In eigener Sache... - Adolf-Reichwein-Verein
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eichwein forum Nr. 19 Juli 2013<br />
ich ja niemals etwas erfahren. Er tat es - nach 47 Jahren,<br />
die wir uns kannten - zum ersten Mal!<br />
Seine Kindheit und Jugend ist mit Berlin-Adlershof verbunden.<br />
Hier wuchs er auf in einfachsten Wohnverhältnissen;<br />
eine kleine 2-Zimmer-Wohnung ohne Bad, für 5<br />
Personen. <strong>In</strong> ständiger Geldnot. Der Vater war Versicherungsvertreter<br />
mit wenig Erfolg und Einkommen,<br />
und während des Krieges verließ er auch noch die Familie.<br />
Die Mutter war die eigentliche Überlebenskämpferin,<br />
hatte schon lange zuvor sich als Wäscherin verdingt<br />
und dazuverdient. Sie bliebe für die zwei Söhne<br />
die Verlässliche und Resolute. Alfred schickte sie auf<br />
die "Erste 'Weltliche‘ Schule Preußens", die auf sozialdemokratisches<br />
Betreiben und aufgrund reformpädagogischer<br />
Ideen 1920 gegründet worden war. Sie wollte<br />
ihrem Sohn eine "freie" Erziehung ermöglichen. Doch<br />
1933 schon wurde diese von den Nazis in eine gewöhnliche<br />
Volksschule umfunktioniert.<br />
Nach Abschluss seiner Mittelschulreife 1942 wollte er<br />
Vermessungsingenieur werden und bewarb sich beim<br />
Reichsamt für Landesaufnahme (zugehörig dem<br />
Reichsarbeitsdienst), um ein Fachschulpraktikum mit<br />
"der Notlüge", denn das war Voraussetzung zur Einstellung,<br />
dass er Mitglied der Hitlerjugend sei. <strong>In</strong> Wahrheit<br />
hatte er sich durch Unterstützung und mit Hilfe der<br />
Mutter immer wieder davor drücken können.<br />
Dann kam alles anders. Er wurde im Juli 1943 vom Arbeitsdienst<br />
in die Nähe von Warschau ins polnische<br />
Kutno geschickt, gehörte aber nicht zu den Abkommandierten<br />
nach Warschau, als dort am Karfreitag der<br />
Ghettoaufstand begann und blutig niedergeschlagen<br />
wurde. „Davon erfuhren wir Zurückgebliebenen, weil<br />
total unsoldatische Kerle, aber erst viel später".<br />
Stattdessen tauchte dann eine Kommission der Waffen<br />
SS auf. "Auf uns lange Burschen hatten es diese Offiziere<br />
besonders abgesehen. Ich konnte mich aber herauswinden,<br />
da ich entgegnete, dass ich mich den körperlichen<br />
und geistigen Anforderungen der SS nicht gewachsen<br />
fühlte und war dadurch gerettet, kam dafür zu<br />
einem Fesselballonzug ...".<br />
Der SS-Anwerbung entkam er dann zwar - und meint<br />
dazu noch, dass solche Anwerbungen wohl ganz verschieden<br />
gehandhabt wurden -, nicht aber dem weiteren<br />
Einsatz im Herbst 1944 nach Ostpreußen.<br />
Und ab hier möchte ich ihn, in Ausschnitten, aus seinen<br />
Briefen an mich gern selbst berichten lassen:<br />
"... im Winter (1944/45) wurden wir in der Gegend von<br />
Frauenburg von der Roten Armee eingeschlossen. Es gelang<br />
uns noch über das Haff auf die Frische Nehrung zu<br />
kommen und hungernd nach Westen in Richtung Danzig<br />
zu laufen. Auf dem Weg dahin kamen wir zum KZ Stutthof,<br />
das bereits von den SS-Bewachern geräumt war,<br />
aber man sah die große Anzahl der Baracken und das<br />
Krematorium mit dem riesigen Schornstein ... keine Häftlinge<br />
in dem Teil des Lagers, in dem wir uns ein paar Ta-<br />
18<br />
ge aufhielten. Ich war tief erschüttert über den Anblick<br />
und nun endgültig von der Irrlehre der Nazis bekehrt,<br />
hatte in Stutthof mein Damaskus-Erlebnis ... Am 9.Mai<br />
1945 warfen wir an der Weichselmündung unsere Waffen<br />
auf einen Haufen und marschierten in Gefangenschaft<br />
... dorthin kamen ehemalige Stutthof-Gefangene<br />
und suchten nach Bewachern; Russen schauten auf unsere<br />
Oberarme, um die den SS-Leuten eintätowierten Blutgruppen-Zeichen<br />
zu finden ... Nach einigen Wochen folgte<br />
die Fahrt in die Stadt WischnyWolotschok an der Bahnlinie<br />
Moskau-Leningrad. Von dort wurde ich bereits im<br />
August 1946 nach einer Lazarett-Zeit nach Berlin entlassen....<br />
Das waren also meine nicht sehr dramatischen<br />
Erlebnisse in den Jahren von 1934-1946."<br />
Ich glaube heute , dass er, weil er sich gerettet sah im<br />
Gegensatz zu seinem 8 Jahre älteren Bruder, der in<br />
Moldawien verschollen blieb, daraus die Willenskraft<br />
schöpfte, seinem Leben selbsttätig und selbstbestimmt<br />
eine eigene Richtung und einen Sinn zu geben. Dazu<br />
gehörte dann auch die selbsterschlossene Neigung für<br />
Theater, Musik, Kunst und Literatur in der Nachkriegszeit.<br />
Nach der Gefangenschaft, mit 21 Jahren entlassen, war<br />
der Anfang schwierig aber durchaus zeitgemäß. Er<br />
wurde zuerst einmal Maurer. Aufzubauen gab es ja in<br />
Berlin nach dem Krieg zur Genüge.<br />
1948 machte er seinen Gesellenbrief und besuchte danach<br />
Abend-Fachschulkurse für das Bauwesen mit der<br />
Abschlussprüfung 1954. <strong>In</strong>zwischen hatte er wohl Gisela<br />
geheiratet, mit der er im Dezember 1955 vom Ostsektor<br />
Berlins ins "Auffanglager Marienfelde" im Westsektor<br />
floh - man nannte das damals in Berlin "rüberjemacht<br />
hatte" - , grad nur mit einem kleinen Koffer, um<br />
nur ja nicht für Kontrollen auffällig zu werden.<br />
Weitere Stationen über Neuburg a.d.Donau führten<br />
nach Stuttgart/ Esslingen, wo er letztendlich als Hochbauingenieur<br />
bei der "Eisenbahn-Siedlungsgesellschaft"<br />
zum Prokuristen avancierte.<br />
Im Schwäbischen wurde er allerdings nie wirklich heimisch.<br />
Wie auch, wenn man eine solche Lebensgeschichte<br />
mit sich trug?<br />
Früher freute ich mich immer, wenn er sich am Telefon<br />
meldete mit "Hier is olle Beckmann". Aber in den letzten<br />
Jahren kam das nicht mehr. Telefonieren konnte er<br />
ebensowenig noch wie schreiben oder gar lesen, denn<br />
Sehkraft und Gehör verließen ihn fast ganz, so dass seine<br />
Frau zunehmend zu seiner Vermittlerin wurde. Diese<br />
zunehmende Isolation von der Außenwelt hat er nur<br />
ganz schwer ertragen können und haderte mit sich und<br />
den anderen, die ihm doch immer wieder helfen wollten,<br />
weil ihm sein Überlebenswillen von einst nicht<br />
mehr zu Gebote stand.<br />
Mein Abschiedsgruß schließt meine Trauer mit ein.<br />
Renate Martin-<strong>Reichwein</strong>