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Mordbefehl und Todesmarsch. Das Hamelner Zuchthaus in den ...

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Wir konnten das <strong>Zuchthaus</strong> nicht mehr durch das große Tor verlassen, durch das wir am 2.<br />

November here<strong>in</strong>gekommen waren, sondern wir g<strong>in</strong>gen an der Rückseite entlang, durch <strong>den</strong><br />

Garten des Anstaltsdirektors, Herrn Regierungsrat Stöhr.<br />

Der Krieg war nun <strong>in</strong> Hameln angekommen. Die Schritte über die großen Ste<strong>in</strong>platten im<br />

Gärtchen des Herrn Regierungsrates waren leicht <strong>und</strong> schwebend. Wir fühlten e<strong>in</strong> Abenteuer,<br />

so daß e<strong>in</strong>ige von uns über die Blumen <strong>und</strong> über die Vögel, über die Luft <strong>und</strong> über <strong>den</strong><br />

herrlichen freien Spaziergang, der auf uns wartete, <strong>und</strong> über jenen Wendepunkt <strong>in</strong> der<br />

Weltgeschichte, <strong>in</strong> Hochstimmung gerieten.<br />

Außerhalb des Gartens sahen wir dann <strong>den</strong> Krieg. Alle Häuser waren leer. Hameln war <strong>in</strong> der<br />

Nacht evakuiert wor<strong>den</strong>. Hier <strong>und</strong> dort e<strong>in</strong>e offene Tür. Hier <strong>und</strong> dort e<strong>in</strong> flatterndes<br />

Gard<strong>in</strong>chen. Hier <strong>und</strong> dort, aber ganz selten, e<strong>in</strong> Mensch, der zurückgeblieben war.“ 53<br />

Aus <strong>den</strong> Angaben des Berichtes ist zu erschließen, daß die Marschteilnehmer überwiegend<br />

Ausländer aus verschie<strong>den</strong>en Nationen waren. E<strong>in</strong> größerer Teil s<strong>in</strong>d Holländer, die seit<br />

e<strong>in</strong>em halben Jahr im <strong>Zuchthaus</strong> Hameln zusammen s<strong>in</strong>d. Der Zug umfaßt nach Schort<strong>in</strong>ghuis<br />

400 Mann.<br />

Der Marsch geht durch das evakuierte Hameln (zwei flüchtende Italiener wer<strong>den</strong> hier von <strong>den</strong><br />

Wachtmeistern erschossen), an vielen Eisenbahnl<strong>in</strong>ien entlang (e<strong>in</strong>e Rübenmiete wird<br />

geplündert) <strong>und</strong> verläßt dann die nach Braunschweig weiterführende Hauptstraße (heutige<br />

B<strong>und</strong>esstraße 1), um nun auf Nebenstraßen <strong>und</strong> kle<strong>in</strong>sten Wegen durch zahlreiche Dörfer<br />

entlang des Ith südwärts nach Eschershausen zu führen. Bei Eschershausen gab es e<strong>in</strong><br />

Außenlager des <strong>Zuchthaus</strong>es unter dem Namen „Hecht“.<br />

„Die Hoffnung stimmte wohlgemut. Alles g<strong>in</strong>g dem Ende zu. Gleichzeitig fühlten wir, daß die<br />

letzten Augenblicke auch die gefährlichsten waren. Aus welcher Ecke würde die Wut der SS<br />

oder anderer Instanzen uns noch treffen können? Es ist unwahrsche<strong>in</strong>lich, daß sie uns<br />

ungestraft, über das deutsche Debakel lachend, die Wege entlang laufen lassen, unserer<br />

Rettung entgegen.<br />

So vergeht der Tag bis ungefähr um zwölf. Der Himmel bezieht sich <strong>und</strong> e<strong>in</strong> fe<strong>in</strong>er<br />

Nieselregen, der e<strong>in</strong>en im Handumdrehen durchnäßt, setzt e<strong>in</strong>. Die Wege s<strong>in</strong>d so schlammig<br />

wie e<strong>in</strong> Gron<strong>in</strong>ger Polder. Unsere Füße wer<strong>den</strong> zu bleiernen Lehmklumpen. Dunstig wird es.<br />

Die Welt, <strong>in</strong> der wir unseren trostlosen Marsch fortsetzen, wird ganz kle<strong>in</strong>. Und das<br />

Schlimmste ist nun die Stille, die Musik fehlt. Ke<strong>in</strong> Gewehr- oder Masch<strong>in</strong>engewehrfeuer,<br />

ke<strong>in</strong>e Artillerie, ke<strong>in</strong>e Flugzeuge. Es ist gerade so, als wenn der Krieg an diesem Tage<br />

ausgesetzt hat. Und wir wissen, daß wir nichts anderes tun können als weiter zu laufen, <strong>den</strong><br />

langen Weg nach Eschershausen, noch ungefähr dreißig Kilometer.<br />

Dann beg<strong>in</strong>nt das Elend. Die Schwächeren unter uns können schon nicht mehr. <strong>Das</strong> ist nicht<br />

erstaunlich. Wer die ausgezehrten, eitern<strong>den</strong> <strong>und</strong> verlausten Körper der Truppe gesehen hätte,<br />

wäre verw<strong>und</strong>ert gewesen, daß man damit noch fünfzehn Kilometer laufen kann. Und bei zwei<br />

dünnen Brotschnitten läuft e<strong>in</strong> ges<strong>und</strong>er Mensch schon nicht mehr weit. Man klagt oft über<br />

Schmerzen, die <strong>in</strong> <strong>den</strong> Leisten beg<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> sich dann als e<strong>in</strong>e Art Lähmung <strong>in</strong> <strong>den</strong> Be<strong>in</strong>en<br />

fortsetzen. Die Menschen, die hiermit kämpfen, halten nicht mehr Schritt <strong>und</strong> drohen<br />

zurückzubleiben. Die Kamera<strong>den</strong> nehmen sie so gut wie möglich zwischen sich, <strong>und</strong> so geht<br />

es wieder etwas weiter.<br />

53 Schort<strong>in</strong>ghuis, S. 200f.<br />

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