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Mordbefehl und Todesmarsch. Das Hamelner Zuchthaus in den ...

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ihm gekündigt. Die letzten Jahre lebt er, fast erbl<strong>in</strong>det, <strong>in</strong> Hameln <strong>in</strong> zwei Räumen <strong>in</strong> der<br />

Kaiserstraße. 39<br />

Die letzten furchtbaren Monate, Wochen <strong>und</strong> Tage des <strong>Hamelner</strong> <strong>Zuchthaus</strong>es nun erzählt aus<br />

der Sicht von Hand Bielefeld.<br />

„<strong>Das</strong> Jahr 1944 brachte im Sommer Sammeltransporte aus Ostpreußen <strong>und</strong> Schlesien, aus<br />

Aachen, aus Prag <strong>und</strong> später aus Bran<strong>den</strong>burg. Die Zuchthäuser unter Fe<strong>in</strong>de<strong>in</strong>wirkung<br />

wur<strong>den</strong> geräumt. <strong>Das</strong> waren für uns die Markste<strong>in</strong>e des Näherrückens der Front.<br />

Mit <strong>den</strong> Transporten kamen Wanzen, Läuse <strong>und</strong> Typhus. Die Anstalt war zum Bersten voll.<br />

Geregelte Arbeit gab es nicht mehr. Wöchentlich kamen jetzt die Musterungskommissionen<br />

der Wehrmacht zu uns <strong>in</strong> <strong>den</strong> Bau. Selbst notorische Ausbrecher <strong>und</strong> Gewohnheitsverbrecher<br />

wur<strong>den</strong> angemustert. <strong>Das</strong> Geschwür war reif. Und <strong>in</strong> das Grauen dieser Monate fiel wie e<strong>in</strong><br />

Hoffnungsschimmer die schwache Aussicht auf e<strong>in</strong>e baldige Befreiung.<br />

Inzwischen aber hielt Fre<strong>und</strong> He<strong>in</strong> noch reiche Ernte. Die Männer, die an dem langen<br />

Arbeitstisch neben mir <strong>und</strong> mir gegenüber sitzen, wechseln im Laufe e<strong>in</strong>er Woche oft<br />

mehrmals. Abgänge, Zugänge - Zugänge, Abgänge. Der Nachschub rollt. <strong>Das</strong> Rapportbuch<br />

aber auf dem Tisch des Beamten, wo die kle<strong>in</strong>e schwachkerzige Birne brennt <strong>und</strong> je<strong>den</strong><br />

Morgen die Bestandsmeldungen e<strong>in</strong>getragen wer<strong>den</strong>, das spricht e<strong>in</strong>e deutliche Sprache für<br />

uns, die wir e<strong>in</strong>geweiht s<strong>in</strong>d: ‘7. 9. Zwei Abgänge <strong>in</strong>s Lazarett.’ ‘8. 9. E<strong>in</strong> Abgang <strong>in</strong>s<br />

Lazarett.’ ‘9. 9. Drei Abgänge <strong>in</strong>s Lazarett.’" 40<br />

„Die meisten von uns s<strong>in</strong>d zu apathisch, um noch <strong>den</strong>ken zu können. Sie lassen sich treiben.<br />

Sie haben ke<strong>in</strong> Rückgrat mehr. Die Krätze greift um sich <strong>und</strong> die Wassersucht. Die Körper<br />

von vielen s<strong>in</strong>d mit eitrigen Geschwüren <strong>und</strong> Hautausschlägen übersät. E<strong>in</strong>ige können ihren<br />

Kot nicht mehr bei sich behalten. Arzneimittel fehlen. <strong>Das</strong> Lazarett reicht nicht mehr aus.<br />

Zwei Schlafsäle <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Arbeitsraum wer<strong>den</strong> als Lazarett mitbenutzt. Salzlose Kost soll<br />

helfen; aber der Typhusbazillus ist schneller als die alliierten Truppen.“ 41<br />

„Frische Luft ist die e<strong>in</strong>zige Mediz<strong>in</strong>, die unser Lazarett noch zu vergeben hat. Und wir s<strong>in</strong>d<br />

hier nicht so unter Aufsicht. Der eisige Februarw<strong>in</strong>d pfeift durch unsere Lumpen; nur beim<br />

Schwe<strong>in</strong>estall ist es erträglich warm. Da wird über Mittag Futter gekocht, <strong>und</strong> da wärmen wir<br />

uns auf. Auf <strong>den</strong> Baracken <strong>und</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> Zellen <strong>und</strong> Sälen wird längst nicht mehr geheizt; das<br />

bißchen Feuerungsmaterial muß für die Küche bleiben.<br />

Transporte kommen <strong>und</strong> gehen. Seit Mitte März 1945 steht der Bau unter<br />

Wehrmachtsbewachung. Täglich f<strong>in</strong><strong>den</strong> Aushebungen für <strong>den</strong> Volkssturm statt.<br />

<strong>Zuchthaus</strong> Bran<strong>den</strong>burg wird geräumt. Koswig <strong>in</strong> Sachsen <strong>und</strong> Werl <strong>in</strong> Westfalen. Unser Bau<br />

ist zum Platzen voll. Arbeitskommandos gehen nicht mehr raus. Alle E<strong>in</strong>-Mann-Zellen s<strong>in</strong>d<br />

mit drei <strong>und</strong> vier Mann belegt. Ich werde mit vier jungen Franzosen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Arrestzelle<br />

gesperrt. Seit Wochen haben wir ke<strong>in</strong>e Wäsche mehr erhalten; die Läuse <strong>und</strong> Wanzen fressen<br />

uns auf. Schon 14 Tage gibt es auch ke<strong>in</strong>en Spaziergang mehr. Denn je<strong>den</strong> Nachmittag, wenn<br />

wir raus sollen, ist Vollalarm. Wir s<strong>in</strong>d stumpf gewor<strong>den</strong> gegen <strong>den</strong> Gestank von Schmutz <strong>und</strong><br />

Unrat <strong>in</strong> unserer Zelle. E<strong>in</strong>e bleierne Lethargie lastet über uns allen.“ 42<br />

Im Januar 1945 sterben - so ergibt es e<strong>in</strong>e Sichtung der Totensche<strong>in</strong>e des Standesamtes<br />

Hameln - 17, im Februar 21, im März gar 41 Häftl<strong>in</strong>ge. Ab Januar 1945 sterben 172<br />

39 Hans Bielefeld hat dem Schillergymnasium <strong>in</strong> Hameln 15000 DM gestiftet.<br />

40 Bielefeld, S. 58f.<br />

41 Bielefeld, S. 62.<br />

42 Bielefeld, S. 69.<br />

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