Noten oder Berichte? Die schulische Beurteilungspraxis ... - Hamburg
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Seite 12 Einführung<br />
eine flexible, gesellschaftlich höchst anschlussfähige Kommunikation. Ihr Nachteil ergibt sich<br />
aus ihrem Vorteil. <strong>Die</strong> Eindeutigkeit von <strong>Noten</strong> suggeriert Objektivität, Reliabilität und<br />
Validität der Leistungsbeurteilung, die – wie Forschungen immer wieder belegen (vgl.<br />
Ingenkamp 1985) – nicht <strong>oder</strong> nur bedingt gegeben sind. <strong>Noten</strong> sind problematische<br />
diagnostische und pädagogische Instrumente, weil sie keine Hinweise geben, unter welchen<br />
Bedingungen eine Leistung zustande gekommen ist und möglicherweise verbessert werden<br />
kann. <strong>Noten</strong> sind wie Geld. Entwickelte Gesellschaften können auf sie nicht verzichten, aber<br />
je nach Marktlage kann man ihren Wert inflationieren, deflationieren <strong>oder</strong> auch stabil halten<br />
(vgl. Lütgert 1992). <strong>Die</strong>se Eigenschaft macht sie tauglich, das Bildungs- und das<br />
Beschäftigungssystem in ihren unterschiedlichen Konjunkturen miteinander zu verknüpfen;<br />
sie „verunreinigt” damit aber auch ihre Funktion als Beurteilungsinstrument, das den<br />
Individuen gerecht werden soll.<br />
Der Modus des Berichtszeugnisses ist die analoge Kommunikation. Deren Rezeptionsvorteil<br />
besteht in der Nutzung von (Alltags-)Sprache, in der das Lernpensum, die<br />
Lernvoraussetzungen, die Lernfortschritte und schließlich die Lernergebnisse von<br />
Schülerinnen und Schülern beschrieben werden. Analoge Kommunikation erlaubt<br />
Differenzierung. Im Hinblick auf Zeugnisse schließt sie die Möglichkeit der Lerndiagnose<br />
und der Lernberatung ein. Deshalb werden Berichtszeugnisse von reformorientierten<br />
Pädagogen – oft emphatisch – als einzig legitimierbare Form der <strong>schulische</strong>n<br />
Leistungsrückmeldung empfohlen (vgl. Bambach 1994; Bartnitzky/Christiani 1987). Auch bei<br />
der analogen Kommunikation ergibt sich der Nachteil aus ihrem Vorteil. (Alltags-)Sprache<br />
bedarf der Interpretation, Berichtszeugnisse sind deshalb rezeptionstheoretisch uneindeutig.<br />
Man kann sie zwar nicht willkürlich, aber in einem breiten Spielraum auslegen. Weil<br />
Berichtszeugnisse „viele Worte machen”, kann man sie nicht verrechnen, bei<br />
Selektionsentscheidungen nur unter Beachtung diffiziler Regeln „verwaltungsgerichtsfest”<br />
machen. Insofern sind Berichtszeugnisse im Hinblick auf die weitere gesellschaftliche<br />
Verwendbarkeit höchst unflexible Instrumente mit (bisher) geringer externer<br />
Anschlussfähigkeit. <strong>Die</strong>ser Zusammenhang mag erklären, warum wir Berichtszeugnisse in<br />
unserem Schulsystem nur an den Stellen der Bildungslaufbahnen von Schülerinnen und<br />
Schülern auffinden, an denen keine <strong>oder</strong> nur geringe Selektionsentscheidungen getroffen<br />
werden müssen. Und auch bei Reformschulen, die sich im Hinblick auf ihre<br />
Leistungsrückmeldungen ganz dem Prinzip der analogen Kommunikation verschrieben<br />
haben, treten zum Abschluss der von ihnen verantworteten Bildungslaufbahnen <strong>Noten</strong> als