unsere Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass es weder Zensuren noch andere Formen der<br />

Leistungsbewertung sind, die die Ängste in der Schule besonders befördern. Leistungs-<br />

rückmeldungen, ganz gleich in welcher Form, gehören aus der Sicht der Schülerinnen und<br />

Schüler zu den selbstverständlichen „Gegebenheiten” der Institution Schule, die außerhalb<br />

ihrer Kritik und ihres Einflusses stehen, mit denen einfach zu rechnen ist. <strong>Die</strong>s schließt ein,<br />

dass die mit dem Berichtszeugnis verbundenen reformpädagogischen Ansprüche und<br />

Wirkungen von den Schüler(innen) selbst kaum <strong>oder</strong> gar nicht wahrgenommen werden.<br />

Obwohl den Aussagen zur Schulangst und zur Schulunlust überwiegend nicht zugestimmt<br />

wurde, gibt es doch signifikante Unterschiede. Sie beziehen sich darauf, dass die<br />

Schüler(innen) mit einem Berichtszeugnis in der 5. Klasse offenbar mehr Freude an und in<br />

der Schule angegeben als diejenigen Schüler(innen) mit einem <strong>Noten</strong>zeugnis. Wenn zudem in


<strong>Die</strong> Sichtweise der Sekundarschülerinnen und -schüler Seite 153<br />

Rechnung gestellt wird, dass die Lernkultur und das Unterrichtsklima in den Klassen mit<br />

Berichtszeugnissen (am Ende der 5. Klasse) signifikant besser eingeschätzt werden als in<br />

Klassen mit <strong>Noten</strong>zeugnissen, lassen sich durchaus Zusammenhänge zur Zeugnisform<br />

herstellen. Einfache Kausalbehauptungen sind dabei allerdings unzulässig. Dennoch lassen<br />

unsere Ergebnisse den Schluss zu, dass in den Schulen, in denen es intensive Bemühungen<br />

um die Verbesserung der Lernkultur und der Unterrichtsqualität gibt, in denen ein<br />

lernstimulierendes, freudvolles soziales Klima vorherrscht, zugleich günstige Bedingungen<br />

für eine Entscheidung für Berichtszeugnisse bestehen. Berichtszeugnisse mit ihrem<br />

reformpädagogischen Impetus benötigen offenbar ein innovationsfreundliches und um<br />

Veränderung bemühtes Kollegium. <strong>Die</strong>se Vermutung wird unter anderem auch dadurch<br />

bestätigt, dass es diese signifikanten Unterschiede (Schulunlust und Lernkultur) nur bei der<br />

Gegenüberstellung von <strong>Noten</strong>zeugnis und Berichtszeugnis gibt und nicht bei einem Vergleich<br />

zwischen „reinem“ <strong>Noten</strong>zeugnis und <strong>Noten</strong>zeugnis mit Kommentarbogen.


5. Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

– eine Auswertung von Kinderinterviews<br />

<strong>Die</strong> vorliegende Untersuchung konzentriert sich auf den Zusammenhang von<br />

Berichtszeugnissen und deren Rezeption durch die Kinder in der Grundschule. Hierzu wurden<br />

an zwei <strong>Hamburg</strong>er Schulen Schülerinnen und Schüler aus den ersten drei Klassen zur<br />

Wahrnehmung ihrer Berichtszeugnisse und zum Umgang mit diesen Dokumenten befragt.<br />

<strong>Die</strong> dabei dokumentierten Gespräche, in denen die Kinder einen sehr bewussten Umgang mit<br />

diesen Texten und dem Vorgang der Leistungsbeurteilung selbst aufzeigen, werden zuerst in<br />

einer beschreibenden Analyse ausgewertet. Dabei lässt sich zeigen, dass Berichtszeugnisse als<br />

Texte besonderer Qualität wahrgenommen werden, die eine ureigene persönliche Dimension<br />

entfalten. Es zeigt sich ferner, dass der Aspekt der Rezeptionsfähigkeit seitens der<br />

Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Eltern eine entscheidende Größe für die pädagogische<br />

und diagnostische Wirksamkeit des Instruments selbst ist. Schließlich lässt sich ausweisen,<br />

dass Berichtszeugnisse die ihnen eigenen qualitativen Potentiale insbesondere dort entfalten,<br />

wo sie als Teile einer Kommunikation über das Lernen begriffen werden und nicht alleine als<br />

punktuelle und endgültige Produkte der Lehrerprofession. Es bestätigt sich auf eindringliche<br />

Weise direkt aus Sicht der Kinder, dass Berichtszeugnisse ein Weg sind, Kritik als Anregung<br />

mitzuteilen und zum lernwirksamen Potenzial werden zu lassen. Ferner lässt sich belegen,<br />

dass sie ein Mittel zur differenzierten Kommunikation über das fachliche Lernen darstellen.<br />

<strong>Die</strong>se persönlichen, kommunikativen und fachdiagnostischen Potenziale, die die auswertende<br />

Gesamtschau des Interviewmaterials im ersten Zugriff (Abschnitt 5.3) dokumentiert, werden<br />

durch eine ergänzende hermeneutische Perspektive vertieft und ausdifferenziert (Abschnitt<br />

5.4). <strong>Die</strong> Verbindung bzw. die Konfrontation von vier „Fällen“ auf dem Wege der<br />

Interpretation jeweils des bei der Untersuchung geführten Interviews in einem ersten<br />

Teilschritt und des dabei zugrunde liegenden aktuellen Berichtszeugnisses in einem zweiten<br />

Teilschritt belegt die bereits gewonnenen Erkenntnisse und ergänzt sie um die Einsicht, dass<br />

das Wechselspiel von Leistungsbeurteilung durch Berichtszeugnisse mit deren Rezeption und<br />

den daraus folgenden Handlungsimpulsen besonders im Blick auf das Lernverhalten der<br />

Kinder ausgesprochen individuelle Muster ausbildet. Klar wird erneut das hohe pädagogische,<br />

soziale und fachliche Anspruchsniveau, dass das Instrument der Berichtszeugnisse den es<br />

nutzenden und praktizierenden Lehrkräften abverlangt. Zugleich wird aber auch die Fülle der<br />

Chancen deutlich, über das Lernen in ein Gespräch zu kommen, es auf diesem<br />

kommunikativen Wege zu verbessern und es für Lernende und Lehrende effektiver gestalten


Seite 156 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

zu können. Folgerichtig führt die Untersuchung zur Erkenntnis, dass nicht allein die<br />

Sicherung von diagnostischen und textgestaltenden Kompetenzen durch so genannte<br />

„Schreibstandards“ auf Seiten der Lehrenden Königswege zur Verbesserung von <strong>schulische</strong>r<br />

Leistung und Leistungsbeurteilung sind. Vielmehr muss die Lesefähigkeit der Betroffenen in<br />

den Blick genommen werden (Abschnitt 5.5). Dass hier insbesondere in der Grundschule<br />

noch nicht vollständig genutzte Potenziale aufzufinden sind, bleibt anzunehmen.<br />

Ein Nebeneffekt: <strong>Die</strong> Untersuchung belegt, dass Rezeptionsforschung in der Schule, gerade<br />

auch in der Grundschule, die Lernenden und damit die Kinder als Experten nicht<br />

auszuschließen braucht. Als Desiderat erbringt sie hierzu eine Fülle von<br />

forschungspraktischen Erfahrungen (Abschnitt 5.2). Eine exemplarische Einsicht in die vier<br />

„Fälle“ ermöglichen wir durch eine umfassende Dokumentation der Interviews und der<br />

zugrunde liegenden Berichtszeugnisse im Anhang.<br />

5.1 Einleitung<br />

„Wer lesen kann, hat ein zweites Paar Augen, und er muss nur aufpassen, dass er sich dabei<br />

das erste Paar nicht verdirbt“, schreibt Erich Kästner in seinen an Kinder als Leser gerichteten<br />

Erinnerungen „Als ich ein kleiner Junge war“ (Kästner o.J., S. 67). <strong>Die</strong>se Aussage lässt<br />

manche Deutungen zu. Außer der Anspielung auf die früher weit verbreitete<br />

vernunftfeindliche und repressive Ansicht, dass ein Zuviel an Lektüre dem Augenlicht<br />

schade, stellt sie Gewinn und Gefährlichkeit des Lesens zugleich heraus: Gewinnbringend ist,<br />

dass der Leser und die Leserin mit dem „zweiten Augenpaar“ die Grenzen der eigenen<br />

Realität überwinden kann. Gefährlich ist daran, dass derjenige, der in Klausur geht mit seiner<br />

Lektüre und den dabei entstehenden inneren Bildern und Vorstellungen, sich in eine Art<br />

innerer Distanz zu seinen unmittelbaren Erfahrungen begibt. Er lebt in der Fantasie, einem<br />

Raum von Möglichem und bereits Geschehenem, der Wirklichkeit entrückt und wird zum<br />

Einzelgänger, der seine eigene Welt unter Umständen mit den Augen eines Fremden<br />

betrachtet. Doch liegt nicht in beiden Deutungsmöglichkeiten – dem Gewinn und der Gefahr<br />

des Lesens – eine Chance zur Reflexion und zur Förderung von Selbständigkeit und<br />

Mündigkeit? Denn einerseits entfernt sich der <strong>oder</strong> die Lesende aus der gegenwärtigen<br />

Wirklichkeit in die Einsamkeit seiner Lektüre. Andererseits tritt er <strong>oder</strong> sie aus dieser<br />

Vereinzelung mit den dabei gewonnenen Fähigkeiten erweiterter Wirklichkeitswahrnehmung<br />

wieder zurück und ist so gesehen neu motiviert und für neue Kommunikation und soziales<br />

Leben bereit. Lesen ist Rückzug aus der unmittelbaren Sozialität und zugleich ein Gewinn an<br />

Voraussetzung genau dafür: Lesen ist Kommunikationsschule und Mittel zur Selbstreflexion.


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 157<br />

<strong>Die</strong>se einleitenden Überlegungen zur Bedeutung des Lesens scheinen mir besonders wichtig<br />

für die heutige Diskussion um eine den Kindern und Jugendlichen zugewandte<br />

Leistungsbeurteilung (Beutel 1998a, 1999). Denn wenn Lesen so bedeutsam ist, gewinnt die<br />

Form der Leistungsbeurteilung, die das Lesen zur zwingenden Voraussetzung des Verstehens<br />

von Diagnose, Urteil und Bewertung des Lernens macht – die verbale Beurteilung durch<br />

Lernberichte 13 – schon von daher ein neues Gewicht im Vergleich zur herkömmlichen<br />

Beurteilung von Lernen durch Ziffernnoten. <strong>Die</strong>sem Gedanken stärker zu folgen, als dies die<br />

Fachdiskussion bislang geleistet hat, ist aus meiner Sicht wichtig, wenn wir uns um die<br />

Verbesserung der Lernberichtspraxis heute bemühen wollen. Lesen ist eine Form, der Welt zu<br />

begegnen, und ein Medium zur Selbstreflexion. Gerade der letzte Aspekt ist für unseren<br />

Gegenstand von allergrößter Wichtigkeit. Im Lesen von Lernberichten begegnen<br />

Grundschulkinder einem Stück Literatur über sich selbst. Sie müssen sich mit Geschehnissen<br />

und Geschichten auseinander setzen, die sie selbst – ihr Lernen und ihr Werden, im weitesten<br />

Sinne also grundlegende Elemente ihrer Biografie – betreffen. In den Texten der Lernberichte<br />

folgen sie dem Blick der Augen ihrer Lehrerinnen und Lehrer und können so eine andere<br />

Perspektive auf ihre persönliche, soziale und kognitive Entwicklung im <strong>schulische</strong>n Kontext<br />

erlangen. <strong>Die</strong> Selbstwahrnehmung kann also erweitert, verändert <strong>oder</strong> korrigiert werden. Im<br />

besten Fall werden durch die Lektüre Intelligenz, Emotionalität, Neugier, Fantasie <strong>oder</strong> auch<br />

Kritik hervorgerufen, die Grundlage einer neuen Kommunikation zwischen den<br />

Grundschülern, den Eltern und der Schule sind. <strong>Die</strong>se Lektüre ist Anlass für das Nachdenken<br />

über die Wahrnehmung des eigenen Ich und kann im besten Falle zum Handeln führen: Das<br />

Kind verändert sein Lernverhalten. Lesen kann so gesehen ein positiver Stachel zur<br />

Entwicklung von Leselust, Reflexion, Selbstbeurteilung und Kommunikation werden – es ist<br />

eine Eintrittskarte in ein erweitertes und verbessertes Lernen gerade in der Grundschule.<br />

Doch wissen wir über all diese Prozesse ausgesprochen wenig. Seitdem Lernberichte anstelle<br />

von Zensuren ihren Einzug in das allgemeine Schulwesen vor allem in den ersten beiden<br />

Jahrgängen der Grundschule gehalten haben, stehen Fragen der Abfassung von Texten im<br />

Zentrum des Interesses. <strong>Die</strong> erziehungswissenschaftliche und psychologische Forschung<br />

richtete ihr Augenmerk zunächst darauf, inwieweit Lernberichte den Reformanforderungen<br />

genügten: ob in ihnen die textrelevanten Merkmale wie Mehrdimensionalität und<br />

Bezugsnormorientierung zum Tragen kommen, inwieweit diagnostische Ansprüche erfüllt<br />

13 In dieser Studie werden der Begriff „Lernberichte“ und die Bezeichnung „Berichtszeugnisse“ verwendet. Der<br />

Grund liegt darin, dass in der Forschungsdiskussion sich der Begriff „Lernberichte“ als terminus technicus für<br />

die Formen verbaler Leistungsbeurteilung etabliert hat. Im Kontext der <strong>Hamburg</strong>er Schulpraxis hingegen wird<br />

von „Berichtszeugnissen“ gesprochen.


Seite 158 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

und sprachlich vermittelbar dargestellt werden <strong>oder</strong> aber wo sich heimliche Effekte<br />

niederschlagen (Benner/Ramseger 1985; Scheerer et al. 1985; Haußer 1991; Lübke 1996).<br />

Nicht nur diese Reformerwartungen an den Vorgang der Leistungsbeurteilung sind in das<br />

Blickfeld der erziehungswissenschaftlichen Forschung gerückt, sondern auch die<br />

Berichtstexte selbst. Mit Hilfe quantitativer und qualitativer Inhaltsanalysen fand die<br />

Forschung zu Lernberichten ein sehr heterogenes Textfeld vor, dass große qualitative<br />

Differenzen aufweist (z.B. Benner/Ramseger 1985, Lübke 1996, Valtin et al. 1996a/b).<br />

<strong>Die</strong>sen Studien verdanken wir die Erkenntnis, dass die Praxis der verbalen Beurteilung<br />

weiterhin verbesserungsbedürftig ist. Das alleine überrascht kaum und ist dennoch nicht<br />

banal, wird doch oft genug alleine mit der Wendung weg von der Zahl und hin zum Wort<br />

schon eine Qualitätssteigerung der Leistungsbewertung assoziiert. <strong>Die</strong> neuere Diskussion um<br />

Schreibstandards (Beutel 1998a, b) verweist hier auf Wege zur Optimierung einer<br />

Leistungsbeurteilung, die sich an Ansprüchen nach Angemessenheit, Transparenz,<br />

diagnostischen Gehalt und Verständlichkeit messen muss. Schreibstandards zielen auf<br />

Sicherung von Textqualität.<br />

Mit diesem Gesichtspunkt rückt zugleich die Frage in den Mittelpunkt, wer die <strong>Berichte</strong> liest<br />

und mit welchem Verstehenshorizont er <strong>oder</strong> sie das tut. Denn wenn durch Lernberichte eine<br />

fördernde Evaluation des Lernprozesses stattfinden soll, dann müssen Leser und Leserinnen<br />

die Texte eindeutig verstehen können. Zunächst muss die Qualität der Leistungsdiagnose<br />

eindeutig sein und von möglichen Hinweisen auf Verbesserung <strong>oder</strong> Optimierung der<br />

Lernleistung unterschieden werden können. Hierzu gehört es, dass sowohl die Kinder als auch<br />

die Eltern über den Beurteilungsvorgang und das sprachliche Ergebnis aufgeklärt sind. <strong>Die</strong><br />

aktuelle Forschung zur verbalen Beurteilung muss sich also auch auf die Rezipienten von<br />

Lernberichten richten und die Frage der Schreibstandards unter Einbeziehung des<br />

Leseverhaltens der Rezipienten neu akzentuieren. Dabei ist der Altersspezifik der Leserschaft<br />

besondere Beachtung zu schenken, denn möglicherweise nehmen Kinder Texte über sich<br />

anders auf als Jugendliche, die sich in der Pubertät befinden und Distanz zu Erwachsenen und<br />

ihren Normen suchen. Zudem lesen die Lernenden Texte über ihre Person und ihre eigenen<br />

Leistungen anders als die Erwachsenen überhaupt und auch die Eltern.<br />

<strong>Die</strong> folgende Studie wagt einen ersten Einblick in die Ergebnisse der im Rahmen des<br />

Forschungsprojektes LeiHS durchgeführten Erhebungen mit Hilfe von Interviews mit<br />

Grundschulkindern. Zwei Linien werden verfolgt: Eine erste Linie geht der beschreibenden<br />

Analyse der insgesamt geführten Interviews nach (5.3). Auf einer zweiten Linie soll auf<br />

analytischem Wege ein Bild vom Lernen dieser jungen Menschen nachgezeichnet werden.


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 159<br />

Dabei wird versucht, bei vier Grundschulkindern – zwei Mädchen und zwei Jungen – einen<br />

interpretativen Einblick in die „Beurteilung“ ihres Lernens zu bekommen: Berichtszeugnis<br />

und entsprechendes Interview werden in Bezug zueinander gesetzt (5.4). Dabei bekommen<br />

die in den Interviews steckenden Auskünfte zu Lesarten und Umgang mit den<br />

Berichtszeugnissen eine Art „evaluatives Gewicht“, das die Betroffenen selbst in die<br />

Waagschale werfen. <strong>Die</strong> Kinder werden zu „Experten“.<br />

5.2 Kinder sprechen über ihre Berichtszeugnisse<br />

Kinder als Experten in pädagogischen Fragen zu Rate zu ziehen, ist keinesfalls eine<br />

Selbstverständlichkeit. <strong>Die</strong> Suche nach kindgerechten Untersuchungskontexten,<br />

Erhebungsinstrumenten und Gesprächsanlässen, aber auch Probleme bei der Interpretation<br />

von Äußerungen von Kindern und Jugendlichen lassen bei Erziehungswissenschaftlern<br />

Skepsis aufkommen, wenn es darum geht, Forschung mit Kindern zu betreiben (Heinzel<br />

1997, S. 396 ff.).<br />

Im Projekt LeiHS sollen dennoch auch Kinder – hier zunächst Grundschulkinder – das Wort<br />

erhalten. Das hat mehrere Gründe: Zum einen rückt in jüngster Zeit immer mehr in den<br />

Blickpunkt, dass die alleinige Konzentration auf Fragen der Textqualität von <strong>Berichte</strong>n zu<br />

kurz greift, wenn die Wirksamkeit des Mediums Lernbericht untersucht werden soll. Zum<br />

anderen scheint uns wichtig, den spezifischen Qualitätsaspekt der Berichtstexte, der sich auf<br />

ihre Rezeptionskontexte – ihre Verstehbarkeit, auf das, was von ihrer „Botschaft“ ankommt –<br />

bezieht, in allen Gruppen der von <strong>Berichte</strong>n Betroffenen zu untersuchen: Den Lehrenden, den<br />

Eltern und nicht zuletzt den Schülerinnen und Schülern. Wir wollen also die Leserinnen und<br />

Leser der <strong>Berichte</strong>, dies sind in der Regel Kinder und Eltern, im Blick auf ihr Leseverhalten<br />

befragen. Nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Eltern und Pädagog(innen) möchten das<br />

von der Grundschuldidaktik erhobene Postulat der Kindorientierung gerade auch in Fragen<br />

der Leistungsbeurteilung eingelöst sehen. Dazu gehört, dass die Sicht von Schülerinnen und<br />

Schülern auf ihr Leben und Lernen in der Schule berücksichtigt wird. Erwartungen,<br />

Interpretationen, Enttäuschungen, Lesehemmnisse und -förderung sowie Lesewünsche rücken<br />

dabei in den Blick und verhelfen dazu, dass ein zentraler Gesichtspunkt von verbalen<br />

Beurteilungen – die Individualität des Kindes zu achten – auch bei Rezeptionsfragen nicht aus<br />

den Augen gerät. Denn die Initialkraft der <strong>Berichte</strong>, also ihr Impuls, Lerndiagnosen zur<br />

Verbesserung des Lernens nutzbar zu machen, entzündet sich nur bei einem Leser, der im<br />

buchstäblichen Sinne verstehend liest, darüber einen Dialog sucht und sich mitteilen kann. Sie


Seite 160 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

wirkt bei einem Leser, der ein Urteil über sich als korrigierbar und aushandelbar erfährt und<br />

zwischen Selbst- und Fremdbeurteilung zu unterscheiden weiß.<br />

Angesichts der Tatsache, dass die Grundschulen keine einheitlichen <strong>oder</strong> wenigstens ähnliche<br />

Schülerschaften haben, sondern in hohem Maße mit der Heterogenität der Kinder – bedingt<br />

durch Faktoren wie soziale Lage, Herkunftsfamilie, Bundesland und wirtschaftlicher<br />

Kontexte – umgehen müssen, liegt die didaktische Herausforderung nicht nur darin, Formen<br />

der Differenzierung von Lernangeboten zu entwickeln und bereitzustellen, sondern auch bei<br />

der Vergabe von <strong>Berichte</strong>n die diesem Medium eigene kommunikative Qualität zu nutzen und<br />

weiterzuentwickeln. Deshalb ist es umso notwendiger, das Leseverhalten differenziert kennen<br />

zu lernen und auf diesem Weg den individuellen Leser und die individuelle Leserin zu<br />

entdecken. Für die Lehrenden können sich mit diesen Erkenntnissen neue Standards für ihr<br />

professionelles Handeln ergeben. Denn der gut ausgearbeitete Bericht allein gibt noch keine<br />

Gewähr dafür, dass die Kinder die Texte verstehen. Gerade Schulen, die im Blick auf die<br />

Lesekompetenz ein problematisches Klientel haben, müssen sich mit der Frage auseinander<br />

setzen, wie sie Kindern ihre Beurteilungen vermitteln. Dazu bedarf es der Freiräume, die<br />

beispielsweise dahingehend zu nutzen wären, das Lesesitzungen abgehalten werden,<br />

gemeinsame Leserunden mit Eltern stattfinden <strong>oder</strong> andere Formen der Rückmeldung<br />

gesucht, erarbeitet und gewählt werden.<br />

5.3 <strong>Die</strong> Interviews – eine beschreibende Analyse<br />

5.3.1 Umgang mit der Interviewsituation<br />

Mit dem Leitfaden sollten folgende Themenbereiche angesprochen werden: Häufigkeit des<br />

Lesens, Rezeptionsgewohnheiten des Kindes in der Schule, Verständnis und Informationswert<br />

des Berichts, Zufriedenheit mit dem Zeugnis, familiäres Leseverhalten, Kommunikation mit<br />

Eltern, Lehrern und anderen Schülern und Akzeptanz der Leistungsbewertung. Je nachdem,<br />

wie bereitwillig sich die Kinder auf das Gespräch einließen, konnten einzelne Bereiche<br />

ausführlich <strong>oder</strong> nur partiell angesprochen werden. Es ist nicht in allen Fällen gelungen, das<br />

gesamte Spektrum an Fragen zu stellen und zu interpretierbaren Antworten zu gelangen.<br />

Entsprechende Gewichtungen der Interviews müssen im Zuge der Auswertung gesetzt<br />

werden.<br />

Der Leitfaden ist so konstruiert worden, dass differenzierte Fragestellungen möglich waren.<br />

So wird beispielsweise mit offenen Fragen begonnen, die zum Erzählen einladen: „Erinnerst<br />

du dich noch an deinen letzten Bericht? Erzähl doch mal, was da drin stand.“<br />

Bewertungsfragen schließen sich an: „Was hat dir in deinem Bericht nicht gefallen?“ Aber


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 161<br />

auch Aufforderungen zur Veranschaulichung: „Kannst du mir dafür mal ein Beispiel<br />

nennen?“ konnte der Interviewer hinzufügen, wenn der Gesprächsgang weitere Erkenntnisse<br />

erwarten ließ.<br />

Da wir die Interviews mit den Grundschulkindern als ausgesprochen ertragreich wahrnehmen,<br />

möchten wir auch im Blick auf weiterführende Studien mit „Kindern als Experten“ unsere<br />

Erfahrungen und Ergebnisse dem fachlichen Diskurs aussetzen. Folgende methodisch und<br />

forschungspraktisch bedeutsame Beobachtungen lassen sich nach unseren Gesprächs-<br />

sequenzen festhalten:<br />

• <strong>Die</strong> Grundschülerinnen und Grundschüler haben eine große Bereitschaft gezeigt, an<br />

unseren Gesprächen teilzunehmen. Darüber hinaus reizte sie die damit verbundene<br />

Technik; denn in ein Mikrofon zu sprechen fanden alle aufregend und interessant<br />

zugleich. Manchmal gab es auch kleinere Diskussionen darüber, wer als Erste <strong>oder</strong> Erster<br />

sprechen sollte.<br />

• Ein Interview hat in der Regel 15 bis 20 Minuten in Anspruch genommen. Bei fast allen<br />

Kindern hat sich gezeigt, dass sie in dieser Zeit eine hohe Konzentration auf das Thema<br />

aufbringen konnten. Ist dieses Limit überschritten worden, hat sich an Abschweifungen<br />

vom Thema erkennen lassen, dass sich die Kinder wieder anderen Dingen zuwenden<br />

wollten.<br />

• <strong>Die</strong> Kinder sind immer von ihrem Klassenlehrer bzw. ihrer Klassenlehrerin in<br />

Kleingruppen an einen ruhigen Ort in der Schule wie beispielsweise das Krankenzimmer<br />

<strong>oder</strong> die Bibliothek begleitet worden. Sie haben im sozialen Verbund keinerlei Angst,<br />

Scheu <strong>oder</strong> Bedenken vor der Interviewsituation geäußert.<br />

• Selbstverständlich wurden nur Kinder befragt, die freiwillig zu einem Gespräch bereit<br />

waren.<br />

• Es war zu bemerken, dass den Kindern das Thema Leistungsbeurteilung sehr präsent ist:<br />

Sie sind in der Regel sehr spontan und schnell auf das Thema eingestiegen. Viele<br />

genossen es sogar, als Expert(innen) hervorzutreten und in der Interviewsituation das<br />

tradierte Verhältnis der Generationen umzukehren: Hier waren die Erwachsenen die<br />

Zuhörer und Kinder hatten etwas zu sagen.<br />

• Im Gesprächsverhalten haben sich die jungen Schülerinnen und Schüler allerdings<br />

beträchtlich unterschieden. Ein großer Teil der Befragten hat die Fragen äußerst knapp<br />

mit „ja“ und „nein“ <strong>oder</strong> „weiß ich nicht“ beantwortet, während ein kleinerer Teil der<br />

Kinder sprachlich sehr elaborierte und erkenntnisreiche Äußerungen gegeben hat. <strong>Die</strong>ser


Seite 162 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

Sachverhalt hat zwangsläufig Folgen für die Auswertung nach sich gezogen, von denen<br />

weiter unten die Rede sein wird. Außerdem hat sich gezeigt, dass Kinder sehr<br />

unterschiedlich auf Fragen reagieren. Während sie „Wie-Fragen“ motiviert aufgenommen<br />

haben, sind sie häufig bei „Warum-Fragen“ verstummt. <strong>Die</strong> Beschreibung fällt also<br />

offensichtlich leichter als die Interpretation <strong>oder</strong> die Erklärung eines Sachverhalts <strong>oder</strong><br />

Gefühls.<br />

• Bemerkenswert ist es zudem, dass die Kinder mit großer Ehrlichkeit auch auf Fragen<br />

geantwortet haben, die auf die im Berichtszeugnis geäußerte Kritik an ihrer Person zielen.<br />

Auch hier waren einige Kinder froh, ein Urteil zu kommentieren und aus ihrer Sicht zu<br />

korrigieren.<br />

• Im Großen und Ganzen ist es der Forschergruppe gelungen, in der Interviewsituation ein<br />

aufmerksames und von Sympathie getragenes Klima herzustellen. Eine freundliche<br />

„Warming-up-Sequenz“ zu Alltäglichkeiten der Kinder hat meistens eine angenehme<br />

Atmosphäre geschaffen.<br />

Im Folgenden werden die mit Hilfe der Interviewauswertung gewonnenen Daten zur<br />

Grundlage genommen, um die Gewichtung von Themen und deren Bewertung durch die<br />

Kinder zu skizzieren. Dabei geht es in einem ersten Komplex, der sich auf den Umgang mit<br />

den Berichtszeugnissen und deren kommunikativer Dimension bezieht, um Lesehäufigkeit<br />

und Lesefreude (5.3.2), Lesen und dialogisches Prinzip (5.3.3) sowie Lesepartner und<br />

Vertrauen (5.3.4). Ein zweiter Themenkreis bezieht sich auf den Inhalt und die soziale<br />

Qualität der Mitteilungen in den Lernberichten. Es geht um die Art der Rückmeldung (5.3.5),<br />

das Wohlfühlen in der Schule (5.3.6), um die Erinnerungen an den Bericht (5.3.7) sowie die<br />

Einstellung zum Bericht und Zufriedenheit mit dem Lehrerurteil (5.3.8). <strong>Die</strong> Interviews<br />

werden schließlich unter dem Aspekt <strong>Noten</strong> <strong>oder</strong> Berichtszeugnisse (5.3.9) ausgewertet,<br />

bevor dieser Abschnitt mit einer Zusammenfassung (5.3.10) schließt. Auf der Grundlage der<br />

Häufigkeiten der hierzu vorliegenden Aussagen in den Interviews wird auf interpretativem<br />

Weg dem Umgang mit <strong>Berichte</strong>n und den Leseformen der Kinder nachgegangen. Dabei<br />

werden alle Interviews auf der Ebene eines strukturellen Vergleichs zueinander in Beziehung<br />

gesetzt.


5.3.2 Lesehäufigkeit und Lesefreude<br />

Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 163<br />

Katharina: „Da kann man so schön drin lesen. Dann liest man das immer und dann kommen ganz<br />

viele Sachen in den Kopf.“<br />

Katharina, ein Mädchen im Alter von neun Jahren, das Zeugnisse als Bericht erhalten hat,<br />

betont deren Anregungscharakter. Für sie ist Lesen eine stimulierende und das Nachdenken<br />

über sich selbst fördernde Angelegenheit. Damit hat sie grundsätzlich gute Voraussetzungen,<br />

den Zugewinn an Differenziertheit, den die Sprachlichkeit der <strong>Berichte</strong> mit sich bringt, positiv<br />

zu nutzen.<br />

Mit Berichtszeugnissen verbindet sich für Lehrerinnen und Lehrer ein hoher Aufwand an<br />

Schreibtätigkeit. Wer sich dieser Mühe unterzieht, erhofft sich vermutlich, dass vor allem die<br />

Kinder als Leser die Texte lesen und verstehen können. Wenn Kinder das Lesen als<br />

Basiskompetenz noch nicht vollständig beherrschen, benötigen sie hierzu Lesepartner. Das<br />

sinnentnehmende Selbstlesen <strong>oder</strong> das Lesen mit einem Partner sind Voraussetzungen dafür,<br />

dass der Bericht seinen Adressaten überhaupt erreicht und damit die Möglichkeit entsteht,<br />

dass die pädagogische Absicht des Verfassers entsprechend wirken kann. Kein noch so gut<br />

formulierter Text löst das Kriterium der Förderung des Lernens und der persönlichen<br />

Entwicklung von Kindern ein, wenn er nicht gelesen und aufgenommen wird <strong>oder</strong> werden<br />

kann.<br />

In unseren Interviews haben wir deshalb danach gefragt, wie häufig und in welchen<br />

emotionalen Kontexten die <strong>Berichte</strong> gelesen werden. Tabelle 5/1 gibt hierzu eine Übersicht<br />

unter dem Aspekt der Häufigkeit der Berichtslektüre.<br />

Tabelle 5/1: Lesehäufigkeit: „Wie oft hast du dein Zeugnis schon gelesen?“<br />

N in % von allen in % der gültigen Antworten<br />

einmal 7 11 20<br />

mehr als einmal 28 46 80<br />

(gültig insgesamt) 35 57 100<br />

keine Angabe 26 43<br />

Gesamt 61 100<br />

Von den 35 Kindern, die sich zu dieser Frage geäußert haben, geben 28 an, dass sie ihr<br />

Berichtszeugnis mehr als einmal lesen. Viele von ihnen verbinden damit große Lesefreude.<br />

Sie erfahren etwas für sich und ihre Gedanken werden durch die Lektüre angeregt. Manche<br />

Kinder sagen, dass sie „an den schönen Texten das Lesen üben“. Sieben der befragten Kinder


Seite 164 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

sind Einmalleser. Sie beschäftigen sich mit dem Text beispielsweise erst nach Aufforderung<br />

der Lehrerin in der Schule und nutzen ihn dann als „Vorzeigedokument“ zu Hause: „Sie hat<br />

gesagt, wir sollen das lesen, und dann habe ich das zu Hause gezeigt.“<br />

Man darf davon ausgehen, dass <strong>Berichte</strong> als Texte mit persönlicher Qualität für die Kinder<br />

attraktiv sind. <strong>Die</strong> Leseerfahrung solcher Texte wirkt auf die Lesefreude und -intensität. Vor<br />

allem diejenigen Mädchen und Jungen, die sich von ihren Texten intellektuell, sozial und<br />

emotional ansprechen lassen, wie beispielsweise Katharina, erleben Lesen als eine<br />

Bereicherung. Für sie wird der Bericht zum Text, mit dem sie sich auseinander setzen können,<br />

der über die Information zum Lernen hinaus Anlass gibt, über das eigene Handeln und<br />

Verhalten in der Schule nachzudenken.<br />

Bei manchen Kindern wird die Rezeption allerdings durch das Leseverständnis erschwert.<br />

Von 35 Kindern geben zwar 27 an, dass sie das Berichtszeugnis verstanden haben, aber<br />

immerhin sieben haben semantische Schwierigkeiten und Probleme mit der deutschen<br />

Sprache. Ein Kind ist sich bezüglich der Rezeption nicht sicher (ohne Tabelle). <strong>Die</strong>ser Befund<br />

lässt kritisch nachfragen, ob den jeweiligen Schulen dieses Problem bewusst ist und wie sie<br />

damit umgehen. Denn der mit <strong>Berichte</strong>n verbundene Auftrag, alle Kinder zu fördern, wird<br />

durch die sprachlichen Lesebarrieren nicht eingelöst. <strong>Die</strong> Kinder können demzufolge auf ihr<br />

Zeugnis nur mit Unverständnis reagieren. Der Text bleibt ihnen fremd. Für das Leseverhalten<br />

nicht unerheblich ist der Ort der Aufbewahrung (ohne Tabelle). <strong>Die</strong> Zeugnisse sind im<br />

Allgemeinen für die Kinder jederzeit zugänglich. In den 59 Antworten der Kinder finden sich<br />

Hinweise darauf, dass die Texte zumeist im Ordner verwahrt werden (35 Nennungen). Sieben<br />

Mädchen und Jungen geben an, dass die <strong>Berichte</strong> bei Familienpapieren liegen <strong>oder</strong> sogar im<br />

Bilderrahmen verwahrt werden, während 17 nichts über den Verbleib wissen. Das zeigt nicht<br />

nur, dass die meisten Kinder mit der häuslichen Ordnung vertraut sind und sich diesen<br />

Lesestoff selbständig besorgen können. Es verweist auch darauf, dass <strong>Berichte</strong>n – ähnlich den<br />

<strong>Noten</strong>zeugnissen – innerhalb der Familie eine Art „Dokumentenstatus“ zuteil wird. Sie sind<br />

wichtig, weil sie auf institutioneller Ebene etwas ausweisen, was für andere <strong>oder</strong> die<br />

Gesellschaft bedeutsam ist <strong>oder</strong> sein kann. 48 Kindern äußern sich zur Lektüre ihrer <strong>Berichte</strong><br />

auch in späteren Zeiten. Davon geben 35 an, dass sie ihre <strong>Berichte</strong> noch mal lesen. Sie<br />

berichten davon, dass sie vor allem am Verlauf ihrer eigenen Entwicklung interessiert sind<br />

und wie in einem Spiegel sich selbst und ihren individuellen Kompetenzzuwachs beobachten<br />

können. Nur 13 Kinder sagen, dass sie dies später nicht mehr tun.<br />

<strong>Die</strong>s belegt, dass für die meisten der von uns befragten Kinder der Bericht weit mehr ist als<br />

ein Zeugnis. Er ist ein mit ihrer Person verbundenes Dokument, ein Ausschnitt aus dem


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 165<br />

Lerngeschehen um sie und von ihnen, eben ein Stück Lerngeschichte. Im Zugewinn dieser<br />

persönlichen Dimension, die die <strong>Berichte</strong> qualitativ für einen Großteil der von uns<br />

interviewten Kinder haben, zeigt sich ein spezifischer Unterschied zwischen Berichts- und<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis: Berichtszeugnisse sind ein mit dem Lernen und Handeln der Kinder in<br />

stärkerem Maße verbundenes Beurteilungsinstrument, als dies <strong>Noten</strong>zeugnisse sind. Daraus<br />

erwächst für Schulen sowie Lehrerinnen und Lehrer, die <strong>Berichte</strong> einsetzen wollen, eine Art<br />

„kommunikativer Verantwortung“.<br />

5.3.3 Lesen und dialogisches Prinzip<br />

Nils: „Sie saß da im Gruppenraum und hat immer die Kinder aufgerufen, die jetzt dran sind. Und man<br />

sollte nicht immer ‚guck mal, guck mal‘ machen, sondern man sollte sich auf das Lesen<br />

konzentrieren.“<br />

Nils erzählt uns, wie seine Lehrerin die Lesesituation gerade ausgegebener <strong>Berichte</strong> zu<br />

beeinflussen versucht. Sie gibt den Kindern ihre Berichtstexte und äußert die Erwartung, dass<br />

diese sofort und mit Konzentration gelesen werden sollen. Interessant ist hier zu fragen, was<br />

die Lehrerin im Vorfeld getan hat, um das erwartete Rezeptionsverhalten bei den Kindern zu<br />

fördern.<br />

In diesem Abschnitt steht die These im Mittelpunkt, dass die Motivation, sich mit<br />

geschriebenen Zeugnissen zu beschäftigen, wesentlich von den sozialen Bezügen der<br />

Lesetätigkeit abhängig ist. Fragt man die Kinder nach den Lesesituationen bei der<br />

Berichtsvergabe, zeigt sich, dass an den Grundschulen offenbar eine genauere Vorstellung<br />

von <strong>schulische</strong>r Leseerziehung zu finden ist. Denn dort scheint man sich die Erkenntnis zu<br />

eigen gemacht zu haben, dass Kinder umso mehr Lesefreude und vor allem auch Fähigkeiten,<br />

Texte zu erschließen erlangen, je intensiver sie von einem Erwachsenen begleitet werden.


Seite 166 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

Tabelle 5/2: Lesesituation in der Schule; „In welcher Situation hast du<br />

dein Zeugnis zum ersten Mal gelesen?“<br />

N in % von allen in % der gültigen Antworten<br />

Stillesen 8 13 16<br />

Vorlesen 12 20 24<br />

dialogisches Lesen 13 21 26<br />

allein 14 23 28<br />

weiß nicht 3 5 6<br />

insgesamt gültig 50 82 100<br />

keine Angabe 11 18<br />

Gesamt 61 100<br />

Vor allem die Mädchen und Jungen in den ersten beiden Schuljahren der Grundschule<br />

beschreiben gemeinsame Lesesituationen mit Lehrerinnen und Lehrern. Tabelle 5/2 gibt<br />

hierzu Auskunft. Von den 50 Kindern, die sich hierzu geäußert haben, geben 13 an, dass sie<br />

den Bericht im Dialog mit dem Lehrenden gelesen haben. Für die Gespräche werden dabei<br />

häufig ruhige Orte abseits der Klassengemeinschaft gewählt. In diesem „geschützten“<br />

Rahmen ist Gelegenheit für Nachfragen und Kommentare, die auch die Gefühlswelt der<br />

Kinder ansprechen. Dabei ist das Lesen in ein Gespräch eingebunden. Das Kind bleibt nicht<br />

allein mit seinem Text, sondern hat Partner, die zwischen Text und kindlichem Verstehen<br />

vermitteln können. In den Eingangszitaten von Nils wird auch ersichtlich, dass die Lehrenden<br />

das Leseverhalten steuern wollen, in dem sie beispielsweise darauf aufmerksam machen, dass<br />

sich jedes Kind nur auf seinen Text konzentrieren soll. Mitteilungen und soziale Vergleiche<br />

zu anderen Kindern finden hier keinen Platz.<br />

Zwölf Kinder haben sich den Bericht vorlesen lassen. Ein genauer Blick auf die zugrunde<br />

liegenden Interviews zeigt, dass dies vor allem im ersten Schuljahr geschieht, wenn sich die<br />

eigenständige Lesekompetenz erst langsam entwickelt. <strong>Die</strong> Kinder finden diesen Umgang mit<br />

den <strong>Berichte</strong>n ausgesprochen behaglich. Bei vielen weckt das Vorlesen offensichtlich<br />

Assoziationen an vor<strong>schulische</strong> Literaturerfahrungen mit den Eltern. Denn auch beim<br />

<strong>Berichte</strong>lesen gibt es zunächst einen inhaltlichen Bezugspunkt, der mit der kommunikativen<br />

Zuwendung eines Erwachsenen verbunden ist. Vorlesen muss deshalb keine<br />

Einwegkommunikation sein, sondern kann durchaus dialogische Komponenten haben, wenn<br />

beispielsweise Pausen gesetzt werden und das Kind zum Text Stellung nehmen kann: „Sie hat<br />

dann immer gefragt, wie wir das finden.“ Beim Vorlesen werden die Buchstaben auf sinnliche<br />

Weise lebendig, sie werden Klang und gesprochene Sprache. Dadurch, dass der Vorlesende


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 167<br />

den Text in bestimmter Weise betont und möglicherweise auch körpersprachliche Akzente<br />

hinzutreten, wird ein erster analytischer Zugang zum Text gelegt. Ein Beispiel hierfür gibt<br />

Caroline: „Manchmal hebt sie so die Augenbrauen und macht ihre Stimme ganz tief.“<br />

Acht Kinder haben ihr Berichtszeugnis zunächst still für sich gelesen. Sie beschreiben, dass<br />

der Text „wie ein persönlicher Brief war“, und schätzen, dass Lehrerinnen und Lehrer für<br />

diese Botschaften keine Öffentlichkeit in der Schule herstellen. Sie betonen damit das private<br />

Element brieflicher Kommunikation, stellen aber auch heraus, dass danach mit der Lehrerin<br />

<strong>oder</strong> dem Lehrer über die Beurteilung gesprochen wurde. Manche berichten allerdings, dass<br />

sie den Text erst im Bus <strong>oder</strong> auf dem Nachhauseweg gelesen und allein studiert haben (14<br />

Nennungen). <strong>Die</strong> Gründe hierfür können banaler Art sein, beispielsweise „... weil es in der<br />

Stunde schon schellte“. Kinder machen auf diesem Weg allerdings auch die Erfahrung, dass<br />

das Zeugnislesen zumindest im Kontext der Schule keinen Platz findet. Es bleibt somit eine<br />

allein auf den Einzelnen bezogene Tätigkeit. Hier liegt eine gewisse Gefahr für die<br />

kommunikative Komponente der <strong>Berichte</strong>. Denn wenn die Kinder ihre Fragen und<br />

Kommentare in der Familie nicht ansprechen und dort keine Interpretationshilfen erhalten<br />

können, kann bei ihnen der Eindruck entstehen, dass sich weder Schule noch Elternhaus für<br />

das Kind und sein Lernen hinreichend interessieren und dem geschriebenen Wort wenig<br />

Bedeutung beimessen. Drei der von uns befragten Kinder sind zwar Leserinnen und Leser,<br />

können sich aber nicht mehr genau an die Situation der ersten Rezeption erinnern.<br />

Aus unserer Sicht zeigen die Unterschiede bei der Lektüre zumindest, dass dieser<br />

entscheidende Rezeptionsschritt mehr Beachtung bei den Autorinnen und Autoren von<br />

<strong>Berichte</strong>n finden muss. Erneut gilt: <strong>Berichte</strong> sind keine auf einfache Weise veräußerbaren<br />

Dokumente, sondern gerade bei Kindern Gesprächsanlässe, kommunikativ gehaltvolle<br />

Anfänge, die nach Fortsetzung des Gesprächs und nach Antwort suchen lassen.<br />

Wir können also feststellen, dass dann, wenn eine positive Erinnerung besteht, die Vergabe<br />

der <strong>Berichte</strong> in eine kommunikative Situation eingebunden ist. <strong>Die</strong> Kinder machen die<br />

Erfahrung, dass sich jemand Zeit nimmt für sie und ihnen und ihrer Leistung mit<br />

Aufmerksamkeit und Respekt begegnet. Viele Reformschulen haben sich diese Erkenntnis<br />

ohnehin zu eigen gemacht und heben den Augenblick der Zeugnisvergabe aus dem<br />

<strong>schulische</strong>n Alltag hervor, beispielsweise ist dies in vielen Schulen, die Anregungen aus Peter<br />

Petersens „Jenaplan-Pädagogik“ beziehen, der Fall (Petersen 1927, ThILLM o.J.).


Seite 168 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

5.3.4 Vertraute Lesepartner<br />

Ole: „Meine Großeltern wollen die <strong>Berichte</strong> immer sehen. Sind ja auch so neugierig wie meine Eltern.<br />

Meine Mutter ist am neugierigsten und es sind ja ihre Eltern.“<br />

Kinder sind oft direkt und diese Direktheit wirkt auf uns Erwachsene witzig und ehrlich<br />

zugleich. Ole unterstellt seinen Eltern Neugierde und ordnet diese gleich in eine<br />

Vererbungslinie ein, derzufolge Neugierde in der Familie seit Generationen zu finden und im<br />

Übrigen speziell die Mutter die Neugierigste ist. <strong>Die</strong> für Ole positive Kehrseite dieser<br />

Neugierde ist das Interesse, das Eltern und Großeltern an Oles Bericht zeigen. Sie nehmen ihn<br />

und sein „Stück Literatur“ auf, geben ihm Antwort, Rezeption, Kenntnisnahme und Schutz<br />

zugleich, weil ihnen Oles Text wichtig ist. Vor diesem Hintergrund ist gerade bei klassen-<br />

<strong>oder</strong> schulöffentlichen Übergaben von Berichtszeugnissen zu bedenken, dass die Kinder in<br />

Beurteilungsfragen den Schutz ihrer Person einfordern.<br />

Tabelle 5/3: Kenntnis anderer Zeugnisse; „Liest du auch die Zeugnisse<br />

von anderen Kindern?“<br />

N in % von allen in % der gültigen Antworten<br />

ja, anderer Kinder 5 8 9<br />

ja, von Freunden 13 21 25<br />

nein 35 58 66<br />

insgesamt gültig 53 87 100<br />

keine Angabe 8 13<br />

Gesamt 61 100<br />

Wie groß und wie weit gefasst die Leserkreise von <strong>Berichte</strong>n sind, war folglich auch Thema<br />

unserer Interviews. Auf die Frage, ob die Kinder auch andere Berichtszeugnisse lesen, ergibt<br />

sich ein Antwortverhalten, das Tabelle 5/3 zeigt. Betrachtet man die Antworten der 53<br />

Mädchen und Jungen, die hierzu Auskünfte geben, so zeigt sich, dass die Mehrheit von 35<br />

Befragten keine fremden <strong>Berichte</strong> liest. 13 Kinder geben an, in den Dokumenten ihrer<br />

Freunde zu lesen. Manche berichten, dass sie die Texte in der vertrauten Tischgruppe<br />

wechselseitig tauschen und lesen. Nur fünf Kinder lesen die <strong>Berichte</strong> anderer Kinder. Wir<br />

deuten diesen Befund als Ausdruck davon, dass die Grundschülerinnen und Grundschüler ein<br />

Bewusstsein von der Privatheit des Dokuments Berichtszeugnis haben. Auf jeden Fall<br />

entscheidet jedes Kind selbst, wem der Bericht zugänglich gemacht wird und wer in sein<br />

Vertrauen gezogen werden darf.


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 169<br />

<strong>Die</strong> berichtsbezogene Interaktion und Kommunikation vollzieht sich zumeist in den Familien<br />

der Kinder (ohne Tabelle). Hierzu haben die 60 von uns interviewten Kinder 107 Antworten<br />

gegeben. Davon beziehen sich alle 60 darauf, dass wenigstens ein Elternteil die <strong>Berichte</strong> zur<br />

Kenntnis nimmt. Bei 23 Befragten werden die Großeltern als Leser genannt. Auch andere<br />

enge Verwandte gehören zum Leserkreis (20 Nennungen). Manche Kinder geben im<br />

Interview an, dass die Eltern die Zeugnisse per Fax <strong>oder</strong> als Kopie versenden und so dafür<br />

sorgen, dass andere sie lesen können. Viele Kinder nehmen diese familiäre Aufmerksamkeit<br />

als Wertschätzung ihrer Person und Interesse am eigenen <strong>schulische</strong>n Lernen wahr. Denn das<br />

Zeugnis ist wichtig und wird gelesen. Vier Nennungen beziehen sich darauf, dass engere<br />

Freunde der Familie als Leser auftreten. Doch hierzu gibt es auch kritische Stimmen. So sagt<br />

Simon, „ ... dass ich es nicht mag, wenn meine Mutter über mich am Telefon mit ihrer<br />

Freundin spricht“. Allemal zeigt sich, dass Kinder, die mit Hilfe von <strong>Berichte</strong>n auch in ihrem<br />

Verhalten, ihrer Arbeitsfähigkeit und Sozialität beurteilt werden, natürlicherweise ein Anrecht<br />

auf den Schutz der dabei entstehenden personengebundenen Auskünfte haben. Wie damit im<br />

Einzelfall umzugehen ist, muss Thema der Anwendung und Nutzung von <strong>Berichte</strong>n sein. Es<br />

gehört zum Kranz der die Professionalität begründenden Kompetenzen bei Lehrerinnen und<br />

Lehrern.<br />

5.3.5 Art und Weise der Rückmeldung<br />

Annabell: „Dass wir uns alle freuen, war Belohnung genug.“<br />

Für Annabell ist das intakte Familienklima, das nicht durch Zeugnisse und Zensuren belastet<br />

wird, wesentlicher Gewinn. Ihre Bemerkung zeigt, dass in der sprachlichen Differenziertheit<br />

der <strong>Berichte</strong> eine entscheidende Qualität der Leistungsrückmeldung liegt. Denn<br />

Berichtszeugnisse reproduzieren nicht mehr so unmittelbar ein „Gut-Schlecht“-Schema mit<br />

entsprechender Belohnung <strong>oder</strong> Sanktion, wie dies <strong>Noten</strong>zeugnisse tun.<br />

Wenn Eltern <strong>oder</strong> nahe Verwandte Zeugnisse lesen, geben sie dazu meistens auch Urteile ab.<br />

Wir haben die Kinder danach gefragt, wie sich ihre Eltern zu den Zeugnissen äußern. Unsere<br />

Interviews zeigen, dass die Zeugnisse Gesprächsanlässe in der Familie sind. Dazu gehört,<br />

dass die überwiegende Mehrheit der Eltern für gelungenes <strong>schulische</strong>s Lernen Lob ausspricht:<br />

„Das Zeugnis ist gut.“ Wird Kritik geäußert, dann werden auch die Ursachen hierfür<br />

hinterfragt. Tadel hingegen wird öfter in Form von Ermahnung ausgesprochen: „Du musst<br />

mehr tun.“ <strong>Die</strong> den Berichtszeugnissen eigentümliche Sprachqualität zeigt sich auch im Blick<br />

auf Kritik, die Kinder von Eltern erfahren: „<strong>Die</strong> Strafe war für mich eigentlich nur, dass<br />

immer alle wieder gefragt haben, was sind denn das für eigenwillige Späße, die du immer


Seite 170 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

machst?“, sagt Nikolas. In nur wenigen Interviews wird deutlich, dass die Zeugnisse nicht<br />

besprochen werden. Gute Zeugnisse ziehen zumeist ein bestimmtes Belohnungsverhalten der<br />

Eltern und Großeltern nach sich. 21-mal wird von den befragten Kindern genannt, dass sie ein<br />

Geldgeschenk erhalten, 17 Nennungen verweisen auf ein Sachgeschenk. 27 Kinder äußern,<br />

dass sie keine Belohnung bekommen. <strong>Die</strong>se Mädchen und Jungen geben an, dass sie auch<br />

keine Belohnung erwartet haben. Dabei wird dies nach Kinderart sofort begründet: „Mein<br />

Kinderzimmer ist schon voll genug.“ Es wird deutlich, dass die Konsequenz der<br />

Berichtseigenschaft „Sprache“ zumindest insofern für die Kinder wichtig ist, als Sanktionen<br />

nicht mehr zwangsläufig mit einem schlechten Zeugnis einher gehen müssen.<br />

5.3.6 Wohlfühlen an der Schule<br />

Maike: „Ich finde es toll hier. Wir haben einen so großen Schulhof und die Zeugnisse sind ehrlich und<br />

die Lehrer sind nett.“<br />

Maikes Ausspruch zeigt die Reichweite der Argumente, die Kinder in den Interviews für ihr<br />

Wohlbefinden an der Schule nennen. Sie umreißt den Faktor Schulqualität mit drei Variablen:<br />

Den Schulhof als Stichwort für den Lebensraum Schule; den Lehrern als Stellvertretern der<br />

mitmenschlichen und sozialen Seite der Schule; den „ehrlichen“ Zeugnissen mit <strong>Berichte</strong>n<br />

von besonderer Qualität. Dabei ist in unserer Erhebung der Qualitätsaspekt von Schule und<br />

deren Wahrnehmung bei den Kindern als eine die Kultur der Berichtszeugnisse umgebende<br />

Größe angesprochen worden.<br />

Von den 45 Kindern, die mit uns über diese Frage gesprochen haben, geben 20 (ohne Tabelle)<br />

an, dass sie vor allem den großen Pausenhof mit seinen Spielmöglichkeiten schätzen. Danach<br />

folgt mit zehn Nennungen der Umgang mit den erwachsenen Bezugspersonen: Es ist wichtig,<br />

dass „nette“ Lehrerinnen und Lehrer an der Schule unterrichten, mit denen die Kinder Spaß<br />

haben und reden können. Dazu gehört für sie auch, dass im Blick auf ihr Lernen ein<br />

vertrauliches Klima hergestellt wird. So beklagt sich Ines: „<strong>Die</strong> Lehrerin schimpft laut, wenn<br />

ein Kind Fehler macht und alle hören das mit.“<br />

Wie hängt dies mit der Beurteilung durch Berichtszeugnisse zusammen? Ein gutes<br />

Vertrauensverhältnis der Kinder zu den Lehrenden ist für viele Kinder Garant dafür, dass die<br />

Zeugnisse als fair und gerecht wahrgenommen werden. Immerhin neun der hierzu gegebenen<br />

Antworten verweisen darauf, dass der gute Unterricht zum Wohlbefinden beiträgt. Weniger<br />

wichtig erscheint hingegen der Umgang mit den Mitschülerinnen und Mitschülern (4<br />

Nennungen). Von geringer Bedeutung für die Schulqualität ist die Lage der Schule (2


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 171<br />

Nennungen). Das hängt sicher auch mit der großstädtischen Infrastruktur <strong>Hamburg</strong>s<br />

zusammen.<br />

Fragt man nach den das Wohlbefinden störenden Faktoren, dann verweisen 21 Kinder auf<br />

prügelnde und störende Mitschüler. Den zweiten Rang hierbei nimmt der langweilige<br />

Unterricht (5 Nennungen) ein, gefolgt von schimpfenden Lehrerinnen und Lehrern (4<br />

Nennungen). Tom empfindet es als besonders unfair, wenn Lehrerinnen und Lehrer aus<br />

Verärgerung androhen, über die Klasse Sanktionen im Zeugnis zu verhängen: „Unsere<br />

Lehrerin sagt immer, wenn wir uns schlecht benehmen <strong>oder</strong> so, denn kommt das ins Zeugnis.“<br />

Man kann dies dahingehend zusammenfassen, dass eine Bedingung für die positive<br />

Einstellung der Kinder zur Schule stimmige soziale Beziehungen sind. Zudem muss das Lehr-<br />

Lern-Angebot ansprechend sein und genügend Raum gegeben werden, um in den Pausen<br />

kindliche Bedürfnisse auszuleben. Ein direkter Zusammenhang zwischen Schulqualität im<br />

Einzelfall und Qualität der <strong>Berichte</strong> ergibt sich aus den Interviews erwartungsgemäß nicht.<br />

5.3.7 Erinnerungen an den Bericht<br />

Henning: „... dass ich froh in die Schule komm und auch den anderen helfe<br />

und den Zahlenraum bis 100 kann.“<br />

Das Zitat von Henning belegt deutlich, dass die in den theoretischen Diskussionen zu<br />

Lernberichten geforderte Mehrdimensionalität von den Kindern sehr präzise wahrgenommen<br />

und als Beschreibung des Wechselverhältnisses von sozialer Leistung und fachlicher<br />

Kompetenz gedeutet werden kann. Insofern bestätigen unsere Gespräche mit Kindern die<br />

Wichtigkeit und Richtigkeit dieses Prinzips. Berichtszeugnisse sollen mehrdimensional<br />

verfasst sein. Ob dieser Anspruch von den <strong>Hamburg</strong>er Zeugnissen umfassend eingelöst wird,<br />

muss an anderer Stelle geklärt werden. Uns hat in den Interviews mit den Kindern interessiert,<br />

welche Erinnerungen die Mädchen und Jungen an ihr letztes Berichtszeugnis bzw.<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis haben. Wir haben dazu Antworten von 37 Kindern erhalten (ohne Tabelle).<br />

Dabei zeigt sich, dass die Retrospektive vor allem fachliche Aspekte in den Mittelpunkt der<br />

Erinnerung rückt. Besonders in Fachbereichen, in denen gute Leistungen erworben und Lob<br />

ausgesprochen wurde, können die Kinder fast wörtlich die schriftlichen Kommentare der<br />

Lehrenden wiedergeben (20 Nennungen). Erinnerungen, in denen Fachleistungen mit<br />

Leistungen im Arbeits- und Sozialverhalten verknüpft werden, spielen bei sieben Antworten<br />

eine Rolle. Eine ausschließlich auf das Sozial- und Arbeitsverhalten gerichtete Erinnerung<br />

finden wir immerhin in zehn Antworten.


Seite 172 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

Wir ziehen daraus den Schluss, dass verbale Zeugnisse für die Kinder eine wichtige Auskunft<br />

über ihr fachliches Lernen geben. Insofern haben sie eine dem klassischen Zeugnis<br />

vergleichbare Qualität. Den Kindern fehlt jedenfalls diese Eigenschaft der Ziffernnote nicht in<br />

dem Maße, wie dies deren Verfechter gerne behaupten. Möglicherweise nehmen aber auch<br />

die Eltern Einfluss auf dieses Antwortverhalten ihrer Kinder, indem sie zunächst nach dieser<br />

fachlichen Leistung im Zeugnis fragen und ihr damit eine hohe Priorität geben. Es bleibt<br />

sicherlich weiterhin eine Aufgabe der Pädagogik und der Leseerziehung, Kindern und Eltern<br />

die Gleichwertigkeit von fachlichem Lernen und den Leistungen im Arbeits- und<br />

Sozialverhalten zu vermitteln, damit die Empfänger der „neuen“ Zeugnisse auch mit „neuen“<br />

Lesarten lesen können.<br />

5.3.8 Einstellung zum Bericht und Zufriedenheit mit dem Lehrerurteil<br />

Christine: „Und manchmal bin ich auch `ne kleine Nervensäge, `ne kleine Plappertante und so.“<br />

Christine nimmt die Urteile und Beschreibungen in ihrem Berichtszeugnis direkt auf und<br />

identifiziert sich mit ihnen ohne Vorbehalte. Auch in dieser Form, Kritik zu kommunizieren –<br />

didaktisch gesprochen: Unterrichtsstörungen als Leistung einer Person zu beschreiben – zeigt<br />

sich eine Stärke des Instruments Berichtszeugnis, die von Kindern wahrgenommen wird.<br />

Zeugnisse sollen eine Hilfe zur Selbsteinschätzung sein. Kinder und ihre Eltern sollen daraus<br />

ersehen, wie sich das <strong>schulische</strong> Lernen entwickelt hat. Sie sollen sich aber auch mit dem<br />

Urteil fachlich geschulter Experten – professioneller Pädagogen eben – auseinander setzen<br />

und sich dazu eine Meinung bilden. Wir haben die Kinder im Gespräch gefragt, wie ihnen ihr<br />

Zeugnis gefallen hat. Von 36 Kindern, die geantwortet haben, geben 28 an, zufrieden zu sein<br />

(ohne Tabelle). Acht Kinder sind nicht mit den Zeugnissen einverstanden. Vor allem missfällt<br />

ihnen die darin geäußerte Kritik. Für die Kinder ist es offenbar wichtig, ein makelloses<br />

Zeugnis nach Hause zu tragen. Auch wenn die kritischen Passagen im Gesamt des Berichts<br />

kaum auffallen, zeigen die Kinder im Gespräch auf die entsprechenden Sätze. Zumindest<br />

konnten wir die Beobachtung machen, dass Kritik von den Kindern als Anreiz für eine<br />

neuerliche Anstrengung angenommen wurde. Manche haben ihre kleinen Schwächen<br />

allerdings auch mit Humor kommentiert wie Christine.<br />

Wer Kritik äußert, muss allerdings auch sein Gegenüber von der Rechtmäßigkeit seines<br />

Urteils überzeugen. <strong>Die</strong>s gilt in besonderem Maße für Lehrerinnen und Lehrer, die<br />

Berichtszeugnisse schreiben. Von 34 Kindern, die sich zu der Frage äußern, ob ihre<br />

Lehrerinnen und Lehrer ein gerechtes Urteil ausgesprochen haben, sind 30 der Meinung,<br />

richtig beurteilt worden zu sein. Jeweils zwei Grundschulkinder sind sich unsicher und


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 173<br />

glauben, falsch eingeschätzt worden zu sein. Marc ärgert sich darüber, dass seine Lehrerin im<br />

Bericht eine Leistung würdigt, die von allen erbracht wurde: „Da steht drin, dass ich alles<br />

verstanden habe, aber das haben doch alle Kinder.“ Er ist misstrauisch und fragt sich, warum<br />

dieses bei ihm so hervorgehoben wird. Hat die Lehrerin geglaubt, dass er es „ ... als einziger<br />

nicht schaffen“ könnte? An Marcs Kommentar wird deutlich, dass die Kinder ein fundiertes<br />

Urteil erwarten, das sie selbst nachvollziehen können, das in ihrer Sprache „richtig“ ist und<br />

das keine Schönfärberei darstellt. Dazu gehört auch, dass Leistungen, die der gesamte<br />

Klassenverband erbracht hat, die unter der „sozialen Bezugsnorm“ betrachtet bei allen<br />

nachweisbar sind, nicht hervorgehoben werden sollten.<br />

Nicht nur, was die Urteilsgerechtigkeit angeht, sprechen die Kinder ihren Lehrerinnen und<br />

Lehrern ein großes Lob aus. Sie tun dies auch im Blick auf die Sorgfalt der Dokumentation.<br />

Von 38 Kindern geben 32 an, dass die Lehrenden nichts vergessen, sondern die wichtigsten<br />

Ereignisse des Lernjahres dokumentiert haben. Lediglich vier sind sich unsicher und zwei<br />

Kinder hätten lieber noch einige Informationen zum Unterrichtsverhalten gehabt. Oft sind<br />

dies Schülerinnen und Schüler, die sehr neugierig und wissbegierig waren und ganz genaue<br />

Informationen darüber wünschen, wie sie selbst gewesen sind. Für Kinder haben diese<br />

Beschreibungen der Leistungsfähigkeit ihrer Person offensichtlich besonderen Reiz.<br />

Ein interessanter Befund zeigt sich auch bei der Frage, ob im Bericht neue Botschaften<br />

enthalten waren. <strong>Die</strong> Kinder geben größtenteils an, dass ihnen die Texte vorher bekannt sind<br />

und sie am Zeugnistag nicht mit völlig neuen Urteilen konfrontiert werden, sondern etwas<br />

schriftlich vermittelt bekommen, was vorher Gegenstand der mündlichen Kommunikation<br />

war.<br />

5.3.9 <strong>Noten</strong>- <strong>oder</strong> Berichtszeugnisse?<br />

Lukas: „Es ist gut, erst mal mit einem schriftlichen Zeugnis zu lernen.“<br />

Lukas bewertet seine Erfahrungen mit Berichtszeugnissen grundsätzlich positiv: Es ist gut,<br />

eine verbale Rückmeldung zu erhalten. <strong>Die</strong> meisten Kinder wissen, was <strong>Noten</strong> sind, und<br />

haben entweder Freunde <strong>oder</strong> ältere Geschwister, die <strong>Noten</strong>zeugnisse mit nach Hause<br />

bringen. Sie sind also in der Lage, Unterschiede zu sehen und beide Beurteilungskulturen<br />

unter praktischen Aspekten zu vergleichen. In unseren Gesprächen haben wir die Kinder nach<br />

ihrer Meinung zu <strong>Noten</strong>- und Berichtszeugnissen gefragt. Tabelle 5/4 gibt einen Überblick<br />

über die Ergebnisse.


Seite 174 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

Tabelle 5/4: Präferenzen für <strong>Noten</strong> <strong>oder</strong> Berichtszeugnisse: „Welches<br />

Zeugnis würdest du am liebsten bekommen?“<br />

N in % von allen<br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse 17 28<br />

Berichtszeugnisse 29 48<br />

<strong>Noten</strong> und Kommentare 11 18<br />

weiß nicht 3 5<br />

insgesamt gültig 60 99<br />

Keine Angabe 1 1<br />

Gesamt 61 100<br />

60 Mädchen und Jungen haben uns darauf eine Antwort gegeben. Eine große Gruppe von 29<br />

Kindern entscheidet sich für ein Berichtszeugnis als Form der regelmäßigen Rückmeldung.<br />

Dafür werden unterschiedliche Gründe genannt. Zum einen werden die Texte als<br />

ausführlicher und im Blick auf mögliche Schwächen als diagnostisch gehaltvoller und<br />

präziser wahrgenommen. <strong>Die</strong> Kinder können ihnen entnehmen, wie sie ihre Schwierigkeiten<br />

und Defizite aufarbeiten können. Matteo drückt das wie folgt aus: „<strong>Die</strong> <strong>Noten</strong> sagen nur Fünf<br />

und fertig. In <strong>Berichte</strong>n steht, wie ich mich verbessern kann.“ Charlotte wendet sich gegen die<br />

Endgültigkeit der punktuellen Leistungsmessung mit <strong>Noten</strong>. Sie möchte berücksichtigt<br />

wissen, dass man auch einmal eine schlechte Tagesform hat und deshalb nicht gleich auf eine<br />

Note festgelegt werden möchte: „Man hat z.B. mal 'nen schlechten Tag und dann wird das<br />

schon als schlechte Note von den guten abgezogen.“<br />

Fynn stellt vor allem das Prinzip der Leistungsförderung durch ermutigende Kommentare<br />

heraus und hat beobachtet, dass seine Lehrerin im ersten Schuljahr gänzlich auf<br />

differenzierende Urteile verzichtet hat. Alle Schülerinnen und Schüler haben nach ihren<br />

Möglichkeiten gelernt und verdienen eine Anerkennung. <strong>Die</strong>se Pädagogik fasst er in seiner<br />

Beobachtung zusammen: „In der ersten Klasse hat unsere Lehrerin nichts Negatives über<br />

irgendeinen geschrieben.“ Anne sieht durch <strong>Noten</strong> und hier vor allem durch schlechte <strong>Noten</strong><br />

die Balance des Klassenklimas gefährdet. Wer schlechte <strong>Noten</strong> hat, hat das Stigma der<br />

Leistungsschwäche und wird von den anderen Kindern schnell zum Außenseiter gemacht:<br />

„Ja, wenn ich jetzt auch mal schlechte <strong>Noten</strong> hätte, das würde mich nicht so sehr aufregen,<br />

aber die aus unserer Klasse, die nicht so gut sind, das wäre doch für die fies, wenn die dann<br />

schlechte <strong>Noten</strong> hätten und die anderen wären immer ganz gut und dann würden sie die<br />

immer veräppeln und sagen: Du hast `ne Sechs und ich nicht.“ Auch Lukas findet das<br />

notenfreie Lernen entlastend. Ohne Angst vor Strafe und Sanktionen und ohne den Druck der


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 175<br />

Konkurrenz lernt es sich leichter, wenngleich er etwas später einschränkt, „... aber auf dem<br />

Gymnasium möchte ich <strong>Noten</strong> haben.“ Lukas lehnt <strong>Noten</strong> nicht generell ab. Er befürwortet<br />

aber ausdrücklich <strong>Berichte</strong> im Bereich der Grundschule als Chance zum gemeinsamen<br />

entwicklungsbezogenen Lernen ohne Auslese und den vergleichenden Blick auf den<br />

Nachbarn. Mit dem Wechsel der Schulform antizipiert Lukas hingegen andere Maßstäbe von<br />

Leistungsdruck und Leistungskonkurrenz. Zum Gymnasium als traditionell leistungs-<br />

bezogener Schule gehört das <strong>Noten</strong>zeugnis als Ausweis des Gymnasiasten. Oliver schätzt vor<br />

allem die Sprache der <strong>Berichte</strong>. Da sie Interpretationsvarianten zulässt, fallen auch die Urteile<br />

der Eltern nicht so scharf aus wie möglicherweise bei <strong>Noten</strong>. Für ihn ist das ausschlaggebende<br />

Argument, sich für Berichtszeugnisse zu entscheiden, dass „... die Eltern bei <strong>Berichte</strong>n nicht<br />

so doll schimpfen.“<br />

17 der jungen Schülerinnen und Schüler plädieren für <strong>Noten</strong>zeugnisse. Hier finden wir<br />

wesentlich weniger differenzierte Gründe, die aus Sicht der Kinder für ein <strong>Noten</strong>zeugnis<br />

sprechen. Für die meisten Mädchen und Jungen sind <strong>Noten</strong> klarer und eindeutiger. Jeder kann<br />

leicht daraus ersehen, ob er zu den guten <strong>oder</strong> schlechten Lernern einer Klasse gehört. Tim<br />

sieht in <strong>Noten</strong>zeugnissen vor allem Vorteile für die Schwächeren: „Wenn die Leistungen<br />

schlecht sind, würde ich den Kindern <strong>Noten</strong> geben. Wenn die schlecht sind, sollen die das<br />

auch wissen.“ Er misstraut der Sprache der <strong>Berichte</strong>, die vielleicht über Probleme<br />

hinwegtäuscht. Für ihn muss ein Zeugnis im Sinne von Schreibstandards eindeutig und genau<br />

sein. Sina hat keine eigene Meinung zu <strong>Noten</strong>zeugnissen. Sie vertritt die Meinung ihres<br />

Vaters: „Mein Vater sagt, <strong>Noten</strong> sind besser.“ Für <strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentaren<br />

sprechen sich elf Kinder aus.<br />

Wir können also feststellen, dass die Mehrheit der Kinder des ersten, zweiten und dritten<br />

Schuljahres eine rein zahlenmäßige Erfassung ihrer <strong>schulische</strong>n Leistungen als zu kurz<br />

greifend wahrnimmt und nach einer differenzierten und umfassenderen Diagnose verlangt.<br />

Sie ist dann gelungen, wenn die Kinder verstehen können, wo sie Fortschritte gemacht und<br />

Kompetenz erworben haben <strong>oder</strong> aber wo sie ihre Lernanstrengungen intensivieren müssen.<br />

Nur drei von den 61 Interviewpartnern haben keine Meinung zu der Zeugnisform.<br />

5.3.10 Zusammenfassung<br />

<strong>Die</strong> Durchsicht der von uns geführten Interviews hat eine Reihe von Einsichten bestätigt, die<br />

für sich betrachtet nicht neu sind, dennoch vor dem Hintergrund, dass Grundschulkinder als<br />

Experten für das Lernen und dessen Beurteilung gefragt werden, einen besondere Qualität


Seite 176 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

und Einsicht in die Praxis der Berichtszeugnisse ermöglichen. <strong>Die</strong>se Einsichten möchte ich in<br />

dreizehn Thesen zusammenfassend bündeln.<br />

• <strong>Die</strong> Interviews zeigen, dass Berichtszeugnisse als Texte mit einer besonderen<br />

persönlichen Qualität wahrgenommen werden. Zugleich wird deutlich, dass dadurch für<br />

Kinder „attraktive Lesestoffe“ entstehen können. <strong>Die</strong>s gilt v.a. für Kinder, die Freude am<br />

Lesen haben, für die Sprache und Lesen ein besonderer Aspekt der Welterfahrung und<br />

der Anregung ihres Denkens und Handelns ist.<br />

• Berichtszeugnisse haben sprachliche Voraussetzungen, die auf zwei Ebenen liegen. Es<br />

geht einerseits um das Beherrschen der deutschen Sprache und die damit verbundene<br />

Sprachfähigkeit sowie andererseits um das zugrunde zu legende Sprachniveau. Klar wird:<br />

<strong>Die</strong> <strong>Berichte</strong> müssen verstanden werden können.<br />

• <strong>Die</strong> These vom „Berichtszeugnisse verstehen“ bezieht sich jedoch nicht allein auf die<br />

landessprachliche Kompetenz. <strong>Die</strong> Texte dürfen in Blick auf die Schülerschaft, die sie<br />

letztlich erhält, auch nicht zu abstrakt und hinsichtlich der (sicherlich gut gemeinten)<br />

Formulierungshilfen der Schulverwaltung, der Fortbildungsinstitute und der praktisch-<br />

orientierten pädagogischen Zeitschriften nicht zu „gestanzt“ und zu formelhaft werden.<br />

Berichtszeugnisse sollen individuelle Texte zeitigen. Kinder bemerken schnell, wenn die<br />

Wertschätzung ihrer Individualität einer vorgefertigten Formelsprache geopfert wird.<br />

• <strong>Berichte</strong> sind Reden über das Lernen und somit wie alles Reden auf das Verstehen, die<br />

Antwort, den Dialog angewiesen. Berichtszeugnisse als fördernde Instrumente der<br />

Leistungsbeurteilung benötigen Kommunikationsfähigkeit und -freude auf der Ebene der<br />

Sprache.<br />

• Berichtszeugnisse sind ein mit dem Lernen und Handeln der Kinder verbundenes<br />

Instrument. Schulen und die in ihnen tätigen Lehrerinnen und Lehrer haben eine Art<br />

„kommunikative Verantwortung.“<br />

• Ein Teilaspekt dieser Verantwortung zeigt sich darin, Gespräche über <strong>Berichte</strong> zu führen.<br />

<strong>Die</strong>s lässt sich allerdings nicht unter beliebigen Bedingungen realisieren. Unsere<br />

Interviews haben gezeigt, dass Berichtszeugnisse gerade in der Schule, aber auch im<br />

familiären Kreis ihrer eigenen Orte und Zeiten bedürfen.<br />

• Kinder brauchen Gesprächspartner, die zwischen Text und kindlichem Verstehen<br />

vermitteln und übersetzen können. Hier liegt eine wichtige Aufgabe für Lehrende und


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 177<br />

Lernende. <strong>Die</strong>se Einsicht verweist aber auch darauf, dass Eltern und Familie in der<br />

Berichtspraxis eine kommunikativ gehaltvolle Rolle spielen müssen.<br />

• Für den Vorgang des „Zeugnis-Lesens“ muss es in der Schule Zeitkorridore geben.<br />

Weniger noch als bei <strong>Noten</strong>zeugnissen ist es sinnvoll, die <strong>Berichte</strong> einfach „auszuteilen“<br />

<strong>oder</strong> sie „kommentarlos“ zu übergeben.<br />

• Berichtszeugnisse sind Gesprächsmomente, die nach Fortsetzung suchen. Jeder Bericht<br />

baut auf vorhergehende Texte <strong>oder</strong> Beurteilungen auf und zieht später weitere nach sich<br />

(jedenfalls bis zum Abschluss der Schulzeit, im hier vorliegenden Falle mindestens bis<br />

zum Verlassen der Grundschule). Gerade in den Gesprächen zu den <strong>Berichte</strong>n sollten<br />

auch vorhergehende Lerndiagnosen eine Rolle spielen.<br />

• Zur Professionalität der Lehrenden gehört es, den Schutz der persönlichen Daten zu<br />

gewährleisten. Weniger noch als dies bei Ziffernzeugnissen möglich ist, dürfen<br />

Beurteilungen und Beschreibungen aus Berichtszeugnissen ohne Rückversicherung mit<br />

dem Betroffenen sozial verhandelt <strong>oder</strong> einfach in Gesprächen weitergegeben werden.<br />

• <strong>Die</strong> für den Bericht konstitutive Sprachlichkeit ermöglicht es, Kritik zu formulieren und<br />

sie konstruktiv als Hinweis für Verhaltenswandel <strong>oder</strong> Lernbedarf zu nutzen, ohne sofort<br />

Sanktionen im „Gut-Schlecht-Schema“ nach sich zu ziehen, wie dies bei Ziffernzensuren<br />

oft der Fall ist.<br />

• <strong>Berichte</strong> geben Kindern eine wichtige Auskunft über fachliches Lernen. Man kann nach<br />

Auswertung unserer Gespräche mit Grundschulkindern die Lehrerinnen und Lehrer nur<br />

auffordern, weniger Mühe in das sprachliche Verkleiden von Lerndefiziten und -mängeln<br />

zu investieren. Vielmehr scheint man Kindern mehr an Klarheit und Wahrheit zutrauen<br />

zu dürfen, als dies im pädagogischen Geschäft bisweilen der Fall ist. Verbale Zeugnisse<br />

ermöglichen es den Lehrenden, Kritik als Besonderheit der Kinder anzusprechen und sie<br />

kommunizierbar zu machen. Unsere Interviews belegen auch: Kritik wird durchaus als<br />

Anreiz zu neuerlicher Anstrengung angenommen.<br />

• Berichtszeugnisse werden von Kindern als diagnostisch gehaltvoller im Vergleich zu<br />

<strong>Noten</strong>zeugnissen wahrgenommen. Dabei wünschen Kinder ihrer Person angemessene<br />

Urteile. Solche Beschreibungen üben einen besonderen Reiz aus. Kinder fordern ein, dass<br />

auch Defizite benannt werden. Schwächen sollen ausgesprochen und nicht sprachlich<br />

zugedeckt werden.


Seite 178 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

Insgesamt zeigen die von uns geführten Gespräche, dass Kinder einen hohen<br />

Qualitätsanspruch an die Berichtszeugnisse entwickeln, wenn sie als Texte und „Literatur<br />

über sich selbst“ wahrgenommen werden sollen. Wird dieser Qualitätsanspruch der<br />

Grundschulkinder selbst in der Berichtspraxis eingelöst <strong>oder</strong> angestrebt, dann korrespondiert<br />

damit eine große Bereitschaft, die diagnostischen und in diesem Sinne fördernden Potenziale<br />

des Instruments Berichtszeugnis aufzunehmen. Insofern wird deutlich, dass Qualität und<br />

Professionalität der Texte auch von den Kindern gefordert werden. Nimmt man das<br />

zusammen mit der Forderung, zu sagen, was Tatsache ist – nämlich auch Schwächen und<br />

Mängel mitzuteilen – dann zeigt sich, dass für die Betroffenen – die Grundschulkinder – der<br />

Bericht im Prinzip einen Zuwachs an Ernsthaftigkeit und Wahrnehmungsfähigkeit für das<br />

eigene Lernen markiert. Das Kästner‘sche zweite Augenpaar hinterlässt auch hier seine<br />

Spuren. Mit Sprache und Literatur kann man Kinder erreichen und die Schulpädagogik<br />

handelte unklug, wenn sie diese Chance zur Verbesserung des Lernens und damit der Schule<br />

nicht umfassend nutzen würde.<br />

5.4 Kinder sprechen über ihre Berichtszeugnisse – vier<br />

Interpretationsversuche<br />

Im folgenden Abschnitt sollen die mit den Kindern Nina, Annika, Hakan und Yang geführten<br />

Gespräche sowie die diesen Gesprächen zugrunde liegenden Berichtszeugnisse interpretiert<br />

werden. Dabei wird aufgrund der Priorität, die in dieser Studie dem Aspekt der Evaluation<br />

von Berichtszeugnissen durch die betroffenen Kinder selbst zugebilligt ist, zuerst das<br />

Interview analysiert. Ziel der Interpretation ist es, in den Gesprächsprotokollen nach Aspekten<br />

des Verstehens und der Rezeption der Berichtszeugnisse zu suchen. <strong>Die</strong>se sollen systematisch<br />

hervorgehoben und in einen Zusammenhang der Wahrnehmung von Schule durch die Kinder<br />

gestellt werden. Es geht hier also um eine Art Rekonstruktion des Umgangs mit den <strong>Berichte</strong>n<br />

und ihrer Wertigkeit bei den Kindern.<br />

Darauf folgt eine Analyse der Texte der entsprechenden Berichtszeugnisse. <strong>Die</strong>se Texte<br />

haben den Kindern beim Interview vorgelegen und waren dadurch, selbst wenn nicht<br />

ausdrücklich von den Gesprächspartnern darauf Bezug genommen worden war, im Gespräch<br />

„präsent“. Bei der folgenden Deutung der Berichtszeugnisse geht es darum, erkennbare<br />

Motive und Wahrnehmungszusammenhänge der Kinder und ihres Lernens in den<br />

Berichtstexten herauszuheben.<br />

Es ist nicht leicht gewesen, aus der Fülle des Materials eine Auswahl zu treffen. Insbesondere<br />

sollte vermieden werden, dass etwa Aspekte der Lern-, Lese- und Kommunikationsfähigkeit


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 179<br />

mit Determinanten wie Geschlecht, soziale <strong>oder</strong> ethnische Herkunft sowie Sprachfähigkeit<br />

direkt verbunden werden. Gleichzeitig gilt jedoch für einen texthermeneutischen Zugriff – das<br />

ist die Interview- und die Berichtsinterpretation dann letzten Endes doch –, dass das zugrunde<br />

liegende Material Motive und Zusammenhänge sichtbar werden lässt. Insofern ist die hier<br />

getroffene Auswahl zufällig, aber nicht beliebig. Zudem muss man auf<br />

Rezeptionsvoraussetzungen für kritische und der Lernförderung verpflichtete Anmerkungen<br />

in Berichtstexten hinweisen: Es gibt Kinder, die kritische, dabei von den Autoren der<br />

Berichtstexte sicherlich positiv und produktiv gemeinte Bemerkungen nicht als<br />

Verbesserungshinweise rezipieren, sondern anders lesen. Es bleibt eine letztlich offene Frage,<br />

wie das Bild des Lernens aus den Berichtstexten – das ja wesentlich von Erwachsenen, von<br />

Lehrern gezeichnet wurde – mit der Selbstreflexion und der Berichtswahrnehmung in den<br />

Interviews der Kinder zusammenspielt.<br />

5.4.1 Nina<br />

Ein persönlicher Eindruck: Nina ist ein lebendiges und aufgeschlossenes Mädchen. Sie tritt<br />

ohne Scheu auf mich zu und fragt mich neugierig nach meinem Beruf: „Was machen Sie an<br />

unserer Schule?“ Das Gespräch mit ihr hat lang gedauert. Sie hat ihre Antworten pfiffig und<br />

anschaulich vorgetragen. Ihr Sprachwitz hat auch darin seinen Ausdruck gefunden, dass im<br />

Laufe des Interviews viel gelacht worden ist.<br />

5.4.1.1 Das Gespräch: <strong>Berichte</strong> sind Interpretations- und Kommunikationsangebote<br />

Nina besucht zum Zeitpunkt der Durchführung des Interviews die vierte Klasse der<br />

Grundschule A in <strong>Hamburg</strong>. Sie thematisiert im Gespräch im Wesentlichen ihre<br />

Auseinandersetzung mit einem Urteil ihrer Lehrerin, die Stellungnahme ihrer Familie dazu,<br />

ihre Lese- und Rezeptionsgewohnheiten und ihre Einstellung zu Berichts- und<br />

<strong>Noten</strong>zeugnissen.<br />

An ihren letzten Bericht, dem sie zum Abschluss des dritten Schuljahres erhalten hat, kann sie<br />

sich gut erinnern. In der Rückschau benennt sie drei Gesichtspunkte: Ihr wurden gute<br />

Leistungen in Musik, Werken und Sachkunde bescheinigt. Sie ist dem Bericht zufolge fähig,<br />

Kritik sozial angemessen zu formulieren. Allerdings ist sie im Unterricht bisweilen abgelenkt<br />

und spielt.<br />

<strong>Die</strong>ses Spiel hat mit einem Hobby von Nina zu tun. Sie malt sehr gerne. Ihre Lehrerin wertet<br />

das, was sie dabei beobachtet, als „Kritzeln“ ab. Nina, die auch einen Malkurs besucht,<br />

bezeichnet ihre Tätigkeit hingegen als Malen. Damit deutet sie an, dass sie ihr „Malspiel“


Seite 180 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

keineswegs als zielloses, der Ablenkung dienendes Tun versteht, sondern darin für sich eine<br />

sinnvolle Tätigkeit sieht. Nina entgleitet damit sozusagen der <strong>schulische</strong>n Fremdbestimmung,<br />

sie bestimmt selbst, wann sie die Aufmerksamkeit verweigert und wann sie am Unterricht<br />

wieder teilnimmt. In ihrer Selbsteinschätzung kann sie sich diese „Auszeiten“ leisten, denn sie<br />

sagt: „Aber ich will das auch nicht sonderlich verbessern <strong>oder</strong> so. Nicht so sehr jetzt, dass ich<br />

jetzt die Allerbeste werde und dass ich ohne Kritzeln und die ganze Zeit nur aufpassen und die<br />

ganze Zeit nur gucke und immer so ein bisschen Spielen, das muss nun auch mal sein.“ Indem<br />

sie gleichzeitig selbst den Begriff des Spiels für ihr Malen aufnimmt, verteidigt sie<br />

gewissermaßen das Kind, das sie ist, das eben noch spielen darf und sich auch in der Schule<br />

diese Freiheit herausnimmt. Der abqualifizierenden Bemerkung der Lehrerin, dass sie<br />

kritzele, begegnet sie demzufolge mit Selbstbewusstsein: „... eigentlich, dass mit dem<br />

Kritzeln, das ärgert mich nicht.“ Dennoch beschäftigt sich Nina mit diesem Urteil, denn was<br />

von der Lehrerin als ablenkende Tätigkeit im Unterricht eingeschätzt wurde, ist für Nina<br />

Ausdruck eines Rechts des Kindes und ein Recht ihrer Person, die nicht nur in der<br />

Schülerinnenrolle existiert.<br />

In ihrer Familie findet Nina einen großen Kreis interessierter Leserinnen und Leser. Eltern,<br />

Geschwister, Großeltern und weitere Verwandte haben ihren Bericht gelesen und ihn als<br />

positiv gewürdigt. Vater und Großvater haben sie auch auf das Kritzeln angesprochen. Auf<br />

Ninas Frage in diesem Kreis, ob sie das „Kritzeln“ aufgrund des Lehrerurteils künftig<br />

abstellen müsse, erfährt sie eher Ermutigung für die eigene Einstellung. Nina solle sich diese<br />

Freiheit bewahren und nicht zur ausschließlich angepassten Schülerin werden.<br />

Setzt man beide Wörter zusammen, die Nina für ihre Tätigkeit nennt, nämlich Malen und<br />

Spielen, und bildet daraus das Wort Malspiel, dann erkennt man, dass der Wunsch nach<br />

kindlichem Spiel einerseits und ernsthafter zeichnerischer Ambition andererseits zueinander<br />

in Beziehung geraten. Beide Teile spiegeln einen Ausschnitt ihrer Persönlichkeit, die<br />

zwischen der Rolle des Kindes in sich und der der Schülerin zu wechseln versucht. <strong>Die</strong><br />

Familie sieht zunächst das Kind Nina. Durch den Bericht erfährt sie etwas über die Schülerin<br />

Nina. <strong>Die</strong> Familie traut ihr zu, eigenverantwortlich mit den unterschiedlichen Bedürfnissen<br />

umzugehen: „... also ganz die Gute sein ...(das ist) auch ein bisschen doof und dann hat er<br />

(der Vater, Anm.) gesagt, wenn ich das verbessern will, soll ich das machen, und wenn nicht,<br />

kann ich das auch so lassen.“ Nina kann selbstbewusst mit diesem Urteil umgehen, sie ist<br />

auch in der Lage, es familiär zu besprechen und ihre Position dazu zu verdeutlichen. Darüber<br />

hinaus hat sie ihren Bericht aber auch als ein Instrument begriffen, dass zum Dialog einlädt<br />

und offen ist für Entgegnungen und Widersprüche. Sie teilt ihrer Lehrerin ihre eigene und die


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 181<br />

Meinung ihrer Familie mit und bewirkt damit, dass ihre Lehrerin zwar nicht vom Urteil<br />

ablässt, ihr aber einen „Spielraum“ im Unterricht zugesteht, dessen Grenzen sie dennoch<br />

definiert: „... ja, ein bisschen spielen kannst Du nun auch noch, aber nun nicht den ganzen<br />

Unterricht über.“<br />

Für Nina ist das Berichtszeugnis eng mit ihrer Person verbunden und deshalb auch ein Stück<br />

Literatur, das immer wieder gelesen wird. Der Text liefert Erkenntnisse über sich selbst, ruft<br />

zur Auseinandersetzung auf und ermöglicht ihr einen intra-individuellen Vergleich mit<br />

früheren Entwicklungsstadien ihrer Person. Nina hat die Kopien ihrer <strong>Berichte</strong> an der Wand<br />

über ihrem Schreibtisch angebracht, so dass sie jederzeit ohne elterliche Erlaubnis<br />

selbstbestimmt lesen und sich mit den Texten auseinandersetzen kann. Der Bericht erhält so<br />

einen hohen Gebrauchswert und ist ein Text, der Nina begleitet. Für Nina sind <strong>Berichte</strong><br />

Kommunikationsanlässe über einen Ausschnitt ihrer Schulbiografie. <strong>Die</strong> Lehrerin, der<br />

Familienkreis und die Tischgruppe haben daran Anteil.<br />

Nina sieht dabei nicht nur sich, sondern erfährt durch das Lesen der <strong>Berichte</strong> von<br />

Mitschülerinnen und Mitschülern auch die Individualität der anderen. Nina sucht auch nach<br />

dem Wahrheitsgehalt der Urteile ihrer Lehrerin. Im Interview räumt sie beispielsweise ein,<br />

dass die Beurteilung ihrer Schwatzhaftigkeit Gründe hat und sie auch bereit ist, sich zu<br />

ändern.<br />

Ninas bisherige Erfahrungen mit Berichtszeugnissen veranlassen sie, <strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

abzulehnen. Sie betont im Gespräch durch ihre kurze, stark betonte Sprechweise die<br />

Etikettierung, die <strong>Noten</strong>prädikate mit sich bringen und deren Folgen sozialer Vergleiche für<br />

das Klassenklima: „Niklas ... sagt dann, guck mal, ich hab `ne Eins und was hast du? Muss<br />

ich sagen: Ich hab `ne Vier. Bäh, bäh, bäh, ich hab `ne Eins und du bist ganz schlecht.“<br />

Berichtszeugnisse hingegen zeigen in Ninas Wahrnehmung Urteilsnuancen: „...in den Sachen<br />

bist du gut, aber manchmal bist du auch schlecht.“ <strong>Die</strong>se Urteile, so zeigen ihre eigenen<br />

Erfahrungen, sind verhandelbar. Sie sind keine festen unumstößlichen Größen, sondern im<br />

Dialog zu klären und ggf. zu revidieren. In diesem Sinne gehört Nina zu den Rezipientinnen,<br />

die lesen und verstehen und dabei Intellekt und Emotionalität zum Ausdruck bringen können.<br />

Für Nina ist der Umgang mit den <strong>Berichte</strong>n problemlos möglich. <strong>Berichte</strong> schreiben und<br />

<strong>Berichte</strong> lesen stehen in diesem Fall in einem gleichgewichtigen Verhältnis zueinander.<br />

Sprache als Medium und Anlass zur Selbstreflexion gehört zur Welt dieses Kindes. Für die<br />

Berichtspraxis, die Nina erfährt, heißt das, dass die Sprachlichkeit als Chance zur<br />

Selbstaufklärung, zur Selbstreflexion und zur Verbesserung des Lernens genutzt werden kann.<br />

Hier besteht die Möglichkeit, durch textliche Nuancen und das Gespräch über den Bericht


Seite 182 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

jene dialogische Komponente zu kultivieren, die eine der eigentlichen Stärken des<br />

Instruments der <strong>Berichte</strong> ist: Für Nina sind die Berichtszeugnisse Interpretations- und<br />

Kommunikationsangebote.<br />

5.4.1.2. Das Berichtszeugnis: Kreativität braucht Spiel und Pausen<br />

Das Berichtszeugnis von Nina liest sich nahezu wie ein durchgehendes, alle Lernbereiche<br />

einschließendes Lob. Der Text beginnt mit einer zusammenfassenden Einschätzung ihrer<br />

Sozialkompetenz. Nina ist kontaktfreudig und bindet durch ihre freundliche Art viele<br />

Mitschülerinnen an sich. Außerdem sorgt sie in der Klasse dafür, dass allen Gerechtigkeit<br />

widerfährt und auch in schwierigen Situationen Kritik angemessen formuliert wird: „In der<br />

Klassengemeinschaft beweist du Verantwortungsgefühl und Gerechtigkeitssinn und kannst<br />

Kritik in angemessener Form äußern.“<br />

Bezogen auf ihr Unterrichtsverhalten fällt die Einschätzung allerdings nicht so positiv aus.<br />

Ihre Mitarbeit ist nicht kontinuierlich, obgleich Nina zu guten Beiträgen fähig ist. Den Grund<br />

dafür sieht ihre Lehrerin darin, dass sie sich ablenkt und in spielerische Aktionen verfällt, die<br />

sich konträr zur eingeforderten Arbeit verhalten: „Oft aber sehe ich dir die Unlust an, dann<br />

kritzelst, spielst und träumst du und bist nur schwer zur Arbeit zu motivieren.“ Nina scheint<br />

dennoch nicht den Anschluss an den <strong>schulische</strong>n Lernstoff zu verlieren, denn sie erledigt ihre<br />

Aufgaben beispielsweise im Bereich der Freiarbeit und der Wochenpläne mit Sorgfalt. Auch<br />

an der Ausführung der Hausarbeiten, als Übungsstoff der Stunden, findet die Lehrerin<br />

Gefallen. Offensichtlich braucht Nina ab und zu diesen Rückzug auf ihre eigene Person. Sie<br />

entzieht sich für eine Weile den Anforderungen, die die Schule an sie stellt, ohne sie dabei aus<br />

dem Blick zu verlieren. <strong>Die</strong> Lehrerin kann ihr dennoch nicht diesen Freiraum zugestehen,<br />

weil Nebentätigkeiten, die für alle sichtbar sind, den Unterrichtsablauf zumindest stören. Ob<br />

mangelnde Motivation hinter Ninas Verhalten steht, bleibt im Berichtstext zumindest<br />

fragwürdig. <strong>Die</strong> Pausen, in denen Nina kreativ „kritzelt“, entsprechen allerdings nicht den<br />

Erwartungen an eine Schülerin im Unterricht, können aber möglicherweise in Zusammenhang<br />

mit ihren kreativen Fähigkeiten stehen, auf die im Text immer wieder verwiesen wird. Sie<br />

sind so gesehen unterrichtsstörende Realisierungsaspekte der kreativen Kompetenzen, die im<br />

Berichtszeugnis ansonsten ja besonders hervorgehoben werden.<br />

Zu Ninas großen fachlichen Stärken zählt das Schreiben. Sie beherrscht die<br />

Rechtschreibregeln, wie sie in der <strong>Hamburg</strong>er Schreibprobe beweist, und kann selbständig<br />

mit großer Sprach- und Gestaltungskompetenz Texte verfassen: „Eigene Texte zu verfassen


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 183<br />

macht dir Spaß und geht dir leicht von der Hand.“ Allerdings gibt es auch hier<br />

Aufgabenbereiche, denen Nina nicht mit freudigem Lernen begegnet. So hat sie Mühe<br />

vorgefertigte Texte, die niedergeschrieben werden sollen, konzentriert aufzunehmen: „...<br />

leider konntest du dich bei den Diktaten noch nicht so gut konzentrieren.“ Ihrem Ausweichen<br />

vor eher reproduktiven Tätigkeiten wie Diktatschreiben steht ihr ehrgeiziger Wille beim<br />

künstlerischen Gestalten schriftlicher Produktionen gegenüber: „Für die äußere Gestaltung<br />

deiner schriftlichen Arbeiten, für deine Schrift und für Illustrationen verwendest du viel Zeit,<br />

manchmal fast zu viel, um deinem hohen Anspruch zu genügen. So gelingen dir kleine<br />

Meisterwerke.“ Wenn man so will, ist Nina ein Mädchen, dass schon sehr selbständig<br />

entscheidet, welche Kompetenzbereiche für sie von Bedeutung sind und in welchen sie sich<br />

besonders engagiert. Dazu gehört auch, dass sie sich bei Aufgaben, die ihr nicht so dringlich<br />

erscheinen, Phasen des Rückzugs ihrer Leistungsbereitschaft gestattet.<br />

Mehr Übung und Konzentration benötigt sie auch im Rechnen. Zwar hat sie hier im<br />

Allgemeinen sehr gute Ergebnisse erzielt, aber was das Kopfrechen und die Additions- und<br />

Subtraktionsaufgaben angeht, so fehlt es ihr noch an Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten: „...<br />

du brauchst aber noch mehr Übung.“<br />

Betrachtet man die fachlichen Rückmeldungen insgesamt, so zeigt es sich, dass in dem<br />

Bericht immer mehr Einzelkompetenzen und einzelne Lernziele des jeweiligen Unterrichts in<br />

den Blickpunkt der Auswertung von Leistungen geraten. In Sachkunde hat Nina<br />

beispielsweise engagiert mitgearbeitet und die Dokumente der Arbeit sorgfältig erstellt. Im<br />

Rechnen ist sie dem Lernstoff für das 3. Schuljahr gefolgt. In diesen Beschreibungen des<br />

Lernverhaltens geraten Ausführungen zu sozialen Situationen des Lernens und zu dem<br />

Spektrum an Tätigkeiten, die der Unterricht bietet, ins Hintertreffen. Für ein Mädchen wie<br />

Nina ist das bedauerlich, denn wer wie sie Kreativität besitzt, verlangt auch nach<br />

Kommunikation. So wäre es sicherlich interessant zu wissen, wie ihre Mitschülerinnen und<br />

Mitschüler ihre außergewöhnlichen Leistungen wahrnehmen: „Hingebungsvoll gestaltest du<br />

deine originellen Bilder ....“ Dass Nina auch ein bewegungsfreudiges Mädchen ist, beweist<br />

sie im Sportunterricht. In Leichtathletik und Schwimmen hat sie gute Erfolge erzielt, es fehlt<br />

ihr allerdings insgesamt noch an Ausdauer. An welchen Sportarten sich das zeigt, bleibt offen.<br />

Der Bericht endet mit dem formalen Hinweis auf die Versetzung in die nächste Klasse.<br />

In diesem Berichtszeugnis wird deutlich, dass die <strong>schulische</strong>n Leistungserwartungen der<br />

kindlichen Individualität, Spontanität und Selbstbestimmung Grenzen setzen. Obgleich Nina<br />

alle geforderten Leistungen in hohem Maße erbringt, stößt sie an die Grenzen der Toleranz<br />

ihrer Lehrerin. Sie kritisiert an dem ansonsten kreativen und sprachgewandten Mädchen den


Seite 184 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

spielerischen Rückzug auf sich selbst. Ob nicht gerade darin neue Kraftreserven für Nina<br />

liegen, die auch für das <strong>schulische</strong> Lernen förderlich sein könnten, bleibt eine zumindest<br />

bedenkenswerte Frage: Denn Kreativität braucht Spiel und Pausen.<br />

5.4.2 Annika<br />

Annika ist ein freundliches und selbstbewusstes Mädchen. Als ich ihr berichte, dass wir über<br />

Texte und Lesen sprechen werden, wirkt sie aufgeregt in Vorfreude auf das Gespräch und<br />

sagt: „Oh ja, das machen wir.“ Annika hat alle Fragen im Interview mit großer Konzentration<br />

und Ernsthaftigkeit beantwortet.<br />

5.4.2.1 Das Gespräch: <strong>Berichte</strong> bedürfen der Kunst des Schreibens<br />

Annika ist eine Schülerin der zweiten Klasse und besucht die Schule A. In dem Gespräch mit<br />

ihr wird ein Zusammenhang von Lesekompetenz, Textfähigkeit und souveränem Umgang mit<br />

Berichtszeugnissen deutlich. Annika ist eine engagierte Leserin. Befragt man sie nach ihrer<br />

Erinnerung an den letzten Bericht im ersten Schuljahr, so erzählt sie zuerst von ihren<br />

Leseerfahrungen: „Also ich kann sehr gut lesen und ich les auch schon ganz viele Bücher,<br />

und dass ich halt `ne gute Leserin bin.“ Im Verlauf des ersten Schuljahres hat sich Annika<br />

offensichtlich mit großer Motivation in den Erwerb der Schreib- und Lesekompetenz gestürzt<br />

und sich damit eine neue Welt erschlossen. Sie hat sich zur individuellen Leserpersönlichkeit<br />

entwickelt. Dazu gehört, dass sie sich durch das Bücherlesen Kenntnisse angeeignet und<br />

Leseinteressen entwickelt hat. Ihre Leseleistung ist für ein Kind ihres Alters beträchtlich.<br />

Annika scheut die Anstrengung nicht, Druckmedien wie Bücher zu rezipieren. Sie investiert<br />

Zeit und Engagement in einen Bereich, von dem sie sich erhofft, dass er ihr einen neuen<br />

Zugang zur Welt verschafft. Dabei sind das Lesenkönnen und das Lesenwollen eng<br />

aneinander gekoppelt. <strong>Die</strong>se Koppelung ist Ausdruck davon, dass eine Leserin wie sie sich als<br />

„lebend, werdend, handelnd und bedeutend sehen“ möchte (Matthews 1974, S. 65). <strong>Die</strong>ses<br />

aktive Handeln-Wollen zeigt sich bei Annika daran, dass sie ihre Schreibkompetenz erprobt<br />

und selbst Geschichten verfasst: „... dass ich auch so gut schreibe.“ Ihre individuelle<br />

Lesekompetenz ist dabei der Weg zur eigenen Textfähigkeit: „Und ich schreib auch gerne<br />

Geschichten. Ich hab drei solche große Seiten voll Geschichten geschrieben.“ Hieran zeigt<br />

sich, dass Lesen für Annika mehr ist als Wissenserwerb. Es ist vor allem eine Form des<br />

spielerischen und lustbetonten Umgangs mit der Sprache und damit ein Schlüssel zur<br />

Welterfahrung. Durch das Lesen als aktiven geistigen Vorgang werden bei Annika Fantasie<br />

und Kreativität angeregt. Im Schreiben findet sie ein Anwendungsfeld für ihre Fähigkeiten.


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 185<br />

Sie wird von der Rezipientin zur Produzentin. <strong>Die</strong>ser Perspektivenwechsel bewirkt, dass sie<br />

sich mit den Aufgaben ihrer Lehrerin beim Berichtschreiben identifizieren kann. Kind und<br />

Erwachsener haben so gesehen ein vergleichbares Tätigkeitsfeld, in dem die Kunst des<br />

Schreibens eine zentrale Rolle spielt. Es verwundert deshalb auch nicht, wenn Annika im<br />

letzten Teil des Gesprächs die Textgestaltung und inhaltliche Substanz von<br />

Berichtszeugnissen zum Thema macht und Schreibstandards aus Kindersicht formuliert. Sie<br />

verknüpft dabei ihre eigenen Erfahrungen beim Schreiben mit ihren<br />

Unterrichtsbeobachtungen. So wie sie für ihre Geschichten Ideen sammelt und sich um eine<br />

sachangemessene Darstellung bemüht, stellt sie sich auch vor, dass ihre Lehrerin bei der<br />

Beobachtung der Schülerinnen und Schüler vorgeht: „Also, sie schreibt sich während der<br />

Schulzeit, während dem ganzen Schuljahr geht sie manchmal an den Schreibtisch und<br />

schreibt so kleine Zettel. So würde ich mir das vorstellen erst mal.“ Annika hat eine<br />

Vorstellung davon, wie anspruchsvoll die Aufgabe der Datensammlung ist und dass sich<br />

damit ein längerer Arbeitsprozess verbindet. Sie beschreibt weiter: „Und dann wird sie sie<br />

natürlich mitnehmen und die Namen natürlich dazuschreiben und noch mal auf große Zettel<br />

aufschreiben. Und dann hat sie erzählt auch, dass ihr Mann das mit `nem Computer dann<br />

auch noch mal gedruckt hat richtig.“ Aus der Genauigkeit der Beobachtung lässt sich<br />

ablesen, dass Annika, aus eigenen Schreibinteressen heraus, sehr detailorientiert den Weg der<br />

Vorbereitung eines Textes verfolgt. <strong>Die</strong> Frage nach der Textsorte ist dabei zunächst sekundär.<br />

Vielmehr geht es im Vorfeld jeglicher Textproduktion darum, sich Anregungen zu holen, sich<br />

über Fakten und Daten Gedanken zu machen und seine Fantasie und Schöpferkraft in<br />

Bewegung zu setzen. In der Tätigkeit ihrer Lehrerin findet sie ein Identifikationsmuster für ihr<br />

eigenes Schreiben. Annika weiß, dass Beobachtungen geordnet, in eine Idee und schließlich<br />

in eine präsentable Gestalt gebracht werden müssen. Annika drückt diesen Gedanken wie<br />

folgt aus: „Es ist so viel, zwei ganze Seiten. Man muss ja auch eine Idee haben, wie du das<br />

schreibst.“ Im Falle der <strong>Berichte</strong> heißt das, dass ein Ausschnitt aus dem <strong>schulische</strong>n Lernen<br />

des Kindes dargestellt werden muss, der den Leser und die Leserin intellektuell und emotional<br />

anspricht. Bei der Leistungsbeurteilung kommt hinzu, dass auch kritische Töne geäußert<br />

werden müssen <strong>oder</strong> können. Annika weiß um die Funktion der Berichtszeugnisse und rät<br />

zum vorsichtigen Gebrauch solcher Kommentare: „Ein bisschen. Aber nicht zu viel. Weil,<br />

sonst werden die Kinder, das mögen sie dann nicht mehr, weil sie keinen Spaß mehr an der<br />

Schule haben.“ So wie zum Lesenlernen die Lesefreude gehört, gehört zum Lernwillen der<br />

Kinder aus Sicht Annikas der Spaß an der Schule. Wer entmutigt ist, wird sich nicht zu neuer<br />

Lernanstrengung bewegen lassen. Annikas weiß die Sprache der <strong>Berichte</strong> zu schätzen, weil


Seite 186 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

sie selbst mit Sprache umgehen kann. Mit ihrer Äußerung: „Da steht dann, in Mathe hast du<br />

meinetwegen `ne Drei und dann weißt du ja nicht, wie gut du da warst“ drückt sie aus, dass<br />

die Note sich nicht von sich aus erläutert. Das Wort hingegen lädt zur Gegenrede ein und<br />

fordert den Leser und die Leserin heraus. Deshalb ist es für sie auch selbstverständlich, dass<br />

sie mit ihrer Lehrerin über Urteile sprechen und sie im Dialog erörtern kann.<br />

Annika lebt in einer Familie, die aufmerksame Rezipienten sind und ihren <strong>schulische</strong>n<br />

Werdegang mit Interesse verfolgen. <strong>Die</strong> Tatsache, dass ein größerer Familienkreis an der<br />

Lektüre der Berichtszeugnisse Anteil hat, ist für Annika Belohnung genug. <strong>Die</strong> sozial-<br />

emotionale Dimension der Leseerfahrung bedarf keiner zusätzlichen Belohnungen: „... wir<br />

waren alle fröhlich an dem Tag.“ Jedoch haben Berichtszeugnisse für sie einen so stark<br />

privaten Charakter, dass sie nur vertrauten Leserkreisen gezeigt werden können. Dazu<br />

gehören die Familie und Freunde. Dass für die Lektüre der Zeugnisse Vertrauen und relative<br />

Abgeschiedenheit notwendig sind, hat sie auch in der Schule erfahren. Bei der Vergabe, die<br />

Annika als „aufregend“ empfunden hat, hat sie in einem abgelegenen Raum ihren Bericht<br />

empfangen und im Beisein erwachsener Betreuer lesen können. Dabei ist sie über einige im<br />

alltäglichen Sprachgebrauch eher ungewöhnliche Worte wie „gewidmet“ gestolpert, hat aber<br />

ansonsten ihren Bericht verstanden. <strong>Berichte</strong> stoßen auch bei Annika und ihrer Familie auf<br />

kompetente Rezipienten. Annika bringt mit ihrer Sprach-, Lese- und Sozialkompetenz nicht<br />

nur die besten Voraussetzungen für die Rezeption von <strong>Berichte</strong>n mit, sondern auch die<br />

Fähigkeit zur reflektierenden Betrachtung dieser Art von Beurteilung. Als Geschichten-<br />

schreiberin weiß sie die Kunst des Schreibens zu schätzen und mit ihr umzugehen. <strong>Die</strong>ser<br />

Zusammenhang belegt, dass in einem solchen sprachorientierten Kontext Berichtszeugnisse<br />

einer differenzierten Wahrnehmung gewärtigen müssen. Hohe Ansprüche an die Textqualität<br />

sind auf einem solchen Niveau naheliegend.<br />

5.4.2.2 Das Berichtszeugnis: Lernen ist persönlich bedeutsam<br />

Annika hat ihren Eintritt in die Schulzeit mit großem Ernst begonnen. Sie ist allen<br />

Anforderungen mit Kompetenz begegnet. Ihre Lehrerin beschreibt sie als tüchtig. Sie nimmt<br />

nicht nur die Herausforderungen der Aufgaben an, sondern versucht auch soziale<br />

Verantwortung für die Klasse zu übernehmen: „Du bist immer bereit, Aufgaben zu<br />

übernehmen. Dabei kannst du recht geduldig und verständnisvoll mit anderen sein.“ Annika<br />

stellt hohe Erwartungen an sich selbst und bedarf nicht erst der Herausforderung durch die<br />

Lehrerin. Ihre ausgeprägte Zielstrebigkeit hindert sie allerdings bisweilen daran, auch Fehler,


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 187<br />

die zum Lernprozess gehören, auszuhalten: „Zum Lernen braucht man Fehler, auch wenn<br />

man so tüchtig ist wie du.“<br />

Beim Blick auf die fachbezogenen Leistungen von Annika hebt die Lehrerin insbesondere<br />

ihre für das erste Schuljahr erstaunliche Sprachkompetenz hervor. Annika beherrscht<br />

Rechtschreibregeln, schreibt korrekt und hat in der <strong>Hamburg</strong>er Schreibprobe zu einer<br />

ausgesprochen guten Leistung gefunden. Darüber hinaus ist sie eine Geschichtenschreiberin,<br />

die auch gerne Klassenbriefe verfasst. Offenkundig nutzt Annika ihre Schreibfähigkeit als<br />

Basiskompetenz, um ihrer Fantasie in Geschichten Ausdruck zu verleihen. Sie erwirbt sich<br />

also das handwerkliche Fundament ihres Schreibens dadurch, dass sie die Regelhaftigkeit der<br />

deutschen Sprache mit Interesse und Korrektheit aufnimmt: „Du kannst große und kleine<br />

Buchstaben sicher und gleichmäßig aufschreiben, Linien als Schreibhilfe annehmen und ein<br />

schönes Schreibergebnis auf den Tisch legen.“ <strong>Die</strong> Lehrerin scheint diesen Zusammenhang<br />

zu sehen, denn sie beschreibt sehr ausführlich, welche Kompetenzen Annika erworben hat.<br />

Dass Schreiben und Lesen untrennbar miteinander verknüpft sind und eine weitere<br />

Entwicklungsstufe für Annika bedeuten, wird in dem sich anschließenden Abschnitt deutlich.<br />

Für Annika hat das Lesen eine hohe Attraktion: „Du bist ein tüchtiger Leser.“ Auch in<br />

diesem Bereich erwirbt sie sich durch beständige Übung und das Praktizieren des Lesens die<br />

Kompetenz, die Differenziertheit der Sprache zu entdecken und mit ihr umzugehen. Annika<br />

kann lautieren, beherrscht die prosodischen Voraussetzungen der Textpräsentation und<br />

versteht die Semantik von Texten. <strong>Die</strong>s wiederum mag Auswirkungen auf ihr Schreiben<br />

haben. Denn wer viel liest, prägt sich die Gestalt von Wörtern ein und lernt neue kennen.<br />

Auch als Vorleserin hat Annika eine aktive Rolle in der Vermittlung literarischer Inhalte<br />

übernommen. Sie zeigt also nicht nur im Blick auf ihre Schreibfähigkeit und Lesekompetenz<br />

ihre Leistungsfähigkeit, sondern auch bezogen auf die Textrezeption ihr geschultes<br />

Leseverhalten: „Du bist immer ein aufmerksamer Zuhörer, ...(du) gehst richtig mit und<br />

behältst von der einen zur anderen Geschichte alle Ergebnisse bis in die Einzelheiten.“ Wer<br />

selbst liest, weiß, dass im Lesen Wissens- und Erfahrungsschätze verborgen sein können und<br />

sich Lust am Detail einstellt. Dass bei Annika dabei sowohl kognitiv-reflexive als auch<br />

emotionale Komponenten ihrer Persönlichkeit angesprochen werden, zeigt sich darin, dass sie<br />

Gehörtes genau aufnimmt und mit fachlicher und sozialer Kompetenz das<br />

Unterrichtsgeschehen erneut bereichert: „Wie genau du dir alles merken kannst und es<br />

behältst, wird auch im Morgenkreis deutlich, wenn du uns von dir erzählst. Du meldest dich<br />

häufig an und bist ein guter Leiter, der mit Übersicht die Liste führt.“


Seite 188 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

<strong>Die</strong> Kompetenz der Sorgfältigkeit kommt Annika auch in anderen Bereichen zugute. So ist sie<br />

eine sichere Rechnerin, die alle unterrichtlichen Anforderungen mit Können meistert: „Du<br />

bist eine ausgezeichnete schnelle Rechnerin.“ Dennoch zeigt sich ihre Passion hauptsächlich<br />

im künstlerisch-kreativen Bereich. Hier arbeitet sie mit Akkuratesse und Selbständigkeit.<br />

Arbeiten, die die eigene Gestaltungsfähigkeit durch vorgegebene Formen einschränken,<br />

erfüllt sie hingegen nicht so gerne: „Mit viel Überlegung und Geschick führst du Formen<br />

genau aus. Da wundert es nicht, dass du lieber selbst zeichnest, als Anmalaufgaben zu<br />

übernehmen.“ Auch an dieser Stelle wird die Lehrerin besonders ausführlich in ihrer<br />

Beschreibung. Sie weiß, dass diese Bereiche für Annika wichtig sind und würdigt sie<br />

entsprechend.<br />

Auch in Musik und Kunst hat Annika viel Neues hinzugelernt und schnell zu sicherer<br />

Handlungsfähigkeit und Teilnahme am Unterrichtsgeschehen gefunden. <strong>Die</strong> Lehrerin schließt<br />

mit der Bemerkung, dass sie und andere Kollegen sich auf die weitere Zusammenarbeit mit<br />

Annika freuen: „Wir freuen uns auf die 2. Klasse mit dir.“<br />

In der Beschreibung von Annikas Lernen kommt vor allem zum Ausdruck, wie wichtig<br />

<strong>schulische</strong>s Lernen für die Kinder ist. <strong>Die</strong> Schule wirkt als Ort, an dem Angebote gemacht<br />

werden, die den Interessen und Kompetenzen eines lernwilligen und aufgeweckten Mädchens<br />

wie Annika entgegenkommen und die sie zu nutzen weiß. Darin erscheint die Lehrerin als<br />

Begleiterin, die ein Gefühl hat für das, was die Schülerin an Aufmerksamkeit und<br />

Rückmeldung in den ihr wichtigen Bereichen braucht: Lernen ist für Annika persönlich<br />

bedeutsam.<br />

5.4.3 Hakan<br />

Hakan ist ein türkischer Junge. Er wirkt sehr verschlossen und meidet den Blickkontakt zu<br />

mir. Es blieb bei mir der Eindruck, dass das Reden über die eigene Person und über Dinge,<br />

die ihn persönlich betreffen, für ihn eine große Anstrengung bedeutete. Mitunter war die<br />

psychische Anspannung von Hakan deutlich spürbar.<br />

5.4.3.1 Das Gespräch: <strong>Berichte</strong> brauchen den aktiven Leser<br />

<strong>Die</strong> Analysen der Gespräche mit Nina und Annika haben gezeigt, dass Kinder, die in einem<br />

interaktionsreichen Klima aufwachsen, wo die Familienmitglieder Offenheit und<br />

Kommunikation pflegen, günstige Bedingungen mitbringen, ein aktives Leseverhalten zu<br />

entwickeln. <strong>Die</strong>s kommt insbesondere der Rezeption von <strong>Berichte</strong>n zugute, denn der Umgang<br />

mit Sprache ist ihnen vertraut. Es gibt aber auch Kinder, die nicht unter solchen


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 189<br />

Voraussetzungen heranwachsen und deren Sprachkompetenz und Lesefähigkeit erst durch die<br />

Schule entwickelt und gefördert werden müssen. In einem solchen Fall ist der Zugang zum<br />

Verständnis verbaler Beurteilungstexte erschwert.<br />

Hakan, ein Junge aus der 3. Klasse der Schule B, ist kein aktiver Leser, der selbsttätig das<br />

geschriebene Wort aufnimmt, es in mündlicher Kommunikation in einer sozialen Situation<br />

diskutiert und um das Verstehen ringt. Er tut sich sowohl mit dem geschriebenen als auch mit<br />

dem gesprochenen Wort schwer. Das zeigt sich auch in unserem Gespräch: Im Interview<br />

schweigt er zu vielen Fragen. Wenn er antwortet, dann spricht er in Fragmenten, ohne die<br />

syntaktischen Regeln des deutschen Satzbaus zu beachten: „Nicht nötig. Einer ist gestorben.<br />

Noch Brüder.“ <strong>Die</strong> Satzverkürzungen lassen das von ihm inhaltlich Gemeinte nur ahnen und<br />

erschweren im Gespräch den Zugang zu seinen Gefühlen, Einstellungen und Meinungen zum<br />

Bericht. Doch scheint nicht nur sein aktiver, sondern auch sein passiver Wortschatz gering,<br />

denn von seinem Berichtszeugnis hat er nur „ein bisschen“ verstanden. <strong>Die</strong> Lehrerin hat ihm<br />

eine Verständnisbrücke zum Bericht bauen wollen, indem sie ihm den Text vorgelesen hat.<br />

Dennoch hat sich ihm der Inhalt nicht hinreichend erschlossen. Es liegt die Vermutung nahe,<br />

dass hier das Vorlesen keine dialogische Komponente hatte, die Hakan mit seinen Fragen<br />

einbezieht <strong>oder</strong> beharrlich Rückfragen stellt. Hakan hört zu und bleibt passiv. Er gibt auch an,<br />

dass er das Zeugnis gerne nochmals mit der Lehrerin durchgesprochen hätte. Jedoch fällt es<br />

ihm sicherlich schwer, seine Interessen über Sprache zu artikulieren und deren<br />

Berücksichtigung einzufordern. Ob die Lehrerin ihm entsprechende Angebote gemacht hat, ist<br />

auch im Interview nicht zu klären. <strong>Die</strong> Rezeption des Berichts wird also durch mehrere<br />

Faktoren erschwert, die sowohl beim Schüler als auch in der beurteilenden Lehrkraft zu<br />

suchen sind: Zum einen sind es Hakans eingeschränktes Sprachvermögen und die fehlende<br />

Kompetenz, sich aktiv, auch in Eigeninitiative, einen Text zu erschließen. Zum anderen ist es<br />

die mangelnde Individualisierung einer Lesesituation durch die Lehrerin, die die<br />

Voraussetzungen eines Kindes nicht aufnimmt, dass nicht so selbstverständlich mit Sprache<br />

umgeht. Wenn Lehrerinnen und Lehrer dem individuellen Kind gerecht werden wollen,<br />

müssen sie gerade diesen Aspekt der Chancenungleichheit in der Aufnahme beachten. Dass<br />

das Zeugnis dennoch nicht ohne Wirkung bleibt, deuten seine Äußerungen an, dass er sich<br />

„ein bisschen“ über die geäußerte Kritik seines Sozialverhaltens geärgert hat und dass er<br />

glaubt, noch fleißiger arbeiten zu müssen. In welchen Bereichen dies sein soll, weiß er<br />

allerdings nicht. Zumindest sagt er es nicht.<br />

Auch in seiner Familie findet er keine lesenden Vorbilder, die ihn zum kreativen Umgang mit<br />

der Sprache herausfordern <strong>oder</strong> gar Lesen näher bringen. In Hakans Familie scheint ein


Seite 190 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

leseunfreundliches Klima vorzuherrschen. Das Berichtszeugnis ist nicht gelesen worden.<br />

Hakan spricht im Interview zwar davon, dass einem Familien-Besuch der Bericht gezeigt<br />

wird, doch sich niemand mit dessen Inhalten auseinander setzt. Hakan findet es dennoch<br />

„gut“, dass wenigstens dort dem Dokument eine formale Beachtung geschenkt wird. <strong>Die</strong><br />

Eltern nehmen also keine der internen Informationen des Berichtszeugnisses über die<br />

Entwicklung ihres Kindes im Bereich des <strong>schulische</strong>n Lernens auf. Hakan erfährt so keine<br />

Beachtung und Auseinandersetzung mit seiner Person. Möglicherweise hat das zur Folge,<br />

dass er sich selbst nicht wichtig nimmt und es deshalb auch als nicht notwendig ansieht, dass<br />

seine Lehrerin etwas über ihn schreibt: „Nicht nötig.“<br />

Hakan hat von sich aus keine Erinnerung an das letzte Berichtszeugnis. Obgleich er diese<br />

Zeugnisform besser findet als <strong>Noten</strong>, hat sie für ihn lediglich die Funktion eines<br />

Übergangszertifikats: „... dass man in eine andere Klasse kommt.“ <strong>Die</strong> eigentlichen<br />

pädagogischen Funktionen erkennt er nicht, weil er selbst offensichtlich keine fördernde<br />

Konsequenz in der Schule erfährt, die er mit seinem Zeugnistext in Beziehung setzen könnte.<br />

Hakan ist zu Hause ein wenig gefördertes Kind und bleibt es möglicherweise auch in der<br />

Schule. Als ein Kind, das eher mit Händen denn mit Worten handelt, hat er es schwer, in die<br />

Kommunikationsstrukturen der Schule hineinzuwachsen und sich dort zu behaupten. Im Blick<br />

auf das Förderinstrument „Berichtszeugnis“ muss aus der Perspektive dieses Interviews zur<br />

Kenntnis genommen werden, dass die Sprache der <strong>Berichte</strong> nur von dem verstanden wird, der<br />

diese Sprache spricht. Wird bei der Berichtspraxis diese Voraussetzung nicht gewürdigt,<br />

entfremdet sich das pädagogische Instrument von seinem eigentlichen Zweck. Denn <strong>Berichte</strong><br />

erwarten den aktiven Leser, der zur Kommunikation fähig ist. Für Schülerinnen und Schüler<br />

wie Hakan sind deshalb andere Vermittlungs- und Verständigungsprozesse notwendig, über<br />

die im Kontext der Leseförderung der Schule, als Voraussetzung zur Rezeption von<br />

<strong>Berichte</strong>n, nachgedacht werden muss.<br />

5.4.3.2 Das Berichtszeugnis: Kleine Schritte sind zu wenig<br />

Das Berichtszeugnis von Hakan beginnt mit einem positiven Urteil: Er ist selbstbewusst<br />

geworden und hat zu seinen Mitschülerinnen und Mitschülern Sozialkontakte geknüpft. <strong>Die</strong><br />

Qualität dieser Beziehungen lässt allerdings, wie die Lehrerin weiter ausführt, zu wünschen<br />

übrig. Hakan verletzt Klassenregeln und wendet verbale und körperliche Gewalt an. Eine<br />

Erklärung <strong>oder</strong> Erläuterung dieser Verhaltensauffälligkeit wird im Text nicht gegeben. <strong>Die</strong><br />

Lehrerin fährt fort, in dem sie sein Tun als für ihn hinderlich einschätzt. Vor allem befürchtet<br />

sie, dass dadurch der Fortgang des <strong>schulische</strong>n Lernens beeinträchtigt ist: „Das ist schlecht


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 191<br />

für dich und das musst du wieder ändern, Hakan. Es hält dich davon ab, genug zu lernen.“<br />

Dahinter steht vermutlich folgender Gedanke: Wer seine Kräfte im Geflecht sozialer<br />

Beziehungen verbraucht, hat keine Konzentration und Willenskraft mehr für den eigentliche<br />

Sinn <strong>schulische</strong>n Lernens, der fachlichen Qualifizierung. Zu dieser Dimension des Lernens<br />

gehört auch, dass Hausaufgaben mit Sorgfalt und Kontinuität erledigt werden. Gerade<br />

Letzteres scheint ein Problem für Hakan darzustellen, denn da und dort weicht er<br />

Anforderungen aus und entschuldigt sich mit seinem Unvermögen: „Du behauptest oft, du<br />

konntest sie nicht, dabei bist du nur zu faul gewesen.“ Den Hinweis auf den<br />

Schwierigkeitsgrad der Aufgaben lässt die Lehrerin nicht gelten. Ihre Diagnose klingt hart<br />

und eindeutig: Hakan scheut die Mühe intensiver Arbeit und gibt sich faul. Sie rät ihm, sich<br />

wieder engagiert um seine Schulbelange zu kümmern, da sie glaubt, dass er kognitiv dazu in<br />

der Lage ist: „Bitte versuche wieder, dich mit Mühe und Lust um die Schuldinge zu kümmern,<br />

damit du im nächsten Schuljahr weiter Fortschritte machen kannst.“<br />

Obgleich dies ermutigend klingt, kann es nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Autorin und<br />

Beurteilerin nur die Oberflächenphänomene des Lernverhaltens von Hakan zu polieren<br />

versucht. Denn sie fragt nicht nach den emotionalen Gründen des Verhaltens und nimmt in<br />

der Folge mangelnder Diagnose auch nicht die möglichen Ursachen eines lernhemmenden<br />

Verhalten in den Blick. Aus ihrer Sicht sind Lernfortschritte bei Hakan dadurch zu erreichen,<br />

dass er Streitereien unterlässt, seine Hausaufgaben erledigt und Anstrengungsbereitschaft<br />

zeigt.<br />

Nach dieser allgemeinen Einschätzung konzentriert sich das Berichtszeugnis auf eine<br />

genauere Beschreibung fachlichen Lernens. Dabei fällt in den Bereichen Schreiben,<br />

Sachkunde und Rechnen ein Schreibmuster auf, dass eng mit dem Aussprechen von Lob und<br />

Tadel verknüpft ist. Zweifellos hat Hakan im Verlauf des Schuljahres einen Lernzuwachs<br />

gehabt. Er liest inzwischen gern und beteiligt sich am mündlichen Unterricht. Allerdings hat<br />

das Lob der Lehrerin auch seine Kehrseite, denn Hakan hat gemessen an den curricularen<br />

Erwartungen noch nicht erreicht, was von ihm gefordert wurde: „Du liest zwar gern, aber<br />

immer noch recht langsam. ... In der Sachkunde nimmst du am mündlichen Unterricht oft mit<br />

Interesse teil und behältst die neuen Wörter auch meist gut. Aber Zusammenhänge zu<br />

begreifen, fällt dir noch recht schwer.“ So gesehen vollzieht sie eine Leistungsfeststellung in<br />

einem klar definierten Rahmen von erreichten und nicht erreichten Zielen. Gerade unter dem<br />

Gesichtspunkt, dass Hakan offensichtlich Anleitung und besondere Förderung braucht, um<br />

sein logisches Denken zu schulen und Arbeitstugenden zu entwickeln, erscheint diese Form


Seite 192 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

des Urteils problematisch. Denn es erweckt den Eindruck, dass Hakan selbst und völlig<br />

alleine für eine Änderung seiner Lernverhältnisse Sorge tragen muss.<br />

Kreative und sportliche Aktivitäten bereiten Hakan aus Sicht seiner Lehrerin Freude.<br />

Allerdings zeigen sich auch im Sportunterricht, wo Hakan - bemerkenswerterweise auch<br />

sprachlich transponiert in eine <strong>Noten</strong>skala – „befriedigende bis gute Leistungen erbringt“,<br />

Spannungen. Dadurch, dass er sein Sportzeug häufig vergisst, gefährdet er den ordentlichen<br />

Ablauf des Unterrichts. Außerdem neigt er auch hier zur Gewaltanwendung und zum<br />

Kräftemessen vor allem mit den Mädchen: „In letzter Zeit bist du oft in Streitereien<br />

verwickelt und nimmst dir das Recht, andere – besonders Mädchen – zu treten und zu<br />

schlagen.“ Bezieht man den Anfang und das Ende des Textes aufeinander, so bleibt die Frage<br />

offen, was in den letzten Monaten dazu geführt hat, dass Hakan in dieser Weise auf sich<br />

aufmerksam zu machen versucht. Auch hier gibt die Lehrerin wieder eine Bewertung ab:<br />

„Das ist nicht in Ordnung. Hakan, das muss wieder aufhören.“ Der Schlusssatz des Berichts<br />

zeigt an, dass Hakan in die nächste Klasse versetzt wird.<br />

In diesem Bericht verblasst die Qualität der kleinen Entwicklungsschritte. Hakan konnte den<br />

Erwartungen der Lehrerin nicht begegnen, obwohl er nach Maßgabe seiner Fähigkeiten<br />

Fortschritte gemacht hat. In vielen Bereichen, die aus der Perspektive der Lehrerin den<br />

Unterricht funktional und effektiv halten, wie das Beherrschen von Lernstoff,<br />

Konzentrationsfähigkeit, Fleiß und ein unauffälliges Sozialverhalten, hat Hakan Lücken und<br />

Probleme, zu deren Lösung er selbst beitragen muss: eben durch Lernen in kleinen Schritten.<br />

5.4.4 Yang<br />

Yang kommt aus Vietnam. Er besucht die dritte Klasse der Schule B und lebt offenbar schon<br />

einige Zeit in Deutschland; denn er ist an dieser Schule eingeschult worden und versteht die<br />

deutsche Sprache sehr gut. Yang wächst bei seiner Mutter auf, die ihn alleine erzieht. Er ist<br />

ein sehr quirliger Junge, der ungeduldig auf das Interview wartet, ein Junge, der das Gespräch<br />

sucht. Als er aufgefordert wird, sich zu setzen, sagt er: „Nun reden wir über mich und meinen<br />

Bericht.“<br />

5.4.4.1 Das Gespräch: <strong>Berichte</strong> stiften Vertrauen für das Lernen und für den Umgang<br />

mit Menschen<br />

Das Gespräch mit Yang beginnt mit der Formulierung eines allgemeinen Eindrucks, den er<br />

von seinem Berichtszeugnis hat: „Ja, eigentlich gut, aber manchmal stehen da auch so<br />

schlechte Sachen, das gefällt mir nicht.“ Bereits in dieser Aussage wird ein bedeutsames<br />

Motiv für Yangs Lernen deutlich. Er ist wissbegierig und ehrgeizig. Sein Bericht soll positiv


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 193<br />

sein, eine Bescheinigung erfolgreichen Lernens und nachgewiesener Leistungsfähigkeit.<br />

Wenn in seinem Berichtszeugnis Kritik geäußert wird, erscheint ihm dies wie ein Makel am<br />

Bild des erfolgreich Lernenden. Ein Lernbereich, in dem Yang in besonderer Weise nach<br />

Kompetenz und Wissenszuwachs strebt, ist die deutsche Sprache. Mit Fleiß hat er es<br />

geschafft, sowohl Schriftsprache als auch Grammatik zu verbessern. Dazu, so erzählt er, hat<br />

er auch zu Hause Zeit aufgewendet. Er hat Übungseinheiten bearbeitet und sich Buchstaben<br />

und Satzkonstruktionen anhand von abgeschriebenen Geschichten angeeignet. Besonders<br />

freut ihn, dass er sich im Vergleich zum letzten Berichtszeugnis verbessert hat und seine<br />

Lehrerin diese Leistungssteigerung im aktuellen Text anerkennt.<br />

Zur hier gemeinten Sprachkompetenz gehört das Lesen. Auch dabei hat Yang Fortschritte<br />

gemacht. Beachtenswert ist das Lob, das er über sich selbst ausspricht. Es klingt wie aus dem<br />

Mund der Lehrerin: „Yang, du bist sehr gut beim Lesen geworden. Viel Glück und mach<br />

weiter so.“ Dass er sich an diese Formulierung so genau – er greift ja die von der Lehrerin im<br />

Berichtszeugnis gewählte Sprachform auf – erinnert, lässt darauf schließen, dass er genau auf<br />

Beurteilungen seines Lernens achtet.<br />

Geärgert hat sich Yang über eine Bemerkung zum Geschichtenschreiben. Allerdings, so<br />

räumt er ein, stand die im vorangegangenen Zeugnis. Yang hat sie nicht vergessen und<br />

bewahrt sich offenbar eine genaue Erinnerung an andere Beurteilungstexte als nur die jeweils<br />

aktuellen. Danach gefragt, worüber er sich geärgert habe, antwortet er: „Ja, an dem<br />

Geschichtenschreiben ... das ist beim anderen (Berichtszeugnis, Anm.).“ Seine genaue<br />

Textkenntnis bezieht er aus Eigenlektüre. Er befasst sich mit den Berichtszeugnissen, wenn es<br />

ihm „... langweilig ist.“<br />

Offenkundig scheint Yang in Zeiten, in denen er nach einer Beschäftigung sucht, auch an<br />

seine Berichtszeugnisse zu denken. Sie haben etwas mit seiner Person zu tun und regen ihn<br />

an, über sich nachzudenken. <strong>Die</strong> Lektüre scheint sein zielbezogenes Lernen zu stimulieren,<br />

denn er zieht praktische Rückschlüsse aus den Texten: „Dann weiß ich wieder, was ich noch<br />

üben soll.“ Yang nimmt seine Texte ernst und liest sie als Ausdruck von Individualität, so<br />

dass es ihm problemlos möglich ist, sie als Hinweis zur Optimierung seines Lernens zu<br />

nehmen. Fast scheint es so, dass sie ihm auch eine Hilfe dafür sind, sich in der Welt, in der er<br />

lebt, zurechtzufinden. Im Gespräch fällt zudem auf, dass seine Berichtszeugnisse zu Hause<br />

einen besonderen Platz haben.<br />

Yang ist ein Schüler, der Kommunikation nicht nur über die Schriftsprache, sondern auch<br />

insbesondere über das gesprochene Wort sucht. Mit seiner Lehrerin über den Bericht zu<br />

sprechen <strong>oder</strong> etwas nachzufragen, ist für ihn selbstverständlich. Er erläutert im Gespräch,


Seite 194 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

dass er Wörter wie beispielsweise „kurios“, wenn er sie nicht genau versteht, eben nachfragt.<br />

Dass Texte über ihn nur von ihm nahestehenden Menschen gelesen werden, ist Yang wichtig.<br />

Das betrifft zunächst seine Mutter: „Ja, manchmal muss ich übersetzen. So komische Wörter,<br />

die richtig geschrieben worden sind, aber meine Mutter kann das nicht lesen.“ Sehr genau hat<br />

er auch ihre Reaktion auf das Berichtszeugnis wahrgenommen. Gute Zeugnisse werden mit<br />

Lob versehen und Yang genießt eine Belohnung, so z.B. zusätzliche Zeiten, in denen er<br />

spielen darf. Er benennt auch die Erwartungen, die seine Mutter an seine Leistungsfähigkeit<br />

stellt. So soll er in Mathematik zu guten Leistungen finden: „Wenn ich in Mathe so gut werde,<br />

noch besser.“ Seine Mutter gibt ihm zugleich den Weg vor, über den er zu mehr Leistung<br />

finden soll: „Du musst jeden Tag eine Stunde arbeiten und üben.“ Dass Yang sich diese<br />

Anweisungen zum Arbeitsverhalten zu eigen gemacht hat, belegt auch seine Einschätzung<br />

eigener Lernfortschritte beim Geschichten schreiben, wo er diese Arbeitsethik umgesetzt hat.<br />

Der Berichtstext ist für Yang so wichtig, dass er keinen Spott akzeptiert, den andere<br />

formulieren könnten. Er zeigt seinen Freunden, vornehmlich vietnamesischen Kindern, den<br />

Text, eben solchen, die ihm freundschaftlich verbunden sind und bei denen er sich nicht als<br />

Unterlegener fühlt. Möglicherweise spielt hierbei auch der ethnische Unterschied zwischen<br />

vietnamesischen und deutschen Kindern an der Schule eine Rolle. Anscheinend ist es so, dass<br />

die Leistungsethik von Yang von leistungsschwächeren deutschen Schülern im Sinne einer<br />

negativen Abgrenzung gedeutet <strong>oder</strong> genutzt wird. Auf die Frage, welche Kinder sich durch<br />

dieses Leistungsverhalten provoziert sehen, antwortet Yang: „Kinder aus meiner Klasse. Sie<br />

geben so an. Ich weiß es besser und so (stark betont, Anm.), ich weiß alles.“ Auch bei den<br />

vertrauten Leserinnen und Lesern seiner <strong>Berichte</strong> achtet er genau auf deren Reaktion. Yang<br />

zitiert die Reaktionen, die ihm gesagt wurden, fast wörtlich: „Gut, Yang. Du hast den Bericht<br />

gut geschafft.“<br />

<strong>Die</strong> Bedeutung der <strong>Berichte</strong> für sein eigenes Lernen wird von Yang anerkannt: Sie geben<br />

Übersicht und Zuversicht für seine weiteren Lernfortschritte. Zugleich wird im Gespräch<br />

deutlich sichtbar, dass er mit Berichtstexten und <strong>Noten</strong> Unterschiede in deren diagnostischer<br />

Qualität assoziiert. „So mit den <strong>Noten</strong> sagen sie: Yang du bist schlechter geworden, und das<br />

mag ich nicht so gerne und darum sind Berichtszeugnisse besser ... Da (bei den<br />

Berichtszeugnissen, Anm.) sagen sie, was ich noch üben soll.“ Yang erkennt also die<br />

Hinweise für sein eigenes Lernen, die ein Bericht enthält, schätzt sie und weiß sie auch zu<br />

nutzen.<br />

Befragt nach seinem Wohlbefinden in der Schule, äußert er, dass ihm der friedliche Umgang<br />

der Kinder untereinander wichtig ist. Auch Yang scheint da und dort in Konflikte verwickelt


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 195<br />

zu sein, weil andere Kinder ihm unterstellen, dass er mit seiner Leistungsorientierung angebe:<br />

„Manchmal, wenn ich etwas sage, wollte der andere das auch sagen. Dann sagt er: Du<br />

kriegst eins aufs Maul.“ Demjenigen, der diese Aggression formuliert, begegnet er<br />

gleichmütig und sucht dennoch die Anwaltschaft seiner Lehrerin: „Ich petze es, und dann<br />

meckert sie ihn an.“ Im Gespräch wird nicht nur deutlich, wie wichtig Berichtszeugnisse<br />

wegen ihrer spezifischen und das Individuelle stärkenden Qualität für diesen Jungen sind. Es<br />

zeigt sich auch, dass die Autorin der <strong>Berichte</strong> in der Zusammenschau mit den von ihr über<br />

Yang und sein Lernen geschriebenen Texte wahrgenommen wird. Das Berichtszeugnis ist<br />

hier nicht nur ein Text, ein Instrument der Lerndiagnose, sondern ein bestimmter Text einer<br />

Person über eine andere Person. Für Yang ist diese für Rezeptions- und Kommunikations-<br />

aspekte von Berichtszeugnissen wesentliche Komponente in sehr hohem Maße bedeutsam.<br />

Wieweit sich dies seiner ethnischen Herkunft als Vietnamese, seiner sicher auch dort ihre<br />

Wurzeln habenden Leistungsethik verdankt, kann nicht weiter beurteilt werden. Für die<br />

Lehrerinnen und Lehrer aber, die mit Yang zu tun haben, kann hier ein besonderer Einblick in<br />

die Wichtigkeit des Rezeptionsaspekts von Berichtszeugnissen gewonnen werden.<br />

5.4.4.2 Das Berichtszeugnis: <strong>Die</strong> Sprache ist ein Weg zur Integration<br />

In der Einleitung zu Yangs Bericht beschreibt seine Lehrerin viele wichtige Fortschritte, die<br />

sein Lernen und Verhalten betreffen. Danach ist er ein pflichtbewusster und kooperativer<br />

Junge, der nicht nur durch seine Persönlichkeit Menschen an sich zu binden versteht, sondern<br />

auch durch sein verlässliches Handeln: „Du hast den Kindern <strong>oder</strong> mir gern und freiwillig bei<br />

verschiedenen Sachen geholfen.“ Seine engagierte und qualifizierte Mitarbeit, die die<br />

Lehrerin in verschiedenen Lernbereichen hervorhebt, hat offenbar etwas mit Yangs Wunsch<br />

nach Perfektionierung seiner deutschen Sprachkompetenz zu tun. <strong>Die</strong> Lehrerin erkennt dieses<br />

Motiv und möchte es fördern, indem sie ihn ermutigt, Verständnisprobleme sofort zu<br />

artikulieren: „Du willst unbedingt ganz richtig deutsch sprechen und schreiben ... Dann fragst<br />

du und das finde ich ganz prima von dir.“ Während er die mündliche Sprachkompetenz im<br />

Dialog schult, verbessert er die schriftliche im Wiederholen und Üben von Rechtschreibung<br />

und Grammatik. Seine auch im Bericht sichtbar werdende Entschlossenheit und sein fester<br />

Lernwille legen nahe, dass für ihn die deutsche Sprache der Schlüssel zur Integration und<br />

damit der Weg zum Gleichgestelltsein mit seinen Mitschülern ist.<br />

Yang weiß offenbar, dass dieser Weg nur über ein Arbeitspensum führt, das von ihm<br />

angenommen und bewältigt werden muss. Er versucht mit Ausdauer und Fleiß seine<br />

Fähigkeiten auszubauen: „Deshalb hast du sehr fleißig das Richtigschreiben und die


Seite 196 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

Grammatik geübt.“ Das Denken in der fremden Sprache bereitet ihm allerdings manchmal<br />

noch Schwierigkeiten, denn bei eigenen Textproduktionen vermisst die Lehrerin das<br />

strukturierte Schreiben, das eine eigene Textlogik mit hervorbringt. Yang muss aus ihrer Sicht<br />

lernen, sich anderen auch textlich verständlich mitzuteilen. Also rät sie ihm: „Darauf musst<br />

du aber immer noch aufpassen: Du musst deine Gedanken zu einer Geschichte so<br />

aufschreiben, dass jeder, der die Geschichte liest, auch versteht, was du meinst. Das heißt, du<br />

musst der Reihe nach erzählen.“ Wie dies konkret geschehen kann, lässt sich Yang<br />

möglicherweise an seinen Texten erläutern. Der Bericht gibt hier nur einen allgemeinen<br />

Hinweis.<br />

Dass der Weg zur Sprache über das gelesene und visuell wahrgenommene Wort führt, hat<br />

Yang längst für sich erkannt. Denn er liest Bücher, benutzt die Bibliothek und traut sich sogar<br />

zu, anderen in der ihm fremden Sprache vorzulesen: „Du hast dich oft freiwillig zum Vorlesen<br />

gemeldet.“ Er hat nicht nur Zutrauen in seine Vortragskompetenz, sondern offenbar auch in<br />

seine Klassenkameraden, denn es ist ihm selbstverständlich, unbekannte Worte zu erfragen.<br />

Seine neu erworbenen Kenntnisse in der deutschen Sprache kann Yang, wie seine flüssige<br />

Schreibweise zeigt, anwenden, wobei die Lehrerin bei all seinem Eifer vor Flüchtigkeit warnt:<br />

„Achte aber bitte weiter auf Genauigkeit bei den Buchstaben.“ Außerdem rät sie ihm zu<br />

übersichtlicher Anordnung in seinen Arbeitsmaterialien. <strong>Die</strong> Hausaufgaben hat Yang stets zu<br />

ihrer Zufriedenheit erledigt, denn er versteht offensichtlich, dass für sein erfolgreiches Lernen<br />

verschiedene Arbeitsschritte vom Üben über das Mitarbeiten bis zu den Hausaufgaben<br />

vonnöten sind und sich angeleitetes Lernen in der Schule und individuelles Lernen zu Hause<br />

ergänzen.<br />

Auch beim Rechnen hat die Lehrerin ihn nicht zu selbständigem Arbeiten motivieren müssen.<br />

Yangs zunehmende Erfahrung mit größer werdenden Kompetenzen lässt sein Vertrauen in die<br />

eigenen Fähigkeiten schnell wachsen. Doch seine Lehrerin hält ihn auch dazu an, sich nicht<br />

zu überfordern, sondern Geduld mit sich zu üben und sich Lernzeit einzuräumen: „Lasse dir<br />

Zeit, Yang, und denke in Ruhe nach! Du findest die Lösung bestimmt.“<br />

Bei aller Vielfalt in der individuellen Ausbildung von fachlichen, sozialen und<br />

Arbeitskompetenzen ist Yang kein Einzelgänger geblieben. Denn er versteht mit anderen<br />

zusammenzuarbeiten und gleichzeitig zielbezogen und strukturiert zu lernen: „Wenn du mit<br />

mehreren Kindern zusammengearbeitet hast, hast du gemeinsam mit deiner Gruppe überlegt,<br />

wie man die Arbeit einteilt und was man eigentlich schaffen will.“ Auch an dieser Textstelle<br />

lobt die Lehrerin seinen Einsatz und hebt hervor, wie sehr sie seine Aktivität und Mitarbeit<br />

schätzt und wie lohnend dies für den Fortgang des Unterrichts ist: „Du hast sehr gern etwas


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 197<br />

beobachtet und dann davon berichtet. Du hast oft gefragt, warum etwas passiert <strong>oder</strong> was<br />

passiert, wenn man etwas macht. Das fand ich prima!“ Neben Deutsch hat Yang sich auch in<br />

einer weiteren Fremdsprache qualifiziert: in Englisch. Er beherrscht die Regeln der Sprache<br />

und kann sie anwenden: „Du lernst sehr gern Englisch.“<br />

Im Turnen ist Yang ein bewunderter Sportler, der sehr wendig agiert und seinen Körper<br />

akrobatisch zu bewegen versteht. Auch in der Musik und beim Malen kann er seine Ideen<br />

verwirklichen und, auch dies betont die Lehrerin öfter, mit Spaß eine Sache verfolgen: „Spaß<br />

gemacht haben dir vor allem unsere Rhythmus-Instrumente ... Das Zauberflöten-Projekt hat<br />

dir viel Spaß gemacht.“ Manche Lerninhalte und -gegenstände bewegen ihn so sehr, dass er<br />

sie nachbaut und für sich nutzbar macht: „<strong>Die</strong> chicken shakes hast du sogar selbst<br />

nachgebaut.“<br />

Beim Werken hat die Lehrerin seine innere Unruhe bemerkt, unter der die Qualität der Arbeit<br />

allerdings nicht gelitten hat: „Beim Werken hast du leider oft viel Unruhe verbreitet.<br />

Trotzdem hast du zügig und genau gearbeitet.“ Möglicherweise empfindet Yang einen<br />

inneren Druck, der das Ventil des individuellen Tuns mit Kopf und Händen braucht, um<br />

verringert <strong>oder</strong> abgebaut zu werden. Dabei spielt für ihn der Zeitfaktor eine ganz große Rolle,<br />

denn zu arbeiten heißt für ihn, eine Sache zielstrebig und zügig zu bearbeiten. In der Schreib-<br />

weise des Berichts klingt dieses Problem wie ein kleiner Schönheitsfehler, ja wie ein<br />

Lerndefizit. Was letzten Endes dahinter steckt, lässt sie zumindest an dieser Stelle offen <strong>oder</strong><br />

würde es vermutlich erst dann thematisieren, wenn die Arbeit darunter leiden würde. Am<br />

Schluss des Berichts wünscht ihm seine Lehrerin weiterhin viel Erfolg und Spaß am Lernen.<br />

In Yangs Bericht wird deutlich, dass ein lernwilliger Junge in der Schule viele Angebote<br />

findet, die der Entwicklung seiner Persönlichkeit förderlich sind und da und dort vielleicht<br />

auch die inneren Blessuren kompensieren, die er als Kind einer anderen Sprache und Kultur<br />

als die seiner deutschen Klassenkameradinnen und -kameraden möglicherweise schon<br />

erfahren hat. In seiner Lehrerin findet er eine aufmerksame Begleiterin, die sein Lernen und<br />

Verhalten im Bericht wie in einem Spiegel aufscheinen lässt. Yang kann sich erkennen. <strong>Die</strong><br />

Beurteilung stiftet Vertrauen in seine Individualität und seine Sozialität.<br />

5.4.5 Zusammenfassung<br />

Es ist deutlich geworden, dass vier sehr unterschiedliche Persönlichkeiten hier in Text und<br />

Gespräch „abgebildet“ worden sind. Das Zusammenspiel von Kinderinterview zum<br />

Berichtszeugnis und Text selbst nimmt jeweils ganz eigenständige Ausprägungen an.


Seite 198 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

Nina erweist sich im Umgang mit der Schule, dem Lernen und insbesondere dem Berichtstext<br />

als sehr souverän. Ihr der Sprachlichkeit, der Fantasie und der Kreativität zugewandtes Wesen<br />

ermöglicht es, Berichtszeugnisse als Geschichten ihrer selbst und ihres Lernens aufzunehmen<br />

und in besonderem Maße Hinweise für das eigene Lernen zu entdecken und umzusetzen.<br />

Gerade ihre sprachliche Sensibilität macht sie aber auch empfindlich für den „pädagogischen<br />

Zeigefinger“, den ihre Lehrerin im Bericht bisweilen erhebt. Nina ist bereit, Kritik<br />

aufzunehmen, erwartet aber Angemessenheit und gute, nachvollziehbare Begründung des<br />

Kritisierten. Ernsthafte Konflikte zwischen ihr, ihrem Lernen und der Schule entstehen somit<br />

erst an den nahezu unverrückbaren Grenzen der Schule, ihrer Leistungserwartungen und ihrer<br />

Organisationsformen. <strong>Die</strong>se Spannung zwischen kindgemäßer Freiheitserwartung und den<br />

Grenzziehungen einer sozialen Institution sind aber kein Problem von Berichtszeugnissen. Sie<br />

markieren vielmehr die die Pädagogik dauerhaft begleitende Gratwanderung zwischen<br />

„Begrenzen“ und „Wachsenlassen“.<br />

Annika ist ebenfalls ein Kind der Sprache. Lesen und Schreiben bringen ihr Gewinn und<br />

Freude. Entsprechende Erwartungen hat sie an Texte, die von anderen geschrieben werden.<br />

Das gilt auch für die Texte der Berichtszeugnisse. Bei ihrem Interview und in ihrem<br />

Berichtstext wird in besonderer Weise deutlich, wie sich <strong>Berichte</strong> als differenzierte<br />

Diagnoseinstrumente einsetzen lassen, wenn sie auf Rezeptionswillen und -kompetenz stoßen.<br />

Bei Hakan zeigt sich ein den beiden Mädchen im Blick auf das Lernen fast entgegengesetztes<br />

Bild. Er lernt schlecht, gehört offensichtlich zur Gruppe derer, die den Unterricht und das<br />

Lernen anderer stören. Seinen Bericht rezipiert er nur zurückhaltend. Er bleibt mit dem Text<br />

und seinen Botschaften auch mehr <strong>oder</strong> minder alleine. Gerade hier zeigt sich, dass die Schule<br />

auf die Sprach- und Kommunikationsdefizite solcher Kinder reagieren muss. Das ist natürlich<br />

im Blick auf die Schule insgesamt zunächst eine banale Feststellung. Sie bekommt jedoch<br />

Schärfe, wenn sie mit den fördernden und das Lernen optimierenden Ansprüchen des<br />

Instruments „Berichtszeugnis“ verbunden wird. Ein Beispiel aus den hier betrachteten Fällen:<br />

Gerade für Schüler wie Hakan darf sich Kritik nicht in Forderungen erschöpfen, die schon<br />

von ihrem Sprachgestus her auf ihn wirken, als müsse er sie ohne jegliche Hilfe erfüllen.<br />

Denn das verwehrt ihm die Möglichkeit, das kritisch formulierte bzw. das zum<br />

entsprechenden Korrektiv notwendige Lernziel überhaupt für Erreichbar zu halten. Auch<br />

Gespräche über den Bericht bekommen hier eine ganz andere Bedeutung als dies bei<br />

sprachgewandten Kindern der Fall ist. Schließlich muss auch über Aspekte der Begleitung der<br />

Eltern beim Umgang mit der Lerndiagnose durch Berichtszeugnisse nachgedacht werden.


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 199<br />

Bei Yang zeigt sich sowohl im Berichtszeugnis als auch im Interview eine ausgeprägte<br />

Zielstrebigkeit und eine Arbeitsethik, in deren Mittelpunkt Lernerfolge, deren Anerkennung<br />

und eine differenzierte Rückmeldung stehen. Für ihn ist die Sprache in mehrerlei Hinsicht ein<br />

Schlüssel zur Welt: Sie hilft ihm beim Lernen, sie ist – gemeint hier als deutsche Sprache –<br />

ein Schlüssel zur Integration in Deutschland und vermutlich zugleich die gewünschte und<br />

ersehnte Eintrittskarte zur Anerkennung durch letztlich alle Mitschülerinnen und Mitschüler.<br />

Sie ist aber auch das Element, in dem er zwischen sich und seiner Welt vermittelt. Sein<br />

Bericht weist auf diese Sprachdisposition hin und das Interview mit ihm zeigt, wie wichtig<br />

ihm zugleich diese Kommunikation über sich selbst, über seine Geschichte und sein Tun ist.<br />

Daraus resultiert bei ihm eine große Offenheit, ja geradezu eine Erwartung differenzierter<br />

Rückmeldung über sein Lernen und sein Können und darüber, wie er dieses erweitern und<br />

verbessern kann. <strong>Noten</strong> sind für ihn keine Alternative, bei ihnen befürchtet er Nivellierung<br />

und eine noch schärfere soziale Konkurrenz, als er sie aufgrund seiner ethnischen Herkunft<br />

ohnehin erlebt. Das Berichtszeugnis ist für das Grundschulkind Yang eben nicht alleine ein<br />

Text im Sinne einer lerndiagnostischen Äußerung, sondern ein Element einer<br />

kommunikativen Gesamtheit zwischen ihm, der Lehrerin, den Eltern und den Freunden.<br />

Zugleich ist es eine Hilfe, eigene Möglichkeiten im Lernen und im Spracherwerb auszuloten.<br />

Wenn dies – das scheint bei den vorliegenden Dokumenten ja gegeben – von den<br />

Berichtsautoren erkannt wird, liegt darin eine Chance, Individualität und Sozialkompetenzen<br />

zu stärken und damit im besten Sinne mehrdimensional zu wirken.<br />

5.5 Folgerungen: Leseerziehung als Voraussetzung für Lernberichte?<br />

<strong>Die</strong> vorliegende Studie zu den Interviews mit Grundschulkindern im Rahmen des Projekts<br />

LeiHS verdeutlicht mehrere für die Entwicklung der Schule durch Berichtszeugnisse wichtige<br />

Aspekte. Dabei geht es wesentlich um die Verbesserung der Schreibpraxis (a), um Aspekte<br />

der Leserziehung (b) sowie um die Evaluation von Schulpraxis durch die Befragung der in der<br />

Schule lernenden Kinder (c).<br />

a) Im Blick auf die Verbesserung bzw. Optimierung der Texte von Berichtszeugnissen ist<br />

unterschiedliches angesprochen worden. Besonders die Interpretation von vier<br />

exemplarischen Gesprächen aus der gesamten Stichprobe unserer Kinderinterviews hat<br />

gezeigt, dass Berichtszeugnisse dann am wirksamsten rezipiert werden, wenn die Texte<br />

individualisiert werden. Berichtszeugnisse werden im Sinne von Texten und<br />

Kommunikationsangeboten eher wirkungslos, wenn sie aus standardisierten Formulierungen<br />

<strong>oder</strong> unpersönlich wirkenden Textbausteinen zusammengesetzt werden. Ein wesentliches


Seite 200 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

Merkmal, das die Rezeptionsqualität von Berichtszeugnissen beeinflusst, ist die Frage der<br />

Sprachfähigkeit und des Sprachniveaus der jeweiligen Kinder und ihrer sozialen Umgebung.<br />

Für die Wirksamkeit der Berichtstexte und die Sicherung einer bestimmten Grundqualität der<br />

Wahrnehmung des darin Gesagten ist es wichtig, sich als Lehrender und Autor der Texte auf<br />

das im jeweiligen Einzelfall zu gewärtigende Sprachniveau einzustellen. Es ist in den<br />

Grundschulkinderinterviews auch deutlich geworden, dass Kritik als Teil der Berichtstexte<br />

eher bereitwillig aufgenommen wird. Voraussetzung hierfür ist allerdings eine klare<br />

Beschreibung zu kritisierender Sachverhalte und eine hinreichende und für die betroffenen<br />

Kinder nachvollziehbare Begründung. Ferner hat sich gezeigt, dass schon in der Schule ein<br />

„Zeitraum“ – hier gemeint im vollen Wortsinne – für die Lektüre der Berichtszeugnisse<br />

geschaffen werden muss. Dazu gehört auch das Angebot, über die Berichtstexte mit den<br />

Kindern zu sprechen. Bedeutsam scheint auch der Aspekt der Rezeption solcher Zeugnisse im<br />

Elternhaus. Inwieweit hierfür spezielle Gesprächsangebote gemacht werden sollen und, so<br />

dies der Fall sein sollte, entsprechend Zeit aufgewendet werden muss, bleibt natürlich eine<br />

noch offene Frage.<br />

Somit kann man sagen, dass in der Befragung von Kindern eine Fülle von Aspekten<br />

angesprochen worden ist, die im Blick auf die Sicherung der Qualität von Berichtszeugnisse –<br />

also auf die so genannten „Schreibstandards“ – Bedeutung haben. Ein zweites Ergebnis wird<br />

erkennbar, wo es um die „kommunikative Verantwortung“ der Schule für die<br />

Berichtszeugnisse geht. Klar ist, dass die Realisierung all dessen, was hier herausgearbeitet<br />

und angesprochen worden ist, in besonderer Weise den Aufgabenkreis der Lehrenden und<br />

damit deren professioneller Ansprüche berührt.<br />

b) <strong>Die</strong> Studie zeigt auch Ergebnisse, die sich unter dem Aspekt „Leseerziehung in der Schule“<br />

subsumieren lassen. Bedeutendstes Ergebnis hierbei ist der Sachverhalt, dass die<br />

Lesefähigkeit und das Leseinteresse der Kinder direkt mit der Rezeptionsfähigkeit und<br />

-bereitschaft korrespondiert. Das klingt für sich betrachtet vielleicht nicht sonderlich<br />

erkenntnisreich. Genauer besehen markiert es jedoch einen entscheidenden Unterschied zur<br />

<strong>Beurteilungspraxis</strong> durch <strong>Noten</strong>, der vermutlich in den Schulen, die mit Berichtszeugnissen<br />

arbeiten, noch nicht hinreichend reflektiert worden ist. Denn bei der Leistungsbeurteilung<br />

durch die Ziffernzensur wird unhinterfragt davon ausgegangen, dass die durch Tradition und<br />

Übereinkunft etablierten sechs <strong>Noten</strong>stufen der deutschen Schule (und ihres Punkte-<br />

Äquivalents in der gymnasialen Oberstufe) so weit bekannt und kulturell verinnerlicht sind,<br />

dass sie von jedermann – sei er auch noch so desinteressiert und erfolglos in der Schule –<br />

verstanden werden. Ganz anders ist dies bei textorientierten Beurteilungsformen und damit


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 201<br />

bei Berichtszeugnissen. Hier kann von einer Rezeptionsleistung im erwartbaren Sinne nur<br />

ausgegangen werden, wenn bestimmte Kompetenzen der Sprachlichkeit, des Lesens und der<br />

Kommunikationsfähigkeit vorliegen <strong>oder</strong> parallel zur Erteilung von Berichtszeugnissen<br />

gepflegt werden.<br />

Wird dies in der Konsequenz genauer bedacht, dann wird deutlich, dass eine systematische<br />

Leseerziehung, die sich nicht nur auf Lesen als Erwerb einer Kulturtechnik in der<br />

Grundschule begrenzt, zum Aufgabenkreis der Schule hinzutritt. Das ist auch nicht mit<br />

Lektüreeinheiten in einem Unterrichtsfach Deutsch zu bewerkstelligen. Entscheidend ist<br />

letztendlich, welche Bedeutung dem Wort und der Sprache im gelebten Alltag und Lernen der<br />

Schule beigemessen wird. Möglicherweise kann der Umgang mit selbstgeschriebener<br />

Literatur, insbesondere mit Geschichten über das eigene Handeln und Lernen <strong>oder</strong> über die<br />

Schule insgesamt hierzu einen Beitrag leisten. Auch der Versuch, Teile des eigenen Lernens<br />

und des Unterrichts durch Schüler zu bewerten und beschreiben zu lassen, kann ein Teil einer<br />

solchen Leseerziehung werden. Wichtig ist, dass Sprache als Quelle und Medium der<br />

Selbstreflexion und der Beschreibung eigener Geschichten kultiviert wird.<br />

<strong>Die</strong> Interviews mit Grundschulkindern zeigen, zusammenfassend gesprochen, dass<br />

Berichtszeugnisse eher als Literatur und weniger als Zeugnisse verstanden werden. Sie sollten<br />

in der Schule von den Textautoren und den Primäradressaten – den Grundschulkindern –<br />

gemeinsam erschlossen werden. Hierzu bedarf es Formen der gemeinsamen Lektüre und des<br />

Gesprächs über die Texte. Damit beginnt eine Form bewusst gepflegter Rezeptionskultur der<br />

Berichtszeugnisse, in der ihre eigentliche literarische Qualität – ihr biografischer und<br />

narrativer Gehalt – betont wird. Damit wäre zugleich ein Baustein zu einer Leseerziehung<br />

gelegt, der die Rezeptionsfähigkeit und dadurch zwangsläufig auch die pädagogische und<br />

fachliche Wirksamkeit der Berichtszeugnisse optimieren könnte. Eine so verstandene Lese-<br />

erziehung in der Schule wird somit zu einer unausgesprochenen Voraussetzung für einen<br />

rationalen und wirkungsvollen Umgang mit Lernberichten und Berichtszeugnissen in der<br />

Schule.<br />

Bei den hier diskutierten Fragen spielen auch Aspekte der Chancengleichheit eine Rolle. Es<br />

gilt zu verhindern, dass Berichtszeugnisse eine Form etwa luxuriöser pädagogischer Fürsorge<br />

für sprachgewandte und ohnehin dem Lernen gegenüber aufgeschlossene Grundschulkinder<br />

werden. Genau einer solchen immerhin denkbaren Verkehrung pädagogischer und<br />

diagnostischer Vorzüge von Berichtszeugnissen kann vor dem Hintergrund der hier<br />

gewonnenen Einsichten plausibel gewehrt werden. Berichtszeugnisse dienen der individuellen<br />

Förderung des einzelnen Schülers und der einzelnen Schülerin. <strong>Die</strong>se Prämisse wird nur


Seite 202 Grundschulkinder als Experten für Lernberichte<br />

eingelöst, wenn man Berichtszeugnisse und deren Wirksamkeit nicht alleine an der Qualität<br />

der in den Schulen und den Kollegien entstehenden Texte bemisst. Vielmehr müssen die<br />

kommunikativen Komponenten, die sprachlichen und literarischen Voraussetzungen der<br />

Kinder und die durch ihre Biografie und ihre Sozialität gegebenen Umfeldfaktoren eine Rolle<br />

spielen. Es geht dann nicht nur um Schreibstandards und Textqualität, sondern um eine am<br />

einzelnen Lernenden ausgerichtete Kommunikationskultur.<br />

c) Eingangs der vorliegenden Erörterung wurde darauf hingewiesen, dass die Einbeziehung<br />

von Kindern in Formen wissenschaftlich kontrollierter Evaluation von Schule – und auch<br />

darüber hinaus – keinesfalls unumstritten ist. Dennoch, gerade für die Beantwortung der sich<br />

mit der Lernberichtspraxis verbindenden Fragen scheint sich zu bestätigen, dass Kinder als<br />

„Experten“ eine interessante und vielfältige Ergebnisse versprechende Rolle einnehmen<br />

können. Unsere Interviews haben gezeigt, dass man mit den Kindern gut an den<br />

Berichtstexten arbeiten und über die Texte sprechen kann. Schülerinnen und Schüler können<br />

in ihrer Sprache sehr direkt Auskunft über ihr Lernen, ihre Wahrnehmung von Schule und<br />

über ihren Umgang mit den Berichtszeugnissen geben. Besonders das gemeinsame Lesen der<br />

<strong>Berichte</strong> mit den Kindern während des Interviews bzw. die Tatsache, dass der Bericht ein<br />

gesprächsleitendes Thema und ein zugleich im Gespräch präsenter Text war, erzeugt eine<br />

Intensität, die gezeigt hat, dass hier eine Möglichkeit besteht, methodisch kontrollierte<br />

„Rezeptionsforschung“ eines Teilbereichs von Schule zu betreiben. <strong>Die</strong>ser Zugriff ist m. E.<br />

für beide Seiten, die Schulpraxis und die Erziehungswissenschaft, sinnvoll im Blick auf die zu<br />

gewärtigenden Ergebnisse, zugleich aber auch anspruchsvoll hinsichtlich der methodischen<br />

und arbeitstechnischen Voraussetzungen. Denn stärker als andere Instrumente sprach- und<br />

gesprächsbezogener empirischer Sozialforschung sind Kinderinterviews von der<br />

Gesprächsführung, dem Sprachgestus und der auf die Kinder bezogenen Ernsthaftigkeit bei<br />

den forschenden Erwachsenen abhängig. Hier muss der Interviewer eine entsprechende<br />

Bereitschaft und Kompetenz aufweisen.<br />

„Wenn ein Kind lesen gelernt hat und gerne liest, entdeckt und erobert es eine zweite Welt,<br />

das Reich der Buchstaben“, begründet Erich Kästner seine These von dem zweiten Augenpaar<br />

des Lesers. <strong>Die</strong>se „zweite Welt“ ist allerdings ein anspruchsvolles Feld, in dem die<br />

Vorstellungskraft, die Sprache und die Interessen der Kinder eine bedeutende Rolle spielen.<br />

Berichtszeugnisse sind also mehr noch als andere Beurteilungsinstrumente der Schule auf die<br />

Kinder selbst angewiesen. „Wer noch nicht lesen kann, sieht nur, was greifbar vor seinen<br />

Augen liegt. ... Wer lesen kann, hat ein zweites Paar Augen.“ (Kästner a.a.O.).<br />

Lesekompetenz ist also Voraussetzung für Lernberichte. Sie ermöglicht kontrollierbare


Grundschulkinder als Experten für Lernberichte Seite 203<br />

Selbstreflexion sowie Aufklärung über das eigene Werden und Lernen bereits im Kindesalter<br />

und verbindet Kreativität und Vernunft in zweckmäßiger Weise. Wir wissen, dass<br />

„Leseerziehung“ als Forderung für alle Kinder in den bundesdeutschen Schulen sicher nicht<br />

auf einheitlich hohem Level realisierbar sein wird. Das allein entbindet aber nicht von der<br />

Pflicht, auf den unhintergehbaren Zusammenhang von Lesekompetenz und Schreibqualität<br />

auf der einen Seite sowie Effektivität und Qualität des Instruments der Berichtszeugnisse zu<br />

verweisen.


6. Einstellung von Lehrern, Eltern und Schülern zur<br />

Leistungsbeurteilung – ein Vergleich.<br />

Während in den vorangegangen Kapiteln die Aussagen der befragten Gruppen (Lehrende und<br />

Eltern aller Schulformen sowie Schüler(innen) der Sekundar- und Primarstufe) separat<br />

untersucht wurden, nehmen wir in diesem abschließendem Kapitel eine vergleichende<br />

Perspektive ein. <strong>Die</strong> Gliederung des Forschungsberichts orientiert sich daher nicht länger an<br />

den verschiedenen Einzelgruppen – Schüler(innen), Lehrer(innen) und Eltern –, sondern an<br />

inhaltlichen Themen, zu denen in mehr als einer Gruppe Stellung genommen wurde. <strong>Die</strong> von<br />

uns befragten Gruppen stehen zur <strong>schulische</strong>n Leistungsbeurteilung in einem je spezifischen<br />

Verhältnis. <strong>Die</strong> Lehrenden sind verpflichtet, die Beurteilung vorzunehmen, während die<br />

Schüler(innen) in der Situation sind, beurteilt zu werden. Eltern treten als Rezipienten von<br />

Zeugnissen auf. Sie haben normalerweise ein ausgeprägtes Interesse am Schulerfolg ihrer<br />

Kinder. Und die Zeugnisse beanspruchen, hierzu ein wichtiges Informationsmedium zu sein<br />

(wenn wohl auch nicht das einzige). Es stellt sich nun die Frage, ob in der Einstellung zu<br />

Zeugnissen, Zensuren und verbalen Beurteilungen zwischen diesen Gruppen essenzielle<br />

Unterschiede bestehen, die sich auf die verschiedenen Positionen im <strong>schulische</strong>n<br />

Beurteilungssystem zurückführen lassen. Darüber hinaus ist von Interesse festzustellen, ob<br />

sich über die Gruppen hinweg so etwas wie eine „Schulformkultur” nachweisen lässt: Finden<br />

sich bei den Lehrer(innen), Eltern und Schüler(innen) der verschiedenen Schulformen<br />

ähnliche Aussagetendenzen?<br />

<strong>Die</strong> für die verschiedenen Gruppen bereits ausführlich dargestellten Befunde sollen im<br />

Folgenden miteinander verglichen werden. Dabei sind wir folgendermaßen vorgegangen:<br />

Zum einen haben wir Items ausgewählt, die wortgleich den verschiedenen Gruppen zur<br />

Einschätzung vorgelegen haben, und dabei die Antwortverteilungen der Lehrenden, Eltern<br />

und Sekundarschüler(innen) direkt miteinander verglichen. Bei den Themen, zu denen keine<br />

identischen Formulierungen entwickelt werden konnten, haben wir die Items, die sich in ihren<br />

inhaltlichen Aussagen entsprechen, nebeneinander gestellt und die Tendenzen verglichen. <strong>Die</strong><br />

Ergebnisse werden zunächst als prozentuale Verteilungen bei Eltern, Lehrer(innen) und<br />

Schüler(innen) präsentiert, dazu kommt dann ein Vergleich der entsprechenden Mittelwerte.<br />

<strong>Die</strong>se Werte zeigen an, ob die Einschätzungen zu einem Item insgesamt eher ablehnend sind<br />

(bei Werten unter 3) <strong>oder</strong> eher Zustimmung signalisieren (bei Werten größer als 3). Bei der<br />

Entwicklung der Instrumente konnten für die drei Gruppen nur in Ausnahmefällen inhaltlich


Seite 206 Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich<br />

parallele Skalen erstellt werden 14 . Der Einstellungsvergleich bezieht sich daher nicht auf<br />

Itembatterien, sondern jeweils auf einzelne Items. <strong>Die</strong>se Einzelaussagen repräsentieren jedoch<br />

in der Regel recht gut die dahinterstehende Grundeinstellung. <strong>Die</strong> Angaben von Signifikanzen<br />

bei Unterschieden zwischen den befragten Gruppen ist bei dieser Vorgehensweise nicht<br />

sinnvoll. Zum einen, da – je nach Bezugsgruppe – die Fragestellung leicht variieren kann.<br />

Hier verbieten sich statistische Tests ohnehin. Zum anderen unterscheiden sich die<br />

Stichproben in Rücklauf und Befragungssituation doch erheblich, so dass für einen strengen<br />

statistischen Vergleich wichtige Voraussetzungen fehlen. <strong>Die</strong> z.T. deutlichen Unterschiede<br />

innerhalb der Schulformen lassen sich aber dennoch interpretieren, da für die einzelnen<br />

Gruppen (Sekundarschüler, Lehrer und Eltern) vergleichbare Stichproben vorliegen. Bei den<br />

Themen, zu denen auch Ergebnisse für die Grundschulkinder vorliegen, versuchen wir diese<br />

mit in den Vergleich einzubeziehen. Wegen der methodisch sehr verschiedenen<br />

Herangehensweisen bleibt dies aber auf wenige Aspekte beschränkt.<br />

6.1 Eine Schule ohne Zeugnisse und Zensuren?<br />

<strong>Die</strong> bisherigen Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass Zeugnisse und Zensuren in der Schule<br />

generell auf eine breite Zustimmung stoßen. Kritische Stimmen lassen sich am ehesten bei<br />

den Lehrenden der Grundschulen und der Gesamtschulen finden – prinzipiell wird aber auch<br />

hier <strong>schulische</strong> Leistungsbeurteilung nicht in Frage gestellt (vgl. Kapitel 2). Der Blick auf die<br />

folgende Tabelle zeigt die Einschätzungen der Lehrenden, der Eltern und der Sekundar-<br />

schüler(innen):<br />

Tabelle 6/1: Grundsätzliche Ablehnung von Zensuren bei Lehrern, Eltern und<br />

Schülern<br />

„Ich bin für eine Schule ohne Zensuren.” (Lehrer, Eltern, Schüler)<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwerte<br />

127 Lehrende (N = 618) 47,3% 16,1% 17,1% 6,7% 12,8% 2,22<br />

97 Eltern (N = 1213) 59,4% 14,2% 14,3% 4,7% 7,4% 1,98<br />

54 Schüler(innen) (N = 1455) 66,0% 10,4% 11,5% 3,8% 8,2% 1,78<br />

14 Methodisch besteht hier die Schwierigkeit, dass völlig wortgleiche Formulierungen für alle drei Gruppen sich<br />

nur selten realisieren lassen, weil das Verständnis der Sache und der (fach-) sprachliche Gebrauch sich stark<br />

voneinander unterscheiden.


Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich Seite 207<br />

Der Vergleich der Verteilungen macht deutlich, dass es unter den Empfängern von<br />

Zeugnissen nur einen relativ kleinen Anteil (um die 12%) gibt, der für eine Schule ohne<br />

Zensuren plädiert. Dabei votieren die Schüler(innen) in ihrer Gesamtheit sogar noch<br />

entschiedener für Zensuren als die Eltern. Über 76% der Schüler(innen) stimmen prinzipiell<br />

für Zensuren. Genauere Analysen (ohne Tabelle) zeigen, dass es eher die<br />

leistungsschwächeren Schüler sind, die sich gegen Zensuren aussprechen. Bei den Lehrenden<br />

beträgt der Anteil derjenigen, die sich eine „Schule ohne Zensuren” wünschen, fast 20%.<br />

Auch der Anteil der unentschiedenen ist mit ca. 17% höher als bei den beiden anderen<br />

Gruppen. Insgesamt gilt somit: <strong>Die</strong> große Mehrheit der Schüler, Lehrer und Eltern spricht sich<br />

für Zensuren in der Schule aus. <strong>Noten</strong>gegner sind in allen Gruppen in der Minderheit – wir<br />

finden sie am seltensten bei den Schülerinnen und Schülern und am häufigsten bei den<br />

Lehrkräften. Es lässt sich also feststellen: Zensuren scheinen eher für diejenigen, die sie<br />

erstellen, ein Problem zu sein als für diejenigen, die sie erhalten. <strong>Die</strong>se Aussagen lassen sich<br />

mit den Befunden Terharts u.a. (1999) verknüpfen, die anhand von Interviews mit<br />

Lehrer(innen) in NRW herausfanden, dass ein erheblicher Anteil von Lehrenden sich durch<br />

die „Pflicht zur Benotung von Schülern” (a.a. O., S. 43 f.) belastet fühlt. Möglicherweise lässt<br />

sich mit dieser Belastung auch die Forderung nach Abschaffung der <strong>Noten</strong> zum Teil erklären.<br />

<strong>Die</strong> folgende Tabelle 6/2 differenziert diese Ergebnisse nach Schulformen. Dabei werden<br />

keine Prozentwerte mehr aufgeführt; vielmehr werden die Einschätzungen der Betroffenen zu<br />

Mittelwerten zusammengefasst. Für die Interpretation der Mittelwerte gilt: je größer der Wert,<br />

desto stärker werden Zensuren abgelehnt.<br />

Tabelle 6/2: Grundsätzliche Ablehnung von Zensuren –<br />

Vergleich der Mittelwerte von Lehrern/Eltern/Schülern, differenziert<br />

nach Schulformen<br />

„Ich bin für eine Schule ohne Zensuren.”<br />

Lehrer(innen) Eltern Schüler(innen)<br />

Grundschule 2,81 (n = 163) 1,98 (n = 268)<br />

Haupt-/Realschule 1,58 (n = 105) 1,69 (n = 256) 1,73 (n = 424)<br />

Gesamtschule 2,27 (n = 278) 2,09 (n = 381) 1,86 (n = 603)<br />

Gymnasium 1,28 (n = 53) 1,64 (n = 308) 1,70 (n = 428)<br />

Gesamt 2,22 (N = 599) 1,87 (N = 1213) 1,78 (N = 1455)<br />

Auffällig ist zunächst, dass in keiner der Untergruppen die Zensuren mehrheitlich in Frage<br />

gestellt werden; denn überall liegen die errechneten Mittelwerte unter der neutralen Marke 3.


Seite 208 Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich<br />

Mit anderen Worten: <strong>Die</strong> Ablehnung einer „Schule ohne Zensuren” überwiegt überall. Es gibt<br />

allerdings deutliche Unterschiede in der Ausprägung dieser Ablehnung. Innerhalb der<br />

Gruppen sind diese Unterschiede schon in den Kapiteln 2-4 thematisiert worden. Sie sollen<br />

hier nicht wiederholt werden. Innerhalb der Schulformen stellen sich diese Gruppen-<br />

differenzen aber sehr unterschiedlich dar. So zeigt ein Blick auf Abbildung 6/3, dass in der<br />

Haupt-/Realschule die Einstellungen aller drei Gruppen recht nahe beieinander liegen,<br />

während in der Grundschule <strong>oder</strong> auch am Gymnasium die Meinungen deutlich auseinander<br />

gehen.<br />

Abbildung 6/3: Grundsätzliche Ablehnung von Zensuren –<br />

Vergleich der Mittelwerte von Lehrern/Eltern/Schülern,<br />

differenziert nach Schulformen<br />

Grundschule<br />

Haupt-/Realschule<br />

Gesamtschule<br />

Gymnasium<br />

Ich bin für eine Schule ohne Zensuren.<br />

Ablehnung Zustimmung<br />

1 2 3 4 5<br />

Eltern (n = 1213) Lehrer (n = 599) Schüler (n = 1455)<br />

<strong>Die</strong> drei Linien der Grafik verdeutlichen die Einschätzungen der drei befragten Gruppen,<br />

differenziert nach Schulformen. Je weiter links die Symbole stehen, desto stärker ist die<br />

Ablehnung zu der vorgegebenen Aussage: <strong>Die</strong>se Befragten sprechen sich gegen eine<br />

zensurenfreie Schule aus. Mittelwerte, die hingegen auf eine Zustimmung hindeuten (bei<br />

diesem Item liegen sie nicht vor), würden im rechten Teil der Grafik liegen. <strong>Die</strong> fast<br />

senkrechte – kaum gebrochene – Linie der Schüler(innen) weist demnach auf sehr geringe<br />

Unterschiede zwischen den Schulformen (in dieser Gruppe) hin. Anscheinend ist die besuchte<br />

Schulform bei den Heranwachsenden unwichtig, wenn es um die (ganz überwiegend<br />

befürwortende) Einstellung zu Zensuren geht. Deutlicher erkennbar sind die Schulform-<br />

unterschiede bei den Einschätzungen der Eltern: Hier liegen die Mittelwerte der Hauptschul-


Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich Seite 209<br />

und Realschuleltern mit denen der Gymnasialeltern etwa in der gleichen Höhe, während bei<br />

den Grundschuleltern und noch etwas stärker bei den Gesamtschuleltern eine nicht ganz so<br />

zensurenfreundliche Einstellung zu erkennen ist. Bei diesem Blick zeigt sich also, dass das<br />

Zensurenverständnis bei den Eltern der verschiedenen Schulformen deutlich unterschiedlicher<br />

ausgeprägt ist als bei den Schüler(innen).<br />

Sehr deutlich tritt die unterschiedliche Einstellung zu Zensuren bei den Lehrenden zutage. Bei<br />

ihren Einschätzungen finden sich die größten schulformspezifischen Diskrepanzen. Für eine<br />

„Schule ohne Zensuren” sprechen sich am wenigsten die Lehrenden des Gymnasiums aus<br />

(1,28), gefolgt von den Lehrer(innen) der Haupt-/Realschule (1,58). Damit gehen sie in ihrer<br />

Ablehnung sogar noch weiter als die Eltern und Schüler(innen) dieser Schulformen. Das<br />

Gegenteil ist an der Gesamtschule der Fall. <strong>Die</strong> Lehrenden dieser Schulform sind in ihrer<br />

Einstellung in Bezug auf die <strong>Noten</strong> kritischer als die Schüler(innen) und die entsprechenden<br />

Eltern. Obwohl der Mittelwert (2,27) deutlich unterhalb der neutralen Marke 3 liegt – also<br />

überwiegend auf Ablehnung der Aussage verweist – gibt es unter ihnen einen beachtlichen<br />

Anteil, der für eine Schule ohne <strong>Noten</strong> plädiert. Lediglich die Le hrenden der Primarstufe sind<br />

in ihren Einstellungen zu Zensuren noch skeptischer. Der Mittelwert (2,81) liegt schon recht<br />

nahe bei 3 und zeigt, dass in dieser Gruppe am ehesten Personen zu finden sind, die sich in<br />

kritischer Distanz zu Zensuren befinden. <strong>Die</strong>se Distanz zu Zensuren findet sich aber nicht in<br />

gleichem Maße bei den Grundschuleltern wieder: <strong>Die</strong>se liegen mit dem Mittelwert von 1,98<br />

etwa beim Durchschnitt aller Eltern. Aufgrund dieser Ergebnisse lassen sich nun<br />

schulformspezifische Profile beschreiben. Verwendet man die Begriffe „<strong>Noten</strong> akzeptierend“<br />

(für eine Befürwortung von Zensuren) und „<strong>Noten</strong> kritisch“ (für eine Ablehnung von<br />

Zensuren), so ergibt sich folgendes Bild:<br />

- <strong>Die</strong> Grundschullehrer(innen) haben von allen untersuchten Gruppen die <strong>Noten</strong> kritischste<br />

Einstellung, dabei besteht eine große Distanz zu den Einstellungen der Eltern. Hier könnte<br />

das Problem auftauchen, dass die Lehrkräfte in ihrem Reformwillen in einer zu großen<br />

Diskrepanz zu den betroffenen Eltern stehen. Für die Grundschüler(innen) kann<br />

angenommen werden, dass ein großer Teil von ihnen den Verzicht auf <strong>Noten</strong> in der<br />

Grundschule akzeptiert (vgl. Kapitel 5). Ob sie eine generelle Distanz zu <strong>Noten</strong> entwickelt<br />

haben, geht aber aus den Interviews nicht hervor.<br />

- In den Haupt- und Realschulen finden wir größte Übereinstimmungen in den<br />

Einstellungen: Lehrer(innen), Schüler(innen) und Eltern sind sich ganz überwiegend einig,<br />

dass Zensuren sein müssen und sein sollen.


Seite 210 Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich<br />

- Auch in den Gesamtschulen werden Zensuren ganz überwiegend befürwortet, aber von<br />

den drei Gruppen unterschiedlich intensiv: <strong>Die</strong> Lehrkräfte sind am ehesten <strong>Noten</strong><br />

skeptisch, die Schüler(innen) sind deutlich Zensuren befürwortend, die Eltern liegen mit<br />

ihren Einschätzungen dazwischen.<br />

- Deutlich anders ist die Lage im Gymnasium: Unter allen befragten Gruppen sind die<br />

Gymnasial-Lehrkräfte die entschiedensten Verfechter von Zensuren. Damit ist das<br />

Gymnasium die einzige Schulform, in denen die Lehrerschaft weniger <strong>Noten</strong> kritisch<br />

eingestellt ist als die Schüler(innen) und die Eltern.<br />

Zu diesem Komplex haben wir eine weitere Frage gestellt, die sich auf die Grundschule<br />

bezieht: Sollen dort die <strong>Noten</strong> durchgängig durch Berichtszeugnisse ersetzt werden?<br />

Tabelle 6/4: Berichtszeugnisse in der Grundschule – Einschätzungen von Eltern und<br />

Lehrern*<br />

„In der Grundschule sollte es nur Berichtszeugnisse geben.”<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwerte<br />

87 Lehrende (N = 599) 12,1% 11,3% 21,3% 15,8% 39,5% 3,59<br />

61 Eltern (N = 1211) 21,2% 13,0% 20,7% 12,1% 32,9% 3,23<br />

* Zu diesem Aspekt werden lediglich die Einschätzungen der Lehrenden und der Eltern referiert, da wir die<br />

Sekundarschüler(innen) dazu nicht befragt haben.<br />

Der Mittelwert von 3,23 deutet darauf hin, dass es innerhalb der Elternschaft eine leichte<br />

Mehrheit gibt, die mit diesem Standpunkt einverstanden ist bzw. ihm unentschieden<br />

gegenübersteht. Bei den Lehrenden findet sich sogar eine Mehrheit (über 55%) zu dieser<br />

Aussage. Wichtig sind für unsere Fragestellung die Unterschiede, die sich ergeben, wenn die<br />

Ergebnisse nach Schulformen differenziert werden:


Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich Seite 211<br />

Tabelle 6/5: Berichtszeugnisse in der Grundschule – Vergleich der Mittelwerte von<br />

Lehrern und Eltern nach Schulformen<br />

„In der Grundschule sollte es nur Berichtszeugnisse geben.”<br />

Lehrer(innen) Eltern<br />

Grundschule 3,89 (n = 167) 3,05 (n = 266)<br />

Haupt-/Realschule 3,30 (n = 105) 3,07 (n = 258)<br />

Gesamtschule 3,68 (n = 272) 3,60 (n = 379)<br />

Gymnasium 2,75 (n = 51) 3,06 (n = 308)<br />

Gesamt 3,59 (N = 599) 3,23 (N = 1211)<br />

<strong>Die</strong> Unterschiede in der Tabelle 6/5 werden in der nachfolgenden Abbildung veranschaulicht:<br />

Abbildung 6/6: Berichtszeugnisse in der Grundschule – Vergleich der Mittelwerte<br />

von Lehrern/Eltern nach Schulformen<br />

Grundschule<br />

Haupt-/Realschule<br />

Gesamtschule<br />

In der Grundschule sollte es nur Berichtszeugnisse geben.<br />

Ablehnung Zustimmung<br />

Gymnasium 1 2 3 4 5<br />

Eltern (n = 1211) Lehrer (n = 599)<br />

<strong>Die</strong>se Ergebnisse bestätigen das zuvor gefundene Bild: Bei den Lehrkräften finden sich die<br />

meisten Verfechter von Lernberichten in der Grundschule, so dass sich hier auch die größten<br />

Diskrepanzen zwischen Eltern und Lehrenden ergeben. Es folgen die Gesamtschul-<br />

Lehrkräfte, die sich bei diesem Item mit den Eltern ihrer Schüler(innen) weitgehend einig<br />

sind. Etwas höher liegt auch der Mittelwert der Lehrkräfte in der Haupt-/Realschule im<br />

Vergleich mit den dazugehörigen Eltern. Allein am Gymnasium dreht sich diese Diskrepanz


Seite 212 Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich<br />

wieder um: Beide Mittelwerte liegen nahe beim Wert 3, doch die Eltern antworten erkennbar<br />

<strong>Noten</strong> kritischer als die Lehrkräfte.<br />

Eine mögliche Erklärung für die erneut auffällig <strong>Noten</strong> skeptische Position der<br />

Gesamtschuleltern könnte darin liegen, dass ein erheblicher Teil dieser Eltern die<br />

Entscheidung für diese Schulform bewusst vor dem Hintergrund der Gesamtschulkonzeption<br />

– und der dahinterstehenden reformpädagogischen Überlegung – getroffen hat, während die<br />

meisten der übrigen Eltern sich eher dem gegliederten Schulsystem – und damit auch dem<br />

traditionellen Beurteilungssystem – verbunden fühlen.<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen: An den <strong>Hamburg</strong>er Schulen scheint es in der<br />

Einschätzung zu Fragen der Zensurengebung und Leistungsbeurteilung zwischen den<br />

Gruppen zwei typische Unterschiede zu geben, die jeweils in verschiedene Richtungen<br />

weisen: Am Gymnasium sind die Eltern und Schüler(innen) weniger auf <strong>Noten</strong> fixiert als die<br />

Lehrenden dieser Schulformen. An Grundschulen und Gesamtschulen hingegen folgen die<br />

Schüler(innen) und ihre Eltern den Kollegien nicht im gleichen Maße bei deren tendenzieller<br />

<strong>Noten</strong>skepsis.<br />

6.2 Motivieren durch Zensuren?<br />

Zu den pädagogischen Funktionen, die durch die Leistungsbeurteilung allgemein und durch<br />

Zensuren, <strong>Berichte</strong> und Zeugnisse im Besonderen erfüllt werden sollen, gehört auch die der<br />

Motivation. Dabei wird zum einen von der plausiblen Annahme ausgegangen, dass<br />

Erfolgserlebnisse in Form von guten Zensuren die Schüler(innen) dazu ermuntern, weiterhin<br />

mitzuarbeiten und angemessene <strong>schulische</strong> Leistungen zu erbringen. Zum andern wird auch<br />

die Hypothese vertreten, dass einen prinzipiell leistungsfähigen Heranwachsenden eine<br />

vereinzelte schlechte Zensur „aufrütteln” kann, um auf diese Weise ebenfalls einen<br />

Motivationsschub zur Verbesserung zu bewirken.<br />

Einer dauerhaften Frustrierung durch schlechte <strong>Noten</strong> kann allerdings schwerlich ein positiver<br />

Effekt zugeschrieben werden. Anhaltender Misserfolg führt eher dazu, dass die<br />

Leistungsbereitschaft von Schüler(innen) nachlässt – also eher Demotivation stattfindet<br />

(Fokken 1973, S. 125 ff.). Hier setzen die Befürworter von Verbalberichten an, wenn sie<br />

darauf hinweisen, dass Ziffern als Bewertung schwerlich einer individuellen Bezugsnorm<br />

gerecht werden können, sondern lediglich die Verteilung der Leistungen in der konkreten<br />

Klasse darstellen und unter Umständen auch zementieren. Der Anspruch, ohne <strong>Noten</strong> zu<br />

motivieren, wird daher von vielen Pädagogen vertreten, die diesem Effekt entgehen wollen<br />

(vgl. Olechowsky/Rieder 1990).


Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich Seite 213<br />

Unter der Fragestellung, welche Art der Leistungsbeurteilung sich nach Einschätzung der<br />

Betroffenen besser zur Motivation eignet, werden wir im Weiteren einige Aussagen<br />

analysieren. In der Tabelle 6/7 werden die Einschätzungen der Gesamtgruppen zu der Frage<br />

„Ansporn durch <strong>Noten</strong>?“ mitgeteilt. Dabei ist die Aussage der Schüler(innen) nur bedingt mit<br />

denen der Eltern und Lehrenden vergleichbar, da sie nicht explizit auf „gute <strong>Noten</strong>” abzielt.<br />

Eine Tendenz zur Motivation durch <strong>Noten</strong> lässt sich aber auch hier ablesen:<br />

131<br />

92<br />

58<br />

Tabelle 6/7: Ansporn durch (gute) <strong>Noten</strong> – Einschätzungen von<br />

Lehrern/Eltern/Schülern<br />

„Gute <strong>Noten</strong> spornen die Schüler(innen) an.” (Lehrer)<br />

„Gute <strong>Noten</strong> spornen die Kinder an.” (Eltern)<br />

„Ich finde Zensuren gut, weil ich mich dann besonders anstrenge.” (Schüler)<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils – teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwerte<br />

Lehrende N = 609 4,1% 4,1% 24,8% 37,6% 29,4% 3,84<br />

Eltern N = 1206 2,1% 2,4% 23,4% 28,4% 43,7% 4,09<br />

Schüler(innen) N = 1458 7,8% 5,6% 24,6% 28,5% 33,5% 3,74<br />

Insgesamt scheint sowohl bei den Lehrenden als auch bei den Eltern unstrittig zu sein, dass<br />

gute <strong>Noten</strong> Schüler(innen) motivieren können. Es gibt eine mehrheitliche Zustimmung zu der<br />

Formulierung „Gute <strong>Noten</strong> spornen die Schüler(innen) an.” <strong>Die</strong> Problematik der <strong>Noten</strong><br />

scheint also im Bewusstsein der Lehrenden nicht so sehr im System der Benotung zu liegen,<br />

sondern eher in der unvermeidlichen Tatsache, dass nicht nur gute – und damit motivierende –<br />

<strong>Noten</strong> vergeben werden können. Unter den Eltern ist die Überzeugung, dass „gute <strong>Noten</strong><br />

anspornen”, noch stärker ausgeprägt als in der Lehrerschaft. Der Anteil der zustimmenden<br />

Antworten liegt bei den Eltern etwas höher und der Anteil an Skeptikern ist mit 4 bis 5% bei<br />

den Eltern etwas geringer als bei den Lehrenden (8%). Auch die Selbsteinschätzungen der<br />

Schüler(innen) deuten darauf hin, dass <strong>Noten</strong> einen wichtigen Beitrag zur Motivation liefern<br />

können. Hier gibt es allerdings einen nicht unerheblichen Anteil an Schülern (über 13%), der<br />

die Aussage „Ich finde Zensuren gut, weil ich mich dann besonders anstrenge.” ablehnt. Eine<br />

genaue Analyse (ohne Tabelle) zeigt, dass sich in dieser Gruppe überproportional viele<br />

leistungsschwächere Schüler(innen) finden 15 . Nicht zuletzt ist dies ein Hinweis darauf, dass es<br />

15 „Leistungsschwach“ bezieht sich hier auf die von uns erfragten <strong>Noten</strong> und Leistungsselbsteinschätzungen, darf<br />

also nicht als objektive Messgröße verstanden werden, sondern eher als relative Position in der Klasse.


Seite 214 Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich<br />

tatsächlich nur die „guten” <strong>Noten</strong> sind, die anspornen. Im Folgenden gehen wir wieder den<br />

Schritt der Differenzierung der Einschätzungen nach Schulformen, um etwaigen<br />

Diskrepanzen auf die Spur zu kommen:<br />

Tabelle 6/8: Ansporn durch (gute) <strong>Noten</strong> – differenziert nach Schulformen<br />

„Gute <strong>Noten</strong> spornen die Kinder bzw. die<br />

Schüler(innen) an“<br />

„Ich finde Zensuren gut,<br />

weil ich mich dann<br />

besonders anstrenge.“<br />

Lehrer(innen) Eltern Schüler(innen)<br />

Grundschule 3,45 (n = 164) 4,05 (n = 265)<br />

Haupt-/Realschule 3,67 (n = 107) 4,26 (n = 254) 3,99 (n = 424)<br />

Gesamtschule 3,49 (n = 276) 4,00 (n = 380) 3,67 (n = 603)<br />

Gymnasium 3,57 (n = 54) 4,11 (n = 307) 3,61 (n = 431)<br />

Gesamt 3,54 (N = 601) 4,09 (N = 1206) 3,74 (N = 1458)<br />

Auch diese Vergleiche stellen wir nach dem schon oben erläutertem Verfahren grafisch dar:<br />

Abbildung 6/9: Ansporn durch (gute) <strong>Noten</strong> – Vergleich der Mittelwerte von<br />

Lehrern/Eltern/Schülern nach Schulformen<br />

Gute <strong>Noten</strong> spornen die Schüler(innen) (die Kinder) an. (E. u. L.)<br />

Ich finde Zensuren gut, weil ich mich dann besonders anstrenge. (S.)<br />

Grundschule<br />

Haupt-/Realschule<br />

Gesamtschule<br />

Ablehnung Zustimmung<br />

Gymnasium 1 2 3 4 5<br />

Eltern (n = 1458) Lehrer (n = 601) Schüler (n = 1458)<br />

Es wird deutlich, dass schulformspezifische Unterschiede sowohl bei den Eltern als auch bei<br />

den Lehrenden in die gleiche Richtung gehen: In der Tendenz sind die Betroffenen an den<br />

Grundschulen und an den Gesamtschulen etwas skeptischer in ihren Haltungen gegenüber


Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich Seite 215<br />

dem Motivationswert von <strong>Noten</strong> als die jeweiligen Vergleichsgruppen an den Haupt-<br />

/Realschulen und den Gymnasien.<br />

<strong>Die</strong> Aussagen der Schüler(innen) zum Motivationseffekt von <strong>Noten</strong> liegen ähnlich wie die der<br />

erwachsenen Befragten. Auch hier findet sich – über alle Schulformen der Sekundarstufe<br />

hinweg – eine mehrheitliche Zustimmung zu der Aussage „Ich finde Zensuren gut, weil ich<br />

mich dann besonders anstrenge.” Bedeutsam ist allerdings, dass die bei den Lehrkräften und<br />

Eltern gefundene Tendenz in den Schulformen bei den Schülern etwas gebrochen wird: Zwar<br />

ist die Zustimmung ebenfalls an der Haupt-/Realschule mit einem Mittelwert von 3,99 am<br />

höchsten, jedoch ist die Zustimmung zu dieser Formulierung am Gymnasium mit 3,61 am<br />

geringsten, d.h. sogar noch etwas niedriger als an der Gesamtschule mit 3,67. <strong>Die</strong><br />

verschiedenen Schulformkulturen, die sich in den Einschätzungen der Lehrer(innen) und<br />

Eltern finden, scheinen sich also nicht zwangsläufig bei den Schüler(innen) widerzuspiegeln.<br />

Unter den Schüler(innen) ist eine andere Differenzierung bedeutsamer. Signifikante<br />

Unterschiede zeigen sich nämlich bei der separaten Auswertung der Antworten nach<br />

Jahrgängen:<br />

Tabelle 6/10: Motivation durch Zensuren bei den Schüler(innen) nach<br />

Klassenstufe<br />

58 „Ich finde Zensuren gut, weil ich mich dann besonders anstrenge.“<br />

Anzahl<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils – teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Klasse 6 n = 528 8,7% 2,5% 21,0% 25,6% 42,2% 3,90<br />

Klasse 8 n = 491 7,1% 6,3% 23,8% 29,5% 33,2% 3,75<br />

Klasse 10 n = 439 7,5% 8,4% 29,8% 30,8% 23,5% 3,54<br />

alle N = 1458 7,8% 5,6% 24,6% 28,5% 33,5% 3,74<br />

Mittelwerte<br />

Während in der Klassenstufe 6 noch fast 68% der Schüler(innen) dieser Aussage zustimmen,<br />

sind es im Jahrgang 8 noch 63% und im Jahrgang 10 54%. <strong>Die</strong>s wird auch an den<br />

Mittelwerten deutlich: <strong>Die</strong> Zustimmungswerte sinken von 3,9 in der Klassenstufe 6 auf 3,54<br />

in den 10. Klassen. <strong>Die</strong> Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Motivationskraft durch <strong>Noten</strong><br />

im Laufe der Jahre nachlässt.<br />

Bei der Einschätzung der Motivationsfunktion von Zensuren lassen sich somit keine<br />

schulformspezifischen Profile zeichnen. In allen Schulformen sind die Eltern von der<br />

motivationalen Funktion „guter“ <strong>Noten</strong> deutlich stärker überzeugt als die Lehrkräfte – und die<br />

Schüler(innen) ordnen sich mit ihrer Einschätzung dazwischen ein.


Seite 216 Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich<br />

6.3 Berichtszeugnisse machen Mut<br />

Im Folgenden gehen wir der Frage nach, wie die Intention der Berichtszeugnisse eingeschätzt<br />

wird, Schüler(innen) besonders zu motivieren. Zunächst werden dazu die Gesamt-<br />

einschätzungen der drei Gruppen in ihren prozentualen Anteilen vorgestellt. Dabei beziehen<br />

die Ergebnisse der Schüler(innen) nur eine Teilstichprobe ein – nämlich genau die, die als<br />

letztes Zeugnis ein Berichtszeugnis erhalten haben 16 . <strong>Die</strong>s sind fast ausschließlich<br />

Sechstklässler an den Gesamtschulen bzw. einer Haupt-/Realschule. Bei den Eltern und<br />

Lehrer(innen) ist die ganze Stichprobe einbezogen.<br />

97<br />

71<br />

120<br />

Tabelle 6/11: Motivation durch Berichtszeugnisse – Einschätzungen von<br />

Schülern/Lehrern/Eltern<br />

„Berichtszeugnisse können die Schüler(innen) auf ihre Stärken aufmerksam machen und<br />

anspornen.“ (Lehrer)<br />

„Ein Berichtszeugnis kann das Kind auf seine Stärken aufmerksam machen und anspornen.“<br />

(Eltern)<br />

„Das Berichtszeugnis macht mir Mut für das weitere Lernen.“ (Schüler)<br />

Anzahl<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwerte<br />

Lehrende N = 603 1,7% 2,5% 24,4% 35,3% 36,2% 4,02<br />

Eltern N = 1213 5,4% 8,2% 28,9% 27,3% 30,3% 3,69<br />

Schüler(innen)<br />

des 6. Jg. mit Berichtszeugnissen<br />

N = 214 8,9% 9,3% 29,4% 21,5% 30,4% 3,55<br />

<strong>Die</strong> Aussage der Tabelle 6/11 impliziert schon einen Zusammenhang zwischen dem<br />

„aufmerksam machen auf Stärken” durch verbale Beurteilungen und dem daraus<br />

resultierendem „Ansporn”. <strong>Die</strong>ser zusammenhängenden Aussage wird von einer deutlichen<br />

Mehrheit der befragten Lehrenden zugestimmt, nur wenige (gut 4%) verneinen dies explizit.<br />

<strong>Die</strong> zustimmende Haltung der Lehrenden wird von den Eltern der Schüler(innen) prinzipiell<br />

geteilt. Allerdings findet sich bei dieser Äußerung ein höherer Anteil (fast 14%) von<br />

Skeptikern, die dieser Aussage nicht zustimmen.<br />

16 Nur diese konnten wir nach der Wirkung ihres Berichtszeugnisses fragen. <strong>Die</strong> übrigen sind nach den<br />

Wirkungen der Kommentare gefragt worden.


Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich Seite 217<br />

Bei den betroffenen Schüler(innen) findet die Aussage „Das Berichtszeugnis macht mir Mut<br />

für das weitere Lernen.“ Zustimmung bei einer guten Mehrheit von 51%. Nur etwa 18%<br />

stimmen ihr nicht zu. <strong>Die</strong> Schulformunterschiede werden in der nächsten Tabelle präsentiert:<br />

Tabelle 6/12: Motivation durch Berichtszeugnisse – differenziert nach Schulformen<br />

„Berichtszeugnisse können die<br />

Schüler(innen) auf ihre (kann das Kind auf<br />

seine) Stärken aufmerksam machen und<br />

anspornen.“<br />

„Das Berichtszeugnis<br />

macht mir Mut für das<br />

weitere Lernen.“<br />

Lehrer(innen) Eltern Schüler(innen) der<br />

Klasse 6 mit Berichtszeugnissen<br />

Grundschule 4,39 (n = 166) 3,79 (n = 266)<br />

Haupt-/Realschule 3,78 (n = 106) 3,42 (n = 259) 3,50 (n = 52)<br />

Gesamtschule 3,97 (n = 278) 3,83 (n = 380) 3,49 (n = 202)<br />

Gymnasium 3,57 (n = 53) 3,64 (n = 308) - -<br />

Gesamt 4,02 (n = 603) 3,69 (n = 1213) 3,49 (n = 254)<br />

Auch diese Mittelwerte werden im Folgenden wieder als Grafik präsentiert:<br />

Abbildung 6/13: Motivation durch Berichtszeugnisse –<br />

Vergleich der Mittelwerte von Lehrern/Eltern/Schülern<br />

Berichtszeugnisse können die Schüler(innen) auf ihre (das Kind auf seine)<br />

Stärken aufmerksam machen und anspornen. (E. u. L.)<br />

Das Berichtszeugnis macht mir Mut für das weitere Lernen. (S.)<br />

Grundschule<br />

Haupt-/Realschule<br />

Gesamtschule<br />

Ablehnung Zustimmung<br />

Gymnasium 1 2 3 4 5<br />

Eltern (n = 1213) Lehrer (n = 603) Schüler der Klasse 6 (n = 254)<br />

Neben dem Ergebnis, dass die meisten Lehrer(innen) den Berichtszeugnissen eher einen<br />

Motivationseffekt zutrauen als die Eltern, finden sich hier auch wieder typische


Seite 218 Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich<br />

Schulformunterschiede. <strong>Die</strong> Diskrepanzen in den Einschätzungen der Lehrenden und der<br />

Eltern zu der Aussage sind wieder an der Grundschule am deutlichsten: <strong>Die</strong> Grundschuleltern<br />

finden sich mit ihrer Zustimmung nur knapp über dem Durchschnitt aller Eltern, während bei<br />

den Lehrenden eine schon fast umfassende Zustimmung zu diesem Item vorliegt. In die<br />

gleiche Richtung, aber weniger ausgeprägt, weisen die Unterschiede an den Haupt-<br />

/Realschulen und an der Gesamtschule. Auch hier stimmen die Lehrer(innen) dem Item<br />

stärker zu als die Eltern. Am engsten aneinander liegen in diesem Fall die Aussagen der<br />

Gymnasialeltern mit den entsprechenden Lehrer(innen). Bezieht man in diesen Vergleich die<br />

Schüleraussagen mit ein, so finden wir an der Gesamtschule eine besonders prekäre Situation:<br />

Während Lehrer(innen) und Eltern hier besonders stark auf die motivationale Funktion von<br />

Berichtszeugnissen setzen, sehen die Schüler(innen), die diese Berichtszeugnisse erhalten,<br />

dies deutlich distanzierter.<br />

Insgesamt lässt sich somit feststellen: In allen drei Gruppen finden sich Hinweise dafür, dass<br />

sowohl (gute) <strong>Noten</strong> als auch verbale Beurteilungen dazu geeignet sein können, die<br />

Lernmotivation der Schüler(innen) zu stärken. Bei einer differenzierten Betrachtung nach den<br />

verschiedenen Schulformen zeigt sich, dass die Ansichten bei den Lehrenden weiter<br />

auseinander klaffen als bei den Eltern <strong>oder</strong> den Schüler(innen): Einerseits ist die Skepsis<br />

gegenüber <strong>Noten</strong> bei den Lehrenden der Primarstufe größer als in der entsprechenden<br />

Elternschaft, andererseits spiegelt sich aber auch die relativ Zensuren unkritische Haltung der<br />

Lehrer(innen) an den Gymnasien nicht bei den Eltern dieser Schulform wider. Von einer<br />

Übereinstimmung der Einstellungen kann am ehesten bei den Eltern und Lehrern der<br />

Gesamtschule gesprochen werden. Bei den Heranwachsenden hingegen scheint die Schulform<br />

für diesen Einstellungskomplex eine eher geringe Bedeutung zu haben.<br />

6.4 Mehr Schulangst durch Zensuren?<br />

Ein weit verbreitetes Argument für die Ersetzung von <strong>Noten</strong> durch Verbalbeurteilungen liegt<br />

in der Vorstellung, dass – schlechte – <strong>Noten</strong> Verursacher von psychischen Belastungen sind.<br />

So können sie die Ursache <strong>oder</strong> der Auslöser von Schulangst sein (Schwarzer 1979 und<br />

Jacobs/Strittmatter 1979) und sie beeinträchtigen vor allem bei leistungsschwächeren<br />

Schüler(innen) das Selbstwertgefühl und die Persönlichkeitsentfaltung (vgl. Rieder 1990, S.<br />

21). Im Umkehrschluss kann also davon ausgegangen werden, dass eine Beurteilung ohne<br />

<strong>Noten</strong> die Schulangst mindern müsste (Schreiber 1990, S.115 f.). Wir haben diese Hypothese<br />

auch in unserem Fragebogen thematisiert und werden sie im Weiteren auf zwei Weisen<br />

untersuchen:


Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich Seite 219<br />

- Zum einen präsentieren wir die Einschätzungen der Betroffenen zum Zusammenhang von<br />

(schlechten) <strong>Noten</strong> und Schulangst.<br />

- Zum anderen werden wir diese Hypothese direkt überprüfen können, indem wir<br />

diejenigen, die Erfahrung mit schlechten <strong>Noten</strong> gemacht haben, als Teilstichprobe<br />

gesondert betrachten und ihre Angaben zur Schulangst untersuchen.<br />

<strong>Die</strong> folgende Tabelle 6/14 gibt Auskunft über die Antworten der befragten Lehrer(innen) und<br />

Eltern zu der Aussage „Schlechte <strong>Noten</strong> erhöhen die Schulangst.“<br />

Tabelle 6/14: Lehrer und Eltern zu <strong>Noten</strong> und Schulangst<br />

„Schlechte <strong>Noten</strong> erhöhen die Schulangst.“<br />

Anzahl<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils – teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwerte<br />

95 Lehrende N = 607 1,0% 8,2% 33,2% 34,8% 22,6% 3,70<br />

69 Eltern N = 1210 6,9% 13,2% 31,2% 24,0% 24,7% 3,46<br />

<strong>Die</strong> Mittelwerte der Antworteinschätzungen zeigen, dass in beiden Gruppen eher zugestimmt<br />

als abgelehnt wird: Über 57% der Lehrenden sind von dem kausalen Zusammenhang von<br />

schlechten <strong>Noten</strong> und erhöhter Schulangst überzeugt, ca. 9% glauben dies nicht. Bei den<br />

Eltern sind es nur knapp die Hälfte, die eine zustimmende Antwort geben, gut jedes fünfte<br />

Elternteil stellt diese Aussage explizit in Frage. Insgesamt scheinen also die Lehrenden etwas<br />

sicherer zu sein, was die negativen Folgen schlechter <strong>Noten</strong> betrifft. Auffällig ist bei dieser<br />

Verteilung der hohe Anteil an unentschiedenen Antworten, der sich schwer interpretieren<br />

lässt. Plausibel erscheint uns die Vermutung, dass in diesem Zusammenhang weitere Faktoren<br />

wichtig sind: beispielsweise die Frage, wie Eltern auf die schlechten <strong>Noten</strong> reagieren <strong>oder</strong> ob<br />

die <strong>Noten</strong> weitreichende Konsequenzen haben (Nicht-Versetzung, Schulwechsel, Gefährdung<br />

des Abschlusses).<br />

<strong>Die</strong> Schüler sind zu der Frage, ob <strong>Noten</strong> Angst erzeugen, ebenfalls gefragt worden. Zwei<br />

Items thematisierten ausdrücklich den kausalen Zusammenhang zwischen <strong>Noten</strong> und<br />

Schulangst: Eine der beiden Aussagen bezieht sich auf eine konkrete Situationen in der<br />

Schule – hier: Klassenarbeit –, die andere ist allgemeiner formuliert und zielt auf eine<br />

generelle Beurteilung. <strong>Die</strong> folgende Tabelle gibt Auskunft über die prozentuale Verteilung<br />

der Antworten.


Seite 220 Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich<br />

Tabelle 6/15: Einschätzungen von Schüler(innen) zu <strong>Noten</strong> und Angst<br />

Schüler(innen)<br />

N = 1455<br />

53 „Wenn es keine Zensuren gibt,<br />

habe ich weniger Angst vor<br />

Klassenarbeiten.“<br />

60 „Ich finde <strong>Noten</strong> in der Schule<br />

schlecht, weil sie mir Angst<br />

machen.“<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwerte<br />

37,7% 13,4% 21,7% 11,1% 16,0% 2,54<br />

49,5% 20,8% 18,4% 6,0% 5,3% 1,97<br />

Es zeigt sich, dass die Aussage „Wenn es keine Zensuren gibt, habe ich weniger Angst vor<br />

Klassenarbeiten.“ von mehr als der Hälfte der Schüler(innen) abgelehnt wird, etwa ein<br />

Fünftel wählt die neutrale Antwortvorgabe „teils-teils“. Allerdings stimmen auch 27% der<br />

befragten Schüler(innen) der Aussage zu, so dass für einen Teil der Befragten durchaus ein<br />

Zusammenhang zwischen Angst vor schriftlichen Prüfungen und Zensuren vermutet werden<br />

kann.<br />

<strong>Die</strong> zweite Aussage ist allgemeiner formuliert: „Ich finde <strong>Noten</strong> in der Schule schlecht, weil<br />

sie mir Angst machen.” <strong>Die</strong>ses Item findet noch weniger Zustimmung bei den Schüler(innen)<br />

als das vorhergehende. Hier stimmen nur etwa 11% zu, während über 70% dies explizit<br />

verneinen. Für die Mehrheit der Schüler(innen) scheint also der Zusammenhang von <strong>Noten</strong><br />

und Angst eher unproblematisch zu sein. Richtet man allerdings den Fokus auf schlechte<br />

<strong>Noten</strong>, so zeigen die Einschätzungen der betroffenen Schüler(innen) ein differenzierteres<br />

Bild. Um hier zu genaueren Einschätzungen zu gelangen, haben wir aus den befragten<br />

Schüler(innen) eine Teilstichprobe extrahiert, bei denen man davon ausgehen kann, dass sie<br />

tatsächlich Erfahrungen mit schlechten <strong>Noten</strong> gemacht haben. Bei der Konstruktion dieser<br />

Teilgruppe haben wir diejenigen Schüler(innen) ausgewählt, die mindestens eine „Fünf“ (<strong>oder</strong><br />

sogar „Sechs“) in einem der drei Fächer Deutsch, Mathematik und Englisch angegeben haben.<br />

<strong>Die</strong> folgende Tabelle 6/16 präsentiert die prozentuale Verteilung der Items aus Tabelle 6/15<br />

(53 und 60), nun aber für diese reduzierte Anzahl von Schüler(innen), die nach eigenen<br />

Angaben bereits Erfahrungen mit schlechten <strong>Noten</strong> gemacht haben.


Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich Seite 221<br />

Tabelle 6/16: Schüler(innen) mit mindestens einer schlechten Zensur zu <strong>Noten</strong> und<br />

Angst<br />

Schüler(innen) mit<br />

mindestens einer „Fünf“<br />

N = 145<br />

53 „Wenn es keine Zensuren<br />

gibt, habe ich weniger Angst<br />

vor Klassenarbeiten.“<br />

60 „Ich finde <strong>Noten</strong> in der<br />

Schule schlecht, weil sie mir<br />

Angst machen.“<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwerte<br />

33,1% 9,7% 26,9% 11,7% 18,6% 2,73<br />

40,0% 18,6% 26,9% 8,3% 6,2% 2,22<br />

Erstaunlicherweise finden sich auch in dieser Gruppe eher ablehnende als zustimmende<br />

Antworten. Allerdings zeigt sich an den höheren Mittelwerten, dass hier tendenzielle<br />

Unterschiede zur Gesamtstichprobe der Schülerschaft bestehen: <strong>Die</strong> beiden Aussagen werden<br />

etwas weniger abgelehnt als im Durchschnitt, der Anteil der „teils/teils“-Antworten liegt<br />

höher, und die Zustimmung zu den formulierten Zusammenhängen ist stärker als in der<br />

gesamten Schülerschaft. <strong>Die</strong> weitere Differenzierung der Antworten nach Schulformen soll<br />

nun die Frage klären, ob diese Tendenz für alle Schulformen gleich verläuft. <strong>Die</strong> Darstellung<br />

des Schulformvergleichs wird in der schon bekannten Weise anhand von Mittelwerten<br />

vorgenommen. Allerdings erweitern wir den Vergleich in folgender Weise: In der Tabelle<br />

6/17 finden sich nun zwei Mittelwerte für die Gruppe der Schüler(innen). Der eine bezieht<br />

sich auf die gesamte Schülerstichprobe, der zweite auf die oben beschriebene Teilstichprobe<br />

derjenigen mit (mindestens) einer „Fünf“ in den genannten Fächern.<br />

Tabelle 6/17: Einschätzungen zu Schulangst und <strong>Noten</strong> – differenziert nach<br />

Schulformen<br />

„Schlechte <strong>Noten</strong> erhöhen die Schulangst.“ „Ich finde <strong>Noten</strong> in der Schule<br />

schlecht, weil sie mir Angst<br />

machen.“<br />

Lehrer(innen) Eltern<br />

Schüler(innen)<br />

alle Teilstichprobe<br />

Grundschule 4,10 (n = 167) 3,60 (n = 268)<br />

Haupt-<br />

/Realschule<br />

3,48 (n = 107) 3,42 (n = 257) 1,93 (n = 423) 2,14 (n = 90)<br />

Gesamtschule 3,60 (n = 280) 3,49 (n = 380) 2,00 (n = 605) 2,28 (n = 29)<br />

Gymnasium 3,38 (n = 53) 3,33 (n = 305) 1,96 (n = 430) 2,42 (n = 26)<br />

Gesamt 3,70 (N = 607) 3,46 (N = 1210) 1,97 (N =1458) 2,22 (N =145)


Seite 222 Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich<br />

Da sich innerhalb der gesamten Schülerstichprobe keine signifikanten schulformspezifischen<br />

Unterschiede zeigen, lassen wir diese Mittelwerte in der nun folgenden grafischen Umsetzung<br />

der Tabelle 6/17 weg, um sie nicht zu überfrachten.<br />

Abbildung 6/18: Schulangst und schlechte <strong>Noten</strong> – Vergleich der Mittelwerte von<br />

Lehrern/Eltern/leistungsschwachen Schülern<br />

Schlechte <strong>Noten</strong> erhöhen die Schulangst. (E. u. L.)<br />

Ich finde <strong>Noten</strong> schlecht, weil sie mir Angst machen. (S.)<br />

Grundschule<br />

Haupt-/Realschule<br />

Gesamtschule<br />

Ablehnung Zustimmung<br />

Gymnasium 1 2 3 4 5<br />

Eltern (n = 1210) Lehrer (n = 607) leistungsschwache Schüler (n = 145)<br />

<strong>Die</strong> Schülerstichprobe ist reduziert, hier ist nur die Gruppe derjenigen verzeichnet, die mindestens eine<br />

schlechte Zensur angegeben haben.<br />

An den Sekundarschulen sind sich Eltern und Lehrende weitgehend einig, hier äußern sie –<br />

etwas nach Schulform variierend – eine verhaltene Zustimmung. Deutliche Unterschiede<br />

zwischen den Lehrenden und den Eltern gibt es allenfalls an der Grundschule. Hier äußern<br />

sich die Lehrer(innen) weitaus besorgter über den Zusammenhang von schlechten <strong>Noten</strong> und<br />

Schulangst als die entsprechenden Eltern dieser Schulform, obwohl auch diese im Vergleich<br />

zu den übrigen Eltern schon die höchste Zustimmung zu der Aussage aufweisen. <strong>Die</strong> Linie<br />

mit den Kreisen stellt jeweils die Mittelwerte aus der Schüler-Teilstichprobe dar. Sie<br />

repräsentiert also die Antworten der Schüler(innen) mit mindestens einer „Fünf“ in den<br />

Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik zu den Aussagen „Ich finde <strong>Noten</strong> schlecht, weil<br />

sie mir Angst machen.“. In allen Schulformen lehnen die Schüler(innen) diesen<br />

Zusammenhang mehrheitlich ab. <strong>Die</strong>se Ablehnung weist aber schulformbezogene<br />

Unterschiede auf: Es zeigt sich, dass die ablehnende Einschätzung am Gymnasium etwas<br />

weniger stark ausfällt als in den anderen Sekundarschulen. Eine Erklärung für dieses Ergebnis<br />

könnte in dem hohen Selektionsdruck dieser Schulform zu finden sein: Im Gegensatz zu den


Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich Seite 223<br />

beiden anderen Schulformen droht am Gymnasium der Wechsel zu einer anderen Schulform,<br />

falls die Leistungen dauerhaft nicht ausreichend sind. Da an den Haupt-/Realschulen<br />

schlechte <strong>Noten</strong> auch häufiger vorkommen als beispielsweise am Gymnasium, verlieren sie<br />

möglicherweise etwas an Bedeutung, weil sie ein Stück weit zur Normalität gehören.<br />

Es lässt sich somit festhalten: Insgesamt wird von den Schüler(innen) kaum ein<br />

Zusammenhang von <strong>Noten</strong> und Angst eingestanden. Allerdings gibt es in den<br />

Sekundarschulen unter den Schüler(innen), die Erfahrungen mit schlechten <strong>Noten</strong> gemacht<br />

haben, erkennbare Unterschiede in den Einschätzungen zu dem Zusammenhang <strong>Noten</strong> und<br />

Schulangst. Am Gymnasium wird der Zusammenhang enger gesehen als an der Haupt-<br />

/Realschule und der Gesamtschule. Bei den Eltern und Lehrerinnen der Sekundarschulen<br />

finden sich in dieser Frage kaum Unterschiede.<br />

Auf der Ebene der Antizipation von Schulangst scheinen sich die Hypothesen über einen<br />

Zusammenhang mit (schlechten) <strong>Noten</strong> zu bestätigen. Mehr <strong>oder</strong> weniger sind sich Eltern und<br />

Lehrende darin einig, dass schlechte <strong>Noten</strong> zu einer erhöhten Schulangst führen bzw. die<br />

Lernfähigkeit beeinträchtigen. Bei den Schüler(innen) als Gesamtheit wird diesem<br />

Zusammenhang eher eine geringe Bedeutung beigemessen. <strong>Die</strong>s scheint in einem gewissen<br />

Widerspruch zu dem zu stehen, was wir in Kapitel 4.1.2 bereits dargestellt haben, dass<br />

nämlich schlechte <strong>Noten</strong> und eigene – negative – Selbsteinschätzung mit Schulangst sehr<br />

wohl in einem deutlichen Zusammenhang stehen.<br />

6.5 Soll das Arbeits- und Sozialverhalten beurteilt werden?<br />

Laut <strong>Hamburg</strong>er Zeugnis- und Versetzungsordnung (ZVO 1998) enthalten alle Zeugnisse (mit<br />

Ausnahme von Abschlusszeugnissen <strong>oder</strong> Zeugnissen, mit denen sich Schulabgänger<br />

bewerben) Kommentare zum Arbeits- und Sozialverhalten. Sie sollen „so gefasst sein, dass<br />

sie der Schülerin <strong>oder</strong> dem Schüler für seinen weiteren Schulbesuch hilfreich sind“ (a.a.O. § 3<br />

Absatz 2 S. 7). In unserem Fragebogen sind wir explizit auf diese Beurteilung des Arbeits-<br />

und Sozialverhaltens eingegangen. In einem ersten Schritt stellen wir allgemein dar, wie die<br />

betroffenen Gruppen, also die Lehrenden, die Schüler(innen) und die Eltern zu dieser Praxis<br />

stehen. In einem zweiten Schritt werden die Aussagen der Rezipienten der Zeugnisse darauf-<br />

hin analysiert, inwieweit diese Kommentare – aus Sicht der Schüler(innen) und Eltern – dem<br />

oben genannten Anspruch gerecht werden, ob die Eltern und Schüler(innen) beispielsweise<br />

durch das Zeugnis über den Bereich Arbeits- und Sozialverhalten umfassend informiert<br />

wurden und inwieweit sie den Bemerkungen Hilfestellungen für das weitere Lernen<br />

entnehmen konnten.


Seite 224 Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich<br />

Tabelle 6/19: Einstellung zur Beurteilung des Arbeits- und Sozialverhaltens<br />

105<br />

79/<br />

49<br />

„Ich finde es gut, dass im Zeugnis auch das Arbeits- und Sozialverhalten beurteilt wird.“<br />

(Lehrer)<br />

„Ich finde es gut, dass im Zeugnis auch etwas zum/zu meinem Arbeits- und Sozialverhalten<br />

geschrieben wird.“ (Eltern und Schüler(innen))<br />

Anzahl<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils – teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwerte<br />

Lehrende N = 611 0,5% 0,7% 4,3% 21,3% 73,5% 4,66<br />

Eltern N = 1217 0,8% 0,5% 4,5% 17,3% 76,8% 4,69<br />

Schüler(innen) N = 1454 6,3% 3,9% 19,5% 23,8% 46,6% 4,01<br />

Zunächst einmal lässt sich festhalten, dass in allen drei Gruppen die überwiegende Anzahl der<br />

Befragten es positiv bewertet, dass das Arbeits- und Sozialverhalten im Zeugnis Erwähnung<br />

findet. Unter den Lehrenden und den Eltern liegen die zustimmenden Aussagen über 95%.<br />

Kaum jemand lehnt dies explizit ab, nur wenige sind unentschieden. <strong>Die</strong> in <strong>Hamburg</strong> geübte<br />

Praxis wird also nicht in Frage gestellt. Auch unter den Schüler(innen) ist das Einverständnis<br />

mit dieser Form der Beurteilung sehr hoch: Über 70% stimmen der Aussage zu, allerdings<br />

votieren fast ein Fünftel für die indifferente Antwort „teils-teils“ und auch gut jeder zehnte<br />

findet es nicht gut, dass zum Arbeits- und Sozialverhalten etwas geschrieben wird. <strong>Die</strong><br />

Unterschiede, die sich ergeben, wenn alle drei Gruppen nach Schulformen differenziert<br />

werden, werden nun präsentiert:<br />

Tabelle 6/20: Einstellung zur Beurteilung des Arbeits- und Sozialverhaltens<br />

– differenziert nach Schulformen<br />

„Ich finde es gut, dass im Zeugnis auch ...<br />

... das Arbeits- und<br />

Sozialverhalten beurteilt<br />

wird.“<br />

.... etwas zum Arbeits-<br />

und Sozialverhalten<br />

geschrieben wird.“<br />

... etwas zu meinem<br />

Arbeits- und<br />

Sozialverhalten<br />

geschrieben wird.“<br />

Lehrer(innen) Eltern Schüler(innen)<br />

Grundschule 4,89 (n = 168) 4,70 (n = 268)<br />

Haupt-/Realschule 4,63 (n = 107) 4,73 (n = 259) 4,00 (n = 424)<br />

Gesamtschule 4,57 (n = 282) 4,68 (n = 381) 4,04 (n = 600)<br />

Gymnasium 4,50 (n = 54) 4,66 (n = 309) 3,97 (n = 430)<br />

Gesamt 4,66 (N = 611) 4,69 (N = 1217) 4,01 (N = 1454)


Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich Seite 225<br />

Schon die Tabelle zeigt, dass weder bei den Eltern noch bei den Schüler(innen) nennenswerte<br />

Unterschiede bestehen, die auf die Schulform zurückzuführen wären. Lediglich die<br />

Unterschiede zwischen den Grundschullehrkräften sind signifikant von denen der<br />

Sekundarschullehrer(innen) verschieden. <strong>Die</strong> nun folgende grafische Umsetzung der Tabelle<br />

verdeutlicht dies.<br />

Abbildung 6/21: Einstellung zu den Kommentaren zum Arbeits- und Sozialverhalten –<br />

Vergleich der Mittelwerte von Lehrern/Eltern/Schülern<br />

Ich finde es gut, dass im Zeugnis auch ...<br />

... das Arbeits- und Sozialverhalten beurteilt wird. (L. )<br />

... etwas zum (zu meinem) Arbeits- und Sozialverhalten geschrieben wird. (E. u. S.)<br />

Grundschule<br />

Haupt-/Realschule<br />

Gesamtschule<br />

<strong>Die</strong> Grafik macht deutlich, dass in der Einstellung zu den Kommentaren zum Arbeits- und<br />

Sozialverhalten über alle Schulformen hinweg einmütige Zustimmung herrscht. Dabei sind<br />

zwei Ergebnisse besonders hervorzuheben:<br />

Ablehnung Zustimmung<br />

Gymnasium 1 2 3 4 5<br />

Eltern (n = 1217) Lehrer (n = 611) Schüler (n = 1454)<br />

1. Wenn überhaupt Kritik an dem Sinn dieser Kommentare geübt wird, dann kommt sie am<br />

ehesten von den Schülern (dabei findet an dieser Stelle die rein männliche Bezeichnung<br />

eine gewisse Berechtigung, da es signifikant häufiger Jungen sind, die sich gegen eine<br />

Beurteilung ihres Arbeits- und Sozialverhaltens im Zeugnis aussprechen).<br />

2. Deutlich wird in dieser Grafik auch, dass es für die Grundschullehrer(innen) besonders<br />

wichtig zu sein scheint, auch verbalen Elementen im Zeugnis Raum zu geben. Der<br />

Mittelwert ihrer Einschätzungen sticht auch in der allgemeinen und breiten Zustimmung<br />

noch hervor. Dadurch wird an der Grundschule – im Unterschied zu den drei<br />

Sekundarschulen – die Zustimmung der Eltern von den Lehrenden noch übertroffen.


Seite 226 Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich<br />

In den folgenden Tabellen gehen wir der Frage nach, inwieweit der Anspruch an die<br />

Kommentare auch erfüllt wird. Dazu werden die Einschätzungen von Eltern und<br />

Schüler(innen) zu der Aussage, ob sie viel über den besagten Themenbereich erfahren haben,<br />

präsentiert.<br />

Tabelle 6/22: Informationsgehalt der Kommentare zum Arbeits- und Sozialverhaltens<br />

26 „Aus dem Zeugnis habe ich viel über das Arbeits- und Sozialverhalten meines Kindes in<br />

der Schule erfahren.“ (Eltern)<br />

32 „Durch mein Zeugnis habe ich viel über mein Arbeits- und Sozialverhalten in der<br />

Schule erfahren.“ (Schüler(innen))<br />

Anzahl<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

ganz<br />

genau<br />

Mittelwerte<br />

Eltern N = 1303 8,2% 10,2% 29,4% 28,0% 24,2% 3,50<br />

Schüler(innen) N = 1457 13,3% 10,1% 24,8% 27,7% 24,1% 3,39<br />

<strong>Die</strong> große Akzeptanz der Kommentare zum Arbeits- und Sozialverhalten wird in diesen<br />

Aussagen etwas relativiert: Prinzipiell sind Eltern und Schüler(innen) zwar für die<br />

Beurteilung des Arbeits- und Sozialverhaltens; doch bei der konkreten Nachfrage, ob aus dem<br />

Zeugnis viel über das Arbeits- und Sozialverhalten zu erfahren war, sind die Einschätzungen<br />

etwas zurückhaltender: Immerhin über 18% der Eltern und über 23% der Schüler(innen)<br />

stimmen dieser Aussage nicht zu, gut die Hälfte der Eltern und Schüler(innen) stimmen ihr<br />

zu, die übrigen wählen ein unentschiedenes „teils/teils“. Nun mag die Formulierung „habe ich<br />

viel erfahren“ unterschiedlich interpretiert werden können, „viel“ ist in diesem Falle wohl<br />

sehr relativ; dennoch lässt sich unseres Erachtens eine – zumindest partielle – Unzufriedenheit<br />

aus diesen Antworten herauslesen. Der grundsätzlichen Bereitschaft, auch Beurteilungen auf<br />

nicht-fachlichem Gebiet hinzunehmen, steht also eine gewisse Enttäuschung gegenüber, dass<br />

das Instrument der Kommentare nicht in allen Fällen optimal genutzt wird.<br />

Auch diese Einschätzungen sollen unter dem Gesichtspunkt Schulform betrachtet werden:


Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich Seite 227<br />

Tabelle 6/23: Informationsgehalt der Kommentare zum Arbeits- und Sozialverhaltens<br />

– differenziert nach Schulformen<br />

„Aus dem Zeugnis habe ich viel über<br />

das Arbeits- und Sozialverhalten<br />

meines Kindes in der Schule<br />

erfahren.“<br />

Eltern Schüler(innen)<br />

Grundschule 4,11 (n = 304)<br />

„Durch mein Zeugnis habe ich viel<br />

über mein Arbeits- und<br />

Sozialverhalten in der Schule<br />

erfahren.“<br />

Haupt-/Realschule 3,39 (n = 270) 3,73 (n = 422)<br />

Gesamtschule 3,38 (n = 421) 3,37 (n = 605)<br />

Gymnasium 3,15 (n = 308) 3,09 (n = 430)<br />

Gesamt 3,50 (n = 1303) 3,39 (n = 1457)<br />

<strong>Die</strong> Tabelle 6/23 zeigt die erheblichen Unterschiede, die zwischen den Schulformen bestehen.<br />

In der folgenden Grafik sind sie zudem visualisiert:<br />

Abbildung 6/24: Informationsgehalt der Kommentare zum Arbeits- und Sozial-<br />

verhalten – Vergleich der Mittelwerte von Eltern und Schülern<br />

Aus dem Zeugnis habe ich viel über das Arbeits- und Sozialverhalten<br />

meines Kindes in der Schule erfahren. (E.)<br />

Durch mein Zeugnis habe ich viel über mein Arbeits- und Sozialverhalten in<br />

der Schule erfahren. (S.)<br />

Grundschule<br />

Haupt-/Realschule<br />

Gesamtschule<br />

Ablehnung Zustimmung<br />

Gymnasium 1 2 3 4 5<br />

Eltern (n = 1303) Schüler (n = 1460)<br />

In beiden Rezipienten-Gruppen sind die Einschätzungen am Gymnasium am kritischsten. D.h.<br />

der Anteil derer, die aus dem Zeugnis nicht viel über das Arbeits- und Sozialverhalten<br />

erfahren haben, ist in dieser Schulform besonders hoch. Es folgen die Einschätzungen an der


Seite 228 Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich<br />

Gesamtschule, wobei sich hier die Schüler(innen) mit ihren Eltern weitgehend einig sind. An<br />

der Haupt- und Realschule sind gewisse Differenzen in der Wahrnehmung der Schüler(innen)<br />

und der Eltern festzustellen. Hier entnehmen die Schüler(innen) den Kommentaren<br />

anscheinend mehr Informationen als die Eltern. Von diesen Einschätzungen heben sich<br />

allerdings die Aussagen der Grundschuleltern deutlich ab. Hier ist die Zustimmung zu dem<br />

Item sehr ausgeprägt, so dass aus Sicht der Eltern die Grundschulzeugnisse wohl am<br />

aussagekräftigsten sind, wenn es um das Arbeits- und Sozialverhalten der Kinder geht.<br />

Eine Erklärung für dieses Phänomen könnte darin liegen, dass die jeweiligen Lehrkräfte<br />

unterschiedliche Erfahrungen mit verbalen Beurteilungen gemacht haben: Während die<br />

Lehrenden der Primarstufe in den ersten beiden Jahrgängen nicht um Berichtszeugnisse<br />

herumkommen und z.T. auch in den Klassenstufen 3 und 4 verbale Beurteilungen verfassen<br />

(müssen), ist die Situation vor allem an den Gymnasien eine andere: Hier steht die<br />

Beurteilung durch Zensuren eindeutig im Vordergrund.<br />

6.6 Sind <strong>Noten</strong> objektiver und gerechter als Berichtszeugnisse ?<br />

Ein häufig behaupteter Vorteil der Zensuren liegt in der (scheinbaren) Objektivität und einer<br />

damit assoziierten Gerechtigkeit: Alle Schüler(innen) werden mit dem gleichen Maß<br />

gemessen – mit der sechsstufigen <strong>Noten</strong>skala. Von den von uns Befragten wollten wir<br />

erfahren, welche Beurteilungsform sie unter den Gesichtspunkten Gerechtigkeit und<br />

Objektivität für geeigneter halten: Zensuren <strong>oder</strong> verbale Beurteilungen. In unseren<br />

Fragebögen haben wir dazu entsprechende Items formuliert. Zum einen sollten die Lehrenden,<br />

Eltern und Schüler(innen) Stellung nehmen zu der Aussage: „<strong>Noten</strong> auf dem Zeugnis finde ich<br />

gerechter als verbale Beurteilungen.“ (bzw. „Berichtszeugnisse“). Den Lehrer(innen) und<br />

den Eltern hat zusätzlich auch die Aussage „<strong>Noten</strong> sind objektiver als eine verbale<br />

Beurteilung.“ (bzw. „Berichtszeugnisse“) zur Einschätzung vorgelegen. In der Auswertung<br />

der Daten zeigte sich, dass zwischen diesen beiden Aussagen in beiden Gruppen eine hohe<br />

positive Korrelation vorliegt. Das heißt: Wer der Objektivität zustimmt, der stimmt auch eher<br />

der Gerechtigkeit der <strong>Noten</strong> zu. <strong>Die</strong>s zeigt, dass für die Befragten die beiden<br />

Qualitätskriterien eng zusammengehören. Bei der Darstellung der Ergebnisse beschränken wir<br />

uns daher auf eines der beiden Items. <strong>Die</strong> folgende Tabelle 6/25 informiert über die<br />

Verteilung der Antworten, die sich auf den Vergleich von <strong>Noten</strong> und verbaler Beurteilung<br />

bezüglich der Gerechtigkeit beziehen.


Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich Seite 229<br />

Tabelle 6/25: <strong>Noten</strong> gerechter als <strong>Berichte</strong>?<br />

„<strong>Noten</strong> auf dem Zeugnis finde ich generell gerechter als verbale Beurteilungen.“<br />

(Lehrer)<br />

„<strong>Noten</strong> auf dem Zeugnis finde ich gerechter als Berichtszeugnisse.“ (Eltern, Schüler)<br />

Anzahl<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

ganz<br />

genau<br />

Mittelwerte<br />

128 Lehrende N = 601 33,6% 22,5% 22,3% 14,0% 7,7% 2,40<br />

95 Eltern N = 1212 21,6% 13,8% 29,0% 16,0% 19,6% 2,98<br />

56 Schüler(innen) N = 1459 9,3% 6,2% 27,9% 17,3% 39,3% 3,71<br />

Schon in dieser Tabelle zeigt sich, dass es gravierende Unterschiede in der Beurteilung dieser<br />

Aussage zwischen den Schüler(innen) und ihren Eltern und Lehrer(innen) gibt: Während in<br />

der Gruppe der Schüler(innen) eine deutliche Zustimmung vorherrscht, finden sich in der<br />

Gruppe der Lehrenden mehrheitlich ablehnende Stimmen. Bei den Eltern halten sich die<br />

zustimmenden und ablehnenden Antworten die Waage, so dass der Mittelwert fast genau auf<br />

der neutralen Marke 3 liegt. Inwieweit die Unterschiede sich auch auf die Schulformen<br />

beziehen, wird im Folgenden analysiert:<br />

Tabelle 6/26: <strong>Noten</strong> gerechter als <strong>Berichte</strong>? – differenziert nach Schulformen<br />

„<strong>Noten</strong> auf dem Zeugnis<br />

finde ich generell<br />

gerechter als verbale<br />

Beurteilungen.“<br />

„<strong>Noten</strong> im Zeugnis finde ich gerechter als<br />

Berichtszeugnisse.“<br />

Lehrer(innen) Eltern Schüler(innen)<br />

Grundschule 1,74 (n = 166) 2,81 (n = 266)<br />

Haupt-/Realschule 2,97 (n = 106) 3,39 (n = 258) 3,99 (n = 426)<br />

Gesamtschule 2,41 (n =275) 2,78 (n = 381) 3,55 (n = 605)<br />

Gymnasium 3,19 (n = 54) 3,03 (n = 307) 3,66 (n = 428)<br />

Gesamt 2,40 (n = 601) 2,98 (n = 1212) 3,71 (n = 1459)<br />

<strong>Die</strong> weitere Differenzierung der drei Gruppen nach Schulformen zeigt ein äußerst komplexes<br />

Gefüge von Unterschieden, das in der folgenden Grafik veranschaulicht werden soll:


Seite 230 Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich<br />

Abbildung 6/27: <strong>Noten</strong> gerechter als <strong>Berichte</strong>? – differenziert nach Schulformen<br />

<strong>Noten</strong> auf dem Zeugnis finde ich generell gerechter als verbale<br />

Beurteilungen. (L.)<br />

<strong>Noten</strong> auf dem Zeugnis finde ich gerechter als Berichtszeugnisse. (S. u. E.)<br />

Grundschule<br />

Haupt-/Realschule<br />

Gesamtschule<br />

Ablehnung Zustimmung<br />

Gymnasium 1 2 3 4 5<br />

Eltern (n = 1212) Lehrer (n = 601) Schüler (n = 1459)<br />

Der Vergleich der drei Gruppen auf Schulformebene macht Folgendes deutlich: <strong>Die</strong> auch<br />

schon weiter oben thematisierte Diskrepanz zwischen den Grundschuleltern und den<br />

entsprechenden Lehrkräften wird auch bei diesem Item sichtbar; denn die sehr ausgeprägte<br />

Skepsis gegenüber <strong>Noten</strong> auf Seiten der Lehrenden wird von den Eltern der Grundschulkinder<br />

nicht geteilt. Zwischen Lehrkräften und Eltern finden sich somit auch in dieser Frage die<br />

größten Unterschiede in der Primarstufe. Für die Gesamtschule und für die Haupt- und<br />

Realschule gilt, dass die Lehrenden – jeweils auf einem unterschiedlichen Niveau – ebenfalls<br />

skeptischer gegenüber der Gerechtigkeit von <strong>Noten</strong> sind als die entsprechenden Eltern. Allein<br />

am Gymnasium liegen die Einschätzungen der Lehrkräfte und der Eltern dicht beieinander.<br />

<strong>Die</strong> Schüler(innen) der Gesamtschule und der Haupt-/Realschule folgen – schulformbezogen<br />

– in ihren Einschätzungen den Tendenzen der Eltern, allerdings auf einem deutlich anderen<br />

Niveau. Sie sind in der Gesamtheit deutlich weniger skeptisch gegenüber den Zensuren als die<br />

Eltern und Lehrer, so dass sich bei diesem Item erneut bestätigt, dass die Schüler(innen) die<br />

stärksten Befürworter von <strong>Noten</strong> sind. Anders formuliert: Sekundarschüler(innen) sind stärker<br />

als alle anderen Gruppen davon überzeugt, dass Zensuren „gerechter“ sind als Lernberichte.


Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich Seite 231<br />

6.7 Sind Zeugnisse erst zum Abschluss bedeutsam?<br />

<strong>Die</strong> biografische Relevanz von Zeugnissen und Zensuren tritt erst dann unabweisbar zutage,<br />

wenn sie als Zugangsberechtigungen zu bestimmten Institutionen fungieren- bzw. bestimmte<br />

Bildungswege verschließen. Während der Schullaufbahn haben Zeugnisse nur dann eine<br />

auslesende Konsequenz, wenn sie zur Nicht-Versetzung <strong>oder</strong> zum Schulformwechsel führen.<br />

In den unproblematischen Fällen scheint es im nachhinein unwichtig, welche <strong>Noten</strong> in der<br />

Mittelstufe beispielsweise in Deutsch im Zeugnis gestanden haben. Wie stehen die<br />

Betroffenen zu dieser Annahme? Schätzen sie die Wichtigkeit des Abschlusszeugnisses<br />

ähnlich ein? Oder finden sich Unterschiede, die sich auf die jeweiligen Kontexte beziehen?<br />

<strong>Die</strong> nun folgende Tabelle gibt Auskunft über die Verteilung der Einschätzungen innerhalb der<br />

Lehrer(innen), der Eltern und der Schüler(innen):<br />

Tabelle 6/28: Wichtigkeit der Abschlusszeugnisse<br />

„Zeugnisse braucht man nur bei Studienbewerbungen <strong>oder</strong> bei der Lehrstellensuche.” (Lehrer(innen))<br />

„Zeugnisse werden erst wichtig, wenn man eine Lehrstelle sucht <strong>oder</strong> studieren möchte.”<br />

(Eltern, Schüler(innen))<br />

Anzahl<br />

�<br />

stimmt<br />

gar nicht<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

nicht<br />

�<br />

teils –<br />

teils<br />

�<br />

stimmt<br />

überwiegend<br />

�<br />

stimmt<br />

völlig<br />

Mittelwerte<br />

136 Lehrende N = 601 30,2% 27,1% 13,1% 18,1% 11,4% 2,54<br />

98 Eltern N = 1212 50,5% 17,5% 12,6% 9,7% 9,8% 2,11<br />

62 Schüler(innen) N = 1459 21,3% 14,5% 17,9% 17,1% 29,1% 3,18<br />

Beachtenswert sind hier die unterschiedlichen Einschätzungen in der Gruppe der Rezipienten<br />

von Zeugnissen. <strong>Die</strong> Sichtweise der Schüler(innen) ist eine völlig andere als die der Eltern.<br />

Während die Eltern deutlich ablehnen, dass Zeugnisse erst beim Übergang in weiterführende<br />

Institutionen bzw. ins Berufsleben wichtig werden, gibt es bei den Schüler(innen) einen<br />

weitaus größeren Teil, der genau dieses für richtig hält. <strong>Die</strong> Erklärung dürfte in einem<br />

unterschiedlichen Informationsbedürfnis liegen: Während die Schüler(innen) während ihrer<br />

Schullaufbahn wohl sehr genau ihren Leistungsstand einzuschätzen wissen, sind sich die<br />

Eltern darüber keineswegs genauso sicher. Sie sind also auf die Informationen des Zeugnisses<br />

angewiesen, für die Schüler mag es allenfalls eine Bestätigung ihrer eigenen Einschätzung<br />

sein. <strong>Die</strong> große Betonung der Zugangsberechtigung durch die Schüler lässt allerdings auch die<br />

Interpretation zu, dass Zeugnisse in ihren pädagogischen Funktionen (Motivation, Diagnose<br />

usw.) nicht besonders hoch geschätzt werden, so dass sich vermuten lässt, dass das


Seite 232 Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich<br />

Abschlusszeugnis – als Endresultat – eine Bedeutung hat, die weit über die Zwischen-<br />

zeugnisse hinausgeht. Inwieweit diese Einschätzungen sich zwischen den Schulformen<br />

unterscheiden, zeigen die nächsten Tabellen.<br />

Tabelle 6/29: Wichtigkeit der Abschlusszeugnisse – differenziert nach Schulformen<br />

„Zeugnisse braucht<br />

man nur bei Studienbewerbungen<br />

<strong>oder</strong> bei<br />

der Lehrstellensuche.”<br />

„Zeugnisse werden erst wichtig, wenn man<br />

eine Lehrstelle sucht <strong>oder</strong> studieren möchte.”<br />

Lehrer(innen) Eltern Schüler(innen)<br />

Grundschule 2,38 (n = 158) 2,23 (n = 267)<br />

Haupt-/Realschule 2,53 (n = 106) 2,13 (n = 255) 3,53 (n = 424)<br />

Gesamtschule 2,68 (n = 277) 2,20 (n = 379) 3,27 (n = 603)<br />

Gymnasium 2,31 (n = 55) 1,86 (n = 308) 2,72 (n = 432)<br />

Gesamt 2,54 (n = 596) 2,11 (n = 1209) 3,18 (n = 1459)<br />

Auch diese Zahlen werden im Folgenden wieder in eine Grafik umgesetzt.<br />

Abbildung 6/30: Wichtigkeit der Abschlusszeugnisse – differenziert nach Schulformen<br />

Zeugnisse braucht man nur bei Studienbewerbungen <strong>oder</strong> bei der<br />

Lehrstellensuche. (L.)<br />

Zeugnisse werden erst wichtig, wenn man eine Lehrstelle sucht <strong>oder</strong><br />

studieren möchte. (S. u. E.)<br />

Grundschule<br />

Haupt-/Realschule<br />

Gesamtschule<br />

Gymnasium<br />

Ablehnung Zustimmung<br />

1 2 3 4 5<br />

Eltern (n = 1209) Lehrer (n = 596) Schüler (n = 1459)<br />

Bei dieser Fragestellung finden sich nicht die zuvor gefundenen Muster. In der vorliegenden<br />

Grafik sind es diesmal die Schüler(innen), deren Einschätzungen am weitesten differieren,


Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich Seite 233<br />

dabei finden sich die zustimmenden Mittelwerte vor allem an der Haupt- und Realschule und<br />

an der Gesamtschule. Am Gymnasium sind die Einschätzungen der Schüler(innen) eher<br />

ablehnend. Damit stimmen sie tendenziell eher mit den entsprechenden Lehrer- und<br />

Elterneinschätzungen überein. <strong>Die</strong> Unterschiede zwischen den Schulformen sind in diesem<br />

Fall nicht so ausgeprägt wie bei den übrigen Fragestellungen. Allenfalls lässt sich feststellen,<br />

dass die Gymnasialeltern den Zwischenzeugnissen wohl mehr Bedeutung beimessen als die<br />

Eltern der anderen Schulformen.<br />

Besonders für die Haupt- und Realschulen und in geringerem Maße auch für die<br />

Gesamtschule muss man also davon ausgehen, dass die Schüler(innen) vor allem auf das<br />

Abschlusszeugnis fixiert sind und den Zwischenzeugnissen weniger Bedeutung beimessen,<br />

während die Eltern und Lehrer dies anders einschätzen: Führt man sich die Situation der<br />

Schüler(innen) vor Augen, dann lässt sich auch annehmen, dass die Perspektive der nächsten<br />

Lebensjahre bei der Beantwortung dieser Frage eine wichtige Rolle gespielt hat. Während für<br />

viele Haupt- und Realschüler und einen großen Teil der Gesamtschüler das Abschlusszeugnis<br />

(nach der 10. Klasse <strong>oder</strong> bereits nach der 9. Klasse) in eine greifbare Nähe gerückt ist, liegt<br />

der anvisierte Abschluss (Abitur) für die Gymnasiasten noch in relativ weiter Ferne. Mit<br />

dieser zeitlichen Distanz rückt vermutlich auch die Wichtigkeit dieser Abschlusszertifikate<br />

weiter in den Hintergrund als bei denjenigen, die sich unter Umständen schon damit zu<br />

bewerben haben.<br />

6.8 Fazit: Wer braucht wozu Zeugnisse?<br />

<strong>Die</strong> bisherigen Analysen haben gezeigt, dass bei der Bewertung der unterschiedlichen<br />

Zeugnisformen innerhalb der Lehrerschaft eine deutliche Polarisierung vorliegt, die sich in<br />

dieser Form weder bei den Eltern noch bei den Schüler(innen) findet. So sind die Meinungen<br />

zu den Vorteilen und Nachteilen von Zensuren und verbalen Beurteilungen der Lehrenden<br />

sehr diskrepant, wenn sie nach Schulform differenziert werden. Dabei stehen die<br />

Grundschullehrkräfte und die Gymnasiallehrer(innen) am weitesten auseinander. <strong>Die</strong><br />

Gesamtschule und die Haupt- und Realschule reihen sich in den mittleren Positionen ein.<br />

<strong>Die</strong>se breite Fächerung der Einschätzung führt bei vielen Fragestellungen dazu, dass die<br />

Eltern der jeweiligen Schulform deutlich andere Positionen als die Lehrer vertreten. Denn<br />

zum einen vollziehen die Eltern der Grundschulkinder die Zensuren kritischen Positionen der<br />

Primarstufenlehrkräfte nicht nach, zum anderen folgen die Eltern der Gymnasiasten den<br />

<strong>Noten</strong> befürwortenden Positionen der Gymnasiallehrer(innen) nur zum Teil. Für die<br />

Einschätzungen der Schüler(innen) haben die Schulformen noch weniger Bedeutung als für


Seite 234 Einstellungen von Lehrern, Eltern und Schülern – ein Vergleich<br />

die Eltern: <strong>Die</strong> Schüler(innen) aller Schulformen der Sekundarstufe I zeigen durchgängig eine<br />

Zensuren befürwortende Position.<br />

Hervorzuheben sind unseres Erachtens folgende Ergebnisse:<br />

• Der pädagogische Dissens unter den Lehrkräften über das Für und Wider von Zensuren<br />

findet sich in dieser Schärfe weder bei den Eltern und noch weniger bei den<br />

Schüler(innen) wieder.<br />

• <strong>Die</strong> reformpädagogisch motivierte Kritik an Zensuren (Schulangst, geringes Selbst-<br />

wertgefühl u.ä.) wird von den Befragten geteilt: von den Lehrenden am stärksten, etwas<br />

weniger von den Eltern, deutlich weniger von den Schüler(innen) – sogar dann, wenn sie<br />

von schlechten <strong>Noten</strong> betroffen sind.<br />

• <strong>Die</strong> testtheoretischen Mängel der <strong>Noten</strong> (unzureichende Objektivität, mangelnde<br />

„Gerechtigkeit“) werden in allen drei Gruppen nur zum Teil nachvollzogen. Am ehesten<br />

findet sich hier an den Grund- und Gesamtschulen eine kritische Einstellung, deutlich<br />

weniger im gegliederten Schulsystem.<br />

• Von den Schüler(innen) werden die Unzulänglichkeiten von Zensuren am wenigsten<br />

reflektiert. Auch ein relativ reformfreudiges Klima unter den Lehrenden der Gesamtschule<br />

hat auf die deutliche Befürwortung der <strong>Noten</strong> seitens der Schüler(innen) nur wenig<br />

Einfluss. Anders formuliert: <strong>Die</strong> Schüler(innen) aller Sekundarschulformen sind die<br />

entschiedensten Verfechter der Zensuren.


7. Zusammenfassung der Ergebnisse<br />

In den vorangehenden Kapiteln wurde in differenzierender Weise dargestellt, wie Lehrerinnen<br />

und Lehrer, Eltern und Schülerinnen und Schüler die <strong>schulische</strong> <strong>Beurteilungspraxis</strong> sehen,<br />

wie sie mit Zeugnissen umgehen – und welche Vor- und Nachteile sie bei den verschiedenen<br />

Zeugnisformen sehen. Mit einer solchen Forschung wurde zunächst einmal der Ist-Stand an<br />

Einstellungen und Sichtweisen ermittelt. Ob und welche pädagogischen, welche<br />

bildungspolitischen Folgerungen daraus zu ziehen sind, wird in weiteren Arbeitsschritten zu<br />

diskutieren sein. Denn die präzise Beschreibung des Einstellungs- und Meinungsspektrums,<br />

wie sie hier erfolgt ist, gibt allein noch keine Auskunft über notwendige und mögliche<br />

Verbesserungsmaßnahmen. Sie beschreibt allerdings den Ausgangspunkt, der bei allen<br />

weiteren Schritten zu berücksichtigen ist. Genau diesen Ausgangspunkt und damit die<br />

Hauptergebnisse dieser Studie fassen wir abschließend noch einmal knapp zusammen:<br />

7.1 <strong>Die</strong> Sicht der Lehrer(innen)<br />

<strong>Die</strong> standardisierte Befragung von 637 Lehrkräften aus Grundschulen, Gesamtschulen,<br />

Haupt- und Realschulen und Gymnasien macht deutlich:<br />

(1) <strong>Die</strong> Lehrerschaft in unserer Stichprobe steht der Bewertungs- und Zensierungsaufgabe<br />

zwar kritisch, aber nicht ablehnend gegenüber. Sie fordert in ihrer Mehrheit keineswegs<br />

eine „zeugnisfreie“ Schule, aber sie betrachtet die übliche Form der Benotung recht<br />

skeptisch. Daraus ergibt sich, dass Berichtszeugnisse von der Mehrheit der Befragten<br />

positiv bewertet werden. Ihnen werden – verglichen mit <strong>Noten</strong>zeugnissen – deutliche<br />

pädagogische Vorteile zugesprochen.<br />

(2) Das Einstellungsmuster bei den Lehrkräften ist allerdings nicht homogen, sondern weist<br />

typische Differenzen auf. Dabei kommt der Schulformzugehörigkeit eine zentrale<br />

Bedeutung zu: Gymnasiallehrer(innen) sprechen sich recht ungebrochen für <strong>Noten</strong>-<br />

zeugnisse aus, Grundschullehrer(innen) plädieren am entschiedensten für Berichts-<br />

zeugnisse. <strong>Die</strong> Lehrer(innen) von Gesamtschulen und Haupt- und Realschulen lassen sich<br />

zwischen diesen beiden Polen ansiedeln. Angesichts dieser erheblichen Einstellungs-<br />

diskrepanzen ist es bemerkenswert, dass das „<strong>Noten</strong>zeugnis mit Kommentarbogen“ auf<br />

eine weitgehend konsenshafte Bewertung stößt: Alle Lehrergruppen – von der Grund-<br />

schule bis zum Gymnasium – schätzen es mehrheitlich positiv ein.


Seite 236 Zusammenfassung<br />

(3) Lehrkräfte bevorzugen ganz überwiegend die Zeugnisform, die sie gegenwärtig auch<br />

ausstellen. <strong>Die</strong>s gilt für die Primarstufenlehrer(innen), die überwiegend Berichtszeugnisse<br />

schreiben, genauso wie für die <strong>Noten</strong> gebenden Gymnasiallehrer(innen). Allerdings sind<br />

innerhalb der Grundschullehrerschaft die Meinungen deutlich polarisierter als in der<br />

Sekundarstufe.<br />

(4) Bei der selbstberichteten Arbeitsbelastung zur Zeugniserstellung stoßen wir auf breit<br />

streuende Angaben. Dabei wird deutlich, dass Klassenlehrer(innen) an Grundschulen sich<br />

wesentlich stärker belastet fühlen als die an Sekundarschulen. Während in der<br />

Sekundarstufe die Zeugnisform (Bericht <strong>oder</strong> Note) deutlich den Zeitverbrauch<br />

beeinflusst, ist dies in der Primarstufe erstaunlicherweise nicht der Fall. Unsere<br />

Vermutung, dass eine hohe zeitliche Belastung zur Ablehnung von Berichtszeugnissen<br />

führt, konnte widerlegt werden. Über alle Schulformen hinweg lässt sich sogar die<br />

Tendenz feststellen, dass trotz hoher Arbeitsbelastung die Berichtszeugnisse besonders<br />

positiv eingeschätzt werden.<br />

(5) <strong>Die</strong> Einstellungen der Lehrer(innen) erweisen sich intern als recht konsistent. Dabei lassen<br />

sich eher traditionelle (pro <strong>Noten</strong>) und eher reformorientierte Positionen (pro <strong>Berichte</strong>)<br />

ausmachen. Welche Meinungen sich bei den einzelnen Lehrkräften herausbilden, hängt<br />

sehr stark von den jeweiligen beruflichen Erfahrungen ab. Dabei hat neben der Schulform<br />

und dem <strong>Die</strong>nstalter die Erfahrung mit bestimmten Zeugnisformen den größten Einfluss.<br />

7.2 <strong>Die</strong> Sicht der Eltern<br />

<strong>Die</strong> standardisierte Befragung von 1328 Eltern ebenfalls von Grundschulen, Haupt- und<br />

Realschulen, Gesamtschulen und Gymnasien kommt zu folgenden Hauptergebnissen:<br />

(1) Zeugnisse werden von den Eltern als wichtiges Medium der Leistungsrückmeldung sehr<br />

ernst genommen und sorgsam rezitiert. Sie werden allerdings nur zum Teil als Anlass für<br />

eine weitergehende Kommunikation mit den Lehrkräften angesehen. <strong>Die</strong> Empfänger von<br />

Berichtszeugnissen (insbesondere in der Grundschule) rezipieren die Zeugnisse besonders<br />

intensiv, die Empfänger von <strong>Noten</strong>zeugnissen (insbesondere Gymnasien) am distanz-<br />

iertesten.<br />

(2) Insgesamt finden die Zeugnisse bei den Eltern ein hohes Maß an Akzeptanz, wobei die<br />

höchste Präferenz der Eltern eindeutig auf den <strong>Noten</strong>zeugnissen mit Kommentarbogen<br />

liegt. <strong>Die</strong>se Einschätzungen unterscheiden sich allerdings nach Schulformen. Insgesamt<br />

reagieren Eltern wohl pädagogisch angemessen auf Zeugnisse: Fast alle Eltern geben an,


Zusammenfassung Seite 237<br />

Zeugnisse nicht zum Anlass von Strafen zu nehmen. Dabei erweisen sich Eltern mit hohen<br />

Abschlussaspirationen als besonders offen. Sie unterstützen ihre Kinder am<br />

nachdrücklichsten und üben den geringsten Druck aus.<br />

(3) Eltern identifizieren sich überwiegend mit der Zeugnisform, die sie in der Schule ihrer<br />

Kinder vorfinden. <strong>Die</strong> dort nicht verwendeten Formen werden weniger positiv betrachtet.<br />

<strong>Die</strong>s gilt auch für die Zeugnisform, die von den Eltern am stärksten favorisiert wird: das<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis mit Kommentarbogen. Eltern, deren Kinder Berichtszeugnisse <strong>oder</strong><br />

<strong>Noten</strong>zeugnisse mit Kommentarbogen erhalten, betrachten diese Zeugnisform noch<br />

positiver als die anderen Eltern.<br />

(4) Eltern von Haupt- und Realschüler(innen) kennzeichnen sich in ihrer Zeugnispräferenz<br />

durch besonders starke Zensurenorientierung. Sie legen besonderen Wert auf eindeutige<br />

Zertifizierung, weil – so ist zu vermuten – für den Bildungsaufstieg ihrer Kinder <strong>Noten</strong><br />

besonders wichtig sind. Dementsprechend zurückhaltend beurteilen sie die Vorteile von<br />

Berichtszeugnissen, auch die Zustimmung zu <strong>Noten</strong>zeugnissen mit Kommentarbogen ist<br />

bei ihnen signifikant geringer.<br />

(5) Je höher der eigene Bildungsabschluss ist, desto liberaler ist die Einstellung zu den<br />

Zeugnisformen. Haben beide Eltern das Abitur, dann sehen sie die Vor- und Nachteile<br />

von Berichtszeugnissen, sie sind kritisch gegenüber <strong>Noten</strong>zeugnissen, aber lehnen diese<br />

auch nicht ab. Im Ergebnis gilt: Das größte Potenzial der Eltern, das sich für<br />

Berichtszeugnisse ausspricht, ist unter der Gruppe mit hohem Bildungsabschluss zu<br />

finden. Am meisten auf <strong>Noten</strong>zeugnisse fixiert und Berichtszeugnisse tendenziell<br />

ablehnend sind die Eltern, die für ihr Kind einen Bildungsaufstieg erhoffen, aber nicht in<br />

ihren Bildungsaspirationen ganz oben <strong>oder</strong> ganz unten stehen: die Eltern mit einem<br />

mittleren Aspirationsniveau.<br />

7.3 <strong>Die</strong> Sicht der Sekundarschüler(innen)<br />

<strong>Die</strong> standardisierte Befragung von 1476 Schülerinnen und Schülern (Jahrgänge 6/8/10) aus<br />

Haupt- und Realschulen, Gesamtschulen und Gymnasien erbrachte folgende Hauptergebnisse:<br />

(1) Insgesamt sind die befragten Sekundarschüler(innen) mit ihren Schulen recht zufrieden:<br />

Mehr als 60% gehen gern zur Schule; sie bestätigen, dass es in der Schule viele Dinge<br />

gibt, die Spaß machen. <strong>Die</strong> Selbsteinschätzung der Lernenden ist insgesamt recht positiv,<br />

Schulangst ist nur gering ausgeprägt. Auch die Schul- und Lernkultur wird überwiegend<br />

positiv gesehen: <strong>Die</strong> meisten Schülerinnen und Schüler bestätigen ihren Lehrkräften eine


Seite 238 Zusammenfassung<br />

leistungsstimulierende Unterrichtskultur, in der großer Wert auf die Förderung<br />

individueller Lernprozesse gelegt wird.<br />

(2) <strong>Die</strong> öffentliche Meinung über die Leistungsfähigkeit der verschiedenen Schulformen<br />

spiegelt sich in den Antworten der Schüler(innen) deutlich wieder: Schüler(innen) an<br />

Gymnasien haben die positivste Selbsteinschätzung und die höchsten <strong>schulische</strong>n<br />

Leistungserwartungen, gefolgt von den Gesamtschüler(innen) und dann von den Haupt-<br />

und Realschüler(innen). Gleichzeitig zeigt sich, dass Zeugnisse für die Haupt- und<br />

Realschüler(innen) die größte Bedeutung besitzen. Dabei wird vor allem auf die <strong>Noten</strong><br />

geschaut, von denen man sich klare Orientierungen erhofft.<br />

(3) Leistungsrückmeldungen, ganz gleich in welcher Form, gehören für die Schüler(innen) zu<br />

den selbstverständlichen Gegebenheiten der Institution Schule. <strong>Die</strong>se stehen außerhalb<br />

ihrer Kritik und ihres Einflusses. Daraus erklärt sich wohl auch, dass die <strong>schulische</strong><br />

Leistungsbewertung, Zensuren und <strong>Noten</strong>zeugnisse bei den Schüler(innen) aller<br />

Schulformen der Sekundarstufe I eine hohe Akzeptanz finden.<br />

(4) Der reformpädagogische Zweifel an Sinn und Aussagekraft von Zensuren ist unter<br />

Schülerinnen und Schülern kaum verbreitet. Wenn sie selbst wählen könnten, würden sich<br />

etwa 7% für ein Berichtszeugnis entscheiden, 40% wählen das „reine“ <strong>Noten</strong>zeugnis, 53%<br />

das <strong>Noten</strong>zeugnis mit Kommentarbogen. Somit findet sich auch bei den Schülerinnen und<br />

Schülern eine deutliche Mehrheit für diese Zeugnisform. Hinter diesen Zahlen steckt zum<br />

einen eine deutliche Kritik an Berichtszeugnissen; zum anderen verbindet sich damit wohl<br />

auch die Hoffnung, ein Zeugnis mit einer klaren Leistungsbewertung (Zensur) zu erhalten,<br />

dem man aber zugleich Erläuterungen und Hinweise entnehmen kann.<br />

(5) Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Zeugnisform, die in 5. und 6.<br />

Klassen vergeben wird, und dem Schulklima, das dort herrscht: In Sekundarschulen mit<br />

Berichtszeugnissen artikulieren die Schüler(innen) signifikant weniger Schulunlust, auch<br />

die Lernkultur (z.B. angemessenes Anforderungsniveau, methodische Vielfalt) wird von<br />

ihnen, positiver eingeschätzt. Eine Wirkung von Berichtszeugnissen auf Schulangst ließ<br />

sich allerdings nicht nachweisen. Vielmehr spielen hier – unabhängig von der Zeugnis-<br />

form – die relativen Leistungspositionen in der jeweiligen Klasse eine Rolle. <strong>Die</strong>s<br />

verweist jedoch nicht auf direkte Wirkungen von Berichtszeugnissen, sehr wohl aber auf<br />

eine Kontexteinbettung: Berichtszeugnisse in Sekundarschulen sind Teil einer besonders<br />

schülerfreundlichen und förderorientierten Lernkultur. Umso bemerkenswerter ist es, dass<br />

auch diese Schüler(innen) sich mehrheitlich gegen Berichtszeugnisse aussprechen.


7.4 <strong>Die</strong> Sicht der Grundschulkinder<br />

Zusammenfassung Seite 239<br />

<strong>Die</strong> Ergebnisse der qualitativen Interviews von 61 Grundschulkindern werden in Kapitel 5<br />

differenziert dargestellt. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen:<br />

(1) Berichtszeugnisse sind für Kinder Texte mit einer besonderen persönlichen Qualität, sie<br />

sind für viele ein attraktiver Lesestoff. Für Kinder ist wichtig, dass sie diese Texte<br />

sprachlich verstehen können – und dass sie sie als individuelle Texte wahrnehmen.<br />

(2) Kinder suchen Gelegenheiten, um über ihre Lernberichte zu sprechen. Dabei brauchen sie<br />

Gesprächspartner, die zwischen dem Text und dem kindlichen Verstehen vermitteln.<br />

Solche Anforderungen richten sich zum einen an die Eltern, zum anderen aber auch an<br />

Lehrerinnen und Lehrer. Deshalb muss es für den Vorgang des Zeugnis-Lesens (und des<br />

darüber-redens) in der Schule einen angemessenen Ort und hinreichend Zeit geben.<br />

(3) <strong>Die</strong> meisten Grundschüler(innen) kennen <strong>Noten</strong>zeugnisse nicht aus eigener Erfahrung,<br />

aber sie haben sie alle schon einmal bei Freunden <strong>oder</strong> älteren Geschwistern gesehen. Sie<br />

sind deshalb in der Lage, Unterschiede zu erkennen und Präferenzen zu benennen. 48%<br />

der befragten 61 Kinder wünschen sich auch weiterhin ein Berichtszeugnis, 28% ein<br />

<strong>Noten</strong>zeugnis und 18% ein <strong>Noten</strong>zeugnis mit Kommentar. <strong>Die</strong> Kinder sind sehr gut in der<br />

Lage, ihre jeweiligen Präferenzen zu begründen. Bei diesen Grundschüler(innen) findet<br />

sich somit – im Unterschied zu den Sekundarschüler(innen) – eine knappe Mehrheit, die<br />

Berichtszeugnisse bevorzugt.<br />

(4) Berichtszeugnisse werden von Kindern als diagnostisch gehaltvoller als <strong>Noten</strong>zeugnisse<br />

wahrgenommen. Dabei wünschen Kinder angemessene, durchaus auch kritische Urteile.<br />

Kinder fordern ein, dass Defizite benannt und nicht sprachlich zugedeckt werden. Kritik<br />

wird von ihnen dabei als Anreiz zu neuerlichen Anstrengungen angenommen.<br />

(5) Zusammenfassend zeigen die Interviews mit Grundschulkindern, dass die Berichts-<br />

zeugnisse eher als literarische Texte und weniger als Zeugnisse verstanden werden. Indem<br />

Lehrer(innen) und Schüler(innen) diesen Text gemeinsam erschließen, beginnt eine Form<br />

bewusst gepflegter Rezeptionskultur. Damit wird zugleich ein Baustein für eine<br />

Leseerziehung gelegt; diese wiederum ist Voraussetzung dafür, dass Berichtszeugnisse<br />

von allen – auch von den schwächeren – Kindern entschlüsselt und auf das eigene Lernen<br />

bezogen werden können.


Seite 240 Zusammenfassung<br />

7.5 <strong>Die</strong> vergleichende Perspektive<br />

Der abschließende Vergleich der Sichtweisen von Schüler(innen), Lehrer(innen) und Eltern<br />

brachte folgende Ergebnisse:<br />

(1) <strong>Die</strong> polarisierten Einstellungen zu <strong>schulische</strong>r Leistungsbeurteilung treten am deutlichsten<br />

bei denjenigen auf, die Zeugnisse und Beurteilungen erstellen (müssen). <strong>Die</strong> Debatte um<br />

<strong>Noten</strong> und <strong>Berichte</strong> scheint demnach vor allem ein Thema zu sein, das Lehrerinnen und<br />

Lehrer stark beschäftigt.<br />

(2) <strong>Die</strong> reformpädagogisch motivierte Kritik an <strong>Noten</strong> wie z.B. erhöhte Schulangst findet am<br />

wenigsten Zustimmung bei den direkt Betroffenen – den Schülerinnen und Schülern.<br />

Eltern und Lehrende hingegen unterstellen wesentlich eher Zusammenhänge zwischen<br />

Schulangst und schlechten <strong>Noten</strong>.<br />

(3) Alle drei befragten Gruppen sehen sowohl in <strong>Berichte</strong>n als auch in (guten) <strong>Noten</strong> ein<br />

Potenzial zur Lernmotivation: Dabei sehen die Eltern stärker den Ansporn durch gute<br />

<strong>Noten</strong>, während die Möglichkeit der Ermutigung durch ein Berichtszeugnis vor allem bei<br />

den Lehrenden gesehen wird – besonders ausgeprägt bei den Primarstufenlehrer(innen).<br />

(4) Es gibt unter den Eltern und Lehrenden aller Schulformen einen sehr hohen Konsens<br />

darüber, dass auch das Arbeits- und Sozialverhalten im Zeugnis beurteilt werden soll –<br />

und zwar verbal. Auch die Schülerinnen und Schüler finden dies mehrheitlich richtig. Der<br />

Informationsgehalt dieser Bemerkungen weist allerdings schulformspezifische<br />

Differenzen auf. <strong>Die</strong> Eltern der Grundschulkinder schätzen diese Kommentare als deutlich<br />

informativer ein als die Eltern der Sekundarstufenschüler(innen).<br />

(5) <strong>Die</strong> testtheoretischen Mängel der <strong>Noten</strong> – beispielsweise die mangelnde Objektivität –<br />

werden von den Befragten nur zum Teil nachvollzogen. Für die Lehrenden sind hier<br />

schulformbezogene Unterschiede recht deutlich, ebenso bei den Eltern, wenn auch nicht<br />

so ausgeprägt. <strong>Die</strong> Schüler(innen) aller Sekundarschulen reflektieren diesen Mangel aber<br />

am wenigsten. Zu einer nennenswerten Ablehnung von <strong>Noten</strong> führen diese Mängel in<br />

keiner der betroffenen Gruppen.


7.6 Fazit<br />

Zusammenfassung Seite 241<br />

In einer Bilanz der erarbeiteten Ergebnisse lässt sich zusammenfassend sagen:<br />

(1) <strong>Die</strong> <strong>schulische</strong> Leistungsbewertung und die damit verbundenen Verfahren werden von<br />

allen Beteiligten sehr ernst genommen. Dabei haben Lehrer(innen), Schüler(innen) und<br />

Eltern unterschiedliche Erfahrungshintergründe und unterschiedliche Betroffenheiten, aus<br />

denen sich je kontextabhängige Sichtweisen ergeben.<br />

(2) In keiner der befragten Gruppen werden „einheitliche“ Meinungen vertreten, vielmehr<br />

haben wir jeweils eine spezifische Breite der Sichtweisen ermittelt. Dabei sind die<br />

positionalen Differenzen innerhalb der Lehrerschaft am stärksten ausgeprägt, bei<br />

Schüler(innen) und Eltern findet man sie nur abgeschwächt. Schüler(innen) und Eltern<br />

gehen mit diesem Problem häufiger pragmatisch, Lehrer(innen) häufiger prinzipiell um.<br />

(3) In bestimmten Schulformen gibt es so etwas wie eine gruppenspezifische Präferenz für<br />

bestimmte Zeugnisformen: In der Grundschule gibt es bei Lehrer(innen) und Eltern eine<br />

hohe Zustimmung zu den Berichtszeugnissen; in der Haupt- und Realschule sprechen sich<br />

Schüler(innen) und Eltern besonders entschieden für <strong>Noten</strong>zeugnisse aus. Demgegenüber<br />

findet sich im Gymnasium eine etwas liberalere Position bei den Eltern, die in einem<br />

gewissen Kontrast zu der recht berichtskritischen Position der dortigen Lehrerschaft steht.<br />

(4) In allen Gruppen gibt es eine hohe Wertschätzung der <strong>Noten</strong>zeugnisse mit<br />

Kommentarbogen. <strong>Die</strong>se Zeugnisform wird auch dann präferiert, wenn damit noch keine<br />

Erfahrungen gemacht wurden.<br />

(5) Unter den Schülerinnen und Schülern aller Altersjahrgänge der Sekundarstufe I gibt es<br />

eine deutliche Präferenz für <strong>Noten</strong>zeugnisse – am liebsten mit Kommentarbogen.


8 Literatur<br />

1. Atteslander, P.: Methoden der empirischen Sozialforschung. Berlin/New York 8 1988.<br />

2. Bambach, H.: Ermutigungen. Nicht Zensuren. Ein Plädoyer in Beispielen. Lengwil am<br />

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3. Bartnitzky, H./Christiani, R.: Zeugnisschreiben in der Grundschule. Beurteilen ohne und<br />

mit Zensuren. Heinsberg 1987.<br />

4. Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung der Freien und Hansestadt <strong>Hamburg</strong>:<br />

Ordnung der Zeugnisse, der Versetzung, der Übergänge und der Abschlüsse für die<br />

Klassen 1 bis 10 der allgemeinbildenden Schulen (Zeugnis- und Versetzungsverordnung –<br />

ZVO) vom 21. Juli 1998 <strong>Hamburg</strong>.<br />

5. Beutel, S.-I.: <strong>Die</strong> Qualität von verbalen Lernentwicklungsberichten: Über Schreibstandards<br />

und ihre Realisierung. In: Beutel, S.-I./Lütgert, W./Tillmann, K.-J./Vollstädt,<br />

W.: Ermittlung und Bewertung <strong>schulische</strong>r Leistungen. Expertisen zum Entwicklungs-<br />

und Forschungsstand. Jena und Bielefeld 1998a.<br />

6. Beutel, S.-I.: Lernberichte anders lesen. In: Tillmann, K.-J./Wischer, B. (Hrsg.):<br />

Schulinterne Evaluation an Reformschulen. Positionen – Konzepte – Praxisbeispiele.<br />

Bielefeld 1998b, S. 85-95.<br />

7. Beutel, S-I.; Lütgert, W.; Tillmann, K.-J, Vollstädt, W.: Ermittlung und Bewertung<br />

<strong>schulische</strong>r Leistungen. Expertisen zum Entwicklungs- und Forschungsstand. Behörde für<br />

Schule, Jugend und Berufsbildung. Freie und Hansestadt <strong>Hamburg</strong> , 1999a.<br />

8. Beutel, S.-I. u.a.: <strong>Die</strong> <strong>schulische</strong> Leistungsbeurteilung in der Sicht von Schülern, Lehrern<br />

und Eltern. Universitäten Bielefeld und Jena. 1999b.<br />

9. Beutel, S.-I.: Lernberichte: Eine Möglichkeit für die Sekundarstufe? In: PÄDAGOGIK<br />

(1999c) 5, S. 41-45.<br />

10. Benner, D./Ramseger, J.: Zwischen Ziffernzensur und pädagogischem Entwicklungsbericht:<br />

Zeugnisse ohne <strong>Noten</strong> in der Grundschule. In: Z. f. Päd. 31 (1985) 2, S. 151-174.<br />

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12. Fend, H.: Qualität im Bildungswesen. Weinheim/München 1998.<br />

13. Festinger, L.: Theorie kognitiver Dissonanz. Bern 1978.<br />

14. Fokken, E.: <strong>Die</strong> Leistungsmotivation nach Erfolg und Misserfolg in der Schule. 2.<br />

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15. Friebertshäuser, B.: Interviewtechniken – ein Überblick. In: Friebertshäuser, B./Prengel,<br />

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Weinheim und München 1997, S. 371-395.<br />

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17. Heinzel, F.: Qualitative Interviews mit Kindern. In: Friebertshäuser, B. / Prengel, A.<br />

(Hrsg.): Handbuch qualitativer Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft.<br />

Weinheim und München 1997, S. 396-413.<br />

18. Hurrelmann, K./Wolff, H. K.: Schulerfolg und Schulversagen im Jugendalter.<br />

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19. Ingenkamp, K.: Erfassung und Rückmeldung des Lernerfolgs. In: Lenzen, D. (Hrsg.):<br />

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Literatur Seite 243<br />

20. Ingenkamp, K.: Pädagogische Diagnostik. Ein Forschungsbericht über Schülerbeurteilung<br />

in Europa. Weinheim [u.a.]: Beltz 1975.<br />

21. Ingenkamp, K.: Diagnostik in der Schule: Beiträge zu Schlüsselfragen der<br />

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22. Ingenkamp, K.: Lehrbuch der pädagogischen Diagnostik – Studienausgabe. Weinheim<br />

[u.a.]: Beltz, 1988.<br />

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Bewertungsfragen aus pädagogischer Sicht. 2. durchgesehene und erw. Auflage. Sankt<br />

Augustin. Academia 1995.<br />

25. Jürgens, E.: Zeugnisse ohne <strong>Noten</strong>. Ein Weg zur differenzierten Leistungserziehung.<br />

Braunschweig: Westermann 1999.<br />

26. Jürgens, E.: Leistung und Beurteilung in der Schule. (3. Auflage) Sankt Augustin 1997.<br />

27. Kästner, E.: Als ich ein kleiner Junge war. In: Ders.: Kästner für Erwachsene, 4 Bde.,<br />

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28. Kleining, G.: Qualitativ-heuristische Sozialforschung. <strong>Hamburg</strong> 1994.<br />

29. Lehmann, R. H./Gänsfuß, R./Peek, R.: Aspekte der Lernausgangslage und der<br />

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1999.<br />

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pädagogischen Forschung. In: Bos, W./Tarnai, Ch. (Hrsg.): Angewandte Inhaltsanalyse in<br />

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32. Lütgert, W.: <strong>Die</strong> Fragwürdigkeit der Zensurengebung und die „<strong>Berichte</strong> zum<br />

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33. Lütgert, W.: Leistungsbeurteilung und Zeugnisse aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er Eltern. In:<br />

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34. Matthews, V.: Zur Situation in Amerika. In: Bismarck, K. (Hrsg.): <strong>Die</strong> Rolle des Buches<br />

im audiovisuellen Zeitalter. Köln 1974, S. 65 ff.<br />

35. Mayring, P.: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. Weinheim 5 1995.<br />

36. Melzer, Wolfgang (Hrsg.): Eltern – Schüler – Lehrer: Zur Elternpartizipation an Schule.<br />

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37. Petersen, P.: Der Kleine Jena-Plan. Berlin-Leipzig 1927.<br />

38. Petillon, H. (Hrsg.): Schülergerechte Diagnose: Festschrift zum 60. Geburtstag von<br />

Karlheinz Ingenkamp: theoretische und empirische Beiträge zur pädagogischen<br />

Diagnostik. Weinheim. Beltz.<br />

39. Olechowski, R. /Rieder K. (Hrsg.): Motivieren ohne <strong>Noten</strong>. Wien [u.a.]: Jugend und Volk,<br />

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41. Schmidt, H. -J.: Grundschulzeugnisse in Niedersachsen: Bericht über eine Untersuchung.<br />

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Seite 244 Literatur<br />

42. Schröter, G.: Zensuren? Zensuren! Allgemeine und fachspezifische Probleme;<br />

Grunderkenntnisse und neue Forschungsergebnisse für Lehrer, Eltern und interessierte<br />

Schüler. 3. erw. Aufl. Baltmannsweiler: Pädagogischer Verlag Schneider, 1981.<br />

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Bestandsaufnahme und Anregungen für die Praxis. München: Ehrenwirth, 1986.<br />

44. Steltmann, K.: Einstellungen zur Zensurengebung. Bonn: Institut für Erziehungswissenschaften,<br />

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45. Terhart, E. u.a.: Selektionsentscheidungen als Problembereich professionellen Lehrerhandelns.<br />

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46. ThILLM (Hrsg.): <strong>Die</strong> Jenaplanschule Jena. Dokumentation aus Anlass des fünfjährigen<br />

Bestehens eines Thüringer Schulversuchs. Bad Berka o. J.<br />

47. Tillmann, K.-J./Vollstädt, W.: <strong>Die</strong> Funktion der Leistungsbeurteilung in unterschiedlichen<br />

Schulstufen und Bildungsgängen – ein schultheoretische Einordnung. In: Beutel, S.-I. u. a:<br />

Ermittlung und Bewertung <strong>schulische</strong>r Leistungen. <strong>Hamburg</strong> 1999.<br />

48. Tillmann, K.-J./Holler-Nowitzki, B./Holtappels, H.G./Meier, U./Popp, U.: Schülergewalt<br />

als Schulproblem. Verursachende Bedingungen, Erscheinungsformen und pädagogische<br />

Handlungsperspektiven. Juventa Verlag Weinheim und München 1999.<br />

49. Tillmann, K.-J./Vollstädt, W: Funktionen der Leistungsbewertung – eine Bestandsaufnahme.<br />

In: PÄDAGOGIK, Heft 2/1999 S. 42-46.<br />

50. Ulich, D./Mertens, W.: Urteile über Schüler. Zur Sozialpsychologie pädagogischer<br />

Diagnostik. 2. Auflage 1974 Weinheim und Basel. Beltz.<br />

51. Ulbricht, H.: Wortgutachten auf dem Prüfstand. Eine empirische Untersuchung zur<br />

verbalen Beurteilung in der 1. und 2. Klasse der Grundschule mittels Elternbefragung und<br />

Zeugnisanalyse. Münster; New York: Waxmann, 1993.<br />

52. Valtin, R./Würscher, I./Rosenfeld, H./Schmude, C./Wisser, C.: Der Beitrag der Schule zur<br />

Persönlichkeitsentwicklung. Erste Ergebnisse einer Längsschnittstudie. In: Benner et al.<br />

(1996), S. 219-247 (a).<br />

53. Valtin, R./Würscher, I./Rosenfeld, H./Schmude, C./Wisser, C.: Zeugnisse auf dem<br />

Prüfstand. <strong>Noten</strong>- <strong>oder</strong> Verbalbeurteilung im Ost-West-Vergleich. In: Benner, D./Merkens,<br />

H./Gatzemann, T. (Hrsg.): Pädagogische Eigenlogiken im Transformationsprozeß<br />

von SBZ, DDR und neuen Ländern. Berlin 1996, S. 122-164 (b).<br />

54. Vollstädt, W./Tillmann, K. J. u.a.: Lehrpläne im Schulalltag. Opladen 1999.<br />

55. Vollstädt, W.: Leistungsbeurteilung, Zeugnisse und Lernkultur aus der Sicht <strong>Hamburg</strong>er<br />

Sekundarschülerinnen und -schüler. In: Beutel u.a. 1999a. S. 105-156.<br />

56. Ziegenspeck, J.: Elternhaus und Schule: Zur sozio-familialen Situation von Schülern.<br />

Braunschweig: Westermann, 1978.<br />

57. Ziegenspeck, J.: Handbuch Zensur und Zeugnis in der Schule. Klinkhardt 1999.


9.1 Das Berichtszeugnis von Nina<br />

Liebe Nina,<br />

9 Anhang<br />

mit deiner offenen, vergnügten Art und deinen guten Spielideen ist dir die Anerkennung<br />

deiner Mitschülerinnen sicher. In der Klassengemeinschaft beweist du Verantwortungsgefühl<br />

und Gerechtigkeitssinn und kannst Kritik in angemessener Form äußern. Deine Mitarbeit im<br />

Unterricht ist recht schwankend. Manchmal arbeitest du interessiert mit, meldest dich und<br />

trägst deine gut durchdachten Beiträge vor. Oft aber sehe ich dir die Unlust an, dann kritzelst,<br />

spielst <strong>oder</strong> träumst du und bist nur schwer zur Arbeit zu motivieren. Deine Hausaufgaben<br />

hast du stets zuverlässig und sehr sorgfältig gefertigt. Überhaupt ist deine schriftliche<br />

Arbeitsweise planvoller geworden; du kannst deine Freiarbeit besser organisieren und hast<br />

deine Wochenpläne immer gut vollendet.<br />

Dein gutes Abschneiden bei der <strong>Hamburg</strong>er Schreibprobe beweist mir deine Sicherheit im<br />

Rechtschreiben; leider konntest du dich bei den Diktaten noch nicht so gut konzentrieren.<br />

Eigene Texte zu verfassen macht dir Spaß und geht dir leicht von der Hand. Du hast gute<br />

Ideen, bist sprachlich sehr gewandt und kannst die Spielräume zum Umsetzen eigener<br />

Vorstellungen voll nutzen. Für die äußere Gestaltung deiner schriftlichen Arbeiten, für deine<br />

Schrift und für Illustrationen verwendest du viel Zeit, manchmal fast zu viel, um deinem<br />

hohen Anspruch zu genügen. So gelingen dir kleine Meisterwerke wie dein Gedichtheft, deine<br />

Geschichtenmappe und dein Religionsheft.<br />

Im Rechenunterricht bist du zunehmend mutiger geworden. Mit Sachaufgaben und Größen<br />

kannst du gut umgehen, weil du gut nachdenken kannst; das Kopfrechnen bereitet dir dagegen<br />

Probleme. Additions- und Subtraktionsaufgaben bis 1000 hast du verstanden, du brauchst<br />

aber noch mehr Übung, um sicherer und schneller zu werden.<br />

Im 2. Halbjahr hast du deine mündliche Mitarbeit im Sachunterricht aktiver gestaltet, du<br />

arbeitest auch bei Versuchen engagiert mit und führst deine Mappen sehr sorgfältig.<br />

Im Kunstunterricht kommen deine kreativen Fähigkeiten sehr gut zum Ausdruck.<br />

Hingebungsvoll gestaltest du deine originellen Bilder, auch im Werken hast du immer<br />

genaue Vorstellungen, die du dann selbstständig und präzise verwirklichst.<br />

In Musik lernst du leicht neue Melodien und singst gerne; außerdem hast du am<br />

Instrumentalkreis teilgenommen.<br />

Du bist eine gute Sportlerin, hast aber oft nicht genug Ausdauer. Bei den<br />

Leichtathletikspielen hast du erfolgreich abgeschnitten. Das Schwimmen macht dir Freude, du<br />

hast deinen Schwimmstil verbessert. Du wirst versetzt nach Klasse 4.


Seite 246 Anhang<br />

9.2 Das Gespräch mit Nina<br />

I: So, das ist jetzt die Nina, die geht auch in die vierte Klasse. Nina-Sophie heißt du, hast `nen ganz schicken<br />

Namen. Oder wirst du nur Nina gerufen?<br />

N: Ja, eigentlich schon. Hm.<br />

I: Nina nur. Gut. Nina, erinnerst du dich denn noch daran, was in deinem Berichtszeugnis gestanden hat?<br />

N: Ja, also dass ich gut in Musik bin, und dass ich also, dass ich manchmal zu viel spiele und so. Und meine<br />

Lehrerin nennt das Kritzeln. Aber ich nenne das Malen eigentlich (lacht).<br />

I: Du nennst das Malen (lacht).<br />

N: Aber sie nennt das Kritzeln. Und im Malen bin ich ganz gut und sonst kann ich – steht darin – kann ich gute<br />

Kritik, also angemessene Kritik äußern. Und nicht sozusagen: Ach du, ich bin besser als du und das ist jetzt<br />

ganz doof. Eben dass ich das nicht so blöd mache.<br />

I: Ja, und kannst du mir denn sagen: Hat deine Lehrerin auch etwas gesagt, was dich ein bisschen geärgert hat?<br />

N: Nö, eigentlich das mit dem Kritzeln, das ärgert mich nicht, aber das ist eben so. Aber ich will das auch nicht<br />

sonderlich verbessern <strong>oder</strong> so. Nicht so sehr jetzt, dass ich jetzt die Allerbeste werde und dass ich ohne<br />

Kritzeln und die ganze Zeit nur aufpassen und die ganze Zeit nur gucke und immer so ein bisschen spielen.<br />

Das muss nun auch mal sein (lacht).<br />

I: (lacht) Und was glaubst du, was bedeutet dir denn das Malen <strong>oder</strong> Kritzeln, wie deine Lehrerin das nennt?<br />

N: Ich male total gerne und ich bin auch in so einem Malkurs und Frau M. sagt auch, dass ich sehr gut male, ich<br />

weiß es nicht von mir, und dass ich auch gut zeichne, eigentlich.<br />

I: Hat denn in deinem Berichtszeugnis auch etwas ganz Neues über dich dringestanden, was du noch nicht so<br />

wusstest?<br />

N: Ja, dass ich im Werken gut bin, das habe gar nicht gedacht. Ich dachte, ich bin so normal so und da hat sie<br />

jetzt das reingeschrieben, und dass ich im Sachunterricht besser geworden bin.<br />

I: Du, und als du deinen Bericht bekommen hast, wem hast du den denn zu Hause gezeigt?<br />

N: Also zu Hause hat meine Mama, habe ich meiner Mama den gezeigt und meinem großen Bruder und meiner<br />

großen Schwester, meinem Stiefvater, meinem Papa, meiner Oma, meinem Opa und meiner Tante, meinem<br />

Onkel, meinem Cousin, eigentlich alle aus der Familie.<br />

I: Alle haben es gesehen und was haben die dazu gesagt?<br />

N: <strong>Die</strong> haben eigentlich gesagt, dass es gut ist, geworden ist und dass, ja, die freuen sich über mein Zeugnis.<br />

I: <strong>Die</strong> freuen sich darüber. Und hat denn auch jemand dich darauf angesprochen, dass hier steht, dann kritzelst<br />

du, spielst <strong>oder</strong> träumst. Hat da jemand mit dir drüber gesprochen?<br />

N: Ja, mein Opa und mein Vater und der hat gesagt, wie findest du das denn, dass du so kritzelst und spielst?<br />

Habe ich gesagt, ja eigentlich soll ich mich da sonderlich verbessern? Und da meinte er, hm, musste nicht<br />

machen, eigentlich ein bisschen Schlechtes musst du ja auch noch haben, also ganz die Gute sein, dass man<br />

immer gehorcht und immer gut ist und immer ja Frau M. und ja und ja, bitte schön, dann ist das auch ein<br />

bisschen doof und dann hat er gesagt, wenn ich das verbessern will, soll ich das machen, und wenn nicht,<br />

kann ich das auch so lassen. Und mich stört es nicht.<br />

I: Also, er hat es so ein bisschen deiner Verantwortung überlassen. Hm.<br />

N: Ja und dann habe ich das auch meiner Lehrerin gesagt und da hat sie gesagt, ja, ein bisschen spielen kannst<br />

du nun auch noch, aber nun nicht den ganzen Unterricht über, so kritzel, kritzel, kritzel. Also das nervt sie<br />

doch.<br />

I: Gut, wie ist es denn gewesen, hast du eine Belohnung bekommen?<br />

N: Ja, eigentlich schon. Ich habe so ein Halstuch bekommen und dann habe ich noch so einen kleinen Maulwurf<br />

aus Porzellan bekommen.<br />

I: Und findest du das schön, wenn man eine Belohnung kriegt?<br />

N: Hm, ja. Und eine Mark habe ich bekommen.<br />

I: Und weißt du denn auch wo deine Mama zu Hause dein Berichtszeugnis aufbewahrt?


Anhang Seite 247<br />

N: Ich glaube. Ich weiß es nicht genau. Also meine Kopie, das weiß ich, die habe ich immer in meinem Zimmer<br />

stehen, die kommt in eine Folie und denn wird die eingerahmt, dann kommt die an meine Pinnwand.<br />

I: Und an einer Pinnwand kommt man ja häufig vorbei, liest du denn auch manchmal noch dein<br />

Berichtszeugnis?<br />

N: Ja, und die hängt genau über meinem Schreibtisch und da hängen schon ganz viele <strong>Berichte</strong> und manchmal<br />

machen wir die auch wieder ab, weil die gar nicht mehr dahinpassen.<br />

I: Und deine Mutter und dein Vater lesen die die auch noch mal?<br />

N: Ja, also wenn ich Hausaufgaben mache, z.B. gucke ich nach oben und lese da zwei Texte draus.<br />

I: Und was denkst du dir dann so dabei?<br />

N: Dann denke ich, da hängen ja so viele, und dann denke ich, da irgendwie so, da bin ich schon so viel besser<br />

und da bin ich noch ganz schlecht irgendwie, aber als ich in der ersten Klasse war <strong>oder</strong> in der zweiten war,<br />

fand ich das bestimmt auch sehr gut.<br />

I: Und änderst du denn dein Verhalten, also beim Malen hast du gesagt, also dass möchtest du schon so ein<br />

bisschen beibehalten und in den anderen Dingen, änderst du dich da, wenn da so ein bisschen Kritik steht?<br />

N: Ja, also dass ich spiele – auch mit meiner Freundin –, also ich habe eine sehr nette Nachbarin und ja von der<br />

werde ich leider auch weggesetzt vielleicht. Aber, und dann rede ich auch manchmal mit ihr, aber ich glaub,<br />

ich habe mich da auch schon ein bisschen verbessert.<br />

I: Hast dich schon verbessert, na, dann kann man ja auf das nächste Berichtszeugnis ganz gespannt sein (lacht).<br />

Hast du denn auch mit deinen Freundinnen <strong>oder</strong> Freunden mal dein Berichtszeugnis ausgetauscht? Oder auch<br />

das von anderen gelesen?<br />

N: Ja, also mit meiner Nachbarin habe ich das gemacht, ausgetauscht, und dann habe ich mit Susanne, die auch<br />

eben hier gesprochen hat, das ausgetauscht und mit ihrer Nachbarin Iris.<br />

I: Und wenn du so die <strong>Berichte</strong> von anderen Kindern liest, fällt dir da etwas auf, ist das anders als deiner?<br />

N: Ja, ganz anders.<br />

I: Ganz anders?<br />

N: Ganz anders, also Susannes und Iris, finde ich, sind ein bisschen gleich, aber sonst, finde ich, ganz anders.<br />

I: Und woran liegt das?<br />

N: Weiß ich nicht.<br />

I: Weil du vielleicht anders bist?<br />

N: Ja, vielle icht.<br />

I: Und ein ganz individuelles Kind bist, nicht?<br />

N: Ja. Also Susanne, die ist ja auch nett, die hört mehr zu als ich und ist auch ein bisschen besser in der Schule<br />

als ich und Iris auch. Iris ist Klassensprecherin, Susanne ist Tischsprecherin, also und ja und deshalb denke<br />

ich auch, dass es auch daran liegt.<br />

I: Hm findest du das denn interessant, was über die anderen da drinsteht?<br />

N. Hm.<br />

I: Sind das Sachen, die du schon wusstest? Oder?<br />

N: Also manche Sachen, die wusste ich schon. Und manche Sachen, die sind ziemlich neu.<br />

I: <strong>Die</strong> sind neu, hm. Wie sieht es denn bei dir aus. Du kennst doch sicher auch Kinder, die <strong>Noten</strong> kriegen.<br />

Möchtest du auch gerne <strong>Noten</strong> haben?<br />

N: Nee.<br />

I: Und warum nicht?<br />

N: Das hat ja auch Susanne schon gesagt: Ich möchte keine <strong>Noten</strong> haben, weil, denn kommen immer andere<br />

z.B., ich hab jetzt eine Vier <strong>oder</strong> und, der Schüler z.B. Niklas, der auch gesprochen hat, sagt dann, guck mal,<br />

ich hab `ne Eins und was hast du (Spricht betont künstlich)? Muss ich sagen: Ich hab `ne Vier. Bäh, bäh, bäh,<br />

ich hab `ne Eins und du bist ganz schlecht. Und ich bin ganz gut. Und dass man da auch ziemlich traurig ist<br />

dann.


Seite 248 Anhang<br />

I: Und bei den <strong>Berichte</strong>n ist das nicht so, dass man sich so vergleicht?<br />

N: Nein, finde ich, weil da stehen ja gute Sachen drinnen, da stehen ja nicht so harte (spricht betontes Stakkato)<br />

Einsen und Zweien und Drei und Fünf und Sechs und so. Da steht ja drin, in den Sachen bist du gut, aber<br />

manchmal bist du auch schlecht, und da kann man ja nicht sagen, manchmal bist du in den Sachen gut <strong>oder</strong><br />

schlecht. Und deshalb mag ich Berichtszeugnisse eigentlich lieber.<br />

I: Hm. Du, was gefällt dir an deiner Schule?<br />

N: <strong>Die</strong> vielen Kinder und meine Lehrerin, also die Lehrer, die finde ich ziemlich nett, und dass so viele Räume<br />

sind, wo man sich manchmal auch verstecken kann und so‘n großer Pausenhof, wo man allein mit seiner<br />

Freundin sich dahinsetzen kann und reden. Und es sind nicht immer die anderen da und kommen: Was<br />

machst du da?<br />

I: Ja, und gibt es auch etwas, was dir nicht so gut gefällt?<br />

N: Ja, nein, also manchmal finde ich Frau M. ziemlich in Ordnung, aber manchmal ist sie auch zickig. Aber das<br />

ist, glaube ich, bei allen Lehrern so. Sonst finde ich noch ein bisschen doof, dass der Hausmeister, der ist<br />

nicht so nett, also der ist schon ziemlich nett, aber nicht, der glaubt, z.B. habe ich ihm mit meiner besten<br />

Freundin mal gesagt, dass die Tür klemmt, und er meint ja, ja und morgen bin ich der Kaiser von China, und<br />

das finde ich nicht so gut, dass er uns das nicht glaubt, weil, da sind einmal Kinder nicht reingekommen, und<br />

manche sind auch ein bisschen frech und dann machen die die Tür von innen nicht auf, also die kann man<br />

dann nur von innen aufmachen. Und dann kommen die zu spät zur Stunde, und wenn man das dem<br />

Hausmeister sagt dann muss er einem auch mal glauben. Das ist ein bisschen blöd, aber sonst finde ich es<br />

gut.<br />

I: Du, und würdest du dir auch zutrauen, so einen Text zu schreiben über dich?<br />

N: Nein, nein, nie im Leben.<br />

I: Nein. Und über andere?<br />

N: Nee, das kann ich nicht.<br />

I: Was glaubst du denn, wie macht deine Lehrerin das eigentlich, dass die sich das alles merkt von jedem Kind?<br />

N: Ich glaub, sie hat ja ein Klassenbuch, ich weiß nicht, ob sie eins hat, aber ich glaub, sie hat eins, und da trägt<br />

sie alles ein.<br />

I: Ja, denn es ist ja eine ganz schöne Leistung am Ende eines Halbjahres, von allen Kindern etwas Besonders zu<br />

wissen, nicht? Möchtest du auch mal Lehrerin werden?<br />

N: Nee, öö. Nee, nee, lieber nicht. Also ich finde, vielleicht wird es ja ganz schön und ich würde auch gerne mit<br />

Kindern zusammensein, also erst mal bin ich ja auch selbst noch ein Kind. Vielleicht will ich das später ja<br />

mal, also ich glaub, gucken wir mal. Am Gymnasium ist das ja auch meistens so, dass die Kinder die Lehrer<br />

überhaupt nicht mögen und so und dann lieber nicht, dann mag man einen nicht und irgendwie ist das ein<br />

bisschen ermattend, finde ich.<br />

N: Ja, gut, Nina, hast du mir ganz viel erzählt. Vielen Dank.


9.3 Das Berichtszeugnis von Annika<br />

Liebe Annika,<br />

Anhang Seite 249<br />

du hast dich von Anfang an mit großem Einsatz allen Aufgaben und Arbeiten in der 1. Klasse<br />

gewidmet. Deine Fähigkeiten und dein Können hast du ganz selbstverständlich überall dort<br />

eingebracht, wo du es zeigen konntest, ohne dich damit jemals selbst in den Vordergrund zu<br />

stellen.<br />

Du bist immer bereit, Aufgaben zu übernehmen. Dabei kannst du recht geduldig und<br />

verständnisvoll mit anderen sein. Mit dir selbst willst du das nun auch sein, wenn du einmal<br />

nicht ganz direkt zum Ziel kommst. Zum Lernen braucht man Fehler, auch wenn man so<br />

tüchtig ist wie du.<br />

Schon bei der ersten Schreibprobe auf dem „leeren Blatt“ konntest du Wörter aus dem Kopf<br />

schreiben, Annika und Randi sogar in Schreibschrift. Du bist sicher froh, wenn wir in der 2.<br />

Klasse endlich alle die Schreibschrift lernen.<br />

Du kannst Wörter und Sätze allein schreiben. Dabei ordnest du sicher und genau dem Laut<br />

den richtigen Buchstaben zu. Dass die Aussprache und die Schreibung oft nicht gleich sind,<br />

bedenkst du dabei schon in vielen Wörtern. Du denkst über die Schreibweise nach und kannst<br />

dir Rechtschreibregeln merken. In der <strong>Hamburg</strong>er Schreibprobe erzielst du ein sehr<br />

erfreuliches Ergebnis, das dein Schreibkönnen deutlich macht. Bei der Ausführung der<br />

Buchstaben bist du sehr genau. Du kannst große und kleine Buchstaben sicher und<br />

gleichmäßig aufschreiben, Linien als Schreibhilfe annehmen und ein schönes Schreibergebnis<br />

auf den Tisch legen, wie z. B. den Sachkundetext über Krümel <strong>oder</strong> die Theophilgeschichte<br />

und viele andere im blauen Geschichtenheft. Du schreibst lieber Geschichten als<br />

Geschichtenbilder zu malen. Bei unseren Klassenbriefen bist du immer gern für den Text<br />

zuständig.<br />

Du bist ein tüchtiger Leser. Schade, dass wir es noch nicht geschafft haben, auf der<br />

Lesekassette deine eigenen Geschichten zu sammeln. Unsere Leseproben hast du mühelos<br />

bestanden und gezeigt, wie sicher und gekonnt du vorlesen und das Gelesene verstehen<br />

kannst. Meine Fragen beantwortest du überlegt und genau. Auch beim Vorlesen in der Klasse<br />

können wir dir gut zuhören, denn du liest ruhig mit Übersicht und klarer Stimme.<br />

Du bist immer ein aufmerksamer Zuhörer. Bei den „Loni-Geschichten“ und „Latte-Igel“ gehst<br />

du richtig mit und behältst von der einen zur anderen Geschichte alle Ergebnisse bis in<br />

Einzelheiten. Wie genau du dir alles merken kannst und es behältst, wird auch im<br />

Morgenkreis deutlich, wenn du uns von dir erzählst. Du meldest dich häufig an und bist ein<br />

guter Leiter, der mit Übersicht die Liste führt.<br />

Du bist eine ausgezeichnete schnelle Rechnerin. Du kannst schon viele Zahlen auch im<br />

Zahlenraum über 100 sicher lesen und schreiben. Du kannst Mengen bis 20 erkennen und<br />

darstellen, übersichtlich bündeln und sehr sicher auch mit 10er-Übergang addieren und<br />

subtrahieren. Du kennst die Zeichen > < = und kannst mit ihrer Hilfe Zahlen sehr sicher<br />

vergleichen.<br />

Deine Tuschbilder und Zeichnungen sind immer eine Freude. Du gestaltest deine Bilder sehr<br />

sorgfältig. Mit viel Überlegung und Geschick führst du Formen genau aus. Da wundert es<br />

nicht, dass du lieber selbst zeichnest als Anmalaufgaben zu übernehmen, wie wir sie zur<br />

kleinen weißen Ente besonders am Anfang häufiger gemacht haben. Deine Selbständigkeit<br />

und Ausdauer zeigst du bei allen Bastelaufgaben. Du kannst sorgfältig schneiden, kleben,<br />

kordeln, flechten und sticken. Gemeinsam mit Janina hast du schöne Ideen entwickelt und<br />

immer neue Knickanregungen in die Klasse gebracht. Unsere Klassenprojektwoche „Mit


Seite 250 Anhang<br />

Nadel und Faden“ hat dir besonders viel Spaß gemacht, und du würdest solche Arbeiten gern<br />

häufiger angeboten bekommen. Während der Schulprojektwoche hast du das Thema „Feuer,<br />

Wasser, Erde, Luft“ gewählt.<br />

Große Freude bereitet dir das Flöten. Besonders schnell hast du die Technik gelernt und mit<br />

Spaß und Ausdauer viel geübt. So bist du gemeinsam mit Linnea seit einem halben Jahr im<br />

Instrumentalkreis unserer Schule und in einer Flötenschule. Du hast schon sichere<br />

<strong>Noten</strong>kenntnisse. Melodien und Texte kannst du schnell behalten. Bei allen Musikaufgaben<br />

machst du eifrig mit und bist bei unseren Klassenliedern immer eine verlässliche Sängerin.<br />

Am Sportunterricht nimmst du mit viel Freude und Einsatz teil. Sehr gerne rollst du mit dem<br />

Rollbrett durch die Halle. Bei allen anderen Spielen und beim Turnen bist du eifrig dabei.<br />

Wir freuen uns auf die 2. Klasse mit dir.<br />

Annika rückt in die Klasse 2 auf.<br />

9.4 Das Gespräch mit Annika<br />

I: So, Annika, lässt du mich ein bisschen mit reingucken? Du bist die Annika und du gehst jetzt in die zweite<br />

Klasse. Annika, kannst du mir denn erzählen, was in deinem letzten Berichtszeugnis gestanden hat?<br />

A: In dem? Also, ich kann sehr gut lesen und ich lese auch schon ganz viele Bücher, und dass ich halt `ne gute<br />

Leserin bin und dass ich auch so gut schreibe. Ich schreib auch schon ein bisschen Schreibschrift. Ein ganz<br />

bisschen, ein paar Wörter kann ich nur. Und ich geh auch in den Instru-Kreis, da darf man eigentlich erst im<br />

zweiten hin, aber ich bin schon in der ersten hingekommen, also der Instru ist, da kann man so flöten und mit<br />

Instrumenten spielen. Da bin ich dann hingegangen. Ich hab auch Flötenstunden ganz viele. Und das ich das<br />

gerne mach.<br />

I: Steht auch was drin wie du mit anderen Kindern umgehst?<br />

A: Ja, ich helf auch gerne und übernehm Arbeiten. Das mache ich auch gern.<br />

I: Das hat deine Lehrerin auch geschrieben?<br />

A: Hm.<br />

I: Hm. Du, hat denn auch was dringestanden, was dich vielleicht geärgert hat?<br />

A: Nein.<br />

I: Kritik? Irgendwas?<br />

A: Nein.<br />

I: Und stand auch etwas Neues über dich drin, was du noch gar nicht so wusstest über dich?<br />

A: Das weiß ich jetzt nicht so genau.<br />

I: Weißte nicht so genau. Du, und wie war das, als du deinen Bericht bekommen hast?<br />

A: Aufregend.<br />

I: Erzählst du mir mal, wie das war?<br />

A: Also wir haben das gekriegt und dann hatten wir auch Helfer da, also Praktikanten, und die sind dann mit uns<br />

in den Ali-Raum und in die Bücherwurmkiste, da sind die mit uns hingegangen und dann haben wir es erst<br />

alleine gelesen und dann hat noch mal jemand anderes uns das vorgelesen. Und ein paar Wörter habe ich da<br />

auch nicht verstanden.<br />

I: Kannst du denn diese Schrift so lesen, wenn das so gedruckt ist?<br />

A: Ja, „Du hast von Anfang an mit großem Einsatz“ ... das kann ich lesen.<br />

I: Das kannst du wunderbar lesen. Du, und was hast du nicht so gut verstanden? Weißt du das noch?<br />

A: Ein paar Wörter.<br />

I: Nen paar Wörter. Kannst du mir die zufällig zeigen?


A: Hm. Irgendwie gewidmet <strong>oder</strong> irgendwie so was.<br />

Anhang Seite 251<br />

I: Gewidmet. Also so ein bisschen schwierige Wörter. Also was man nicht so alltäglich spricht. Hm. Du, und<br />

wie war denn das, du hast es selber gelesen, dann bist du nach Hause gegangen. Wer hat es zu Hause<br />

gelesen?<br />

A: Erst hat‘s Mama laut vorgelesen, weil, meine Schwester wollte das unbedingt auch mitkriegen.<br />

I: <strong>Die</strong> ist älter?<br />

A: Nee, die ist jünger. <strong>Die</strong> ist erst fünf.<br />

I: Und was hat sie dann dazu gesagt?<br />

A: Das war gut. Und dann habe ich nen Brief ein paar Tage danach von meinem Onkel gekriegt und da waren<br />

20 Mark drinne für das Zeugnis.<br />

I: Da hat deine Mutter deinem Onkel davon erzählt, wie toll das war, dein Zeugnis?<br />

A: Ja, und der hat das dann noch mal gelesen.<br />

I: Und wer hat es sonst noch gelesen, dein Zeugnis?<br />

A: Papa, Oma, Mamas Freundin.<br />

I: Und was haben die so gesagt?<br />

A: Auch, das war gut.<br />

I: Und findest du das gut, wenn das alle so lesen über dich?<br />

A: Ja, nur nicht andere Fremde. Das mag ich nicht so gerne. Ich möchte das lieber für mich dann behalten.<br />

I: Das magst du nicht. Liest du denn die Zeugnisse von anderen Kindern? Kennst du die?<br />

A: Öö.<br />

I: Auch nicht. Aber du verteilst auch nicht deins und sagst: Guck mal, was ich hab?<br />

A: Nee.<br />

I: Ist denn so ein Bericht für dich was ganz Persönliches?<br />

A: Ja.<br />

I: Wie so`n Brief z.B., der nur so an dich ist?<br />

A: Ja, aber es ist irgendwie für mich was ganz Logisches, dass jeder so was kriegt.<br />

I: Du, und eben hast du, glaube ich, schon gesagt, du hast eine Belohnung gekriegt?<br />

A: Ja, zwanzig Mark.<br />

I: Zwanzig Mark, und hast du von deinen Eltern auch etwas bekommen?<br />

A: Nee, aber wir waren alle fröhlich an dem Tag.<br />

I: Ihr wart alle fröhlich, gut. Du und weißt du denn, wo deine Mutter zu Hause deinen Bericht aufbewahrt?<br />

A: Ja, ich glaub in so ‘ner Mappe.<br />

I: Und gehst du da manchmal dran und liest es vielleicht noch mal?<br />

A: Nee, das mach ich nicht.<br />

I: Machst du nicht. Und deine Mutter, liest die das vielleicht noch mal?<br />

A: Nee, vielleicht ein paar Jahre später, aber ich weiß es nicht so genau.<br />

I: Ein paar Jahre später. Sieht man mal, wie das alles war. Denn weißt du, wenn ich mir z.B. meine Zeugnisse<br />

von früher angucke, dann stehen da immer nur <strong>Noten</strong>. Als ich zur Schule ging, gab‘s <strong>Noten</strong>, und manchmal<br />

möchte ich auch ganz gerne wissen, was ich so alles in der Schule gemacht habe. Und wenn man das dann im<br />

Nachhinein liest, ist das ja eigentlich was ganz Tolles über einen selbst so.<br />

A: Hm.<br />

I: Glaubst du, dass du es später noch mal ganz gern liest?<br />

A: Hm. Ich les jetzt ganz viel. Ich hab, glaube ich, schon sechs <strong>oder</strong> fünf Bücher ganz durchgelesen.<br />

I: Ja, und dann kannst du ja mal das über dich selbst lesen, das ist dann ja auch ein kleines Buch, ne. Wie sieht


Seite 252 Anhang<br />

es denn aus, du kennst doch bestimmt Kinder, die in der Schule nur <strong>Noten</strong> kriegen?<br />

A: Also, ich kenne sie nicht, aber ich weiß, dass es so was gibt.<br />

I: Wie findest du denn das eigentlich?<br />

A: Das finde ich auch nicht so gut, denn da steht ja nur diese Zahl und du weißt nicht selber, was du da kannst.<br />

Das ist irgendwie blöd. Da steht dann, in Mathe hast du meinetwegen eine Drei, und dann weißt du ja nicht,<br />

wie gut du da warst. Das kann man ja nicht wissen.<br />

I: Ja, das ist richtig. Du, aber ich hab das ja eben den Lukas schon mal gefragt: Kannst du dir denn vorstellen,<br />

wie sich deine Lehrerin das alles merkt, was ihr so im Halbjahr macht? Wie macht die das denn?<br />

A: Also, sie schreibt sich während der Schulzeit, während dem ganzen Schuljahr geht sie manchmal an den<br />

Schreibtisch und schreibt so kleine Zettel. So würde ich mir das vorstellen erst mal.<br />

I: Ja.<br />

A: Und dann wird sie die natürlich mitnehmen und die Namen natürlich dazuschreiben und dann noch mal auf<br />

große Zettel aufschreiben. Und dann hat sie erzählt auch, dass ihr Mann das mit einem Computer dann auch<br />

noch mal gedruckt hat richtig.<br />

I: Ach, so erinnert sie sich dann daran, denn es ist ja ganz schön schwierig, für alle Kinder was Individuelles so<br />

zu schreiben. Du, möchtest du auch gerne Lehrerin werden?<br />

A: Öö. Danke, nein. Unsere Lehrerin schreit auch ganz viel.<br />

I: Ehrlich?<br />

A: Macht sie. Weil wir so viele Hampelheinis haben.<br />

I: Weil so viele schwierige Kinder da sind, muss sie so durchgreifen? Ja, könntest du dir denn vorstellen, auch<br />

so einen Text zu schreiben für Kinder? Glaubst du, dass das schwer ist?<br />

A: Ja.<br />

I: Glaub ich auch. Für so viele Kinder etwas Unterschiedliches zu schreiben.<br />

A: Es ist so viel, zwei ganze Seiten. Man muss ja auch eine Idee haben, wie du das schreibst.<br />

I: Ja eben. Man muss sich überlegen, was war denn alles und wie fange ich jetzt an und so. Wie findest du denn<br />

das: Soll eine Lehrerin denn auch Kritik schreiben? Darf man so was im Bericht?<br />

A: Ein bisschen. Aber nicht zu viel. Weil, sonst werden die Kinder, das mögen sie dann nicht mehr, weil sie<br />

keinen Spaß mehr an der Schule haben.<br />

I: Das glaube ich auch, das muss man ganz vorsichtig machen. Glaubst du, dass deine Lehrerin das so auch<br />

macht, dass sie vorsichtig mit Kritik umgeht? Und wie würdest du denn damit umgehen, wenn da<br />

irgendwann etwas drinsteht, was du nicht so toll findest? Wärst du dann beleidigt <strong>oder</strong> würdest du dich<br />

ändern?<br />

A: Nee, ich würd zur Lehrerin gehen und mit ihr darüber reden.<br />

I: Mit ihr darüber reden, ne. Gut. Und, Annika, kannst du mir denn noch sagen, was dir an deiner Schule gut<br />

gefällt?<br />

A: Also das Flöten im Instru-Kreis, das mag ich gern. Jetzt hab ich auch noch im Chor angefangen. Und ich<br />

schreib auch gerne Geschichten. Ich hab drei solche große Seiten voll Geschichten geschrieben.<br />

I: Und gibt‘s auch was, was dir nicht so gut gefällt an der Schule?<br />

A: Öö.<br />

I: Eigentlich nicht. Aber vorhin hast du gesagt: Kinder, die stören, die nerven.<br />

A: <strong>Die</strong> stören auch.<br />

I: Gut. Vielen Dank, Annika.


9.5 Das Berichtszeugnis von Hakan<br />

Lieber Hakan,<br />

Anhang Seite 253<br />

du bist jetzt durchgehend sehr selbstbewusst und hast Kontakt zu vielen Kindern in der<br />

Klasse. In den letzten 3 Monaten hast du allerdings absichtlich viel Streit gemacht, geprügelt<br />

und die Klassenregeln verletzt. Das ist schlecht für dich und das musst du wieder ändern,<br />

Hakan. Es hält dich davon ab, genug zu lernen. Auch deine Hausaufgaben musst du unbedingt<br />

wieder ordentlich und gleichmäßig erledigen. Du behauptest oft, du konntest sie nicht, dabei<br />

bist du nur zu faul gewesen. Du hast bewiesen, dass du mit Anstrengung viel erreichen<br />

kannst. Bitte versuche wieder, dich mit Mühe und Lust um die Schuldinge zu kümmern, damit<br />

du im nächsten Schuljahr weiter Fortschritte machen kannst!<br />

Du liest zwar gern, aber immer noch recht langsam. Deine Schrift ist in letzter Zeit schlechter<br />

geworden und dadurch machst du Fehler, die gar nicht nötig wären. Diktate schaffst du –<br />

wenn du geübt hast – oft gut. Bei Geschichten hast du immer eine Idee, die du noch sehr kurz,<br />

aber sprachlich richtig aufschreibst. Du kannst jetzt auch schon manchmal die Wortarten<br />

unterscheiden.<br />

In der Sachkunde nimmst du am mündlichen Unterricht oft mit Interesse teil und behältst die<br />

neuen Wörter auch meist gut. Aber Zusammenhänge zu begreifen fällt dir noch recht schwer.<br />

Nur bei der Einheit über den Körper hast du das geschafft.<br />

Den Zahlenraum bis 100 hast du zunächst langsam und mit Mühe, aber dann doch recht sicher<br />

erobert. Du bist jetzt in allen Rechenarten einigermaßen sicher und hast ihren Sinn<br />

verstanden, so dass du auch schon kleine Textaufgaben lösen kannst. Bei Aufgabenumstellungen,<br />

wenn du logisch denken musst, machst du aber noch regelmäßig Fehler.<br />

Du malst jetzt gern und mit eigenen Ideen und manchmal auch schon sorgfältig. Am liebsten<br />

spielst du mit Baumaterial. Bei der Vogelhochzeit hast du mehrfach gezeigt, dass du<br />

Rhythmen gut aufnehmen kannst. Musikhören und Tanzen machen dir Spaß.<br />

Meist nimmst du mit Freude und Einsatz am Sportunterricht teil und erreichst befriedigende<br />

bis gute Leistungen. Leider hast du nicht immer dein Sportzeug dabei. In letzter Zeit bist du<br />

oft in Streitereien verwickelt und nimmst dir das Recht, andere – besonders Mädchen – zu<br />

treten und zu schlagen. Das ist nicht in Ordnung. Hakan, das muss wieder aufhören!<br />

Hakan rückt auf in Klasse 3.<br />

9.6 Das Gespräch mit Hakan<br />

I: Das ist jetzt der Hakan. Der geht jetzt in die dritte Klasse. Und das ist dein letztes Berichtszeugnis,<br />

handschriftlich geschrieben. Was hat dir denn daran gefallen, weißt du das noch?<br />

H: (Schweigen.)<br />

I: Weißt du denn noch, worüber du dich geärgert hast?<br />

H: (Schweigen.)<br />

I: Und wenn du noch mal so drauf guckst. Hier steht: Du bist sehr selbstbewusst, hast Kontakt zu vielen<br />

Kindern in der Klasse. Da steht aber auch: Du hast viel Streit gemacht, hast geprügelt, Klassenregeln verletzt.<br />

Hat dich das geärgert, dass das da drinsteht?<br />

H: Ein bisschen.<br />

I: Und wie hast du darauf reagiert?<br />

H: (Schweigen.)<br />

I: Hast du das Berichtszeugnis in der Schule gelesen?<br />

H: Unsere Lehrerin hat uns vorgelesen.


Seite 254 Anhang<br />

I: Hast du auf Anhieb alles verstanden?<br />

H: Ein bisschen.<br />

I: Bisschen. Und was hast du nicht verstanden?<br />

H: (Schweigen.)<br />

I: Weißt du nicht mehr. Hättest du es denn gut gefunden, wenn deine Lehrerin sich mit dir hingesetzt hätte und<br />

das noch mal mit dir durchgesprochen hätte?<br />

H: Ja.<br />

I: Und das hat sie nicht gemacht?<br />

H: (Schweigen.)<br />

I: Und wie ist es gewesen? Hat zu Hause den Bericht jemand gelesen?<br />

H: Öö.<br />

I: Gar nicht. Und warum hat es keiner gelesen?<br />

H: (Schweigen.)<br />

I: Hast du noch Geschwister?<br />

H: Einer ist gestorben. Noch Brüder.<br />

I: Du hast noch Brüder. Bekommen die <strong>Noten</strong>?<br />

H: Hm.<br />

I: Was findest du denn: Sind <strong>Noten</strong> besser als <strong>Berichte</strong>?<br />

H: Öö.<br />

I: Was gefällt dir denn an Berichtszeugnissen?<br />

H: Dass man in eine andere Klasse kommt.<br />

I: Und was über dich geschrieben wird, findest du das auch gut?<br />

H: Nicht nötig.<br />

I: Nicht nötig. Hat denn deine Lehrerin etwas vergessen, über dich zu schreiben, was dir wichtig war?<br />

H: Weiß ich nicht.<br />

I: Wie ist es denn bei dir zu Hause: Ist das ein besonderer Tag, wenn es Zeugnisse gibt?<br />

H: (Schweigen.)<br />

I: Weißt du zufällig, wo deine Eltern deinen Bericht aufbewahren?<br />

H: In der Tasche.<br />

I: Siehst du ihn dir manchmal noch an?<br />

H: Wenn wir Besuch kriegen.<br />

I: Wenn ihr Besuch kriegt, guckt ihr ihn an. Und wer liest ihn dann?<br />

H: (Schweigen.)<br />

I: Und wie findest du das?<br />

H: Gut.<br />

I: Und was gefällt dir daran?<br />

H: Das man die kriegt.<br />

I: Hast du andere Freunde, die <strong>Noten</strong> bekommen?<br />

H: (Schweigen.)<br />

I: Findest du gut, wenn Kinder Berichtszeugnisse bekommen?<br />

H: Ja.<br />

I: Kannst du mir noch mal erzählen, was dir an deiner Schule gefällt?


H: Fällt nichts ein.<br />

I: Gibt es auch was, was dir nicht gefällt?<br />

H: (Schweigen.)<br />

Anhang Seite 255<br />

I: Und wenn du noch mal an dein Berichtszeugnis denkst, gibt es denn irgendwas, wo du dir so sagst, ja, da<br />

muss ich noch arbeiten und fleißiger sein?<br />

H: Ja.<br />

I: Erinnerst du dich, wo du fleißiger sein musst?<br />

H: Öö.<br />

I: Vielen Dank.<br />

9.7 Das Berichtszeugnis von Yang<br />

Lieber Yang,<br />

du hast im ganzen Schuljahr gut mitgearbeitet, und du bist gern in die Schule gekommen. Du<br />

hast sehr viele Freunde in der Klasse. Wir freuen uns über deine lustigen Einfälle. Du hast den<br />

Kindern <strong>oder</strong> mir gern und freiwillig bei verschiedenen Sachen geholfen. Wenn wir etwas im<br />

Unterricht besprochen haben, hast du gut mitgedacht und dich oft gemeldet. Du willst<br />

unbedingt ganz richtig deutsch sprechen und schreiben. Deshalb hast du sehr fleißig das<br />

Richtigschreiben und die Grammatik geübt. (Das Wort Grammatik kennst du.)<br />

Das hat auch etwas genützt. Deine Rechtschreibung ist viel besser geworden. Du denkst beim<br />

Schreiben schon oft an die Rechtschreibregeln. Deine Geschichten sind auch besser<br />

geworden. Du schreibst längere Geschichten als zu Anfang des Schuljahres, und viele Sätze<br />

sind richtig. Darauf musst du aber immer noch aufpassen: Du musst deine Gedanken zu einer<br />

Geschichte so aufschreiben, dass jeder, der die Geschichte liest, auch versteht, was du meinst.<br />

Das heißt, du musst der Reihe nach erzählen.<br />

Du hast dich oft freiwillig zum Vorlesen gemeldet. Du kannst gut und sicher vorlesen, und du<br />

verstehst, was du liest. Manchmal kommt es vor, dass du ein Wort nicht kennst. Dann fragst<br />

du, und das finde ich ganz prima von dir. Du hast die Lesezeiten gut genutzt und gern auch<br />

dickere Bücher aus der Klassenbücherei gelesen.<br />

Du schreibst sehr schnell und flüssig. Achte aber bitte weiter auf Genauigkeit bei den<br />

Buchstaben. Deine Schulsachen sind ganz ordentlich. Manchmal könntest du die Seiten in<br />

deinen Heften und Mappen noch etwas besser einteilen. Du hast deine Hausaufgaben immer<br />

gemacht und dir dabei auch Mühe gegeben.<br />

Du rechnest gern. Mit dem Projekt „sicher und schnell rechnen“ haben wir alle<br />

Aufgabensorten aus dem dritten Schuljahr wiederholt. Du hast viel geschafft bei diesem<br />

Projekt. Du konntest alle Aufgabensorten rechnen, weil du die Rechenwege sicher behalten<br />

hattest. Es ärgert dich, wenn du bei Rechengeschichten nicht sofort herausfindest, welche<br />

Aufgabe sich in der Geschichte versteckt. Lasse dir Zeit, Yang, und denke in Ruhe nach! Du<br />

findest die Lösung bestimmt. <strong>Die</strong> Scotty-Projekte und unser Lieferservice-Projekt haben dir<br />

viel Spaß gemacht. Dabei hast du gezeigt, dass du gut mit Geld rechnen kannst. Du kennst die<br />

Uhr. Du kannst richtig messen, denn du weißt, was Millimeter, Zentimeter und Meter<br />

bedeuten. Bei unserem Geometrie-Projekt hast du selbständig gearbeitet. Ich habe gemerkt,<br />

dass die Aufgaben dir Spaß gemacht haben.<br />

Im Sachunterricht hast du sehr gut mitgearbeitet. Du hast dich oft gemeldet und gute<br />

Antworten gegeben. Du hast dich gern selbständig über ein Thema informiert. Du mochtest<br />

gern etwas aufschreiben <strong>oder</strong> malen. Wenn du mit mehreren Kindern zusammengearbeitet<br />

hast, hast du gemeinsam mit deiner Gruppe überlegt, wie man die Arbeit einteilt und was man


Seite 256 Anhang<br />

eigentlich schaffen will. Du hast sehr gern etwas beobachtet und dann davon berichtet. Du<br />

hast oft gefragt, warum etwas passiert <strong>oder</strong> was passiert, wenn man etwas macht. Das fand ich<br />

prima!<br />

Du lernst sehr gern Englisch. Du kannst Wörter und kleine Fragen und Sätze gut behalten. Du<br />

weißt auch, wann man den Satz <strong>oder</strong> die Frage benutzen kann. Du hast gern etwas gemacht<br />

für unsere Englisch-Wand. Du schreibst gern englische Wörter.<br />

Wir alle bewundern dich beim Turnen. Du kletterst, springst, balancierst und jonglierst so gut,<br />

dass wir immer wieder staunen. Du kannst sehr schnell laufen. Beim Bodenturnen machst du<br />

alle Übungen wie ein Profi. Du spielst auch sehr gut Basketball.<br />

Beim Singen hast du dir viel Mühe gegeben. Spaß gemacht haben dir vor allem unsere<br />

Rhythmus-Instrumente. <strong>Die</strong> chicken shakes hast du sogar selbst nachgebaut. Das<br />

Zauberflöten-Projekt hat dir viel Spaß gemacht.<br />

Du malst und zeichnest gern und gut. Dabei hast du viele gute Ideen. Du hast auch gern<br />

unsere Bücher über Farben und Bilder von berühmten Malern angeguckt. Bei unserem<br />

Flugmodell-Projekt hast du besonders gut mitgemacht. Beim Werken hast du leider oft viel<br />

Unruhe verbreitet. Trotzdem hast du zügig und genau gearbeitet. Dein Tennisschläger ist gut<br />

geworden!<br />

Für das nächste Schuljahr wünsche ich dir viel Erfolg und weiter viel Spaß beim Lernen!<br />

9.8 Das Gespräch mit Yang<br />

I: Du bist Yang und gehst in die dritte Klasse. Du kommst aus Vietnam und bist schon ganz lange hier. So hast<br />

du es mir erzählt. Wie lange bist du schon hier, weißt du das noch?<br />

Y: So 24, weiß ich nicht.<br />

I: Bist du von Anfang an auf dieser Schule gewesen?<br />

Y: Ja.<br />

I: Dann hast du ja von Anfang an solche Berichtszeugnisse bekommen. Und kannst du mir mal sagen, wie du<br />

die so findest?<br />

Y: Ja, eigentlich gut, aber manchmal stehen da auch so schlechte Sachen, das gefällt mir nicht.<br />

I: Kannst du mir an deinem letzten Berichtszeugnis mal ze igen, was dir gut und was dir nicht so gut gefallen<br />

hat?<br />

Y: <strong>Die</strong> Grammatik.<br />

I: Kannst du mir das mal zeigen?<br />

Y: Ja: „Deshalb hast du sehr fleißig das Richtigschreiben und die Grammatik geübt.“<br />

I: Und da hast du dich drüber gefreut?<br />

Y: Ja.<br />

I: War das schwer für dich, die Grammatik?<br />

Y: Nein. Ich hab auch zu Hause manchmal Geschichten abgeschrieben und so.<br />

I: Hat denn in deinem letzten Berichtszeugnis davor dringestanden, dass du das Schreiben und die Grammatik<br />

noch nicht so gut kannst?<br />

Y: Ja.<br />

I: Und jetzt hast du dich gebessert. Hat es noch Sachen gegeben, über die du dich gefreut hast?<br />

Y: Ja, wegen Lesen und so.<br />

I: Und was stand da drin über dich?<br />

Y: Yang, du bist sehr gut beim Lesen geworden. Viel Glück und mach weiter so.


I: Hm. Da hast du dich gefreut. Und worüber hast du dich geärgert?<br />

Y: Ja, an dem Geschichtenschreiben.<br />

I: Zeigst du mir das mal?<br />

Y: Das ist beim anderen.<br />

I: Du kennst deine <strong>Berichte</strong> aber alle sehr gut. Liest du die öfter mal?<br />

Y: Ja, wenn es mir so langweilig ist.<br />

I: Und warum liest du das dann?<br />

Y: Dann weiß ich wieder, was ich noch üben soll.<br />

I: Das ist aber toll. Wo bewahrt ihr das zu Hause auf?<br />

Y: In einem Ordner.<br />

I: Hast du Geschwister?<br />

Y: Nein, nur einen Bruder.<br />

I: Ist der älter?<br />

Y: Kleiner.<br />

Anhang Seite 257<br />

I: Wenn du nach Hause kommst mit deinem Bericht, hast du ihn erst mal in der Schule alleine gelesen?<br />

Y: Ja.<br />

I: Fragst du deine Lehrerin auch, wenn du etwas nicht verstehst?<br />

Y: Ja.<br />

I: Was sind denn die Sachen, die du nicht verstehst?<br />

Y: So komische Wörter. So wie „kurios“, weiß nicht, dann frag ich.<br />

I: Wie sieht es denn mit deinen Eltern aus? Verstehen die den auch?<br />

Y: Ja.<br />

I: Oder musst du übersetzen?<br />

Y: Ja, manchmal muss ich übersetzen. So komische Wörter, die richtig geschrieben worden sind, aber meine<br />

Mutter kann das nicht lesen.<br />

I: Wer liest denn bei euch: dein Vater, deine Mutter, beide gemeinsam?<br />

Y: Nein. Mein Vater und meine Mutter haben sich geschieden, deshalb liest nur mein Mutter.<br />

I: Und die liest das mit dir?<br />

Y: Ja.<br />

I: Und dein Vater liest es auch noch irgendwann?<br />

Y: Weiß ich nicht.<br />

I: Also, der kriegt es nicht zu sehen. Ja und dann liest sie das. Gibt es dann auch Ermahnungen an einigen<br />

Stellen <strong>oder</strong> lobt sie dich dann?<br />

Y: Ja. Wenn ich so ganz gute Zeugnisse habe, dann lobt sie mich immer und sagt, ich kann jetzt zwei Stunden<br />

rausgehen und spielen.<br />

I: Gibt es sonst auch eine Belohnung?<br />

Y: Ja, Überraschungseier.<br />

I: Was glaubst du denn, wann ist für deine Mutter ein Zeugnis gut?<br />

Y: Wenn ich in Mathe so gut werde, noch besser.<br />

I: Dann findet sie das gut. Ist ihr auch wichtig, wie du mit anderen Kindern umgehst?<br />

Y: Ja, das liest sie auch.<br />

I: Und wenn was nicht so gut klappt, spricht sie mit dir auch drüber, wie das zu ändern wäre?<br />

Y: Ja. Sie sagt: du musst jeden Tag eine Stunde arbeiten und üben.


Seite 258 Anhang<br />

I: Machst du das dann auch?<br />

Y: Ja.<br />

I: Wie ist es mit deinen Freunden. Zeigst du denen deinen Bericht?<br />

Y: Ja, nur den Vietnamesen, denen zeig ich es nur. Auch manchen Deutschen.<br />

I: Und warum hast du das erst so eingeschränkt?<br />

Y: Nur die, die ich gut kenne. Andere sind oft so gemein, deshalb zeig ich es nicht.<br />

I: Und warum sind die gemein?<br />

Y: Wegen <strong>Noten</strong>.<br />

I: Wegen <strong>Noten</strong>? Und was sind das für Kinder?<br />

Y: Kinder aus meiner Klasse. Sie geben so an. Ich weiß es besser und so (stark betont, Anm.), ich weiß alles.<br />

I: Und denen zeigst du deinen Bericht nicht?<br />

Y: Nein.<br />

I: Und was sagen deine Freunde, denen du deinen Bericht zeigst?<br />

Y: Gut, Yang. Du hast den Bericht gut geschafft <strong>oder</strong> eben andere Sätze.<br />

I: Manche Kinder bekommen ja auch <strong>Noten</strong>. Möchtest du auch lieber <strong>Noten</strong> haben?<br />

Y: Nö.<br />

I: Und auf welche Schule möchtest du weiter gehen?<br />

Y: Ich bleib hier.<br />

B. Aber irgendwann gibt es hier ja auch <strong>Noten</strong>. Glaubst du, dass es dir schwerfällt dich umzustellen?<br />

Y: Ja.<br />

I: Und was ist so das Schwierige dran?<br />

Y: So mit den <strong>Noten</strong> sagen sie: Yang, du bist schlechter geworden, und das mag ich nicht so gerne und darum<br />

sind Berichtszeugnisse besser.<br />

I: Woran liegt das im Bericht?<br />

Y: Da sagen sie, was ich noch üben soll. Und alles. Und bei <strong>Noten</strong> schreiben sie einfach 'ne Fünf minus und<br />

schon fertig.<br />

I: Hm. Gut. Und wenn du mir noch mal erzählst: Was gefällt dir an dieser Schule?<br />

Y: Das die Kinder nett sind und dass wir alles machen können, so malen und zeichnen. Das ist alles mein<br />

Hobby.<br />

I: Gibt es auch was, was dir nicht so gut gefällt?<br />

Y: Ja, streiten.<br />

I: Kommt es oft vor? So unter Kindern?<br />

Y: Ja, bei solchen, die mich nicht mögen.<br />

I: Und woran liegt das?<br />

Y: Weil ich immer angebe, aber das stimmt nicht. Und manchmal, wenn ich etwas sage, wollte der andere das<br />

auch sagen, dann sagt er: Du kriegst eins aufs Maul.<br />

I: Und wie reagierst du darauf?<br />

Y: Ich sag: egal.<br />

I: Und was sagt Eure Lehrerin dazu?<br />

Y: Ich petze es und dann meckert sie ihn an.<br />

I: Findest du das gut so?<br />

Y: Ja. Dass er mich verprügeln will, ist doch gemein.<br />

I: Gut Yang, dann danke ich dir für das Gespräch.

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