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Mordbefehl und Todesmarsch. Das Hamelner Zuchthaus in den ...

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Der nächste Tag, Freitag, der 6. April: Weil auch das <strong>Zuchthaus</strong> mehrere Treffer erhält <strong>und</strong><br />

offenbar Tote <strong>und</strong> Verletzte unter <strong>den</strong> Häftl<strong>in</strong>gen zu beklagen s<strong>in</strong>d, verlassen die<br />

Wachtmeister an diesem Tage ihren Dienst. Die Wehrmacht übernimmt mit 60 Mann die<br />

Bewachung. Unter <strong>den</strong> Häftl<strong>in</strong>gen herrscht Panik.<br />

„Gegen Morgen flackert e<strong>in</strong> heller Sche<strong>in</strong> <strong>in</strong> unsere Zelle. Die Wesermühle brennt. Unter der<br />

<strong>Zuchthaus</strong>mauer steht e<strong>in</strong> deutsches Panzerabwehrgeschütz <strong>und</strong> feuert ohne Unterbrechung.<br />

Da geschieht das Furchtbare. Zwei amerikanische Granaten sausen <strong>in</strong> die Westwand des<br />

Zellenflügels im zweiten <strong>und</strong> dritten Stock. E<strong>in</strong>e Panik bricht aus. Schreie, Flüche, We<strong>in</strong>en,<br />

Hilferufe <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Hämmern gegen die Türen. ‘Aufmachen! Aufmachen!’ ‘Wachtmeister,<br />

aufmachen!’ E<strong>in</strong> ohrenbetäubender Lärm dröhnt durch <strong>den</strong> Bau. Wie Tiere <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

brennen<strong>den</strong> Stall sitzen wir hier gefangen.<br />

Wo s<strong>in</strong>d die Maschores? Die Herren Beamten? Die Wächter unserer Ruhe <strong>und</strong> Sicherheit?<br />

Weit <strong>und</strong> breit ke<strong>in</strong>er zu sehen <strong>und</strong> zu hören. E<strong>in</strong>gesperrt haben sie uns wie die Maus <strong>in</strong> der<br />

Falle. Sitzengelassen. Selber türmen gegangen <strong>und</strong> <strong>in</strong> alle W<strong>in</strong>de zerstoben wie die Hasen.<br />

Die Türen wer<strong>den</strong> mit Fußtritten bearbeitet. Dazwischen krachen die E<strong>in</strong>schläge <strong>und</strong> die<br />

Salven der schweren MG.s. Aber Stahltüren s<strong>in</strong>d fest <strong>und</strong> unnachgiebig erbarmungslos.<br />

Da! E<strong>in</strong> Schlüsselb<strong>und</strong> im unteren Stockwerk. Die Stimme des alten Hauptwachtmeisters.<br />

‘Los! Marsch <strong>in</strong> <strong>den</strong> Keller!’ Zelle für Zelle wird aufgeschlossen. Auch aus <strong>den</strong> Sälen<br />

kommen sie angestolpert. In Holzlatschen, auf Strümpfen, barfuß, wie sie grad s<strong>in</strong>d, jeder mit<br />

se<strong>in</strong>er Decke unterm Arm.<br />

Der alte Hauptwachtmeister ist immer noch derselbe. Kurz angeb<strong>und</strong>en, bärbeißig, grimmig.<br />

Aber <strong>in</strong> diesem Augenblick gehört er zu uns. Ist e<strong>in</strong>er von uns. Wir alle spüren zum erstenmal<br />

wieder das seit Jahren unbekannte Gefühl, daß wir Menschen s<strong>in</strong>d. - Wer noch kriechen kann,<br />

schleppt sich die Treppen h<strong>in</strong>unter. Aber schon s<strong>in</strong>d viele hilfreiche Hände da, die Kranken,<br />

die Verletzten, die Sterben<strong>den</strong> <strong>in</strong> das Kellergewölbe zu tragen. Der Hauptwachtmeister selber<br />

faßt mit an. Auf dem kalten Zementfußbo<strong>den</strong> ist e<strong>in</strong> wenig Stroh ausgebreitet; darauf lagern<br />

wir die Kranken <strong>und</strong> die Elendesten von uns. Dann sucht sich jeder noch e<strong>in</strong> Plätzchen im<br />

Schutze e<strong>in</strong>er Wand. Über uns krachen die E<strong>in</strong>schläge. <strong>Das</strong> Gebäude zittert <strong>in</strong> allen Fugen.<br />

Wir haben allen Hunger vergessen. Vierh<strong>und</strong>ert Mann. Ganz Europa ist hier versammelt. Ganz<br />

Europa auf 122 qm zusammengepfercht.“ 47<br />

„Gegen Mittag läßt die Schießerei nach <strong>und</strong> hört zeitweise ganz auf. - Was hat das zu<br />

bedeuten? Wenn der Ami das Feuer e<strong>in</strong>stellt, das gibt nichts Gutes. Ist die Stadt reif zum<br />

Plattlegen? Wer<strong>den</strong> jetzt die Bomber kommen?<br />

Da bellen die Geschütze wieder auf. Entfernter kl<strong>in</strong>gen die Abschüsse. Die deutschen Truppen<br />

ziehen sich zurück. Der Infanterist vor unserem Kellere<strong>in</strong>gang ist fort. Die Stadt wird vom<br />

Militär geräumt.<br />

Haben sie uns nun vergessen, oder liegt die Sprengladung bereits unter unserem Bau? Oder<br />

wollen sie uns e<strong>in</strong>fach <strong>den</strong> Alliierten <strong>in</strong> die Hände fallen lassen?“ 48<br />

47 Bielefeld, S. 73f.<br />

48 Bielefeld, S. 74f.<br />

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