Stöhr, der Direktor des <strong>Zuchthaus</strong>es, fungiert als Zeuge der Anklage. Aus der Rückschau hat er se<strong>in</strong>e Situation <strong>in</strong> <strong>den</strong> entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> Tagen folgendermaßen geschildert: „E<strong>in</strong> Außenstehender kann sich gar ke<strong>in</strong> Bild darüber machen, was es heisst, e<strong>in</strong>e überbelegte Anstalt ohne ausreichendes Personal mit nur wenigen Waffen zu evakuieren bei dauernder Tieffliegere<strong>in</strong>wirkung <strong>und</strong> Beschießung der Anstalt vom jenseitigen Ufer, unter e<strong>in</strong>schlagen<strong>den</strong> Granaten <strong>in</strong> die Anstaltshöfe, bei ständiger Ausbruchsgefahr, Gefahr der Meuterei <strong>und</strong> der weiter drücken<strong>den</strong> Gefahr, daß mehrere H<strong>und</strong>ert Menschen gewaltsam vernichtet wer<strong>den</strong> sollten, wenn sie nicht rechtzeitig weggebracht wer<strong>den</strong> können.“ 83 Stöhr hat <strong>in</strong> der Ause<strong>in</strong>andersetzung mit Krämer zunächst auf Zeit gesetzt, h<strong>in</strong>haltend reagiert. Er hat schließlich eigenmächtig entschie<strong>den</strong>, die gefährdeten Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> Marsch zu setzen <strong>und</strong> Krämer auf diese Weise zu entziehen. <strong>Das</strong> war e<strong>in</strong> mutiger Entschluss, der Respekt verdient. Der Kreisleiter hatte ihn mit dem Leben bedroht. Wir können die Frage stellen, warum Stöhr zwei Tage vor dem E<strong>in</strong>marsch der Amerikaner die Häftl<strong>in</strong>ge noch e<strong>in</strong>er solchen Strapaze aussetzen mußte, die zweifellos Häftl<strong>in</strong>ge zu Tode gebracht hat. Hätte er sie nicht h<strong>in</strong>ter <strong>den</strong> dicken <strong>Zuchthaus</strong>mauern sicher verwahren können?! Aber wer konnte damals wissen, daß das Ende so schnell kommen würde, konnte ausschließen, daß das <strong>Zuchthaus</strong> e<strong>in</strong>en Granatentreffer erhielte u.a.m.? Gleichzeitig ist aber auch klar, daß Stöhr wenig Neigung haben konnte, sich wenige Tage vor dem sicheren E<strong>in</strong>marsch der Alliierten mit der Verantwortung für e<strong>in</strong>en Massenmord zu belasten. Er handelt nicht aus re<strong>in</strong>er Menschenfre<strong>und</strong>lichkeit, sondern möchte auch die eigene Haut retten. Für e<strong>in</strong>e Beurteilung des Juristen <strong>und</strong> SS-Mannes Stöhr reicht das heute vorliegende Material nicht aus. Über se<strong>in</strong>e Amtsführung ist bisher außer vere<strong>in</strong>zelten H<strong>in</strong>weisen bei Goguel <strong>und</strong> Schort<strong>in</strong>ghuis nichts bekannt. Ist nach dem, was wir erfahren haben, der Marsch überhaupt e<strong>in</strong> <strong>Todesmarsch</strong>? Gewiss, er ist nicht gleichzusetzen mit <strong>den</strong> schrecklichen Märschen, die die SS auf Befehl Himmlers von <strong>den</strong> Konzentrationslagern wie Dachau, Auschwitz, Neuengamme <strong>in</strong> Gang setzte, um ke<strong>in</strong>en Häftl<strong>in</strong>g <strong>in</strong> die Hand des Fe<strong>in</strong>des fallen zu lassen. Der Befehl zum Marsch im <strong>Zuchthaus</strong> Hameln wird dagegen erteilt, um ausländische Häftl<strong>in</strong>ge vor e<strong>in</strong>em unberechenbaren Kreisleiter zu schützen. Für die Sichtweise der Opfer, der Häftl<strong>in</strong>ge, bedeutet diese Absicht allerd<strong>in</strong>gs zunächst wenig. Sie erleben nervöse <strong>und</strong> überforderte Wachmänner, die Häftl<strong>in</strong>ge mit Kolbenschlägen vorwärts treiben, die - aus Angst vor der SS <strong>und</strong> <strong>den</strong> Häftl<strong>in</strong>gen - vere<strong>in</strong>zelt zurückbleibende <strong>und</strong> flüchtende Häftl<strong>in</strong>ge erschießen. Sie sehen, wie Türen <strong>und</strong> Fenster sich längs des Weges schließen <strong>und</strong> Menschen sich aus Angst oder Abscheu abwen<strong>den</strong>. Erst gegen Nachmittag, als der Zug Dielmissen erreicht, also <strong>in</strong> deutlicher Entfernung von Hameln, sche<strong>in</strong>en die 83 Stöhr <strong>in</strong> PRO, WO 309/103, S. 28. In e<strong>in</strong>em ausführlichen Brief an Rudi Goguel, von dem er e<strong>in</strong> günstiges Zeugnis für se<strong>in</strong> Entnazifizierungsverfahren erhofft, schreibt er: „Ich war schon auf zwei Prozessen als Zeuge darüber, daß <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten Tagen die gefährlichen Gefangenen vergiftet <strong>und</strong> notfalls erschossen wer<strong>den</strong> sollten. Dieser Befehl kam von der Kreisleitung, die sich alle Macht angemaßt hatte <strong>und</strong> mich selbst bei Verweigerung mit dem Tode bedrohte. Es waren fürchterliche St<strong>und</strong>en für mich. Ich konnte es abbiegen <strong>und</strong> brachte die letzten Leute <strong>den</strong> Herren noch aus <strong>den</strong> F<strong>in</strong>gern. Es wären etwa 1000 Personen <strong>in</strong> Frage gekommen. Der Befehl wäre sehr leicht auszuführen gewesen, viel schwerer war es, ihn zu umgehen. Mancher Politiker würde heute nicht mehr leben.“ 34
Wachmannschaften ihren Posten verlassen zu haben, sche<strong>in</strong>t sich die Ordnung des Marsches aufzulösen. Aber auch dann noch bleibt es für die völlig erschöpften Häftl<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong> <strong>Todesmarsch</strong>, dessen Strapazen weiterh<strong>in</strong> Opfer fordern. „E<strong>in</strong> Zug des Grauens durch W<strong>in</strong>terkälte <strong>und</strong> totes, ausgeblutetes Land“, wie Hans Bielefeld gesagt hatte. 84 84 Bielefeld, S. 71. 35