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Juden in Kaunas - Arbeit und Leben (DGB/VHS) Hochtaunus

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Dem Umfang nach ist das Dokument der – seit 1907 kont<strong>in</strong>uierlich geführten – Cohn-<br />

Tagebücher nur mit den als Buch <strong>und</strong> Film bekannt gewordenen Aufzeichnungen Victor<br />

Klemperers zu vergleichen. Aber während für diesen e<strong>in</strong>e spätere Publikation se<strong>in</strong>er Notizen<br />

nicht ausgeschlossen war, schreibt Cohn ungefiltert für sich, erwähnt nur nebenbei, dass<br />

Nachkommen e<strong>in</strong>st aus den Heften etwas lernen könnten. Während der konvertierte<br />

Rabb<strong>in</strong>ersohn Klemperer nur e<strong>in</strong> assimiliertes <strong>Juden</strong>tum repräsentiert, steht der Kaufmannssohn<br />

Cohn als frommer Synagogenbesucher <strong>und</strong> Gegner kultureller Vermischung <strong>in</strong> engagierter<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung mit se<strong>in</strong>en Glaubensgenossen.<br />

Vor allem aber: Während Klemperer als Ehemann e<strong>in</strong>er „Arier<strong>in</strong>“ der Deportation knapp<br />

entgeht, fehlt bei Cohn das Happy End. Dieses Wissen belastet die Lektüre. Zugleich qualifiziert<br />

se<strong>in</strong> <strong>Leben</strong>skontext den kle<strong>in</strong>en Mann als Identifikationsfigur. 1933 steht der 44-jährige,<br />

beliebter Lehrer für Deutsch, Geschichte <strong>und</strong> Erdk<strong>und</strong>e an e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>terreligiös bewährten<br />

Breslauer Gymnasium, auf dem Höhepunkt se<strong>in</strong>er Anerkennung als Historiker. In der Folge<br />

verschlechtert sich se<strong>in</strong>e Ges<strong>und</strong>heit: Herz, Kreislauf, Nerven. Er hat zwei halbwüchsige<br />

Söhne aus erster, zwei kle<strong>in</strong>e Töchter aus zweiter Ehe. Die dritte wird 1938 geboren. Cohn<br />

verkörpert den deutschen <strong>Juden</strong>, der se<strong>in</strong> Land trotzdem nicht verlässt.<br />

Die Offenlegung dieses Widerspruchs macht den Schrecken se<strong>in</strong>es Vermächtnisses aus. Tagebuch-Herausgeber<br />

Norbert Conrads bittet zwar, politisch unkorrekte „Stellen“ nicht hochzuhängen.<br />

Doch Cohn selbst hat die eigene „ewige Gespaltenheit“ benannt. Er entfremdet<br />

sich se<strong>in</strong>er dem Patriotismus, der Religion, dem Zionismus abgeneigten Frau Trudi. Während<br />

se<strong>in</strong>e Älteste nach der Pogromnacht, November 1938, „von ungeheurer Wut erfüllt“ ist, verbietet<br />

der Vater sich selbst jeden Hass. Stattdessen stürzt er <strong>in</strong> Depressionen oder zerhaut<br />

beim Ehekrach an Heiligabend Porzellan. Cohn hat an der Weltkriegsfront se<strong>in</strong>e Erweckung<br />

zum jüdischen Nationalismus erlebt. Fragen nach e<strong>in</strong>er Schuld des liberalen <strong>Juden</strong>tums, das<br />

den Antisemitismus befördert habe, quälen ihn. Er wählte bis 1933 SPD – <strong>und</strong> vertraut staatlichen<br />

Autoritäten. „Braune Horden“ ekeln ihn an; „Liebe zu Deutschland“ kann er sich „nicht<br />

aus dem Herzen reißen“. Er hofft, dass Hitler mit Ausschreitungen der Basis „fertig wird“<br />

(1933), begrüßt „das Verbot der Mischehen vom jüdischen Standpunkt durchaus“ (1935) <strong>und</strong><br />

will „<strong>Leben</strong>sraum“ fürs deutsche Volk. „Die Größe des Mannes, der der Welt e<strong>in</strong> neues Gesicht<br />

gegeben hat, muß man anerkennen,“ schreibt er nach der Eroberung Polens. „Edle Kräfte“<br />

im Nationalsozialismus hätten ihn stets angezogen (1939). „Me<strong>in</strong> Kampf“ enthalte „viele<br />

nicht unrichtige Charakterisierungen des <strong>Juden</strong>tums“ (1941). Für sich genommen, verzerrt e<strong>in</strong>e<br />

solche Aufreihung Cohns Persönlichkeit. Se<strong>in</strong>e klaren Wertungen der NS-Verbrechen stehen<br />

dagegen. Doch nur auf diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> vermittelt sich se<strong>in</strong> häufig verwendetes Bild<br />

von der „Mäusefalle“, <strong>in</strong> der die <strong>Juden</strong> stecken.<br />

Januar 1933: 20.203 <strong>Juden</strong> leben <strong>in</strong> Breslau. März: Morddrohung gegen den 18-jährigen Sohn<br />

Wolfgang, der nach Paris emigriert. Mai: schweißnasser Albtraum Cohns, im KZ Glasdächer<br />

ausmalen zu müssen. August: Entlassung als Lehrer „wegen politischer Unzuverlässigkeit“,<br />

was künftige Geme<strong>in</strong>dejobs verh<strong>in</strong>dert. März 1937: Der 16-jährige Sohn Ernst emigriert nach<br />

Paläst<strong>in</strong>a; Kibbuz-Besuch der Eltern. Trudi will nicht nach Erez Israel übersiedeln, Willy<br />

nicht <strong>in</strong> die USA. Mai: zurück <strong>in</strong> Breslau; wieder Krankheitssymptome. September: E<strong>in</strong> Kibbuz<br />

lehnt Cohns Aufnahmeantrag ab. August 1938: Geburt Tamaras. Juli 1939: Verkauf des<br />

Elternhauses; Auslandstransfer der Rente genehmigt, Umzugserlaubnis des Erziehungsm<strong>in</strong>isters<br />

fehlt; Speditionsanfragen. September: Ruth (15) reist mit Zionisten nach Dänemark. Oktober:<br />

Cohn bittet die Gestapo um die Gnade, „hier sterben zu dürfen“.<br />

Februar 1940: Deportationen aus dem Reich werden bekannt. April: Besetzung Dänemarks.<br />

Das Kibbuz „Maos“ will die Cohns aufnehmen. Juli bis Dezember: Ruths Gruppe gelangt<br />

über Moskau, Odessa, Istanbul nach Paläst<strong>in</strong>a. September: Meldungen über „Ausrottungspolitik“<br />

<strong>in</strong> Polen. Dezember: 9.175 <strong>Juden</strong> <strong>in</strong> Breslau. Januar 1941: Während se<strong>in</strong>er Forschungen<br />

im Diözesanarchiv erhält Cohn Informationen über das „Euthanasie“-Programm. Juni: Das<br />

Paläst<strong>in</strong>a-Amt <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> gibt ihm Empfehlungsschreiben für das neutrale Ausland. Juli: Nach-<br />

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