Hochaltrige in Österreich - Bundesministerium für Arbeit, Soziales ...
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HOCHALTRIGKEIT IN ÖSTERREICH<br />
EINE BESTANDSAUFNAHME
IMPRESSUM<br />
Eigentümer, Herausgeber und Verleger: Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> <strong>Arbeit</strong>, <strong>Soziales</strong> und<br />
Konsumentenschutz Stubenr<strong>in</strong>g 1, 1010 Wien • Auftrag und Redaktion:<br />
Grundsatzabteilung <strong>für</strong> Senior<strong>in</strong>nen- und Senioren-, Bevölkerungs- und Freiwilligenpolitik<br />
Abteilung V/6 • Ersche<strong>in</strong>ungsort/Ersche<strong>in</strong>ungsjahr: Wien, November 2009 • Layout und<br />
Grafi ken: Paul Rameder • Druck: Büro Service Stelle A des BMASK,<br />
ISBN 978-3-85010-213-1, Gedruckt auf umweltfreundlichem Papier<br />
Bestellmöglichkeiten: Telefon: 0800-20-20-74, E-Mail:<br />
broschuerenservice@bmask.gv.at, Internet: http://www.bmask.gv.at (Bestellservice). Die<br />
Publikation ist auf der Website des BMASK http://www.bmask.gv.at unter<br />
Fachpublikum/Freiwilliges Engagement <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> abrufbar.<br />
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des Medien<strong>in</strong>habers unzulässig. Dies gilt <strong>in</strong>sbesondere <strong>für</strong> jede Art der Vervielfältigung,<br />
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Hörfunk sowie der Verarbeitung und E<strong>in</strong>speicherung <strong>in</strong> elektronische Medien, wie z. B.<br />
Internet oder CD-Rom.
HOCHALTRIGKEIT IN ÖSTERREICH<br />
EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
Koord<strong>in</strong>ation:<br />
Büro <strong>für</strong> Sozialtechnologie und Evaluationsforschung<br />
Josef Hörl<br />
Franz Kolland<br />
Gerhard Majce<br />
Wien, im November 2009<br />
2. Aufl age<br />
Herausgegeben vom Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> <strong>Arbeit</strong>, <strong>Soziales</strong> und Konsumentenschutz
INHALTSVERZEICHNIS<br />
HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
Josef Hörl, Franz Kolland, Gerhard Majce 15<br />
Literatur 40<br />
1. DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
Josef Kytir 43<br />
1.1. Die alternde Gesellschaft 43<br />
1.1.1. Bevölkerungswachstum versus demografi sche Alterung:<br />
der globale/europäische Kontext 43<br />
1.1.2. Das demografi sche Altern der österreichischen Bevölkerung 45<br />
1.1.2.1. Indikatoren zur demografi schen Alterung 47<br />
1.1.2.2. Wie sicher s<strong>in</strong>d demografi sche Prognosen? 53<br />
1.1.2.3. Geschlechtsspezifi sche Aspekte 55<br />
1.1.2.4. Regionale Aspekte 57<br />
1.1.2.5. Ältere Menschen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund 60<br />
1.1.2.6. Haushaltsprognosen 60<br />
1.2. Das älter werdende Individuum 62<br />
1.2.1. Der epidemiologische Übergang 62<br />
1.2.2. Die vierte Phase des epidemiologischen Übergangs: die Sterblich keitsentwicklung<br />
der letzten Jahrzehnte 63<br />
1.2.3. Zur Entwicklung der Morbidität <strong>in</strong> der vierten Phase des epidemiologischen Übergangs<br />
65<br />
1.3. Resümee und Ausblick 68<br />
Literatur 69<br />
2. LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Ursula Rischanek 71<br />
2.1. So leben <strong>Österreich</strong>s <strong>Hochaltrige</strong> 71<br />
2.2. Wohnsituation der <strong>Hochaltrige</strong>n <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> 72<br />
2.3. Senior/<strong>in</strong>nen-Wohnformen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> 75<br />
2.3.1. Wohnen <strong>in</strong> der eigenen Wohnung 75<br />
2.3.2. Altenwohn- und Pfl egeheime 79<br />
2.3.3. Senior/<strong>in</strong>nenresidenzen 79<br />
2.3.4. Betreutes Wohnen 79<br />
2.3.5. Senior/<strong>in</strong>nenwohngeme<strong>in</strong>schaften 81<br />
2.3.6. Betreutes Wohnen am Bauernhof 81<br />
2.3.7. Exkurs: Wohnen mit Demenz 82<br />
2.4. Internationale Modelle 84<br />
2.4.1. Senior/<strong>in</strong>nen-WG`s <strong>in</strong> Dänemark 84<br />
2.4.2. Förderungsbeispiele im Rahmen der Wohnbauförderung 84<br />
2.4.2.1. Oberösterreich 85
2.4.2.2. Steiermark 85<br />
2.4.2.3. Wien 86<br />
2.5. Trends und Tendenzen 87<br />
Literatur 89<br />
3. ÖKOLOGIE IM ALTER – DER ZUGANG ZUR (SOZIALEN) INFRASTRUKTUR DER WOHNUMGEBUNG<br />
UNTER BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG REGIONALER UNTERSCHIEDE UND BESONDERHEITEN<br />
Cornelia Krajasits 91<br />
3.1. Die Fragestellung 91<br />
3.2. Demografi sche Veränderungen und deren räumliche Dimension 91<br />
3.2.1. Zukünftige Entwicklungen – Bevölkerungsprognosen 93<br />
3.3. Infrastrukturausstattung der Regionen <strong>in</strong> Bezug auf die Anforderungen hochbetagter<br />
Menschen 94<br />
3.3.1. Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs 96<br />
3.3.2. Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen 98<br />
3.3.3. Erreichbarkeiten – Versorgung mit Diensten des öff entlichen Verkehrs 99<br />
3.3.4. Kommunikations- und Erholungsräume 100<br />
3.4. Ausblick und Perspektiven – Ansatzpunkte <strong>für</strong> politisches Handeln 101<br />
Literatur 103<br />
4. DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Alois Guger, Christ<strong>in</strong>e Mayrhuber 105<br />
4.1. E<strong>in</strong>leitung 105<br />
4.2. Empirische Grundlagen und methodische Anmerkungen 106<br />
4.3. Die Bedeutung der Pensionse<strong>in</strong>kommen 108<br />
4.3.1. Pensionsneuzuerkennungen an Hochbetagte 108<br />
4.3.2. Versorgungsgrad mit Pensionen 109<br />
4.3.3. Durchschnittliche Pensionshöhe nach Altersgruppen 111<br />
4.3.4. Pensionsanpassung 112<br />
4.3.5. Verteilung der Pensionse<strong>in</strong>kommen <strong>in</strong> der gesetzlichen Pensions versicherung 113<br />
4.4. Die E<strong>in</strong>kommenssituation der Hoch betagten im Haushaltszusammenhang 116<br />
4.4.1. Niveau und Struktur der Netto-Haushaltse<strong>in</strong>kommen nach Altersgruppen 116<br />
4.4.2. Die Netto-Äquivalenze<strong>in</strong>kommen nach Altersgruppen 119<br />
4.4.3. Die Verteilung der Netto-Äquivalenze<strong>in</strong>kommen nach Altersgruppen 120<br />
4.5. Armutsgefährdung im Alter 122<br />
4.6. Die Verbrauchssituation der Hochbetagten 123<br />
4.7. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 125<br />
Literatur 128<br />
5. ALLTAG IM ALTER<br />
Franz Kolland 129<br />
5.1. E<strong>in</strong>leitung 129<br />
5.2. Soziale Bed<strong>in</strong>gungen von Freizeit- und Kulturaktivitäten 1 31<br />
5.3. Mediennutzung 135<br />
5.3.1. Fernsehen 135
5.3.2. Radio hören 138<br />
5.3.3. Neue Medien 139<br />
5.4. Reise<strong>in</strong>tensität und Reisemotivation 141<br />
5.4.1. Ausfl ugsfahrten 144<br />
5.5. Bildungsbeteiligung und <strong>in</strong>formelles Lernen 145<br />
5.6. Ehrenamtliche Tätigkeiten und Freiwilligenarbeit 149<br />
5.7. Religiosität im hohen Alter 151<br />
5.8. Ausblick und Perspektiven 153<br />
Literatur 156<br />
6. SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
Rupert Kisser 161<br />
6.1. Unfälle alter Menschen 161<br />
6.1.1. Grenzen der Risiko-Kompensation 161<br />
6.1.2. Frauen und Männer ungleich betroff en 162<br />
6.1.3. Erhebliche Gesundheitsbelastung durch Unfälle 163<br />
6.1.4. Teure Folgen 163<br />
6.1.5. Wachsendes Problem 164<br />
6.2. Risikofaktoren und Unfallursachen 165<br />
6.2.1. Dom<strong>in</strong>ierende Rolle von Stürzen 165<br />
6.2.2. Mittelbare und unmittelbare Umstände 166<br />
6.2.3. Risikofaktoren der Person 167<br />
6.2.4. Situative Mängel 168<br />
6.2.5. Soziokulturelles und politisches Umfeld 170<br />
6.3. Möglichkeiten der Prävention 171<br />
6.3.1. Wohnungsberatung und Wohnungssanierung 172<br />
6.3.2. Sturzprävention <strong>in</strong> Anstalten 172<br />
6.3.3. Bedarfsgerechtes Bauen 173<br />
6.3.4. Barrierearme öff entliche Räume 173<br />
6.3.5. Bewegung und Kräftigung 174<br />
6.3.6. Prävention <strong>in</strong> der Geriatrie 175<br />
6.4. Schlussfolgerungen und Empfehlungen 175<br />
Literatur 178<br />
7. MOBILITÄT IM ALTER<br />
Barbara Reiterer 181<br />
7.1. E<strong>in</strong>leitung 181<br />
7.1.1. Vorbemerkungen zur Mobilität im Alter 181<br />
7.1.2. Stand der Mobilitätsforschung <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> 182<br />
7.1.3. Datenmaterial 182<br />
7.2. Verwendung öff entlicher Verkehrsmittel 184<br />
7.2.1. Allgeme<strong>in</strong>es zur Verkehrsmittelverwendung 184<br />
7.2.2. Öff entliche Verkehrsmittel 185<br />
7.2.3. E<strong>in</strong>schätzung verschiedener Aspekte öff entlichen Verkehrs 186
7.2.4. Barrieren bei der Verwendung öff entlicher Verkehrsmittel 187<br />
7.3. Barrieren im öff entlichen Raum 189<br />
7.3.1. Physische Barrieren 189<br />
7.3.2. Psychologische Barrieren 190<br />
7.3.3. Soziale Barrieren 192<br />
7.4. Lösungsansätze 193<br />
7.5. Verwendung von Fahrtendiensten 195<br />
7.6. Fazit 196<br />
Literatur 198<br />
8. LEBENSQUALITÄT UND LEBENSZUFRIEDENHEIT<br />
Anton Amann 201<br />
8.1. Problemstellung 201<br />
8.2. Kontexte der Lebensqualität und Lebenszufriedenheit 203<br />
8.2.1. Lebensqualität und Potenziale 203<br />
8.2.2. Soziale Lagen <strong>Hochaltrige</strong>r und subjektive Lebensqualität 206<br />
8.2.2.1. Materielle Bed<strong>in</strong>gungen und Gesundheit 206<br />
8.2.2.2. Der Sonderfall demenzieller Erkrankungen 209<br />
8.3. Selektivität der Hochaltrigkeit 210<br />
8.4. Neukonzeption der Lebensqualität im hohen Alter 212<br />
8.5. Gesellschaftspolitische Fragen 214<br />
Literatur 216<br />
9. GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
Gerhard Majce 219<br />
9.1. E<strong>in</strong>leitung 219<br />
9.2. Das Generationenverhältnis - gesamtgesellschaftlich 220<br />
9.3. Die Beziehung zwischen den Generationen <strong>in</strong> den Familien 227<br />
9.4. Zukunftsperspektiven 234<br />
9.4.1. Zukunft der Generationenbeziehungen <strong>in</strong> den Familien 234<br />
9.4.2. Zukunft des gesamtgesellschaftlichen Generationenverhältnisses 237<br />
Literatur 241<br />
10. HOCHALTRIGE MIGRANT/INNEN<br />
Christoph Re<strong>in</strong>precht 245<br />
10.1. E<strong>in</strong>leitung 245<br />
10.1.1. Präzisierung der Begriffl ichkeit 245<br />
10.2. Internationale Literatur, Forschungsstand 246<br />
10.2.1. Verdichtung der Problemlagen und prekäres Altern 247<br />
10.2.2. Zentralität des Familien- und Verwandtschaftssystems 247<br />
10.2.3. Ethnischer Rückzug und Insulation 248<br />
10.2.4. Gesundheitsressourcen und „healthy migrant eff ect“ 249<br />
10.2.5. Spezielle Pfl ege- und Betreuungsbedürfnisse 250<br />
10.3. Migrantische Hochaltrigkeit <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> 251<br />
10.3.1. Methodologische Vorbemerkungen 251
10.3.2. Zahl und Zusammensetzung der hochaltrigen migrantischen Bewölkerung <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
252<br />
10.3.3. Die Bevölkerungsgruppe der hochaltrigen <strong>Arbeit</strong>smigrant/<strong>in</strong>nen 254<br />
10.3.4. Indizien der Lebenslage hochaltriger <strong>Arbeit</strong>smigrant/<strong>in</strong>nen 255<br />
10.3.4.1. Prekäre materielle und gesundheitliche Ressourcen 256<br />
10.3.4.2. Wohlbefi nden und psychosoziales Belastungsempfi nden 257<br />
10.3.4.3. Familie und soziale Ressourcen 258<br />
10.3.4.4. Inanspruchnahme von sozialen Diensten und Gesundheitse<strong>in</strong>richtungen 258<br />
10.4. Zusammenfassung und Ausblick 259<br />
Literatur 260<br />
11. HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
Tom Schmid 267<br />
11.1. Begriff sbestimmung und Abgrenzung 267<br />
11.2. Das Datenproblem 270<br />
11.2.1. Schlechte empirische Fassbarkeit 271<br />
11.3. Empirische Annäherungen 273<br />
11.4. Körperliche Bee<strong>in</strong>trächtigungen im (hohen) Alter 275<br />
11.5. Psychische Bee<strong>in</strong>trächtigung und geistige Beh<strong>in</strong>derung im höheren Alter 278<br />
11.6. Krankheiten und Bee<strong>in</strong>trächtigungen der Lebensqualität im höheren Alter 278<br />
11.7. Beh<strong>in</strong>derung im hohen Alter – qualitative Annäherung 280<br />
11.8. Wahrsche<strong>in</strong>liche Entwicklungen 282<br />
11.9. Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen 283<br />
Literatur 287<br />
12. EINSAMKEIT UND ISOLATION<br />
Josef Hörl 291<br />
12.1. Konzeptuelle Grundlagen 291<br />
12.1.1. E<strong>in</strong>samkeit und Isolation bei alten Menschen 292<br />
12.2. Soziale Isolation 293<br />
12.2.1. Intergenerationelle Wohnentfernung und Kontakthäufi gkeit 294<br />
12.2.1.1. Intergenerationelle Wohnentfernung 294<br />
12.2.1.2. Intergenerationelle Kontakthäufi gkeit 296<br />
12.2.2. Häufi gkeit von Aktivitäten und Sozialkontakten 297<br />
12.3. E<strong>in</strong>samkeit 299<br />
12.3.1. Ausmaß von E<strong>in</strong>samkeitsgefühlen 299<br />
12.3.2. Bestimmungsgründe 300<br />
12.3.3. E<strong>in</strong>samkeitserwartung 301<br />
Literatur 305<br />
13. GESUNDHEITLICHE ASPEKTE IM ALTER<br />
Franz Böhmer 309<br />
13.1. E<strong>in</strong>leitung 309<br />
13.2. Krankheiten im Alter - Wirkungen des Alterns auf Krankheiten und vice versa 309<br />
13.3. Multimorbidität 310
13.4. Medikamentöse Polypragmasie 311<br />
13.5. Psychosomatische Zusammenhänge 312<br />
13.6. Chronizität 313<br />
13.7. Immobilisationssyndrom 313<br />
13.8. Mangelernährung im Alter 314<br />
13.9. Die Geriatrie als mediz<strong>in</strong>isches Spezialfach 316<br />
13.10. Schlussfolgerungen 320<br />
Literatur 324<br />
14. GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITS VERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
Thomas Dorner, Anita Rieder 327<br />
14.1. E<strong>in</strong>leitung 327<br />
14.2. Stellenwert e<strong>in</strong>es gesunden Lebensstils 328<br />
14.2.1. Gesunde Ernährung 329<br />
14.2.2. Körperliche Aktivität / Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g 332<br />
14.2.3. Körperzusammensetzung 333<br />
14.2.4. „Nichtrauchen“ 335<br />
14.3. Spezifi sche Prävention 335<br />
14.3.1. Impfungen 336<br />
14.3.2. Sturzprävention 337<br />
14.4. Chancen und Grenzen von Screen<strong>in</strong>g bei Hochbetagten 338<br />
14.4.1. Bluthochdruck 338<br />
14.4.2. Hör- und Sehprobleme 338<br />
14.4.3. Kognitive Defi zite 339<br />
14.4.4. Depression 340<br />
14.4.5. Krebs 341<br />
14.5. Altersspezifi sche Vorsorgeuntersuchung <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> 342<br />
14.6. Stellenwert des geriatrischen Assessments 344<br />
14.7. Bedeutung der Rehabilitation im Alter 345<br />
14.8. Inanspruchnahme mediz<strong>in</strong>ischer Leistungen durch Hochbetagte <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> 346<br />
14.8.1. Krankenhausaufenthalte 346<br />
14.8.2. Selbstberichtete Häufi gkeit von Arztbesuchen 348<br />
14.8.3. Selbstberichtete Arzt-, Krankenhaus- und Ambulatorienbesuche 349<br />
14.8.4. Selbstberichteter Medikamentenkonsum 350<br />
14.8.5. Selbstberichtete Verwendung von Hilfsmitteln 351<br />
14.9. Zusammenfassung und Ausblick 351<br />
Literatur 355<br />
15. PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
Josef Hörl 365<br />
15.1. E<strong>in</strong>leitung 365<br />
15.2. Empirische Grundlagen 366<br />
15.3. Merkmale der Betreuungspersonen 367<br />
15.3.1. Anzahl 367
15.3.2. Alter 368<br />
15.3.3. Geschlecht 370<br />
15.3.4. Erwerbs-, Bildungs- und Berufsstatus 371<br />
15.4. Merkmale der Betreuungsverhältnisse 374<br />
15.4.1. Verwandtschafts- oder sonstiges Verhältnis 374<br />
15.4.2. Zeitaufwand 375<br />
15.4.3. Betreuungsort 376<br />
15.4.4. Motive, Interaktionsmuster und Qualität <strong>in</strong> der Betreuung 378<br />
15.4.5. Belastungen und negative Aspekte <strong>in</strong> der Betreuung 379<br />
15.4.6. Unterstützung der Betreuungspersonen 380<br />
15.4.6.1. Personelle Ressourcen 380<br />
15.4.6.2. Pfl egegeld und andere sozialpolitische Leistungen 380<br />
15.4.6.3. Irreguläre <strong>in</strong>formelle Betreuung 381<br />
15.5. Ausblick 382<br />
Literatur 386<br />
16. PFLEGE UND BETREUUNG II: DIE FORMELLE AMBULANTE PFLEGE<br />
Elisabeth Rappold, Mart<strong>in</strong> Nagl-Cupal, Ingrid Dolhaniuk, Elisabeth Seidl 389<br />
16.1. Angebot und Inanspruchnahme mobiler Dienste 389<br />
16.2. Bedarfs- und Entwicklungspläne 393<br />
16.2.1. Ist-Stand der mobilen Dienste 393<br />
16.2.2. Soll-Stand der mobilen Dienste 394<br />
16.3. Entwicklung der Pfl ege- und Sozialberufe 396<br />
16.4. Trends und pfl egerische Bedarfslagen im Kontext der Hochaltrigkeit 397<br />
16.4.1. Ambulante Betreuung hochaltriger Menschen mit Demenz 397<br />
16.4.2. Ambulante Betreuung hochaltriger Menschen mit Beh<strong>in</strong>derung 398<br />
16.4.3. Ambulante Betreuung hochaltriger Menschen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund 399<br />
16.4.4. Versorgungs<strong>in</strong>tegration, Kooperation und Koord<strong>in</strong>ation 400<br />
16.5. Resümee 400<br />
Literatur 402<br />
17. PFLEGE UND BETREUUNG III: VOM ARMENASYL ZUR HAUSGEMEINSCHAFT: GEMEIN-<br />
SCHAFTLICHES WOHNEN BEI BETREUUNGS- UND PFLEGEBEDARF<br />
Margit Scholta 405<br />
17.1. Herausforderung Pfl egebedürftigkeit 405<br />
17.1.1. Der quantitative Aspekt 406<br />
17.1.2. Der gesetzliche Aspekt 408<br />
17.1.3. Die Neuregelung der Pfl egevorsorge 413<br />
17.2. Lebenswelt Heim 416<br />
17.2.1. Personalrichtwerte als Strukturqualität 418<br />
17.2.2. Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung 422<br />
17.2.3. Entwicklungsbedarf und Entwicklungspotential von Heimen 423<br />
17.3. Unterstützung des häuslichen Pfl egesystems 424<br />
17.3.1. Tagesbetreuung 425
17.3.2. Kurzzeitpfl ege 425<br />
17.3.3. Betreutes (Betreubares) Wohnen 426<br />
17.4. Zusammenfassung und Ausblick 427<br />
Literatur 429<br />
18. GEWALT UND KRIMINALITÄT<br />
Josef Hörl 431<br />
18.1. Problemstellungen 431<br />
18.1.1. Wo geschieht Gewalt? 431<br />
18.1.2. Formen der Gewalt 432<br />
18.2. Datenlage und Dunkelfeldproblem 433<br />
18.3. Gewaltsituationen und -konstellationen 434<br />
18.3.1. Krim<strong>in</strong>alität im Leben alter Menschen 434<br />
18.3.2. Gewalt <strong>in</strong> stationären E<strong>in</strong>richtungen 436<br />
18.3.3. Gewalt im häuslichen und persönlichen Nahraum 439<br />
18.4. Subjektive Gewaltverständnisse 441<br />
Literatur 443<br />
19. RECHTLICHE ASPEKTE<br />
Michael Ganner 447<br />
19.1. Überblick 447<br />
19.1.1. Besonderer Schutz des Alters 447<br />
19.1.2. Kompetenzlage 447<br />
19.2. F<strong>in</strong>anzierung 448<br />
19.2.1. Überblick 448<br />
19.2.2. Bundes- und Landespfl egegeldgesetze 449<br />
19.3. Konsumentenschutz 449<br />
19.3.1. Allgeme<strong>in</strong>es 449<br />
19.3.2. Heimvertragsgesetz (HVerG) 450<br />
19.3.2.1. Allgeme<strong>in</strong>es 450<br />
19.3.2.2. Vertrags<strong>in</strong>halt 451<br />
19.3.2.3. Kündigung 453<br />
19.3.2.4. Vertrauensperson 454<br />
19.4. Besondere Rechte 454<br />
19.4.1. Überblick 454<br />
19.4.2. Patientenrechte 455<br />
19.4.2.1. Allgeme<strong>in</strong>es 455<br />
19.4.2.2. Patientencharta 456<br />
19.4.3. Bewohnerrechte im Landes-Heimrecht 457<br />
19.5. Vertretungsformen 459<br />
19.6. Antizipierte Verfügungen 461<br />
19.6.1. Patientenverfügung 461<br />
19.6.2. Vorsorgevollmacht 462<br />
19.7. Freiheitsbeschränkungen 463
19.7.1. Rechtlicher Überblick 463<br />
19.7.2. Heimaufenthaltsgesetz 463<br />
19.8. Zusammenfassung und Ausblick 465<br />
Literatur / verwendete Materialien 466<br />
20. LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
Sab<strong>in</strong>e Pleschberger 467<br />
20.1. Leben und Sterben <strong>in</strong> Würde 467<br />
20.1.1. Sterben <strong>in</strong> modernen Gesellschaften 467<br />
20.1.2. Leitkategorie Würde 468<br />
20.1.3. Charakteristika des Sterbens hochbetagter Menschen 469<br />
20.1.3.1. Demenzielle Veränderungen 470<br />
20.1.3.2. Gender-Aspekte des Sterbens im Alter 470<br />
20.1.3.3. Bedürfnisse alter Menschen <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf das Sterben 471<br />
20.2. Das Sterben hochbetagter Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> 472<br />
20.2.1. Sterbeorte 472<br />
20.2.1.1. E<strong>in</strong>fl ussfaktoren auf den Sterbeort 474<br />
20.2.1.2. Qualitative Aspekte der Sterbeorte 475<br />
20.2.1.3. Fazit zu den Sterbeorten 477<br />
20.2.2. Todesursachen 477<br />
20.2.2.1. Todesursachen hochbetagter Menschen 478<br />
20.3. Hospizarbeit und Palliative Care <strong>für</strong> hochbetagte Menschen 479<br />
20.3.1. Konzeptionelle Aspekte 480<br />
20.3.2. Entwicklungsstand <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> 480<br />
20.3.2.1. Spezialisierte Palliativversorgung 481<br />
20.3.2.2. Spezialisierte Palliativversorgung <strong>in</strong> Zahlen 483<br />
20.3.2.3. Palliative Care <strong>in</strong> der Grundversorgung 485<br />
20.3.3. Qualifi zierung im Bereich Palliative Care 487<br />
20.3.3.1. Bedarf und Qualifi zierungsgrad 487<br />
20.3.3.2. Spezialisierte Fort- und Weiterbildungsangebote 488<br />
20.3.4. Ausgewählte legislative Aspekte des Sterbens 489<br />
20.3.4.1. Pfl egegeld am Lebensende 489<br />
20.3.4.2. Familienhospizkarenz 490<br />
20.3.4.3 Patientenverfügungsgesetz und Vorsorgevollmacht 491<br />
20.4. Ausblick 492<br />
Literatur 494<br />
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN 503<br />
Josef Hörl, Franz Kolland, Gerhard Majce 503<br />
Empfehlungen zu Kapitel 1: Demografi sche Entwicklung 503<br />
Empfehlungen zu Kapitel 2: Lebensformen und Wohnsituation der Hochbetagten <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
504<br />
Empfehlungen zu Kapitel 3: Ökologie und Alter 505<br />
Empfehlungen zu Kapitel 4: Die ökonomische Situation der Hoch betagten <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> 506
Empfehlungen zu Kapitel 5: Alltag im Alter 507<br />
Empfehlungen zu Kapitel 6: Sicherheit im hohen Alter 508<br />
Empfehlungen zu Kapitel 7: Mobilität im Alter 509<br />
Empfehlungen zu Kapitel 8: Lebensqualität und Lebenszufriedenheit 510<br />
Empfehlungen zu Kapitel 9: Generationensolidarität und Gene rationenkonfl ikt im höheren<br />
Alter 511<br />
Empfehlungen zu Kapitel 10: <strong>Hochaltrige</strong> Migrant/<strong>in</strong>nen 513<br />
Empfehlungen zu Kapitel 11: Hochbetagte Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen 514<br />
Empfehlungen zu Kapitel 12: E<strong>in</strong>samkeit und Isolation 515<br />
Empfehlungen zu Kapitel 13: Gesundheitliche Aspekte im Alter 516<br />
Empfehlungen zu Kapitel 14: Gesundheitsförderung, Prävention und Gesundheitsversorgung<br />
bei Hoch betagten 517<br />
Empfehlungen zu Kapitel 15: Pfl ege und Betreuung (<strong>in</strong>formelle Pfl ege) 518<br />
Empfehlungen zu Kapitel 16: Pfl ege und Betreuung: Die formelle ambulante Pfl ege 520<br />
Empfehlungen zu Kapitel 17: Pfl ege und Betreuung (formelle <strong>in</strong>stitutionelle Pfl ege) 521<br />
Empfehlungen zu Kapitel 18: Krim<strong>in</strong>alität und Gewalt 522<br />
Empfehlungen zu Kapitel 19: Rechtliche Aspekte 523<br />
Empfehlungen zu Kapitel 20: Leben und Sterben <strong>in</strong> Würde 524<br />
AUTOR/INNEN DER BEITRÄGE 527
HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
JOSEF HÖRL, FRANZ KOLLAND, GERHARD MAJCE<br />
Nachdem lange Zeit das Altern der Be völkerung und dessen Folgen kaum zur Kenntnis genommen<br />
worden waren, kippte <strong>in</strong> den 90er Jahren fast panikartig die Stimmung und Katastrophenszenarios<br />
wurden vielfach beschworen. Von der Vergreisung der Gesellschaft bis h<strong>in</strong> zum unausweichlichen<br />
Krieg der Gener ationen war – und ist – die Rede, „Über alterung“ gilt bis heute geradezu als<br />
wertfreie Beschrei bung der Geg enwart und der n ahen Zukunft. Ist also e<strong>in</strong>e Verjüngung der<br />
Gesellschaft anzustreben – abgesehen davon, wie realistisch e<strong>in</strong> solches Ziel wäre?<br />
Josef Kytir leitet se<strong>in</strong>en demogr afi schen Beitrag mit dem H<strong>in</strong>weis e<strong>in</strong>, dass das Al tern der<br />
Gesellschaft weniger als beängstigende Entwicklung als vielmehr als e<strong>in</strong>e „u nvermeidliche<br />
Konsequenz der L ösung e<strong>in</strong>er ex istenziellen Bedrohung menschlicher Bevölkerungen,<br />
nämlich des Entkommens aus der Spirale e<strong>in</strong>er raschen, sich kont<strong>in</strong>uierlich verstärkenden<br />
Bevölkerungszunahme“ beurteilt werden sollte (Kytir) 1 . Jung s<strong>in</strong>d eben jene Gesellschaften, die<br />
extrem hohe Geburtenzahlen und daher Verdoppelungszeiträume ihrer E<strong>in</strong>wohnerzahlen von<br />
15, 20 Jahren haben. Mit anderen Worten: e<strong>in</strong>e Gesellschaft kann nicht gleichzeitig demografi sch<br />
jung se<strong>in</strong> und ihren Bevölkerungsstand auch nur annähernd halten.<br />
Andererseits s<strong>in</strong>d das Tempo und die Größenordnung des Bevölkerungswandels von nicht zu<br />
überschätzender Bedeutung. Der US-amerikanische Wirtschaftsexperte und Politiker Peter<br />
Peterson, der e<strong>in</strong>e umfangreiche Liste der größten Gefahren <strong>für</strong> die Menschheit im 21. Jahrhundert<br />
aufgestellt hat – von den Klimaveränderungen über die Kriegsgefahren und Hi-Tech-Terrorismus<br />
bis h<strong>in</strong> zu den ökonomischen Folgen der Globalisierung –, kommt zu dem Schluss, dass das<br />
rapide Altern der Bevölkerungen unsere Zukunft „weit mehr verändern (wird) als all die anderen<br />
großen Bedrohungen“ (Peterson 1999: 4). Alle<strong>in</strong> die fi nanziellen Aspekte dieses Wandels s<strong>in</strong>d<br />
enorm – so enorm, dass sich e<strong>in</strong>e nach wie vor nicht unübliche Beschwichtigungs rhetorik, die<br />
damit beruhigt, dass es auch bisher immer wieder Engpässe (etwa <strong>in</strong> den 80er Jahren) gegeben<br />
hätte, die dann doch überwunden wurden, verbietet.<br />
Kytir zeigt i n se<strong>in</strong>em Beitrag, dass derzeit auf 100 Personen im Erwerbsalter (20-64 Jahre)<br />
rund 26 P ersonen kommen, die 65 Jahre oder älter s <strong>in</strong>d. Dieses Verhältnis hat sich seit vier<br />
Jahrzehnten und somit im bewusstse<strong>in</strong>sprägenden Erlebnis- und Erfahrungshorizont des Großteils<br />
der Bevölkerung praktisch nicht geändert: Kamen 1965 auf hundert 20- bis 64-Jährige Personen<br />
23 Personen im Alter von 65 und darüber, so waren es 2005 immer noch nur 26 Personen. Aber<br />
<strong>in</strong>nerhalb der nächsten 25 Jahre wird dieses Verhältnis auf über 40 Ältere und bis 2050 sogar auf<br />
über 50 hochschnellen (Kytir). Noch markanter stellt sich die rasante, mehr als Verdoppelung<br />
1 Autorenzitate ohne Jahreszahl und Seitenangaben beziehen sich auf die Beiträge <strong>in</strong> diesem Band.<br />
13
HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
der Belastung der (potenziell) beitragszahlenden Bevölkerung durch das immer ungünstiger<br />
werdende zahlenmäßige Verhältnis zu den Pensionisten anhand der „Pensions belastungsquote“<br />
dar 2 : 1965 betrug sie 435, im Jahr 2000 war sie immerh<strong>in</strong> schon auf 619 angestiegen, und e<strong>in</strong>e<br />
Schätzung des Beirats <strong>für</strong> Wirtschafts- und Sozialfragen rechnet <strong>für</strong> das Jahr 2030 mit nicht weniger<br />
als 1.010 Pensionen auf 1.000 Beitragszahler/<strong>in</strong>nen (Mar<strong>in</strong> & Pr<strong>in</strong>z 1999: 130, http://esv-bkk.<br />
sozvers.at 2007). Tendenziell folgt daraus, dass angesichts der Verdoppelung des Verhältnisses<br />
von Pensionisten zu Beitragszahlern zur Aufrechterhaltung des derzeitigen E<strong>in</strong>kommensniveaus<br />
der Pensionisten e<strong>in</strong>e Verdoppelung der derzeitigen Beiträge, oder zur Aufrechterhaltung des<br />
derzeitigen Beitragsniveaus e<strong>in</strong>e Halbierung der Pensionen – oder Mischverhältnisse zwischen<br />
diesen beiden Varianten erfolgen müssen (dazu kommen modifi zierend die Bundesbeiträge,<br />
d. h. die Ausf allshaftung des Bundes, die natürlich durch das Steueraufkommen fi nanziert<br />
werden). Da das derzeitige Beitragsniveau 22,8% beträgt, würde e<strong>in</strong>e Verdoppelung auf e<strong>in</strong>en<br />
Satz von rund 45% h<strong>in</strong>auslaufen – alle<strong>in</strong> <strong>für</strong> die Pensionssicherung.<br />
Durch das Altern der Bevölkerung – <strong>in</strong>sbesondere durch das „doppelte Altern“, also die absolute<br />
und relative Zunahme der <strong>Hochaltrige</strong>n unter den Älteren (vgl. Kytir) – ist aber nicht nur das<br />
Pensionssystem, sondern auch das Gesundheitssystem und se<strong>in</strong>e fi nanzielle Absicherung betroffen.<br />
Es wird nicht bloß mehr Ältere, sondern eben viel mehr <strong>Hochaltrige</strong> geben – beispielsweise<br />
geht die Bevölkerungsstatistik derzeit davon aus, dass die Anzahl der 80- und Mehrjährigen von<br />
heute rund 354.000 alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> den nächsten knapp 25 Jahren um zwei Drittel auf fast 600.000 und<br />
bis 2050 sogar auf fast e<strong>in</strong>e Million anwachsen wird (Kytir). Daraus folgert der Großteil der Fachleute<br />
e<strong>in</strong>e massiv wachsende Kostenbelastung. Beispielsweise zitiert der Sozialpolitik-Experte<br />
Hermann Scherl <strong>für</strong> Deutschland „seriöse Vorausschätzungen der Beitrags satzentwicklung <strong>in</strong><br />
der GKV 3 über die nächsten Jahrzehnte h<strong>in</strong>weg auf Beitragssätze <strong>in</strong> der Spanne zwischen 20%<br />
und 30%“ (Scherl 2003: 98) und beruft sich dabei auf „die ‚Versteilerung’ der Altersaufgabenprofi<br />
le im Bereich der höheren und höchsten Altersklassen.“ (ebenda).<br />
Dieser Eff ekt ist e<strong>in</strong>er der demografi schen Gesamt-Entwicklung. Auf <strong>in</strong>dividueller Ebene h<strong>in</strong>gegen<br />
zeigen umfangreiche Studien, dass mit wachsendem Alter sogar e<strong>in</strong>e Kostenreduktion zu<br />
registrieren ist. So stellt Hi lke Brockmann <strong>in</strong> Deutsc hland fest, dass nicht d as kalendarische<br />
Alter, sondern die Nähe zum Todeszeitpunkt die Höhe der Kosten determ<strong>in</strong>iert. Die Spitalskosten<br />
im letzten Lebensjahr übertreff en um e<strong>in</strong> Vielfaches jene <strong>in</strong> anderen Lebensjahren. Vor allem<br />
aber lässt sich nachweisen, dass die Gesundheitsausgaben pro Kopf mit dem Alter <strong>in</strong> Deutschland<br />
s<strong>in</strong>ken, nicht steigen. E<strong>in</strong>erseits sei das darauf zurückzuführen, dass alte Menschen an<br />
weniger teuren Krankheiten leiden als jüngere. Noch wichtiger aber sei, dass die hochaltrigen<br />
Patient/<strong>in</strong>nen <strong>für</strong> dieselben Krankheiten oftmals die weniger kostspielige Behandlung erhielten<br />
als die jüngeren Patient/<strong>in</strong>nen. Dieser Eff ekt sei <strong>für</strong> Personen, die nachfolgend starben, stärker<br />
2 Das ist die Anzahl der Pensionen pro tausend Erwerbstätige.<br />
3 Gesetzliche Krankenversicherung<br />
14
HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
gewesen als <strong>für</strong> jene, die nicht starben, und am stärksten <strong>für</strong> die nicht überlebenden Frauen<br />
(Brockmann 2002: 604f.). Ähnliche Ergebnisse werden übrigens auch <strong>für</strong> die USA verzeichnet<br />
(ebenda; Lubitz & Riley 1993).<br />
Nichtsdestoweniger steigen wegen der hohen Korrelation zwischen Todeszeitpunkt und Lebensalter<br />
die Pro-Kopf-Gesundheitsgesamtausgaben mit dem Alter deutlich an (bei gl eichzeitiger<br />
Reduktion der Gesundheitsausgaben <strong>für</strong> Sterbende mit wachsendem Alter) (Breyer 1999, Kruse<br />
et al. 2003). Der deutsche Gerontologe Andreas Kruse sieht <strong>für</strong> die mit dem doppelten (demografi<br />
schen) Altern der Gesell schaft verbundenen Kosten folgendes Muster der Entwicklung der<br />
Gesundheits ausgaben (wobei mit „Sterbenden“ alle Personen geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>d, die <strong>in</strong> den letzten<br />
zwei Jahren vor dem Analysezeitpunkt gestorben waren):<br />
Die Gesundheitsausgaben <strong>für</strong> die Überlebenden steigen mit dem Alter immer weiter an, besonders<br />
stark <strong>in</strong> den höchsten Alterskategorien, während die Gesundheitsausgaben <strong>für</strong> Sterbende<br />
mit wachsendem Alter teils stark abnehmen. Insgesamt steigen (wegen der viel höheren Kosten,<br />
die <strong>für</strong> die Sterbenden aufgewendet werden) die Gesamtausgaben <strong>für</strong> die Gesundheit mit dem<br />
Alter merklich an (Kruse 2007: 51).<br />
Die Absehbarkeit der stark wachsenden Kosten vor allem <strong>in</strong>folge des künftig erhöhten Pfl egebedarfs<br />
und Pensionsaufwandes hat u. A. <strong>in</strong> den meisten Ländern zu e<strong>in</strong>em Zurückfahren der<br />
Leistungen der öff entlichen Pensionssysteme geführt. Diese Reduktion wird e<strong>in</strong>erseits durch<br />
e<strong>in</strong> niedrigeres E<strong>in</strong>stiegsniveau bei den Pensionen, andererseits durch e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>gere jährliche<br />
Anpassung der Pensionen erreicht. In ihrem Beitrag geben Christ<strong>in</strong>e Mayrhuber und Alois Guger<br />
zu bedenken, dass dadurch der Lebensstandard gerade der Hochbetagten immer weiter h<strong>in</strong>ter<br />
jenem der Erwerbsbevölkerung, aber auch der Neupensionist/<strong>in</strong>nen zurückbleiben wird (Mayrhuber<br />
& Guger), wodurch das e<strong>in</strong>igermaßen überwunden geglaubte Phänomen der Alters armut wieder<br />
auftaucht. Besonders betroff en von diesem Risiko s<strong>in</strong>d im S<strong>in</strong>ne der wohlbekannten „kumulativen<br />
Benachteiligung“ (Rosenmayr & Majce 1976) die hochaltrigen Frauen: Zum E<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d sowohl<br />
die Alters- als auch die Invali ditäts pensionen der 80- und Mehrjährigen deutlich ger<strong>in</strong>ger als<br />
jene der 60- bi s 69-Jährigen, zum Anderen r angieren dabei die Fr auen um bis zu 30% h<strong>in</strong>ter<br />
den Männern. Insgesamt gesehen erreichen die Frauen im Durchschnitt nur die Hälfte bis 58%<br />
der Direktpensionen (also ohne H<strong>in</strong>terbliebenenpensionen) der Männer (Mayrhuber & Guger).<br />
Durch die Pensionsreform(en) des letzten Jahrzehnts mussten die Pensionist/<strong>in</strong>nen wegen der<br />
Umstellung der Pensionsanpassung Reale<strong>in</strong>kommens verluste h<strong>in</strong>nehmen. Da die <strong>Hochaltrige</strong>n<br />
schon länger von diesen Transfere<strong>in</strong>kommen leben, bedeutet das, dass sie auch <strong>in</strong> höherem<br />
Maß nachteilig betroff en waren. Mayrhuber & Guger schließen aus den Wirkmechanismen der<br />
Pensionsreform sogar, dass die Verteilung der Pensionse<strong>in</strong>kommen seit Mitte der 90er Jahre<br />
ungleicher geworden ist. Zieht man zur Beurteilung der materiellen Situation der Hochbetagten<br />
nicht nur die laufenden E<strong>in</strong>kommen, sondern auch die (Geld) Vermögen heran, dann verstärkt<br />
sich der E<strong>in</strong>druck der schlechteren Ausstattung noch e<strong>in</strong>mal. Gerade <strong>in</strong> diesem Bereich erweist<br />
sich sogar <strong>in</strong> besonders markanter Weise, wie falsch e<strong>in</strong>e undiff erenzierte Zusammenschau „der<br />
15
HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
älteren Generation“, „der Senioren“ oder gar die uns<strong>in</strong>nige Entdeckung der „Generation 50 Plus“<br />
ist. Denn während die Geldvermögen über alle Altersgruppen h<strong>in</strong>weg <strong>für</strong> die 60- bis 69-Jährigen<br />
die höchsten s<strong>in</strong>d, werden jene der 80- und Mehrjährigen nur von den jüngsten Altersgruppen (die<br />
ja noch kaum Gelegenheit zum Ansparen hatten) unterboten (Mayrhuber & Guger). Ähnliches gilt<br />
<strong>für</strong> die Armutsgefährdung nach den Kriterien der EU-Konvention 4 . Auch <strong>für</strong> sie gilt, dass die relativ<br />
wenigsten Haushalte, die armutsgefährdet s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>en 60- bis 64-Jährigen Haushaltsvorstand<br />
haben, h<strong>in</strong>gegen die Ältesten und die Jüngsten jenen Haushalten vorstehen, die am häufi gsten<br />
armutsgefährdet s<strong>in</strong>d. Nichtsdestoweniger s<strong>in</strong>d die Lebensstandard-Ansprüche der Ältesten bei<br />
weitem am bescheidensten, denn trotz ihres besonders ger<strong>in</strong>gen E<strong>in</strong>kommens und Vermögens<br />
beträgt ihre Sparquote nicht weniger als 30%, und selbst das ärmste Viertel der Hochbetagten<br />
weist noch e<strong>in</strong>e Sparquote von 5% auf (Mayrhuber & Guger). Die Autor<strong>in</strong> und der Autor folgern<br />
daraus, dass deren Armutsrisiko ger<strong>in</strong>ger ist, als man aus ihrer E<strong>in</strong>kommenssituation ableiten<br />
könnte, weil sie ihre Konsummöglichkeiten nicht ausschöpfen. Da<strong>für</strong> ist e<strong>in</strong>e Reihe von Gründen<br />
vorstellbar, e<strong>in</strong>er ist aber auch unter dem Gesichtspunkt der Generationensolidarität (vgl. auch<br />
Majce <strong>in</strong> diesem Band) erwähnenswert, nämlich jener, dass angesichts der negativen Sparquote<br />
der Haushalte der Jungen e<strong>in</strong> merklicher Teil ihrer Ersparnisse den Enkel-Haushalten zufl ießen<br />
dürfte (Mayrhuber & Guger).<br />
E<strong>in</strong>es der wichtigsten Themen im Zusammenhang mit dem doppelten Altern ist zweifellos<br />
das der Bet reuung und Pfl ege. Mit der (rel ativ und absolut) überpropor tional wachsenden<br />
Zahl hochaltriger Men schen ist mit e<strong>in</strong>em rasch wachsenden Betreuungs- und Pfl egebedarf<br />
<strong>in</strong> bisher nicht da gewesenen Größenordnungen zu rechnen. Nach Schätzungen von Badelt et<br />
al. (vgl. Badelt & Leichsenr<strong>in</strong>g 2000: 414) s<strong>in</strong>d die (mittleren bis schweren) altersspezifi schen<br />
Betreuungs- bzw. Pfl egebe dürftigkeitsquoten bis zum Alter von etwa 75 Jahren ziemlich ger<strong>in</strong>g<br />
und reichen <strong>für</strong> die Altersjahrfünfte ab 60 Jahren von 1,9% bis 4,2% bei den 70- bis 75-Jährigen.<br />
Dann aber steigt diese Quote rasch, sie erreicht bei den 80- bis 85-Jährigen bereits knapp 20%<br />
dieser Altersgruppe und liegt bei den 85- und Mehrjährigen sogar schon bei 43%. Kytir wiederum<br />
prognostiziert <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag e<strong>in</strong>en Zuwachs der 80- und Mehrjährigen von heute 354.000<br />
auf fast 600.000 im Jahr 20 30 und e<strong>in</strong>e kn appe Million im Jahr 2050 , das ist e<strong>in</strong> Wachstum<br />
von 68% bzw. 177% <strong>in</strong> wenigen Jahrzehnten. Bei den 85- und Mehrjährigen ist sogar von e<strong>in</strong>em<br />
122%-prozentigem Zuwachs (von heute 134.000 auf fast 300.000 <strong>in</strong> 23 Jahren) bzw. e<strong>in</strong>em knapp<br />
300%igen Zuwachs auf etwa 528.000 im Jahr 2050 auszugehen. Daraus folgert er, dass alle<strong>in</strong><br />
die Zahl der <strong>in</strong> Alten- und Pfl ege heimen lebenden 85- und Mehrjährigen von derzeit 26.000 bis<br />
2050 auf 92.000 anwachsen wird (Kytir).<br />
Diesen Berechnungen wachsender Zahlen von pfl egebedürftigen alten Menschen stellen manche<br />
Autoren das optimistische Alternativmodell der „Kompression der Morbidität“ (erstmals:<br />
4 Als armutsgefährdet gilt e<strong>in</strong> Haushalt mit e<strong>in</strong>em „Äquivalenze<strong>in</strong>kommen“ von höchstens 60% des Median-Äquiva-<br />
16<br />
lenze<strong>in</strong>kommens (<strong>für</strong> Details siehe den Beitrag von Mayrhuber und Guger).
HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
Fries 1983) gegenüber: Nachdem es bisher zu e<strong>in</strong>er „Kompression der Mortalität“ gekommen<br />
sei, d. h. e<strong>in</strong>er immer st ärkeren Konzentration der Sterbefälle auf die höchsten Altersstufen,<br />
würde sich k ünftig auch e<strong>in</strong>e „Kompression der Morb idität“ e<strong>in</strong>stellen. D as heißt, dass sich<br />
nicht nur die Überlebenskurve immer stärker e<strong>in</strong>er Rechtecks form nähert („Rektangularisierung“<br />
der Überlebenskurve), sondern d ass die M anifestationskurve der Kran kheiten, vor allem der<br />
chronisch-degenerativen, ebenfalls diese Form annehme – sogar <strong>in</strong> noch stärkerem Maße als<br />
die Mortalität, denn durch die erfolgreiche Bekämpfung der Risikofaktoren (Prävention) sollte<br />
es im gü nstigsten Fall gel<strong>in</strong>gen, den theoreti schen kl<strong>in</strong>ischen Manifestationszeitpunkt der<br />
Erkrankungen h<strong>in</strong>ter den Zeitpunkt des „Alterstodes“ zurückzudrängen. Das hätte natürlich<br />
e<strong>in</strong>e Verkürzung der term<strong>in</strong>alen Phase von Pfl ege- und Behandlungsbedürftigkeit zur Folge.<br />
Ob bereits Anzeichen <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e „Kompression der Morbidität“ zu verzeichnen s<strong>in</strong>d, ist <strong>in</strong> der Fachwelt<br />
durchaus umstritten. Es gibt sowohl sozialmediz<strong>in</strong>ische und epidemiologische Befunde,<br />
die <strong>für</strong>, als auch solche, die g egen die Kompressionsthese sprechen (vgl. etwa Manton et al.<br />
1997, Manton et al. 2006 e<strong>in</strong>erseits und Schwarz 1989, McCallum 1999 als Gegenpositionen;<br />
e<strong>in</strong> 12-OECD-Länder-Vergleich von Lafortune & Balestat 2007 ergibt ebenfalls e<strong>in</strong> une<strong>in</strong>heitliches<br />
Bild).<br />
Der vorliegende Bericht beschäftigt sich aus drei Perspektiven mit der Betreuungs- und Pfl egeproblematik.<br />
Die formell organisierte ambulante Pfl ege behandeln Elisabeth Rappold, Mart<strong>in</strong><br />
Nagl-Cupal, Ingrid Dol haniuk und Elisabeth Seidl, den Komplex der <strong>in</strong>stitutionellen, also im<br />
Wesentlichen die Heime betreff enden Bereich handelt Margit Scholta ab, und der „<strong>in</strong>formellen“<br />
Betreuung und Pfl ege, die größtenteils von Ange hörigen wahrgenommen wird, ist der Beitrag<br />
von Josef Hörl gewidmet.<br />
Im Gegensatz zum Gesundheitsbereich resortiert der Sozialbereich – und zu diesem zählt die<br />
Pfl ege – zu den Bund esländern. Das hat unter Anderem zur Folge, dass sowohl im Heim- als<br />
auch im ambulanten Bereich höchst unterschiedliche Regelungen, Angebote und Nutzungen<br />
bestehen. So ist die ges amtösterreichische Auskunft, dass im Zeitraum 2002/03 13% der<br />
75- und Mehrjährigen ambulante Dienste <strong>in</strong> Anspruch genommen hätten angesichts der enormen<br />
Unterschiede zwischen den Bundesländern wenig aussagekräftig, wie im Beitrag von Rappold<br />
et al. erkennbar wird. E<strong>in</strong>er außerordentlich hohen Inanspruchnahme <strong>in</strong> Vorarlberg (immerh<strong>in</strong><br />
die Hälfte aller 75- und Mehrjährigen bzw. über 90% aller Pfl egegeldbezieher und -bezieher<strong>in</strong>nen<br />
nehmen die ambulanten Dienste <strong>in</strong> Anspruch) stehen deutlich ger<strong>in</strong>gere Zahlen <strong>in</strong> den<br />
anderen Bundesländern gegenüber; <strong>in</strong> Tirol und Oberösterreich s<strong>in</strong>d es noch je-weils 18-19%<br />
der über 7 5-Jährigen bzw. etwa e<strong>in</strong> Drittel der Pfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen und <strong>in</strong> den übrig en<br />
Bundesländern s<strong>in</strong>d, so Rappold et al., die Anteile noch erheblich ger<strong>in</strong>ger. Außerdem s<strong>in</strong>d<br />
die Nutzungs <strong>in</strong>tensitäten, gemessen <strong>in</strong> Leistungsstunden, ebenfalls höchst unterschiedlich.<br />
E<strong>in</strong> une<strong>in</strong>heitliches und zweifellos weiter diff erenzierungs- und erklärungsbedürftiges Bild ergibt<br />
sich bei der angesichts der unterschiedlichen Nutzung naheliegenden Frage, aus welchen<br />
Gründen die mobilen Dienste nicht <strong>in</strong> Anspruch genommen werden. Rappold et al. nennen <strong>in</strong><br />
17
HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
Bezug auf die Nicht-Nutzung als die beiden Hauptmotive, die von Angehörigen angeführt werden,<br />
e<strong>in</strong>erseits die zu hohen Kosten (die Dienste seien nicht fi nanzierbar, geben 42% der Angehörigen<br />
an), andererseits werden die Dienste an sich abgelehnt (48%). Außerdem spielt <strong>in</strong> den<br />
ländlichen Gebieten das unzureichende Angebot e<strong>in</strong>e gewisse Rolle, im städtischen Bereich ist<br />
der Anteil jener höher, die mit den angebotenen Leistungen unzufrieden s<strong>in</strong>d (Rappold et al).<br />
Gerade <strong>für</strong> <strong>Hochaltrige</strong>, deren soziale Netzwerke mit wachsendem Alter zunehmend ausdünnen<br />
und die sich daher auf immer weniger Angehörige stützen können, wenn sie pfl ege- und betreuungsbedürftig<br />
werden – laut Kytir lebt die Mehrheit, nämlich 45% aller 85- und Mehrjährigen <strong>in</strong><br />
E<strong>in</strong>personenhaushalten (und weitere 18% <strong>in</strong> Anstaltshaushalten) – ist e<strong>in</strong> weiterer Umstand, den<br />
Rappold et al. bemängeln, von schwerwiegender Bedeutung: die Problematik der Schnittstelle von<br />
Krankenhaus und Privathaushalt. Es besteht im Anschluss an e<strong>in</strong>e Spitalsentlassung dr<strong>in</strong>gender<br />
Bedarf h<strong>in</strong>sichtlich der Integration, Kooperation und Koord<strong>in</strong>ation der Ver sorgungsleistungen<br />
im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Ent lassungsmanagements. Rappold et al . führen Berechnungen an, wonach<br />
<strong>in</strong> Wien etwa 12% der au s dem Krank enhaus entlassenen Personen e<strong>in</strong>e an die Entlassung<br />
anschließende umfassende pfl egerische, mediz<strong>in</strong>ische und soziale Betreuung brauchen. Man<br />
darf davon ausgehen, dass dieser Bedarf bei den <strong>Hochaltrige</strong>n noch deutlich häufi ger auftreten<br />
wird. Nach e<strong>in</strong>er Mitarbeiter/<strong>in</strong>nenbefragung der Pfl ege- und Sozialdienste war <strong>in</strong> mehr als<br />
der Hälfte der Fälle niemand bekannt, der <strong>für</strong> die Klient/<strong>in</strong>nen der Dienste die mediz<strong>in</strong>ischen,<br />
pfl egerischen, sozialen, hauswirtschaft lichen und therapeutischen Leis tungen aufe<strong>in</strong>ander<br />
abgestimmt hätte.<br />
Mit dem <strong>in</strong>stitutionellen Aspekt, der Betreuung und Pfl ege <strong>in</strong> Heimen, setzt sich Margit Scholta<br />
ause<strong>in</strong>ander. Während alle<strong>in</strong> aufgrund des demografi schen Prozesses des doppelten Alterns,<br />
wie Kytir ausführt, bereits mit e<strong>in</strong>er Verdreie<strong>in</strong>halbfachung der Zahl der hochaltrigen Heimbewohner/<strong>in</strong>nen<br />
bis 2050 gerechnet we rden muss, hebt Scholta <strong>in</strong> ihrem Beitrag hervor, dass<br />
die sozialstrukturelle und sozio-ökonomische Dyna mik zusätzliche Eff ekte beitragen wird, die<br />
e<strong>in</strong> darüber h<strong>in</strong>ausgehendes Wachstum der Instit utionalisierung der 85- u nd Mehrjährigen<br />
erwarten lassen.<br />
Neben dem Bedarfszuwachs entstehen den Heimen durch die steigende Lebenserwartung neue<br />
Anforderungen. Die Übersiedlung <strong>in</strong>s Heim erfolgt <strong>in</strong> immer höherem Alter und daher <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
immer fragileren Gesundheitszustand (wozu im Übrigen auch die politische Grundentscheidung<br />
zur Priorität der „off enen“ gegenüber den „g eschlossenen“ Hilfen beiträgt). Scholta er<strong>in</strong>nert<br />
daran, dass nicht nur die zunehmende Gebrechlichkeit der neu E<strong>in</strong>tretenden Umstrukturierungen<br />
der Heime erforderlich macht, sondern die immer gr ößer werdende Anzahl Demenzkranker,<br />
die wegen ihrer Orientieru ngsstörungen den Al ltags notwendigkeiten im Pri vathaushalt nicht<br />
gewachsen s<strong>in</strong>d. Diese Menschen werden e<strong>in</strong>e rasch anwachsende Teilmenge der Heimpopulation<br />
stellen, an deren Bedürfnisse e<strong>in</strong>e befriedigende Anpassung <strong>in</strong> den Institutionen noch<br />
ausstehe (Scholta).<br />
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HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
Die Bedeutung der Heime wird vielfach unterschätzt. Das liegt zum e<strong>in</strong>en daran, dass immer noch<br />
und immer wieder die über 60- oder über 65-Jährigen wie e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige homogene Altersgruppe<br />
behandelt werden, zum Anderen an der feh lerhaften Interpretation von Querschnittsdaten.<br />
Tatsächlich leben an e<strong>in</strong>em beliebigen Stichtag nur knapp 4% aller „älteren Menschen“ (defi niert<br />
als 60- oder 65- und Mehrjährige) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Anstaltshaushalt. Schon Kastenbaum und Candy<br />
(1973) wiesen jedoch auf diesen „4%-Trugschluss“ („Four-Percent-Fallacy“) h<strong>in</strong>: Entscheidend<br />
ist ja nicht die Prävalenz zu e<strong>in</strong>em Zeitpunkt, sondern die Frage, wie viele alte Menschen e<strong>in</strong>e<br />
Zeitlang, <strong>in</strong> der Regel die letzte ihres Lebens, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen Institution zubr<strong>in</strong>gen. So etwa<br />
fanden Kastenbaum und Candy, dass nicht 4%, sondern 23% der Sterbefälle alter Menschen <strong>in</strong><br />
Detroit sich <strong>in</strong> Pfl egeheimen und ähnlichen Institutionen abspielten (1973: 17; vgl. auch Palmore:<br />
1976). Den gleichen Eff ekt konnten Hörl und Majce <strong>in</strong> Wiener Pfl egeheimen nachweisen, wo sehr<br />
kurze Verweilzeiten registriert wurden: Bereits e<strong>in</strong> halbes Jahr nach der Aufnahme waren 60%<br />
nicht mehr im Heim, 85% davon, weil sie gestorben waren (Hörl & Majce 1976, Majce 1978: 174).<br />
Die Institutionalisierungsraten <strong>für</strong> <strong>Hochaltrige</strong> liegen somit bei weitem höher als bei 4%, nach<br />
Scholta beispielsweise bei den 85- und Mehrjährigen Oberösterreichs bei über 21%. Wegen der<br />
vielfach unterjährigen Aufenthaltsdauer ist aber von noch höheren Institutionalisierungsraten<br />
auszugehen: „Da während e<strong>in</strong>es Jahres zwischen 20% und 30% der Heimpl ätze e<strong>in</strong> weiteres<br />
Mal vergeben werden und eher hochaltrige Personen <strong>in</strong> die Heime e<strong>in</strong>ziehen, ist der Institutionalisierungsgrad<br />
vermutlich noch höher.“ (Scholta).<br />
Wie <strong>für</strong> die off ene Altenhilfe gilt auch im Falle der Heime, dass die Materie der Betreuungs- und<br />
Pfl ege<strong>in</strong>frastruktur legistisch zu den Bundesländern resor tiert, was teils extr em unterschiedliche<br />
Regelungen zur Folge hat . So kommt es, dass pfl egebedürftige alte Menschen je nach<br />
Bundesland unterschiedliche Beiträge zu leisten und Vermögenswerte e<strong>in</strong>zusetzen haben,<br />
wenn sie ambulante Dienste oder Heimplätze <strong>in</strong> Anspruch nehmen. Besonders problematisch<br />
ersche<strong>in</strong>en diese unterschiedlichen Regelungen dann, wenn die K<strong>in</strong>der ersatzpfl ichtig werden<br />
– e<strong>in</strong>zig <strong>in</strong> Wien, Salzburg und Oberösterreich s<strong>in</strong>d sie davon ausgenommen. Scholta merkt<br />
hiezu an, dass eben diese Bundesländer auch den höchsten Ausbaugrad im Heimbereich aufweisen<br />
und schließt die Vermutung daran, dass e<strong>in</strong> pfl egebedürftiger alter Mensch sich dann<br />
eher zu e<strong>in</strong>er Übersiedlung <strong>in</strong>s Heim entschließen werde, wenn er davon ausgehen kann, dass<br />
die K<strong>in</strong>der nicht dadurch fi nanziell belastet werden (Scholta). Es ist bemerkenswert, wie groß<br />
die Unterschiede <strong>in</strong> den Vorstellungen der Bundesländer über die Standards, die Qualität und<br />
Angebots dichte s<strong>in</strong>d. So reichen die Bestimmungen über die Maximalzahl der Heimplätze pro<br />
Institution von 350 <strong>in</strong> Wien bis 50 <strong>in</strong> K ärnten, der Anteil der vorzusehenden E<strong>in</strong>zelzimmer ist<br />
höchst unterschiedlich, natürlich ebenso die Personalschlüssel.<br />
Die Notwendigkeit und S<strong>in</strong>nhaftigkeit e<strong>in</strong>er stark föderalen Gesetzgebung im Bereich der Heime<br />
wird auch von Michael Ganner <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag aus juristischem Blickw<strong>in</strong>kel bezweifelt,<br />
„zumal es sich um die Grundver sorgung ... <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ‚Sozialst aat’ handelt. Bundesweite e<strong>in</strong>heitliche<br />
M<strong>in</strong>deststandards ersche<strong>in</strong>en demn ach als Selbstverständlichkeit.“ (Ganner). Die<br />
unterschiedlichen Regelungen der Länder s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Teilbereich der (auch aus geriatrischer Sicht)<br />
<strong>in</strong>sgesamt problematischen strikten Trennung zwischen Gesundheitsbereich und Sozialbe-<br />
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HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
reich. Die starre Unterscheidung ersche<strong>in</strong>t Ganner als unzeitgemäß, weil e<strong>in</strong>e klare Grenzl<strong>in</strong>ie<br />
im Lichte der mediz<strong>in</strong>ischen und sozialen Entwicklung kaum gezogen werden kann. Er tritt <strong>für</strong><br />
die Aufhebung der Trennung von Pfl egebedürftigkeit und Krankheitsfall und die F<strong>in</strong>anzierung<br />
der Pfl egebedürftigkeit durch E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung <strong>in</strong>s Krankenversicherungsrecht e<strong>in</strong>. Dadurch würden<br />
die tatsächlich anfallenden pfl egebed<strong>in</strong>gten Kosten ebenso abg edeckt werden w ie jene im<br />
Krankheitsfall, die dar aus resultierende Mehrbel astung der Kr ankenkassen wäre durch Beitragserhöhungen<br />
und/oder Steuern zu kompensieren. Die derzeitige gesetzliche Lage mache<br />
wegen fehlender Zuständigkeit und Nichtfi nanzierung durch die Krankenkassen den Großteil<br />
der alten Menschen, die <strong>in</strong> Pfl egeheime aufgenommen werden, zu Sozialhilfeempfängern, so<br />
dass zur gesundheitlichen und fi nanziellen Krise auch noch das schmerzliche und erniedrigende<br />
Erlebnis des Statusverlusts komme, wenn vom gesamten Hab und Gut schließlich nur noch e<strong>in</strong><br />
ger<strong>in</strong>ges „Schonvermögen“ und Taschengeld verbleibt. Es besteht daher weiterh<strong>in</strong> dr<strong>in</strong>gender<br />
Handlungsbedarf h<strong>in</strong>sichtlich der F<strong>in</strong>anzierung der Pfl egebedürftigkeit, <strong>in</strong>sbesondere <strong>für</strong> die<br />
noch nicht endgültig gelöste Frage der so genannten Rund-um-die-Uhr-Betreuung zu Hause.<br />
Anzuerkennen ist, dass es (z. T. im Anschluss an Pfl egeskandale) verschiedene legistische<br />
Verbesserungen gab, etwa mit dem Sachwalterrechts-Änderungsgesetz und dem Heimaufenthaltsgesetz,<br />
welches Bestimmungen über die freiheitsbesc hränkenden Maßnahmen enthält.<br />
Weiters wurden <strong>in</strong> den letz ten Jahren e<strong>in</strong>ige gesetzliche Bestimmungen beschlossen, die die<br />
schwache Position gerade älterer Menschen im Altag (z. B. als Verbraucher/<strong>in</strong>nen) und <strong>in</strong> ihrer<br />
Rolle als Heimbewohner/<strong>in</strong>nen bzw. Patient/<strong>in</strong>nen verbessern. Dazu zählen das Konsumentenschutzgesetz,<br />
wo dem Senio ren rat auch die Befugnis e<strong>in</strong>er Verbandsklage e<strong>in</strong>räumt worden ist,<br />
das Heimvertragsgesetz und verschiedene Patienten- und Bewohnerrechte auf Landesebene.<br />
Ebenfalls zu nennen s<strong>in</strong>d das Patientenverfügungsgesetz und die Vorsorgevollmacht.<br />
Bei aller Anerkennung der Bedeutung der professionellen Pfl ege <strong>in</strong> den ambulanten und stationären<br />
E<strong>in</strong>richtungen wird die Hauptlast <strong>in</strong> der Betreuung alter Menschen zweifellos von den<br />
Familienangehörigen getragen, wie Josef Hörl <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag feststellt. Fast e<strong>in</strong>e halbe Million<br />
<strong>Österreich</strong>er<strong>in</strong>nen und <strong>Österreich</strong>er erbr<strong>in</strong>gt dauernde unentgeltliche Betreuungs- und Pfl egeleistungen,<br />
überwiegend <strong>für</strong> hochaltrige Familienmitglieder. Davon s<strong>in</strong>d schätzungsweise rund<br />
100.000 Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Ausm aß tätig, das zum<strong>in</strong>dest dem e<strong>in</strong>er Teilzeiterwerbstätigkeit<br />
entspricht. Zum hohen Zeitaufwand kommen die pr ivat zu tragenden Kosten, die g esamtgesellschaftlich<br />
Milliardenhöhe erreichen. Da s Pfl egegeld kann nur e<strong>in</strong>en Bruchteil der K osten<br />
abdecken, wenngleich festzuhalten ist, dass es von den pfl egenden Angehörigen – besonders<br />
von jenen, die Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er hohen Pfl egestufe betreuen – als e<strong>in</strong>e w ichtige sozialpolitische<br />
Errungenschaft angesehen wird. Die Qualit ät der Pfl ege, die von den Ang ehörigen –<br />
z. T. unterstützt durch ambulante oder teilstationäre Gesundheits- und Sozialdienste – erbracht<br />
wird, ist <strong>in</strong> der überwiegenden Zahl der Fälle von durchaus zufriedenstellender Qualität.<br />
Grundsätzlich wird die Betreuung <strong>in</strong> der Familie mit e<strong>in</strong>er gewissen Selbstverständlichkeit und<br />
e<strong>in</strong>er positiven Grundhaltung übernommen, doch letzten Endes führt Pfl ege gleichwohl fast immer<br />
zu Belastungen und ist <strong>für</strong> die meisten sogar mit e<strong>in</strong>er zum<strong>in</strong>dest phasenweisen Überbelastung<br />
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HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
verbunden. Rund e<strong>in</strong> Drittel der Betreuungspersonen genießt ke<strong>in</strong>e Unter stützung durch weitere<br />
Angehörige oder Bekannte oder durch Sozialdienste. Ange sichts der großen Bedeutung dieser<br />
Leistungen ist es zu bedauern, dass sich sowohl die Politik als auch die Interessensvertretungen<br />
nur verhältnismäßig wenig <strong>für</strong> die Lösung der Probleme pfl egender Angehöriger, z. B. <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e<br />
bessere Vere<strong>in</strong>barkeit von Pfl ege und Berufstätigkeit, e<strong>in</strong>setzen.<br />
Primär werden diese L eistungen von der mittler en und älteren Gener ation erbracht, im Alter<br />
zwischen 45 und 75 üben rund 10% der Bevölkerung dauernde Betreuungstätigkeiten <strong>für</strong> nahestehende<br />
Personen aus. Bemerkenswert hoch ist aber auch die Selbsthilfekapazität noch der<br />
ältesten Men schen, worunter <strong>in</strong>sbesondere Hilfeleistungen von hochbetagten Ehepar tnern<br />
<strong>für</strong>e<strong>in</strong>ander zu verstehen s<strong>in</strong>d. Etwas mehr als die Hälfte aller Betreuenden pfl egt e<strong>in</strong>en Eltern-<br />
oder Schwiegerelternteil, am häufi gsten ist die Konstellation „Tochter pfl egt Mutter“. Von den<br />
Betreuungspersonen s<strong>in</strong>d rund 80% Frauen, und diese s<strong>in</strong>d überdies vom Zeitaufwand stärker<br />
engagiert als Männer. Dass Pfl ege überwiegend „weiblich“ ist, hängt mit den althergebrachten<br />
Rollenbildern, aber auch damit zusammen, dass Männer – wenn überh aupt – üb licherweise<br />
erst nach Beendigung des Berufs lebens betreuend tätig werden.<br />
So unabd<strong>in</strong>gbar derzeit die Familien betreuung schon alle<strong>in</strong> aus Gründen der F<strong>in</strong>anzierbarkeit und<br />
der Personalsituation ist, so ungewiss ist die zukünftige Entwicklung. Es s<strong>in</strong>d widersprüchliche<br />
Tendenzen und Trends zu beobachten. Auf der e<strong>in</strong>en Seite ist e<strong>in</strong>e Schwächung des familiären<br />
Pfl egepotenzials antizipierbar, weil e<strong>in</strong>e verstärkte Sogwirkung des <strong>Arbeit</strong>s marktes auf die Frauen<br />
zu erwarten ist. Nach e<strong>in</strong>er Prognose der <strong>Österreich</strong>ischen Raumordnungskonferenz werden im<br />
Jahr 2031 m<strong>in</strong>destens 43% der 55- bis 64-Jäh rigen Frauen erwerbstätig se<strong>in</strong>, während die derzeitige<br />
Erwerbsquote nur 13% beträgt (ÖROK 2004: 93). Und unter erwerbstätigen Frauen liegt die<br />
Betreuungsquote merklich niedriger als unter nichterwerbstätigen. Darüber h<strong>in</strong>aus gibt es auch<br />
Anzeichen da<strong>für</strong>, dass sich gerade unter den höheren sozialen Schichten die pfl egekulturellen<br />
E<strong>in</strong>stellungen <strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>er verstärkten Auslagerung von Pfl ege und Betreuung an externe<br />
Anbieter von solchen Dienstleistungen wandeln.<br />
Auf der anderen Seite wirkt sich <strong>für</strong> die Familienbetreuung günstig aus, dass – wie den Ausführungen<br />
bei Hörl bzw. Kytir zu entnehmen ist – <strong>in</strong> den n ächsten beiden Jahrzehnten vor allem<br />
bei den Fr auen der Anteil der Verwitweten zugunsten der Verheirateten stark zurückgehen<br />
bzw. der Anteil der Alle<strong>in</strong>wohnenden weniger stark zunehmen wird als der <strong>in</strong> privaten Mehrpersonenhaushalten<br />
wohnenden alten Men schen. Der Schwerpunkt der Betreuung dürfte sich<br />
daher noch stärker als bisher <strong>in</strong> Richtung Partnerunterstützung verschieben. Die immer höheren<br />
Scheidungsraten, die spürbare Lücken im bisher e<strong>in</strong>drucksvoll funktionierenden Solidarnetzwerk<br />
der Familien bewirken könnten, werden zum<strong>in</strong>dest teilweise durch Wiederverheiratungen<br />
kompensiert. Die Problematik der entfallenden <strong>in</strong>tergenerationellen Unterstützung <strong>in</strong>folge der<br />
ständig wachsenden Zahl von k<strong>in</strong>derlosen Paaren wird sich im Pfl egebereich erst langfristig –<br />
ab etwa 2030 – auswirken.<br />
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HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
Auf e<strong>in</strong>en bisher – zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> der öff entlichen Diskussion – unterschätzten Aspekt der Hochaltrigkeit<br />
weisen die meisten Autor/<strong>in</strong>nen des Berichts h<strong>in</strong>, nämlich die zu erwartende enorme<br />
Zunahme der Demenzproblematik. Es ist bis 2050 mit e<strong>in</strong>er Vervierfachung der Anzahl demenzkranker<br />
Menschen (2000: 90.500 – 2050: 234.000) zu rechnen. Rappold et al. machen auf den<br />
vielfach nicht bekannten Umstand aufmerksam, dass Demenz die Hauptursache <strong>für</strong> Pfl egebedürftigkeit<br />
im Alter i st. Auf Demenz geht nicht weniger als die Hälfte al ler Pfl egebedürftigkeit<br />
zurück, ebenso i st <strong>für</strong> fast die Hälfte al ler Pfl egeheime<strong>in</strong>weisungen Demenz verantwortlich<br />
(Rappold et al.). Gleichzeitig ist Demenz die Hauptbelastung – psychisch, physisch, fi nanziell<br />
– <strong>für</strong> die Familie, denn sie impliziert <strong>für</strong> die pfl egenden Angehörigen die Notwendigkeit e<strong>in</strong>er<br />
weitgehenden Rund-um-die-Uhr-Zuwendung. Die formelle ambulante Pfl ege sei h<strong>in</strong>gegen nur<br />
unzureichend auf demenziell erkrankte Menschen e<strong>in</strong>gestellt, was sich daran zeige, „dass den<br />
angebotenen Hilfen häufi g e<strong>in</strong> zu enges Pfl egeverständnis zu Grunde (liege), wonach Bedürfnisse<br />
oft auf elementare körperliche Selbst<strong>für</strong>sorgedefi zite beschränkt s<strong>in</strong>d.“ (Rappold et al.).<br />
Nicht zuletzt sei auch zu kritisieren, dass <strong>in</strong> der Praxis der Pfl egegeld-E<strong>in</strong>stufung der spezielle<br />
Bedarf der Demenz kranken unterbewertet werde bzw. die E<strong>in</strong>st ufung des Pfl egebedarfs von<br />
fachfremden Ärzt/<strong>in</strong>nen vorgenommen werde, die mit der Demenzproblematik nur unzureichend<br />
vertraut wären.<br />
Dass die geistig-psychischen Verände rungen e<strong>in</strong>e Dimension <strong>für</strong> die Beurteilung der Lebensqualität<br />
von Hochbetagten darstellen, <strong>für</strong> deren Erforschung <strong>in</strong> der Sozialgerontologie nur wenig<br />
Erfahrung besteht, unterstreicht Anton Amann <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>leitenden Beitrag zur Lebensqualität.<br />
Aus der gegenwärtigen Sicht der Forschung wird immer deutlicher sichtbar, dass die zugrunde<br />
gelegten Lebensqualitätskonzepte ohne die Dimension psychisch-geistiger Veränderungen nicht<br />
mehr auskommen können werden. Das bedeutet e<strong>in</strong> völliges Umdenken <strong>in</strong> der Qualifi zierung<br />
des Personals, <strong>in</strong> der Unterstützung der pfl egenden Angehörigen, <strong>in</strong> der Pfl egegelde<strong>in</strong>stufung<br />
und im generellen Umgang mit den Betroff enen, aber auch <strong>in</strong> der Prävention.<br />
Zwar steht fest, dass sich nicht nur die Lebenserwartung erhöht, sondern auch die Lebensqualität<br />
wesentlich verbessert hat, zugleich gibt es Risikogruppen und Risiko situationen, die mit<br />
diesem generellen Urteil nicht übere<strong>in</strong>stimmen. Daraus erfl ießt e<strong>in</strong> hohes Maß an Variabilität,<br />
Unsicherheit und Ambivalenz der Vorstellungen über das Alter. Amann drückt die bestehende<br />
Unsicherheitssituation so aus: „Je höher das Lebensalter untersuchter Bevölkerungs gruppen,<br />
desto unklarer s<strong>in</strong>d die Vorstellungen darüber, wie beschaff en deren L ebensqualität sei u nd<br />
wodurch diese bestimmt werde.“<br />
E<strong>in</strong> großer Teil der Altersbilder kreist um die beiden Pole entweder positiv oder negativ bewerteter<br />
Konstellationen – Zeit <strong>für</strong> die schönen D<strong>in</strong>g e des Lebens und Belastung <strong>für</strong> die Familie,<br />
die Gesellschaft und die Betroff enen selbst. Die entstandene Vorstellungswelt des hohen und<br />
schönen Alters hängt mit dem „Kreuzzug“ der Pharma- und Kosmetik<strong>in</strong>dustrie zusammen, die<br />
gegen das Älterwerden mit Schlagworten wie „anti-ag<strong>in</strong>g“ und „active ag<strong>in</strong>g“ angetreten ist. Die<br />
erzeugten Erwartungen s<strong>in</strong>d aber häufi g übersteigert. Die gesundheitlichen Fortschritte gelten<br />
vor allem <strong>für</strong> das „Dritte Alter“ ab 60, während das „Vierte Alter“ ab etwa 80 oder 85 den Blick<br />
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HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
auf die Befristung des Lebens eröff net. Es gibt fraglos verbesserte Lebensbed<strong>in</strong>gungen und verbesserte<br />
Diag nose- und Therapiemöglichkeiten <strong>in</strong> der Mediz<strong>in</strong>, ohne dass sich die Entwicklung<br />
der objektiven Lebensbed<strong>in</strong>gungen <strong>für</strong> die nächsten Jahrzehnte damit prognostizieren ließe.<br />
Wie auch andere Autor/<strong>in</strong>nen des Berichts betont Amann die <strong>in</strong>nere Diff erenzierung der Gruppe<br />
der über 60-Jährigen. Deren Heterogenität ist stärker als jene zwischen den jüngeren Erwachsenen<br />
und den Alten, was <strong>in</strong> den verschiedensten Lebensbed<strong>in</strong>gungen, vom Gesundheitszustand<br />
über die ökonomischen Lagen bis zu den sozialen Netzwerken, deutlich zum Ausdruck kommt.<br />
Amann prägt <strong>in</strong> diesem Zusammenhang den Begriff der „Prim är- und Sekundärselektivität“,<br />
wobei er unter ersterer die im früheren Leben auftretenden Bed<strong>in</strong>gungen und unter letzterer das<br />
Herausfallen aus familiären Sozialbeziehungen im hohen Alter versteht. Was die Konzeptualisierung<br />
von Lebensqualität angeht, unterscheidet er „objektive Lagebed<strong>in</strong>gungen“ und „subjektives<br />
Wohlbefi nden“ und führt beides <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em „<strong>in</strong>tegrativen Ansatz“ zusammen. Das Zusammenfallen<br />
von guten L ebensbed<strong>in</strong>gungen und positivem Wohlbefi nden wird <strong>in</strong> der engli schsprachigen<br />
Forschungstradition als „Well-Be<strong>in</strong>g“ bezeichnet. Allerd<strong>in</strong>gs bee<strong>in</strong>fl ussen vermittelnde Größen<br />
das Ausmaß der Wirkung objektiver Determ<strong>in</strong>anten systematisch, weshalb e<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong> den<br />
seltensten Fällen e<strong>in</strong> direkter Zusammenhang zwischen externen Bed<strong>in</strong>gungen und subjektiver<br />
Lebens qualität nachgewiesen werden k ann und anderer seits rekursive Wirkungen bestehen.<br />
Beispielsweise bee<strong>in</strong>fl usst die subj ektive Bewertung der eig enen Gesundheit das subjektive<br />
Wohlbefi nden <strong>in</strong> weit stärkerem Maße als die obj ektiv diagnostizierte Gesundheit, subjektiv<br />
positiv beurteilte Gesundheit und positiv beurteilte soziale Kontakte korrelieren ihrerseits wieder<br />
klar mit allgeme<strong>in</strong>er Lebenszufriedenheit.<br />
Amann skizziert e<strong>in</strong>e Neukonzeption der Lebensqualität im hohen Alter, welche er im Begriff<br />
der „Selbstaufmerksamkeit“ zusammenfasst. Diese bedeutet, e<strong>in</strong> Augenmerk auf den eigenen<br />
Lebenslauf zu haben und beiläufi ge, nicht zielgerichtete Entwick lungen zu vermeiden. Angesichts<br />
e<strong>in</strong>es langen Lebens wird e<strong>in</strong> „Dah<strong>in</strong> leben“ uns<strong>in</strong>nig, Nachdenken über die eig enen<br />
Ziele und Wünsche, Antizipation der eigenen Möglichkeiten und Grenzen werden wichtig und<br />
Voraussetzungen <strong>für</strong> e<strong>in</strong> „erfolgreiches“ Altern. Voraussetzung da<strong>für</strong> ist, dass alte Menschen<br />
nicht als Objekte mediz<strong>in</strong>ischer, pfl egerischer und psychosozialer Program me und Interventionen<br />
betrachtet werden, sondern als Menschen, die selbstbestimmt und selbstverantwortlich ihr<br />
Leben führen können. Diese Perspektive gilt grundsätzlich <strong>für</strong> alle, auch wenn gesundheitliche<br />
und soziale Veränderungen e<strong>in</strong>treten, die E<strong>in</strong>schränkungen und Defi zite nach sich ziehen.<br />
Wesentlichen E<strong>in</strong>fl uss sowohl auf die subjektiven als auch auf die objektiven Kom ponenten<br />
der Lebensqualität haben die Beziehungen zwischen den Generationen. Dass über die Zukunft<br />
des Generationenverhältnisses ke<strong>in</strong> Konsens herrscht, mag nicht weiter verwundern – viele<br />
divergierende Interessen s<strong>in</strong>d davon berühr t. Erstaunlicherweise divergieren aber auch die<br />
entsprechenden Gegenwartsdiagnosen – sie reichen von zerfallenden Familien und erbitterten<br />
Generationenkonfl ikten bis zum harmonischen Mite<strong>in</strong>ander von Alt und Jung. Auch Expert/<strong>in</strong>nen<br />
s<strong>in</strong>d sich dar<strong>in</strong> nicht e<strong>in</strong>ig. In se<strong>in</strong>em Beitrag verweist Majce anhand von Beispielen darauf,<br />
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HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
dass <strong>in</strong> der „veröff entlichten“ Me<strong>in</strong>ung die negativen Bilder überwiegen. E<strong>in</strong>e Reihe von Trends<br />
sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e solche E<strong>in</strong>schätzung auch durchaus plausibel zu machen:<br />
Das wachsende F<strong>in</strong>anzierungsproblem bei den Pensionen, im Gesundheitswesen und auf dem<br />
Pfl egesektor <strong>in</strong>folge der demographischen Entwicklung ist nur zu deutlich und höchst aktuell,<br />
Verschärfungen s<strong>in</strong>d absehbar; gesellschaftlicher Wertewandel prägt <strong>in</strong> unterschiedlichem Maße<br />
die <strong>in</strong> unterschiedlichen, historisch bed<strong>in</strong>gten Umständen geprägten Generationen, von den<br />
traditionellen Alten über die „Neuen Alten“ bis zum jungen „narzisstischen Sozialisationstypus“,<br />
der, von e<strong>in</strong>er mächtigen Werbemasch<strong>in</strong>erie auf Konsum zugerichtet, egozentrisch nach Lust<br />
und Spaß strebe; zunehmende Diff eren zierung der Lebens stile und (Zusammen-) Lebens formen,<br />
was vielfach auch als e<strong>in</strong> Ause<strong>in</strong>anderdriften der Altersgruppen empfunden wird.<br />
Ausländische Untersuchungen zeichnen jedoch e<strong>in</strong> anderes, pos itives Bild. Daher g<strong>in</strong>g m an<br />
auch <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> der Fr age der Generationensolidarität und ihrer al lfälligen Gefährdungen<br />
nach. In se<strong>in</strong>em Beitrag stellt Majce Ergebnisse aus zwei österreichischen Generationensurveys<br />
vor, welche die <strong>in</strong>ternationalen Befunde bestätigen: Die Familie, und <strong>in</strong> etwas abgeschwächtem<br />
Maße die weitere Verwandtschaft und das Freundesnetzwerk, erwiesen sich als außerordentlich<br />
tragfähiges solidarisches System der Sicherung gegen Notlagen. Kaum jemand gab an, im<br />
Bedarfsfall völlig alle<strong>in</strong> gelassen worden zu se<strong>in</strong>. Neben den Jüngsten (bis 30-Jährigen) s<strong>in</strong>d es<br />
die Hochbetagten, die am häufi gsten Hilfe benötigen – und auch erhalten. Als ausgesprochene<br />
Geber-Generation erweisen sich h<strong>in</strong>gegen die Jung-Alten, sie s<strong>in</strong>d weit davon entfernt, dem Klischee<br />
der Hilfeempfänger zu entsprechen. Die primäre Hilfeperson ist weiblich – den Jüngeren<br />
hilft <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie die Mutter, bei den Alten s<strong>in</strong>d es die Töchter.<br />
Es ist s<strong>in</strong>nvoll, die Generationenbeziehung der persönlichen, primär familiären Kontakte vom<br />
„Generationenverhältnis“, dem unpersönlichen Bezug von Altersgruppen aufe<strong>in</strong>ander, wie es<br />
z. B. im Reden vom „Generationenvertrag“ zum Ausdruck kommt, zu unterscheiden (Kaufmann<br />
1997: 19). Dieses Generationenverhältnis ist auf gesamtgesellschaftlicher Ebene wirksam und<br />
natürlich weniger eng als die Gene rationenbeziehungen. Aber auch auf dieser Ebene waren <strong>in</strong><br />
den Untersuchungen kaum H<strong>in</strong>weise auf reale Konfl ikte auszumachen. Die 1998er Studie vermittelte<br />
im Gegenteil den E<strong>in</strong>druck e<strong>in</strong>er zwar distanzierten, <strong>in</strong>sgesamt aber durchaus freundlichen,<br />
wohlwollenden, wechselseitigen Akzeptanz mit beachtlichen Solidaritäts signalen. Dieser<br />
<strong>in</strong>sgesamt positiven Moment aufnahme des Jahres 1998 folgte 2005 e<strong>in</strong>e zweiter Survey, so dass<br />
E<strong>in</strong>drücke über die Entwicklung des Generationenverhältnisses bzw. der Generationenbeziehung<br />
gewonnen werden konnten. Majce hebt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag hervor, dass im betrachteten 7-Jahres-<br />
Zeitraum die <strong>in</strong>tegrativen Momente sogar zugenommen hatten und die konfl ikthaften Kräfte per<br />
Saldo zurückgegangen waren, <strong>in</strong>sbesondere im (groß-) städtischen Bereich. Das sei angesichts<br />
der <strong>in</strong> diesem Zeitraum zum<strong>in</strong>dest im öff entlichen Generationendiskurs feststellbaren Verschärfung<br />
der Konfl iktrhetorik nicht erwartbar gewesen.<br />
Die Hochbetagten werden am wenigsten von allen Altersgruppen als <strong>in</strong> Generationenkonfl ikte<br />
Involvierte wahrgenommen. Sie weisen ihrerseits die harmonischsten Ansichten über das<br />
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HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
Generationenverhältnis auf, s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> Bezug auf die Zukunft (die sie jedoch kaum noch<br />
betriff t) am skeptischsten von allen Alters gruppen. Majce zeigt, dass die Haltung den Hochbetagten<br />
gegenüber auf gesamtgesellschaftlicher Ebene höchst ambivalent ist: Zwar konzediert<br />
man ihnen, die Unbe teiligtsten bei Alt-Jung-Ause<strong>in</strong>andersetzungen zu se<strong>in</strong>, doch folgt daraus<br />
nicht, dass ihnen das besondere Sympathien e<strong>in</strong>brächte. Im Gegenteil, Majce referiert Daten,<br />
wonach die 75+-Jährigen mit nur 3% der Nennungen sehr deutlich h<strong>in</strong>ter allen anderen Altersgruppen<br />
bei der Fr age rangierten, <strong>für</strong> welche Altersgruppe, abgesehen von der eigenen, man<br />
am ehesten Sympathien hege. Es ist jedoch nicht mangelnde Zuwendung oder Liebe, die ihnen<br />
am meisten abgeht, sondern fehlendes Verständnis und Respekt.<br />
Von allem Anfang war die Gesu ndheit e<strong>in</strong> K ernbereich der Geron tologie/Geriatrie. Zwei Beiträge<br />
s<strong>in</strong>d dieser zentralen Thematik <strong>in</strong>sbesondere des hohen Alters gewidmet. Franz Böhmer<br />
und Thomas Frühwald mac hen deutlich, d ass die Geriatrie mit e<strong>in</strong>er anderen „Philosophie“<br />
an die Patient/<strong>in</strong>nen herang ehen muss als die übliche Mediz<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>erseits wird klar gestellt,<br />
dass Altern an sich ke<strong>in</strong>e Krankheit ist, wohl aber als e<strong>in</strong> Risikofaktor gelten muss. Krankheit sei<br />
aber umgekehrt e<strong>in</strong>e wesentliche Determ<strong>in</strong>ante des Alters, wobei <strong>für</strong> die Erkrankungen im Alter,<br />
zumal im hohen Alter, die Multimorbidität 5 charakteristisch ist. So können im Durchschnitt bei<br />
70- und Mehrjährigen je nach Untersuchung drei bis neun zugleich nebene<strong>in</strong>ander bestehende<br />
Krankheiten erwartet werden. Während bei den 65- bis 69-Jährigen 9% m<strong>in</strong>destens sieben diagnostizierbare<br />
körperliche Bee<strong>in</strong>trächtigungen zu erwarten s<strong>in</strong>d, beträgt dieser Prozentsatz bei<br />
den 80- und Mehrjährigen bereits 30% (Böhmer & Frühwald). Diese Multimorbidität verlangt<br />
spezielle diagnostische und therapeutische Ansätze, jede Therapie e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>z elerkrankung<br />
muss auch nach ihren Folgen <strong>für</strong> die anderen Erkrankungen überprüft werden. Es geht vielfach<br />
nicht um Heilung, wie bei jüngeren Patient/<strong>in</strong>nen, und um e<strong>in</strong>e Aufstellung von Prioritäten bei<br />
Diagnose und Therapie. Das laufe auf e<strong>in</strong>e Beschränkung auf e<strong>in</strong>e noch effi zient zu gestaltende<br />
Anzahl der Maßnahmen h<strong>in</strong>aus. Der Erfolg bei jüngeren Patient/<strong>in</strong>nen wird daran bemessen,<br />
<strong>in</strong>wieweit Heilung, Rückführung <strong>in</strong>s <strong>Arbeit</strong>sleben und Wiedererlangung der Normalität der Funktionen<br />
erzielt werden können. Anders beim geriatrischen Patient/<strong>in</strong>nen: hier ist die Erhaltung<br />
der Selbständigkeit und der von ihm selbst defi nierten Lebensqualität Ziel der mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Bemühungen.<br />
Mit der Multimorbidität ergibt sich oft das Anschlussproblem der Multimedikation, das ist die<br />
gleichzeitige Verordnung von fünf oder mehr Medikamenten. Damit ist das Risiko von Fehlmedikationen<br />
bzw. unerwünsch ten Arzneimittelwirkungen verbunden. Nach Böhmer und Frühwald<br />
ist e<strong>in</strong>e solche Fehlmedikation der Hauptgrund <strong>für</strong> die bei älteren Patienten bis zu sieben Mal<br />
häufi ger als bei jüngeren Patienten auftretenden unerwünschten Arzneimittelwirkungen (Böhmer<br />
& Frühwald).<br />
5 Unter „Multimorbidität“ oder „Polypathie“ versteht man das gleichzeitige Bestehen mehrerer Krankheiten bei e<strong>in</strong>er<br />
e<strong>in</strong>zelnen Person.<br />
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HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
Neben der Multimorb idität führen di e Autoren als weitere Charakteristika des hochaltrigen<br />
Patienten die Chronizität und das Immobili sationssyndrom an, welche g eme<strong>in</strong>sam und <strong>in</strong><br />
Wechselwirkung letztlich zum Zustand der „frailty“ führen, dem Auftreten von Gebrech lichkeit,<br />
H<strong>in</strong>fälligkeit, Autonomie verlust bis h<strong>in</strong> zur Pfl egebedürftigkeit. Wenig bekannt ist <strong>in</strong> der Öff entlichkeit,<br />
wie verbreitet im gesamten Pfl egebereich, sowohl daheim als auch <strong>in</strong> den Institutionen,<br />
die Mangelernährung ist, nämlich bei bis zu 50% der geriatrischen Patient/<strong>in</strong>nen. Böhmer und<br />
Frühwald kommentieren diesen Umstand mit der alarmierenden Feststellung, dass die „hohe<br />
Prävalenz von Unterernährung <strong>in</strong> Pfl egeheimen e<strong>in</strong>erseits den Transfer unterernährter geriatrischer<br />
Patienten von Akutkrankenhäusern <strong>in</strong> die Langzeit<strong>in</strong>stitutionen refl ektiert, andererseits<br />
aber auch e<strong>in</strong>e fortgesetzt schlechte Ernährungssituation im Pfl ege heim“ <strong>in</strong>diziert (Böhmer &<br />
Frühwald). E<strong>in</strong>e Meldung des Mediz<strong>in</strong>ischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen<br />
Deutschlands Ende August 2007 macht deutlich, wie aktuell und drängend dieses Problem ist:<br />
E<strong>in</strong>e Überprüfung von 40.000 Pfl egefällen im privathaushaltlichen wie auch im <strong>in</strong>stitutionellen<br />
Bereich <strong>in</strong> den Jahren 2004 bis 2006 ergab, dass 30% im stationären und 34% im ambulanten<br />
Bereich Defi zite bei der Ernährungs- und Flüssigkeitsversorgung aufwiesen, wobei diese Zahlen<br />
bereits als e<strong>in</strong> Fortschritt gegenüber dem davor liegenden Drei-Jahres-Zeitraum registriert<br />
wurden (Spitzenverbände der gesetzliches Pfl ege kassen 2007). Immerh<strong>in</strong> gibt es <strong>in</strong> Deutschland<br />
e<strong>in</strong>e derartige Qualitätskontrolle <strong>in</strong> der Form e<strong>in</strong>er durch den Mediz<strong>in</strong>ischen Dienst der<br />
gesetzlichen Krankenkassen im Drei-Jahres-Rhythmus erfolgenden Erhebung und umfassenden<br />
Berichtlegung über die Situation und Entwicklung der Pfl egequalität bei häuslicher Pfl ege und<br />
<strong>in</strong> Pfl egeheimen. In <strong>Österreich</strong> feh lt h<strong>in</strong>gegen e<strong>in</strong> so lches Instrument und fehlen daher auch<br />
die Grund daten über die pfl egerische Versorgung (Mayer 2007), so dass nur Analogieschlüsse<br />
möglich s<strong>in</strong>d.<br />
Die Wichtigkeit von gesunder Ernährung und Bewegung – g erade auch im for tgeschrittenen<br />
Alter – wird von Thomas Dorner und Anita Rieder betont. Angesichts der mit gutem Grund erfolgenden<br />
nahezu täglichen Warnungen vor Übergewicht und Bewegungsarmut ist es notwendig,<br />
<strong>in</strong> Bezug auf die hochbetagte Bevölkerung auch vor der gegenteiligen Gefahr zu warnen. Dorner<br />
und Rieder verweisen auf Untersuchungen, wonach Untergewicht bei hochbetagten Personen<br />
das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko erhöht. Selbst ger<strong>in</strong>ge Verluste an Körpergewicht lassen<br />
die Sterblichkeits wahrsche<strong>in</strong>lichkeit ansteigen, während milde F ormen von Übergewicht bei<br />
Personen im Alter von 65+ ke<strong>in</strong> erhöhtes Mortalitätsrisiko darstellen. Ebenso bedeutsam <strong>für</strong><br />
körperliche und geistige Fitness wie gesunde Ernährung ist die regelmäßige körperliche Aktivität,<br />
wobei hervorgehoben werden kann, dass dem Krafttra<strong>in</strong><strong>in</strong>g <strong>in</strong>sbesondere als Sturzprävention,<br />
aber auch zwecks Optimierung des Stoff wechsels (Insul<strong>in</strong>resistenz), Blutdrucksenkung und<br />
Abbau von Fettgewebe größere Bedeutung zukommt als dem Ausdauer tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g. Selbst die<br />
Gedächtnisleistung konnte als positiv bee<strong>in</strong>fl ussbar durch Krafttra<strong>in</strong><strong>in</strong>g nachgewiesen werden<br />
(Dorner & Rieder).<br />
Nicht nur, aber auch und nicht unerheblich, ist der Gesundheitszustand vom Gesundheitsverhalten<br />
abhängig, d. h. e<strong>in</strong> Großteil der Risikofaktoren <strong>für</strong> spätere chronische Leiden ist durchaus<br />
durch eigenes Verhalten kontrollierbar. Von besonderem Interesse s<strong>in</strong>d daher die Befunde, die<br />
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HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
Dorner und Rieder über da s Gesundheitsverhalten berichten. Bemer kenswert s<strong>in</strong>d dabei die<br />
geschlechtsspezifi schen Unterschiede: Anders als <strong>in</strong> jüngeren Jahren s<strong>in</strong>d es im höheren Alter<br />
(75+) die Männer , die e<strong>in</strong>en g esundheitsdienlicheren Lebensstil pfl egen. Sie betätigen sich<br />
körperlich mehr als die Frauen dieses Alters und haben auch seltener Adipositas. Dorner und<br />
Rieder berichten auch von Studien, wonach alte Männer eher als alte Fr auen grippegeimpft<br />
s<strong>in</strong>d und auch sonst häufi ger Vorsorgeuntersuchungen <strong>in</strong> Anspruch nehmen (Dorner & Rieder).<br />
So wichtig regelmäßige körperliche Aktivität wäre – es wird empfohlen, täglich oder fast täglich<br />
dadurch <strong>in</strong>s Schwitzen zu kommen –, so wenig wird sie <strong>in</strong>sbesondere mit wachsenden Alter<br />
praktiziert: die Hälfte der über 75-Jährigen Männer und zwei Drittel der über 75-Jährigen Frauen<br />
Wiens kommen „nie“ durch körperliche Bewegung <strong>in</strong>s Schwitzen, während es über alle Altersgruppen<br />
h<strong>in</strong>weg nur 15% bzw. 24% s<strong>in</strong>d (Dorner & Rieder). Dabei ist freilich zu berücksichtigen,<br />
dass die gesundheitsbed<strong>in</strong>gten Mobilitätse<strong>in</strong>bußen, die ja bei den höch sten Altersgruppen<br />
überproportional ansteigen, e<strong>in</strong>en Teil dieses Bewegungsdefi zits erklären. Auch beim gesundheitsbezogenen<br />
Vorsorgeverhalten ließe s ich off enbar noch vieles verbessern, denn sowoh l<br />
bei der Grippeschutzimpfung als auch bei den Vorsorgeuntersuchungen berichten Dorner und<br />
Rieder zwar von wachsenden, wiewohl <strong>in</strong>sgesamt <strong>in</strong>tensivierungsbedürftigen Anteilen, je älter<br />
man ist, sowie auch <strong>in</strong> beiden Bereichen wieder von abfallenden Prozentsätzen jeweils <strong>in</strong> der<br />
höchsten Altersgruppe der über 75-Jährigen.<br />
Je höher die Altersgruppe, desto größer ist der Anteil derjenigen, die (m<strong>in</strong>destens) e<strong>in</strong>en Spitalsaufenthalt<br />
im letzten Jahr verzeichnen. Darüber h<strong>in</strong>aus steigt auch die Aufenthaltsdauer (Dorner<br />
& Rieder). Von Akut erkrankungen abgesehen, ist das der Tatsache zuzuschreiben, dass das<br />
Sterben sich, historisch gesehen, zunehmend <strong>in</strong> die Instit utionen, die Spitäler und (Pfl ege-)<br />
Heime verlagert hat – und zugleich der Tatsache, dass das Sterben sich immer stärker auf die<br />
Hochbetagten konzentriert.<br />
Alle<strong>in</strong> zwischen 1951 und 1974 hat sich <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> der Anteil der <strong>in</strong> Krankenanstalten gestorbenen<br />
Menschen an allen Gestorbenen von rund 30% auf 60% verdoppelt (Reichardt 1976: 57).<br />
Diese Entwicklung ist so markant, dass der Soziologie Robert Reichardt den Prozentsatz der<br />
Todesfälle, die <strong>in</strong> Krankenhäusern stattfi nden, geradezu als „Moderni sierungs <strong>in</strong>di kator“ <strong>für</strong> e<strong>in</strong><br />
Land bezeichnet hat. Mittlerweile hat, so stellt Sab<strong>in</strong>e Pleschberger <strong>in</strong> ihrem Beitrag über „Leben<br />
und Sterben <strong>in</strong> Würde“ fest, trotz der nach wie vor dom<strong>in</strong>ierenden Rolle des Krankenhauses als<br />
Sterbeort, e<strong>in</strong>e bemerkenswerte weitere Verschiebung, nämlich jene h<strong>in</strong> zu den Pfl egeheimen,<br />
stattgefunden. Im Zeit raum von nur 18 Jahren zwischen 1988 und 2005 ist <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> der Anteil<br />
an Sterbefällen <strong>in</strong> Pfl egeheimen um das 2½-fache angestiegen (Pleschberger).<br />
Jedenfalls wird es durch diese Entwicklungen zunehmend professionellen Kräften, die mit Sterbenden<br />
konfrontiert s<strong>in</strong>d, überlassen, die Situation Sterbender zu gestalten und die Sterbenden<br />
zu begleiten (vgl. Schmitz-Scherzer 1983: 167). Diese s<strong>in</strong>d jedoch vielfach auf diese Auf gabe<br />
nicht ausreichend vorbereitet, und ebenso wenig eignen sich die herkömmlichen Organisationsstrukturen<br />
und das Selbstverständnis der Krankenhäuser – selbst der geriatrischen oder der<br />
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HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
Pfl egeheime – da<strong>für</strong>. Spitäler, aber auch Pfl egeheime, s<strong>in</strong>d traditionellerweise auf Heilen, auf<br />
Erfolg h<strong>in</strong> orientiert. Unheilbare kranke (alte) Menschen, denen nur noch durch <strong>in</strong>tensive emotionelle<br />
Zuwendung und Gespräche das Sterben erleichtert werden könnte, gelten tendenziell <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er solchen Krankenhauskultur als Fehlschläge, die noch dazu jene Zeit kosten, welche man<br />
„erfolgversprechenderen Fällen“ zuwenden könnte. E<strong>in</strong>e Reihe von Untersuchungen <strong>in</strong> Spitälern<br />
und Altersheimen bestätig t, dass e<strong>in</strong> erheblicher Prozentsatz des mediz<strong>in</strong>i schen Personals,<br />
des Pfl egepersonals und der Ärzte, sich scheut, mit den Betroff enen über den nahenden Tod zu<br />
sprechen bzw. Schuld- und Versagensgefühle entwickelt, wenn jemand stirbt (vgl. z. B. Jenull-<br />
Schiefer et al. 2006, Knobl<strong>in</strong>g 1986: 230, Schnoor & Sendzik 1986: 172).<br />
Das bedeutet <strong>in</strong>sbesondere <strong>für</strong> das Krankenhaus die Notwendigkeit, neben der Heilungsorientierung<br />
e<strong>in</strong>e spezifi sch geriatrische Orientierung <strong>in</strong> die Handlu ngs vollzüge und Haltungen zu<br />
<strong>in</strong>tegrieren. Der Tod, betonen Böhmer und Frühwald, ist <strong>in</strong> der Geriatrie nicht als der absolute<br />
Gegner zu sehen, der e<strong>in</strong> Versagen ärztlicher und pfl egerischer Bemühungen signalisiert. E<strong>in</strong><br />
wesentlicher, nichtsdestoweniger aber immer noch zu wenig beachteter Aspekt der Altersmediz<strong>in</strong><br />
ist daher der palliative. Obwohl die bei weitem überwiegende Zahl der Menschen, die sterben,<br />
geriatrische Patienten s<strong>in</strong>d, profi tieren gerade sie bisher am wenigsten von der Fortschritten<br />
von Palliativmediz<strong>in</strong> und Palliativpfl ege (Böhmer & Frühwald).<br />
Noch s<strong>in</strong>d, so Pleschberger <strong>in</strong> ihrem Beitrag, Qualifi kationsdefi zite bei den Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen<br />
h<strong>in</strong>sichtlich des Umgangs mit sterbenden hoch betagten Menschen und ihren Ang ehörigen<br />
nicht zu übersehen. Hie<strong>für</strong>, so wie <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en adäquaten Umgang mit ethischen Entscheidungen<br />
am Lebens ende, ist das Potenzial von Hospizarbeit und Palliative Care gewaltig, und die Entwicklungen<br />
<strong>in</strong> Öst erreich zeigen auch hohe Reson anz. Deutlich wird, dass die entstehenden<br />
spezialisierten Versor gungs strukturen im Bereich Palliative Care, wie auch die ehrenamtliche<br />
Hospizarbeit e<strong>in</strong>en wichtigen Beitrag zur verbesserten Ver sorgung aller Menschen am Lebensende<br />
leisten. Mit Blick auf die Zielgruppe hochbetagter sterbender Menschen, die häufi g auch<br />
demenziell verändert s<strong>in</strong>d, sche<strong>in</strong>en die <strong>in</strong> den Konzepten <strong>in</strong>newohnenden Ressourcen allerd<strong>in</strong>gs<br />
noch lange nicht ausgeschöpft.<br />
Mit dem r asanten Anwachsen des Bevölkerungssegments der Hoch altrigen – u nd se<strong>in</strong>er Beschleunigung<br />
<strong>in</strong> naher Zukunft noch mehr – kommen auch neue Aspekte <strong>in</strong> den Blick. E<strong>in</strong>em<br />
dieser Aspekte i st der Beit rag von Christoph Re<strong>in</strong>precht gewidmet, jener der Situation der<br />
hochaltrigen Migrant<strong>in</strong>nen und Migranten.<br />
Diese fi ndet <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> bislang wenig Aufmerksamkeit, obwohl immerh<strong>in</strong> gut jede/r zehnte<br />
über 75-Jährige über e<strong>in</strong>e Wanderungsbiografi e verfügt. Es handelt sich um ke<strong>in</strong>e homogene<br />
Bevölkerungs gruppe, vielmehr refl ektiert ihre heutige Zusammensetzung e<strong>in</strong>en Teil der österreichischen<br />
E<strong>in</strong>wanderungsgeschichte seit den Zeiten der Monarchie. Nur jede/r fünfte <strong>Hochaltrige</strong><br />
migrantischer Herkunft kommt aus den wichtigsten Regionen der <strong>Arbeit</strong>smigration, dem<br />
ehemaligen Jugoslawien und aus der Türkei.<br />
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HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
Die These, wonach sich der M<strong>in</strong>derheitsstatus verstärkend auf die mit dem Alter ohneh<strong>in</strong> verbundenen<br />
Risken auswirkt („double jeopardy“), triff t nach Re<strong>in</strong>precht besonders <strong>für</strong> das Altern der<br />
ehemaligen <strong>Arbeit</strong>smigrant/<strong>in</strong>nen zu. Niedrige Erwerbs e<strong>in</strong>kommen, kürzere Versicherungszeiten<br />
und überdurchschnittliches <strong>Arbeit</strong>slosig keitsrisiko rufen bei ihnen e<strong>in</strong> erhebliches Armutsrisiko<br />
hervor; ähnlich kritisch ist die Wohnsituation zu sehen, man fi ndet bei ihnen die niedrigsten<br />
Ausstattungskategorien und ger<strong>in</strong>ge Nutzfl ächen.<br />
In Bezug auf die Gesundheit ist von kumulativen Negativeff ekten von körperlich verschleißendem<br />
Erwerbsleben, belastenden Wohnverhältnissen und ungesunden Ernährungsgewohnheiten<br />
auszugehen, was sich auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em überdurchschnittlichen psychosozialen Belastungsstress<br />
und e<strong>in</strong>er außergewöhnlich ausgeprägten Sorge vor sozialer Isolation ausdrückt.<br />
Gleichzeitig existieren psychische Bewältigungsressourcen, etwa die „ethnischen Insulation.“<br />
Damit ist geme<strong>in</strong>t, dass der Rückbezug auf Ethnizität Wohlbefi nden erzeugen und deshalb als<br />
e<strong>in</strong>e Ressource <strong>für</strong> e<strong>in</strong> er folgreiches Alt ern angesehen werden k ann, um die schmerz haften<br />
Gefühle von Heimweh, Verlust und Nostalgie zu bewältigen.<br />
Die schwierigen Lebensumstände bee<strong>in</strong>trächtigen zwar die subj ektive Lebens qualität, aber<br />
nicht unbed<strong>in</strong>gt Lebenss<strong>in</strong>n und Lebensfreude, wozu das Familien- und Verwandtschaftssystem<br />
maßgeblich beiträgt. Obschon es nicht wenige alle<strong>in</strong> lebende und sozial nur ungenügend e<strong>in</strong>gebettete<br />
hochaltrige Migrant/<strong>in</strong>nen gibt, bes ticht doch im Al lgeme<strong>in</strong>en der funktionierende<br />
Solidarzusammenhang der Familie, die zahlreiche überlebensnotwendige Funk tionen der Hilfe<br />
und Unterstützung wahrnimmt. In vielen migrantischen Milieus gibt es e<strong>in</strong>e von starken Verpfl<br />
ichtungsnormen getragene Solidarität, die die nachfolgenden Generationen <strong>in</strong> das familiäre<br />
Stützungssystem e<strong>in</strong>b<strong>in</strong>det. Befragungsergebnisse unter Jugendlichen belegen, dass sie den<br />
älteren familiären Bezugspersonen Wertschätzung und Respekt entgegenbr<strong>in</strong>gen, sowohl <strong>in</strong><br />
H<strong>in</strong>blick auf die Übernahme von nützlichen Aufgaben als auch auf den Transfer von Werten,<br />
Traditionen und Familienwissen.<br />
Bei chronischer Erkrankung und Pfl egebedürftigkeit kann das verwandtschaftliche Solidarsystem<br />
nicht immer voll e<strong>in</strong>spr<strong>in</strong>gen. Beim Zugang zur <strong>in</strong>stitutionellen Hilfe gibt es jedoch erhebliche<br />
Barrieren (z. B. <strong>in</strong>folge von Verständigungsschwierigkeiten) und e<strong>in</strong>e entsprechend bescheidene<br />
Inanspruchnahme von sozialen Diensten. Etwas anders stellt sich die Situation <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf<br />
beratende E<strong>in</strong>richtungen, sowie praktische Ärzte und Spitalsambulanzen dar.<br />
Da der Anteil der <strong>Hochaltrige</strong>n migrantischer Herkunft <strong>in</strong> den nächsten Jahrzehnten stark steigen<br />
wird, s<strong>in</strong>d die etablierten Systeme der Altenarbeit <strong>in</strong> grundlegender Weise mit neuen Herausforderungen<br />
konfrontiert und werden neue Formen der Gesu ndheitskommunikation und der<br />
kultursensiblen Pfl ege sowie e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>terkulturelle Öff nung der Altenhilfe unumgänglich machen.<br />
E<strong>in</strong>e weitere spez ielle Gruppe bilden die hoch betagten Menschen mit Beh<strong>in</strong>derun gen, mit<br />
denen sich Tom Schmid ause<strong>in</strong>andersetzt. Beh<strong>in</strong>derungen <strong>in</strong> höheren Alters gruppen s<strong>in</strong>d<br />
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HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
e<strong>in</strong> relativ neues Phänomen, denn erst die mediz<strong>in</strong>ischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte<br />
haben überhaupt e<strong>in</strong> Erleben des höheren Alters durch diese Menschen möglich gemacht. An<br />
e<strong>in</strong>en weiteren, vielfach nicht bedachten Umstand er<strong>in</strong>nert Schmid mit dem H<strong>in</strong>weis, dass die<br />
nationalsozialistische Politik der Vernichtung von Menschen mit körperlichen und geistigen<br />
Beh<strong>in</strong>derungen den Ausfall e<strong>in</strong>er ganzen Generation Beh<strong>in</strong>derter, die sich jetzt im höheren und<br />
höchsten Alter befände, zur Folge hatte. Wobei andererseits sich <strong>in</strong> eben dieser Altersgruppe<br />
auch Ange hörigen dieser Generation befi ndet, die aus dem Zweiten Weltkrieg als Kriegsversehrte<br />
zurückgekehrt s<strong>in</strong>d.<br />
Wie zahlreiche andere Autor/<strong>in</strong>nen bek lagt auch Schmid den Mangel an empirischen Daten,<br />
diesfalls über Hochbetagte mit Beh<strong>in</strong>derungen. E<strong>in</strong>drücke vermittelt allenfalls der nicht gerade<br />
hochaktuelle Mikrozensus aus dem Jahr 1995, der e<strong>in</strong>ige Charakteristika von Menschen mit körperlichen<br />
Bee<strong>in</strong>trächtigungen <strong>in</strong> Privathaus halten (nicht aber <strong>in</strong> Heimen) erhob. Demnach steigt<br />
erwartungsgemäß der Anteil körperlich bee<strong>in</strong>trächtigter Personen mit dem Alter, wobei diese<br />
Anteile bei den Frauen höher s<strong>in</strong>d als bei den Männern. Fast zwei Drittel der 80- und Mehrjährigen<br />
weisen körperliche Bee<strong>in</strong>trächtigungen <strong>in</strong>folge chronischer Krankheiten auf, Mobilitätse<strong>in</strong>bußen<br />
im S<strong>in</strong>ne von Beh<strong>in</strong>derungen waren bei über e<strong>in</strong>em Drittel dieser Altersgruppe zu verzeichnen<br />
und Hörbee<strong>in</strong>trächtigungen wiesen über 40% auf . Besonders schwerwiegende Ursachen <strong>für</strong><br />
Bee<strong>in</strong>trächtigungen s<strong>in</strong>d Demenz, Altersdepression, Altersdiabetes, Morbus Park<strong>in</strong>son und<br />
Osteoporose (Schmid). Schmid prophezeit e<strong>in</strong>en beträchtlichen Problemlösungsbedarf: Es<br />
wird nicht nur der Anteil und die absolute Zahl beh<strong>in</strong>derter Menschen im höheren Alter <strong>in</strong> den<br />
kommenden Jahren wachsen, sondern es wird <strong>in</strong>sbesondere die Teilmenge der schwerstbeh<strong>in</strong>derten<br />
und hochbetagten beh<strong>in</strong>derten Menschen quantitativ stark zulegen, weil aufgrund<br />
der mediz<strong>in</strong>ischen Fortschritte e<strong>in</strong> immer größerer Anteil Beh<strong>in</strong>der ter bis <strong>in</strong> die höchsten<br />
Alterskategorien überleben k ann – u nter „Mitnahme“ ihrer oft aggravierenden Bee<strong>in</strong>trächtigungen.<br />
Dazu kommt, dass ab den 2020er Jahren jene Kohorte <strong>in</strong> die Phase der Hochaltrigkeit<br />
e<strong>in</strong>zutreten beg<strong>in</strong>nt, welche erst nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde und daher nicht<br />
mehr der nationalsozialistischen Vernich tungs politik zum Opfer gefallen ist, was sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
zusätzlichen Erhöhung von Zahl und Anteil Beh<strong>in</strong>derter im höheren Alter geltend machen wird.<br />
Aber auch schon weniger schwerwiegende Bee<strong>in</strong>trächtigungen und Beh<strong>in</strong>derungen können zu<br />
erheblichen E<strong>in</strong>bußen an der fü r die Lebensqualität zentralen Autonomie <strong>in</strong>folg e reduzierter<br />
Mobilität führen, u nd natürlich steig t die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit da<strong>für</strong> mit dem Alter . Mobilität<br />
ermöglicht die Erledigung der Aktivitäten des Alltags ohne Abhängigkeit von anderen, darüber<br />
h<strong>in</strong>aus aber <strong>in</strong>sbesondere auch die Aufrecht erhaltung des sozialen Netzes und damit der Teilhabe<br />
an der Geme<strong>in</strong>schaft. Kommt es zu spürbaren, irreversiblen Mobilitätse<strong>in</strong>schränkungen,<br />
so hat das <strong>in</strong> der Regel negative Konsequenzen <strong>für</strong> die Betroff enen bis h<strong>in</strong> zu Vere<strong>in</strong>samung,<br />
Depression und Krankheit (Reiterer). Barbara Reiterer, die über e<strong>in</strong>e Untersuchung zu diesem<br />
Thema referiert, weist auf den Datenmangel auch <strong>in</strong> diesem Bereich h<strong>in</strong>. Zwar liegen durchaus<br />
Mobilitätsstudien älterer Menschen <strong>in</strong> Ö sterreich vor, sie alle beschäftigen sich jedoch nicht<br />
mit dem Bevölkerungssegment der <strong>Hochaltrige</strong>n. Die von Reiterer berichtete Studie wurde <strong>in</strong><br />
acht europäischen Ländern durchgeführt.<br />
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HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
Wenig überraschend konnte <strong>in</strong> dieser Untersuchung festgestellt werden, dass das Selberfahren<br />
mit dem Auto zwischen 65 und 85 massiv zurückgeht, von rund zwei Drittel auf weniger als e<strong>in</strong><br />
Fünftel. Natürlich gew<strong>in</strong>nen komplementär dazu das Mitfahren e<strong>in</strong>erseits und die Benutzung<br />
öff entlicher Verkehrsmittel an Bedeutung. Letztere werden von den alten Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
zwar off enbar als recht positiv ausgestaltet erlebt, die soziale Dimension ersche<strong>in</strong>t aber – zum<strong>in</strong>dest<br />
aus der Sicht der <strong>Hochaltrige</strong>n – als höchst verbesserungsfähig, wenn beispielsweise<br />
gut die Hälf te anmerkt, dass ihnen nur manchm al oder gar nie e<strong>in</strong> Sitzplatz angeboten wird<br />
(Reiterer).<br />
Als belastende Barrieren <strong>in</strong> der Benutzung öff entlicher Verkehrsmittel erweisen sich <strong>in</strong>sbesondere<br />
die Streckenführung und Frequenz der öff entlichen Verkehrsmittel, überfüllte Fahrzeuge, fehlendes<br />
Personal <strong>für</strong> Auskünfte und die zu knappe Zeit <strong>für</strong>s E<strong>in</strong>- und Aussteigen. Diese Belastungsfaktoren<br />
s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> besonders hohem Maße altersabhängig und erreichen bei den <strong>Hochaltrige</strong>n (85+) mit 40%<br />
bis 50% ihre Spitzenwerte. Am h<strong>in</strong>derlichsten wird jedoch die zu kle<strong>in</strong>e Schrift empfunden, und<br />
dieser Mangel weist schon bei den „jungen Alten“ hohe Werte auf (Reiterer). Man erkennt, dass<br />
zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>ige dieser Mängel bei größerer Sensibilität und Empathie <strong>für</strong> die Belastungen des<br />
Alters ohne größere Kosten und sonstigen Aufwand behebbar wären.<br />
H<strong>in</strong>sichtlich der Bewegung im öff entlichen Raum weist Reiterer auf höchst plausible, gleichwohl<br />
bisher kaum zur Kenntnis genommene Barrieren <strong>für</strong> Ältere, zumal <strong>Hochaltrige</strong>, h<strong>in</strong>. Als<br />
besonders bemerkenswert ersche<strong>in</strong>t die Feststell ung, dass das un zureichende Angebot an<br />
öff entlichen Toiletten von den Älteren als e<strong>in</strong>e gravierende Erschwernis, sich im öff entlichen<br />
Raum aufzuhalten, wahrgenommen wird – immerh<strong>in</strong> jede/r zweite 85- und Mehrjährige beklagt<br />
diesen Mangel. Es handelt sich dabei übrigens nicht um e<strong>in</strong> österreichisches Spezifi kum, sondern<br />
gibt nach der referier ten Untersuchung europaweit zu Beschwerden seitens der älteren<br />
Generation Anlass. Auch hier liegt off enkundig e<strong>in</strong> Defi zit vor, dem stadtplanerisch unschwer<br />
begegnet werden könnte.<br />
Klassiker der Mobilitätse<strong>in</strong>schränkungen <strong>Hochaltrige</strong>r auf dem Gebiet der sozialen Barrieren<br />
s<strong>in</strong>d – zum<strong>in</strong>dest im Erleben dieser Menschen – rücksichtslose Autofahrer, die das Straßenüberqueren<br />
zum angstbesetzten Wagnis machen. Noch häufi ger allerd<strong>in</strong>gs, berichtet Reiterer,<br />
ist die Angst, <strong>in</strong> der Dunkelheit alle<strong>in</strong> unterwegs zu se<strong>in</strong>: mit 60% bei den <strong>Hochaltrige</strong>n ist sie<br />
überhaupt das häufi gste Mobilitätsh<strong>in</strong>dernis (Reiterer).<br />
Der Aspekt der Furcht vor krim<strong>in</strong>ellen Übergriff en wird auch im Beit rag von Hörl (über Gewalt<br />
und Krim<strong>in</strong>alität) thematisiert, wobei er feststellt, dass alte Menschen zwar faktisch seltener<br />
als jüngere Menschen zu Opfern von krim<strong>in</strong>ellen Handlungen werden, dieser Umst and nicht<br />
zuletzt eben dadurch zu erklären ist, dass sich viele alte Menschen mehr oder weniger freiwillig<br />
e<strong>in</strong>e isolierte Lebensweise auferlegen und z. B. nach E<strong>in</strong>bruch der Dunkelheit nicht mehr auf<br />
die Straße gehen.<br />
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HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
Neben der „gewöhnlichen“ Krim<strong>in</strong>alität gibt es noch andere Gewaltdimensionen, so die nicht<br />
m<strong>in</strong>der bedeutsame Problematik von Missbrauch und Vernachlässigung im Zusammenhang<br />
mit Betreuung und Pfl ege. Hier hat die Forschung mit dem Problem e<strong>in</strong>es großen Dunkelfelds<br />
zu kämpfen, weil sich diese Handlungen oft im abgeschotteten, privaten Nahbereich ereignen.<br />
Dennoch steht fest, dass es sich bei der Gewalta usübung sowohl im Bereich der Familie als<br />
auch im Bereich der stationären E<strong>in</strong>richtungen nicht nur um extrem seltene E<strong>in</strong>zelfälle handelt.<br />
Dabei ist weniger an die direkte körperliche Misshandlung als an die psychische Gewalt (z. B.<br />
Anschreien oder Meidung) und an die pfl egerische Vernachlässigung (die sich etwa <strong>in</strong> Form von<br />
Hautschäden auswirkt) zu denken. In den Familien spielt außerdem die fi nanzielle Ausbeutung<br />
e<strong>in</strong>e Rolle und <strong>in</strong> den Heimen die Problematik der Freiheitsbe schränkungen (mittels Bettgitter<br />
usw.), welche vor e<strong>in</strong>igen Jahren gesetzlich neu geregelt wurde (Ganner).<br />
Dem höchsten Gewaltrisiko s<strong>in</strong>d die von Demenzerkrankungen betroff enen und pfl egebedürftigen<br />
<strong>Hochaltrige</strong>n ausgesetzt. Die Ursache ist <strong>in</strong> der Regel <strong>in</strong> den Stress situationen und der<br />
daraus resultierenden Überbelastung der Betreuenden zu suchen. Man kann daher <strong>in</strong> diesem<br />
Fall behaupten, dass die Täter/<strong>in</strong>nen gleichzeitig bis zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad auch als Opfer<br />
anzusehen s<strong>in</strong>d.<br />
Aus ökologischer Perspektive beschäftigt sich Cornelia Krajasits mit dem Zu sammenwirken von<br />
regionaler Entwicklung, demografi scher Dynamik und Mobilitäts e<strong>in</strong>engungen mit wachsendem<br />
Alter. Der Aktivitätsradius <strong>Hochaltrige</strong>r verkürzt sich erheblich, wie e<strong>in</strong>e steirische Studie nachweisen<br />
konnte: 85- und Mehrjährige erreichen nur mehr 7% der Fläche e<strong>in</strong>er durchschnittlichen<br />
Person, woraus zwangsläufi g erhebliche Versorgungs- bzw. Beschaff ungs probleme mit Gütern des<br />
täglichen Bedarfs resultieren (Krajasits). Diese Probleme ergeben sich allerd<strong>in</strong>gs regionalspezifi<br />
sch <strong>in</strong> höchst unterschiedlichem Ausmaß, denn Bevölkerungsgröße und -struktur e<strong>in</strong>schließlich<br />
Ab- und Zuwanderung, ökonomische Entwicklung e<strong>in</strong>schließlich <strong>Arbeit</strong>smarktdynamik, Infrastruktur<br />
wie <strong>in</strong>sbesondere die verkehrsmäßige Erschließung sowie die Versorgungs lage schaff en<br />
zunehmend Disparitäten. Krajasits verweist auf Bevölkerungs prognosen, wonach <strong>in</strong> Zukunft<br />
noch stärker als bisher Polarisierungen und räumliche Segregation das Bild prägen werden –<br />
es werden zugleich Regionen mit starkem Bevölkerungszuwachs und solche mit erheblichen<br />
Schrumpfungen zu verzeichnen se<strong>in</strong> (Krajasits). Der Trend wird sich verstärken und fortsetzen:<br />
Kle<strong>in</strong>- und Mittelstädte und das Umland der großen Städte – die „Speckgürtel“ – werden deutlich<br />
zulegen, h<strong>in</strong>gegen werden ungünstig gelegene Regionen zumal <strong>in</strong> Teilen Nieder österreichs, des<br />
Burgenlands, der Steier mark und Kärntens massive Bevölkerungsabgänge h<strong>in</strong>nehmen müssen.<br />
Es werden dies auch jene Regionen se<strong>in</strong>, <strong>in</strong> denen der Anteil der <strong>Hochaltrige</strong>n besonders hoch<br />
se<strong>in</strong> wird. E<strong>in</strong>e Kumulation von Nachteilen und Benachteiligungen zeichnet sich ab: E<strong>in</strong>erseits<br />
Mobilitätse<strong>in</strong>bußen und nachlassende körperliche Fitness, andererseits Abwanderung der<br />
Jüngeren (die damit auch als Helfer/<strong>in</strong>nen und Betreuer/<strong>in</strong>nen abgehen), schlechtere Versorgungslage<br />
und verkehrsmäßige Erschließung.<br />
Mit der übermächtigen Konkurrenz der Supermärkte, die häufi g nur noch mit dem Fahrzeug erreichbar<br />
s<strong>in</strong>d, sank die Zahl der kle<strong>in</strong>en Lebensmittelhändler. Gerade <strong>in</strong> jenen kle<strong>in</strong>en Geme<strong>in</strong>den, <strong>in</strong><br />
32
HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
denen die Alten überproportional wohnen, ist aus wirtschaftlichen Gründen die Aufrechterhaltung<br />
e<strong>in</strong>es kle<strong>in</strong>en Ladens ökonomisch nicht mehr aufrecht zu erhalten. Und wenn dies doch geschieht,<br />
dann zu notwendigerweise höheren Pr eisen als im Supermarkt, was gerade die e<strong>in</strong>k ommensschwache<br />
Gruppe der <strong>Hochaltrige</strong>n besonders hart triff t. Krajasits macht deutlich, wie rasant<br />
diese Entwicklung vor sich geht. Während 35 Jahre zuvor noch praktisch alle Ortschaften „ihr“<br />
Lebensmittelgeschäft hatten, traf dies im Jahre 2001 bereits auf über e<strong>in</strong> Viertel der Ortschaften<br />
nicht mehr zu (Krajasits). Es ist sicherlich be sorgniserregend, wenn Krajasits resümieren muss,<br />
dass <strong>in</strong> Öst erreich die Versorgungsdichte <strong>in</strong> j enem Umkreis, der zu Fuß erreicht werden kann,<br />
zurückgeht, „so dass sich Versorgungs sicherheit, die Quantität und die Qualität des Angebots <strong>für</strong><br />
Haushalte bzw. Personen, die über ke<strong>in</strong> eigenes Kraftfahrzeug verfügen, deutlich verschlechtern“<br />
(Krajasits) –, zumal e<strong>in</strong> weiterer Abbau im jetzt schon defi zitären Angebot an öff entlichem Verkehr<br />
<strong>in</strong>folge rückgängiger Schülerzahlen absehbar ist.<br />
Die wachsende E<strong>in</strong>engung des Aktions radius mit zunehmendem Alter beschränkt die Menschen<br />
zunehmend auf die eigene Wohnung, <strong>in</strong> der sie so lang wie nur irgend möglich zu bleiben versuchen,<br />
denn die Aufgabe der Wohnung kommt <strong>für</strong> die meisten alten Menschen e<strong>in</strong>er existenziellen<br />
Niederlage gleich und wird als Vorstufe zur bzw. E<strong>in</strong>leitung der letzten Phase des Lebens<br />
empfunden. Demgemäß ist der Großteil der alten Menschen im Wesent lichen mit der eigenen<br />
Wohnung zufrieden. Hauptkritikpunkt ist der Lärm, sei es aus der Nachbarwohnung, sei es der<br />
Straßenlärm. Die Verfasser<strong>in</strong> des Beitrags über das Wohnen und die Wohnformen <strong>Hochaltrige</strong>r,<br />
Ursula Rischanek, erklärt diese Zufrie denheit e<strong>in</strong>erseits damit, dass man ja <strong>in</strong> den Jahrzehnten<br />
davor gelernt hat, mit den sonst vorhandenen Mängeln zu leben, andererseits aber auch<br />
angesichts der Altern ative: Übersiedlung <strong>in</strong>s Altersheim, die Gegebenheiten als akzeptabel<br />
wahrnimmt (Rischanek). War vor wenigen Jahrzehnten noch die Substaddard wohnung typisch<br />
<strong>für</strong> den Altenhaushalt, so leben heute nur noch 4½% der 75- und Mehrjährigen <strong>in</strong> Wohnungen<br />
der Kategorie D, wahrend immerh<strong>in</strong> acht von zehn <strong>in</strong> K ategorie A-Wohnungen (Bad, WC und<br />
Zentralheizung) und weitere 13% <strong>in</strong> Kategorie B-Wohnungen (Bad und WC, aber ke<strong>in</strong>e Zentralheizung)<br />
wohnen. Als altersgerecht s<strong>in</strong>d jedoch nur die wenigsten der von den Hoch altrigen<br />
genutzten Wohnungen e<strong>in</strong>zustufen, sie s<strong>in</strong>d teils zu groß, s<strong>in</strong>d daher nur schwer zu bewirtschaften,<br />
und weisen Ausstattungs mängel auf (z. B. Türstaff eln, fehlende oder nicht fachgerecht<br />
angebrachte Haltegriff e im Bad und WC, Stolperfallen wie lose Teppiche usw.). Rischanek zitiert<br />
österreichische Daten, wonach jährlich 800 Menschen bei Stürzen <strong>in</strong> der Wohnung oder ihrer<br />
unmittelbaren Umgebung sterben; 80% aller Verletzungen der 60- und Mehrjährigen gehen auf<br />
solche Stürze zurück.<br />
Neben den nach wie vor ge<strong>für</strong>chteten Alters- und Pfl egeheimen, denen durch entsprechende<br />
Dimensionierung und atmosphärische Gestaltung, wozu auch adäquate P ersonalschlüssel<br />
zählen, durchaus der gegenwärtig noch dom<strong>in</strong>ierende Schrecken genommen werden könnte,<br />
stellt Rischanek mit dem „Betreuten Wohnen“ und den Seniorenwohngeme<strong>in</strong>schaften erfolgreiche<br />
und ausbaufähige Ergänzungen und Alter nativen zum Wohnheim vor. Seniorenresidenzen<br />
e<strong>in</strong>erseits und das betreute Wohnen auf dem Bauernhof werden h<strong>in</strong>gegen wohl eher aus naheliegenden<br />
Gründen M<strong>in</strong>derheitenprogramme bleiben. Die Zu nahme der Zahl alter und sehr alter<br />
33
HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
Men schen <strong>in</strong> den nächsten Jahrzehnten wird u. A. zwangsläufi g zu e<strong>in</strong>er vermehrten Nachfrage<br />
seitens der älteren Generation auf dem Wohnungsmarkt führen, welche aufgrund des steigenden<br />
Bildungsniveaus auch höhere Ansprüche stellen wird. An diese Erwartung anknüpfend fordert<br />
Rischanek, es sollte bei den Bauträgern „das Bewusstse<strong>in</strong> geweckt werden, ihre Anlagen bereits<br />
von vornhere<strong>in</strong> den Bedü rfnissen älterer u nd hochaltriger Bewohner/<strong>in</strong>nen entsprechend zu<br />
planen – oder zum<strong>in</strong>dest so, dass gegebenenfalls leicht umgerüstet werden kann.“ (Rischanek).<br />
Hilfreich könnten dabei die technologischen Entwicklungen im Bereich der „smart homes“ se<strong>in</strong>,<br />
welche nicht nur das Wohnen selbst, sondern auch die Betreuung von Pfl egebedürftigen (<strong>in</strong>sbesondere<br />
von solchen mit Demenz) erleichtern. Freilich werde man auf dem Weg bis zu e<strong>in</strong>er<br />
allgeme<strong>in</strong>en Akzeptanz die weitere Schwierigkeit überw<strong>in</strong>den müssen, dass die Vorteile e<strong>in</strong>er<br />
entsprechend adaptierten Wohnung bis jetzt noch kaum <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> der davon betroff enen<br />
Altengeneration e<strong>in</strong>gedrungen ist (Rischanek).<br />
Die Wohnung ist nicht nu r Rückzugsort bei nac hlassender Rüstigkeit und Mobilität, sie ist –<br />
nicht zuletzt wegen unterbliebener Adaptationen – auch der w ichtigste Unfallort der älteren<br />
und <strong>in</strong>sbesondere der hoch altrigen Generation. Aus der Perspektive der Sicherheit bzw. der<br />
Risikofaktoren behandelt Rupert Kisser die Unfallgefahren, besonders jene im Wohnbereich.<br />
Zwar s<strong>in</strong>kt das Unfallrisiko nach dem Ausscheiden aus dem Beruf auf e<strong>in</strong>en Tiefstand, mit zunehmendem<br />
Alter kumulieren dann aber die körperlichen E<strong>in</strong>bußen und machen selbst banale<br />
Tätigkeiten im Haushalt zu gefährlichen Unternehmungen. Wenn, wie erwähnt, die Unfallraten im<br />
Alter von 65-69 noch ihren lebenszyklischen Niedrigststand erreichen, so setzt bald darauf, mit<br />
etwa 75 Jahren, e<strong>in</strong> rasanter Anstieg der Unfälle e<strong>in</strong> (Kisser). Besonders schwer wiegt, dass die<br />
Unfallfolgen mit dem Alter immer gravierender werden. Sowohl was die Behandlungsdauer als<br />
auch die Prognose von Unfällen betriff t, erweist sich das hohe Alter als extremer Verstärkungsfaktor.<br />
Generell gilt, d ass die Heilung länger dauert, seltener vollständig erfolgt und vielfach<br />
überhaupt unterbleibt. Alte Menschen s<strong>in</strong>d nach e<strong>in</strong>em Unfall im Durchschnitt doppelt so lang<br />
im Krankenhaus wie jüngere, nämlich 12 statt 6 Tage (Kisser).<br />
Das schlägt sich natürlich massiv <strong>in</strong> den Kostenunterschieden nieder. Um nur e<strong>in</strong> Beispiel aus<br />
den Daten her auszugreifen, die Ki sser präsentiert: Auf das Konto der 60- u nd Mehrjährigen<br />
gehen 160.000 Unfallverletzungen, auf jenes der unter 60-Jährigen 660.000; die Gesamt-<br />
Behandlungskosten s<strong>in</strong>d aber <strong>für</strong> beide etwa gleich groß. Und mehr als die Hälfte der Spitalsbehandlungskosten<br />
ist den über 60-Jährig en zuzurechnen, sie machen aber gegenwärtig nur<br />
e<strong>in</strong> Fünftel der Bevölkerung aus (Kisser).<br />
Durch das doppelte Bevölkerungsaltern ist auch <strong>in</strong> diesem Bereich mit e<strong>in</strong>em überproportionalen<br />
Anwachsen der Unf älle zu rechnen – u nd <strong>in</strong>folgedessen der Sozial- und Gesundheitskosten.<br />
Dazu kommt, dass zwar generell die Unfallhäufi gkeiten abnehmen, nicht jedoch bei den alten<br />
Menschen. Andererseits wär en viele Unfälle zu verh<strong>in</strong>dern. Kisser hebt hervor, dass Unfälle<br />
überall dort erfolgreich bekämpft werden konnten, wo u mfassende Präventionsmaßnahmen<br />
etabliert wurden. Diese Bemühu ngen fanden aber fast nur im Bereich der <strong>Arbeit</strong>swelt statt,<br />
während wenig <strong>in</strong> Bez ug auf die Sicherheit alter Menschen geschehen ist. Insbesondere die<br />
34
HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
Stürze, die sowohl daheim als auch <strong>in</strong> Heimen und Spitälern e<strong>in</strong>en wesentlichen Teil der Unfälle<br />
ausmachen, könnten durch verstärkte Prävention sehr eff ektiv reduziert werden.<br />
E<strong>in</strong>e wesentliche Bee<strong>in</strong>t rächtigung der L ebensqualität im psychosozialen Bereich t ritt dann<br />
e<strong>in</strong>, wenn Menschen unter sozialer Isolation und E<strong>in</strong>samkeit leiden. Deren Existenz wird <strong>in</strong> der<br />
Öff entlichkeit häufi g als e<strong>in</strong> zentrales Problem der meisten Men schen im hohen Alter angesehen.<br />
In se<strong>in</strong>em Beitrag zu diesem Thema wird von Hörl dargelegt, dass diese pess imistische<br />
Auff assung weitgehend als e<strong>in</strong> Vorurteil anzusehen ist.<br />
Zwar ist die späte Lebensphase durch das unvermeidliche E<strong>in</strong>treten von Personen verlusten<br />
(z. B. das Wegsterben des Ehe partners) gekennzeichnet, dennoch kann von e<strong>in</strong>er durchgängigen<br />
sozialen Isolation ke<strong>in</strong>e Rede se<strong>in</strong>. Was die Gener ationen beziehungen betriff t, so zeigt sich<br />
h<strong>in</strong>sichtlich der Wohnentfernung (<strong>in</strong> Privathaushalten), dass zwei von fünf 80- und Mehrjährigen<br />
mit e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d „unter e<strong>in</strong>em Dach“ und weitere 47% <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er leicht überbrückbaren Entfernung<br />
wohnen und h<strong>in</strong>sichtlich der Kontakte, dass e<strong>in</strong> Drittel der nicht ohneh<strong>in</strong> Zusammenwohnenden<br />
e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d tagtäglich sieht oder mit ihm telefoniert (Hörl). Die <strong>Hochaltrige</strong>n wohnen damit näher<br />
zu ihren K<strong>in</strong>dern und haben mit ihnen nicht seltener, sondern häufi ger Kontakt als die 60- bis<br />
79-Jährigen. Diese Situation ist seit den 90er Jahren im Wesentlichen unverändert, so dass<br />
Be<strong>für</strong>chtungen von e<strong>in</strong>em Niedergang der Familienbeziehun gen sicher nicht zutreff en, sondern<br />
vielmehr stabile Verhältnisse auf hohem Niveau vorherrschen.<br />
Der Anteil der 80- und Mehrjährigen, die regelmäßige Sozialkontakte auch außerhalb der Familie<br />
pfl egen, ist zwar niedriger als unter den 50- bis 79-Jährigen, umfasst aber doch e<strong>in</strong>e Mehrheit.<br />
Die Hälfte bis zwei Drittel der <strong>Hochaltrige</strong>n treff en m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal im Monat Freund/<strong>in</strong>nen<br />
und Bekannte; fast ebenso viele besuchen e<strong>in</strong> Café oder Gasthaus bzw. beteiligen sich an Spielrunden.<br />
E<strong>in</strong>e der häufi gsten und im Lebenslauf ziemlich beständigen außerfamiliären Aktivitäten<br />
ist der Besuch des Gottesdienstes, an dem zwei von fünf <strong>Hochaltrige</strong>n regelmäßig teilnehmen.<br />
Bei anderen Aktivitäten ist allerd<strong>in</strong>gs im hohen Alter e<strong>in</strong> sehr deutlicher Rückgang festzustellen,<br />
das betriff t <strong>in</strong>sbesondere die Tätigkeit <strong>in</strong> Ehrenämtern, <strong>in</strong> Vere<strong>in</strong>en, die Teilnahme an politischen<br />
Veranstaltungen und die Nutzung der elektronischen Kommunikationsmedien (z. B.<br />
SMS-Versendungen).<br />
Die Messung von objektiven Kontakthäufi gkeiten ist zwar e<strong>in</strong>e wichtige Voraussetzung, aber nicht<br />
ausreichend, um dem Problem der E<strong>in</strong>samkeit näher zu kommen; denn deren Vorhandense<strong>in</strong><br />
wird subjektiv beurteilt und dabei steht nicht die Quantität, sondern die erlebte Qualit ät von<br />
Beziehungen im Vordergrund.<br />
Grundsätzlich ist E<strong>in</strong>samkeit ebenso wie die Isolation e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>derheitsphänomen, doch muss<br />
gleichzeitig unterstrichen werden, d ass unter den <strong>Hochaltrige</strong>n E<strong>in</strong>samkeitsgefühle wesentlich<br />
verbreiteter s<strong>in</strong>d – n ämlich bei bi s zu knapp der Hälfte der 80- u nd Mehrjährigen – als<br />
unter Personen <strong>in</strong> den frühen u nd mittleren Altersphasen. Zur E<strong>in</strong>samkeitsempfi ndung trägt<br />
35
HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
am stärksten der Mangel an qualitativ gehaltvollen sozialen Beziehungen und B<strong>in</strong>dungen bei,<br />
namentlich das Alle<strong>in</strong>se<strong>in</strong> aufgrund des Todes von Angehörigen und Freund/<strong>in</strong>nen. E<strong>in</strong>e Rolle<br />
spielen u. a. auch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, wie z. B. Introversion oder Depression.<br />
Das Vorhanden se<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es dichten Personennetzwerks <strong>in</strong>nerhalb und außerhalb der F amilie,<br />
sowie e<strong>in</strong>e aktive Lebensführung und e<strong>in</strong>e optimistische, positiv engagierte Grundhaltung s<strong>in</strong>d<br />
am besten geeignet, E<strong>in</strong>samkeitsgefühle im hohen Alter vermeiden zu helfen.<br />
Mit Aspekten der akti ven Lebensführung befasst sich der Beitrag von Kolland. In den 1 990er<br />
Jahren wurde von der Weltgesundheitsorganisation das Konzept des „aktiven Alterns“ entwickelt<br />
(vgl. Kalache & Kick busch 1997), welches auf der Anerkennung der Menschenrechte des<br />
älteren Menschen beruht und nicht von Bedürftigkeit, sondern von aktiver Lebensgestaltung<br />
ausgeht. Wenn auch Frauen und Männer jenseits des 80. Lebensjahres im Vergleich zu jüngeren<br />
Altersgruppen häufi ger von Mobilitätse<strong>in</strong>schränkungen betroff en s<strong>in</strong>d, die zu e<strong>in</strong>er ger<strong>in</strong>geren<br />
Beteiligung an Freizeit- und Kulturaktivitäten im außerhäuslichen Bereich führen, so zeigen die<br />
Daten doch auch deutlich, dass der Alltag nicht planlos oder spontan abläuft, sondern gegliedert<br />
bzw. strukturiert wird. Voraussetzung <strong>für</strong> die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen, am<br />
Reisen, an der Bildung ist e<strong>in</strong>e entsprechend gesicherte Basiskompetenz (ADL). Neben gesundheitlichen<br />
Faktoren bed<strong>in</strong>gen sozio-ökonomische Ressourcen e<strong>in</strong>e erhebliche Variabilität <strong>in</strong> den<br />
Aktivitäten. Der Besuch kultureller Veranstaltungen, die Nutzung von Bildungse<strong>in</strong>richtungen und<br />
der Neuen Medien stehen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em deutlichen Zusammenhang mit der Schichtzugehörigkeit.<br />
Die Zeitmarken werden sehr stark vom Haushaltsleben und den Medien gesetzt, da der Alltag<br />
hochbetagter Menschen vor allem Wohnalltag ist. Die Ergebnisse der Radio- u nd Fernsehforschung<br />
zeigen <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong>, dass rund e<strong>in</strong> Drittel der Hoc haltrigen am Vormittag Radio hör t<br />
und mehr als zwei Drittel am Abend fernsehen.<br />
Für Bildungsaktivitäten und die Nutzung Neuer Medien im hohen Al ter gilt, dass diese nicht<br />
nur die Eig enkompetenz erhöhen, sondern auch so ziale Integration ge währ leisten und e<strong>in</strong>e<br />
Teilnahme an der Wissensgesellschaft und modernen Technologien ermöglichen. Die ger<strong>in</strong>ge<br />
Beteiligung an Bildungsangeboten (rund 2% der über 80-Jährigen) ist gesundheitlich und kohortenbed<strong>in</strong>gt,<br />
d.h. hochaltrige Menschen weisen vergleichsweise ger<strong>in</strong>ge Schulbildungsniveaus<br />
auf und zeigen deshalb weniger Interesse an diesen Angeboten. Die sehr ger<strong>in</strong>ge Beteiligung an<br />
Bildungs aktivitäten außer Haus bedeutet aber nicht, dass ke<strong>in</strong> Lernen stattfi ndet. Gezeigt werden<br />
kann, dass das sogenannte <strong>in</strong>formelle Lernen, d.h. Lernen im Al ltag weit weniger alterskorreliert<br />
ist. Auch im hohen und höchsten Alter wird bei der Bewältigung neuer Herausforderungen<br />
(z.B. bei der Nutzung neuer mediz<strong>in</strong>ischer oder Haushalts- und Unterhaltungsgeräte) gelernt<br />
(vgl. Kolland et al. 2007).<br />
Ehrenamtliches Engagement erhöht die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit regelmäßiger Kontakte und Hilfeleistungen<br />
<strong>in</strong> schw ierigen Lebens lagen. Mensc hen, die s ich sozial engagieren, weisen e<strong>in</strong>e<br />
höhere Leben szufriedenheit sow ie e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ge re Depre ssivität und Hoff nungslosigkeit auf<br />
als die nicht sozial Engagierten (Kolland). Der Rückzug aus ehrenamtlichen Tätigkeiten erfolgt<br />
36
HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
aufgrund gesundheitlicher Bee<strong>in</strong>trächtigungen, E<strong>in</strong>schränkungen des Aktivitätsspielraums und<br />
e<strong>in</strong>em Mangel an geeigneten, altersgerechten Angeboten.<br />
Religiöse E<strong>in</strong>stellungen und Verhaltens weisen werden von älteren Menschen als bedeutsam <strong>für</strong> die<br />
Bewältigung belastender Lebensereignisse im höheren Alter betrachtet. So fi nden sich Studien zur<br />
positiven Bedeutung von Religiosität im H<strong>in</strong>blick auf die Lebensbewältigung im Alter sowie <strong>für</strong> e<strong>in</strong><br />
positives Selbstbild, zur unterstützenden Funktion von Religiosität nach dem Verlust des Partners<br />
oder bei der Bewältigung von Krankheit, <strong>in</strong>sbesondere von Krebserkrankungen (Idler 2006). Diese<br />
Eff ekte werden damit erklärt, dass religiöse und spirituelle E<strong>in</strong>stellungen das emotionale Cop<strong>in</strong>g<br />
unterstützen. Religiöse und spirituelle E<strong>in</strong>stellun gen erhalten somit Bedeutung als protektive<br />
psychische Ressourcen. Unge klärt ist dabei allerd<strong>in</strong>gs, wie sich die Religiosität im Alternsverlauf<br />
verändert bzw. von der allgeme<strong>in</strong>en Säkularisierung bee<strong>in</strong>fl usst wird.<br />
Insgesamt zeigen die Forschungsbefunde h<strong>in</strong>sichtlich der Freizeitaktivitäten hochaltriger Menschen<br />
nicht nur ger<strong>in</strong>gere Beteili gungs raten, sondern auc h, dass alte Menschen bis <strong>in</strong> die höchsten<br />
Lebensjahre Potenziale zur Bewältigung, Kompensation und Anpassung an s ich verändernde<br />
Lebensbed<strong>in</strong>gungen haben. Veränderungen s<strong>in</strong>d vor allem deshalb zu erwarten, weil <strong>in</strong> Zukunft<br />
Menschen <strong>in</strong>s höhere Alter kommen werden, die auf e<strong>in</strong>e längere Schul- und Weiterbildung zurückblicken<br />
und von daher andere Voraussetzungen <strong>für</strong> gesellschaftliche Beteiligung mitbr<strong>in</strong>gen.<br />
37
HOCHALTRIGE IN ÖSTERREICH: EINE BESTANDSAUFNAHME<br />
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40
1. DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
JOSEF KYTIR<br />
1.1. Die alternde Gesellschaft<br />
1.1.1. Bevölkerungswachstum versus demografi sche Alterung:<br />
der globale/europäische Kontext<br />
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
Die Dynamik von Bevölkerungsprozessen lässt sich mit mathematischen Methoden, quasi unter<br />
Laborbed<strong>in</strong>gungen, e<strong>in</strong>er formalen Betrachtung unterziehen (Keyfi tz 1977). Die Ergebnisse solcher<br />
Betrachtungen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>deutig: Für das Altern e<strong>in</strong>er Bevölkerung s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie die gesunkenen<br />
K<strong>in</strong>derzahlen (Fertilität) und das daraus resultierende ger<strong>in</strong>ge Wachstum verantwortlich.<br />
E<strong>in</strong>e steigende Lebenserwartung (Mortalität) ist dagegen <strong>für</strong> das Phänomen der demografi schen<br />
Alterung zunächst nur von sekundärer Bedeutung. Gleiches gilt <strong>für</strong> den dritten demografi schen<br />
Prozess, die Migration. Mit gewissen E<strong>in</strong>schränkungen kann Zuwanderung das durch s<strong>in</strong>kende<br />
bzw. anhaltend niedrige K<strong>in</strong>derzahlen verursachte Phänomen e<strong>in</strong>es steigenden Anteils älterer<br />
Menschen kaum bee<strong>in</strong>fl ussen.<br />
Menschheitsgeschichtlich betrachtet stellt sich das Altern von Gesellschaften damit nicht als<br />
e<strong>in</strong> Problem dar, sondern als e<strong>in</strong>e unvermeidliche Konsequenz der Lösung e<strong>in</strong>er existenziellen<br />
Bedrohung menschlicher Bevölkerungen, nämlich des Ent kommens aus der Spirale e<strong>in</strong>er r aschen,<br />
sich kont<strong>in</strong>uierlich verstärkenden Bevölkerungszunahme. Nur ständig stark wachsende<br />
Bevölkerungen bleiben demografi sch jung, allerd<strong>in</strong>gs verbunden mit all den Problemen, die<br />
entstehen, wenn sich die E<strong>in</strong>wohnerzahl e<strong>in</strong>er Region bzw. e<strong>in</strong>es Landes <strong>in</strong>nerhalb von 15 bis<br />
20 Jahren verdoppelt.<br />
Wann ist e<strong>in</strong>e Bevölkerung demografi sch gesehen jung, w ann alt? Hier lässt sich klarerweise<br />
ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutiger Schwellenwert nennen, ab dem man von e<strong>in</strong>er demografi sch alten Gesellschaft<br />
sprechen muss. Allerd<strong>in</strong>gs machen uns der globale Blickw<strong>in</strong>kel bzw. Bevölkerungsprognosen<br />
klar: Europas Bevölkerung wird sich im Laufe des 21. Jahrhunderts zu e<strong>in</strong>er demografi sch gesehen<br />
„alten“ Gesellschaft entwickeln. Betrachtet man Zahl und Anteil der Men schen im Alter von 65<br />
und mehr Jahren (ältere Menschen) bzw. im Alter von 80 und mehr Jahren (betagte Menschen),<br />
so zeigen sich <strong>für</strong> Europa folgende Trends:<br />
» Derzeit leben <strong>in</strong> Europa 116 Mio Menschen im Alter von 65 und mehr Jahren. Das entspricht<br />
e<strong>in</strong>em Anteil von 16%. Europas Bevölkerung ist damit demografi sch gesehen<br />
mehr als „doppelt so alt“ wie die Weltbevölkerung, deren Altenanteil bei 7% liegt.<br />
» Die Zahl der betagten Europäer und Europäer<strong>in</strong>nen (80+ Jahre) liegt derzeit bei 26 Mio,<br />
bezogen auf die Gruppe der älteren Menschen entspricht das e<strong>in</strong>em Anteil von 22%.<br />
41
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
Tabelle 1: Entwicklung von Zahl und Anteil älterer und betagter Menschen <strong>in</strong> Europa und bei<br />
der Weltbevölkerung von der Mitte des 20. bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts<br />
Quelle: UN, World Population Prospects 2004 (Medium variant)<br />
Europa hat damit im globalen K ontext e<strong>in</strong>e Vorreiterrolle übernommen. Andere Weltregionen<br />
werden diesem Entwicklungspfad folgen (müssen), wenn – wie von der UN (2006) prognostiziert<br />
– die Weltbevölkerung nach 2050 nicht mehr über die bis dah<strong>in</strong> erreichte Zahl von 9 Mrd.<br />
Menschen steigen soll. Europa steht damit vor e<strong>in</strong>er zweifachen Herausforderung. Zum e<strong>in</strong>en gilt<br />
es, Wirtschaftswachstum trotz s<strong>in</strong>kender Bevölkerungszahlen zu erzielen. Zum anderen geht es<br />
42<br />
» In der zweiten Hälfte des 20. Jahr hunderts stiegen Zahl und Anteil älterer Menschen<br />
<strong>in</strong> Europa deutlich an. So lag der Altenanteil im Jahr 1950 bei rund 8%, hat sich seither<br />
also verdoppelt. Gleichzeitig zählte damals lediglich jeder/jede siebente ältere<br />
Mensch (14%) zu den betagten Personen im Alter von 80 und mehr Jahren.<br />
» Die Prognosen der UN machen das Ausmaß der <strong>in</strong> den kommenden Jahrzehnten<br />
erwartbaren demografi schen Alterung deutlich. Bis 2050 wird die Zahl älterer Menschen<br />
<strong>in</strong> Europa auf 180 Mio, jene der Betagten auf 63 Mio anwachsen. Gleichzeitig<br />
sagen die Prognosen e<strong>in</strong>en Rückgang der E<strong>in</strong>wohnerzahl Europas von 728 Mio auf<br />
653 Mio voraus. Der Altenanteil steigt damit auf 28%, und jede/jeder dritte ältere<br />
Mensch (35%) wird dann zur Gruppe der Betagten zählen.<br />
» Auch global betrachtet wird das 21. Jahrhundert vom Phänomen der demografi schen<br />
Alterung geprägt se<strong>in</strong>. So verdreifacht sich weltweit bis zum Jahr 2050 die Zahl der<br />
Menschen im Alter von 65 und mehr Jahren. Der Alten anteil der Weltbevölkerung wird<br />
dann mit 16% jenes Niveau erreichen, das wir derzeit <strong>in</strong> Europa vorfi nden.<br />
Europa Welt<br />
Bevölkerung 65+ Jahre Bevölkerung 80+ Jahre Bevölkerung 65+ Jahre Bevölkerung 80+ Jahre<br />
Jahr<br />
absolut<br />
(<strong>in</strong> 1.000)<br />
<strong>in</strong> % der<br />
Bevölkerung<br />
absolut<br />
(<strong>in</strong> 1.000)<br />
<strong>in</strong> % der<br />
Bev. 65+<br />
Jahre<br />
absolut<br />
(<strong>in</strong> Jahren)<br />
<strong>in</strong> % der<br />
Bevölkerung<br />
absolut<br />
(<strong>in</strong> 1.000)<br />
<strong>in</strong> % der<br />
Bev. 65+<br />
Jahre<br />
1950 44.960 8,2 6.077 13,5 130.875 5,2 13.780 10,5<br />
1975 77.267 11,4 11.873 15,4 231.660 5,7 31.451 13,6<br />
2005 115.762 15,9 25.726 22,2 475.719 7,4 86.648 18,2<br />
2010 117.899 16,2 30.564 25,9 526.680 7,7 105.414 20,0<br />
2015 125.810 17,4 32.947 26,2 604.553 8,4 122.591 20,3<br />
2020 136.407 19,1 36.282 26,6 714.786 9,4 141.535 19,8<br />
2025 148.521 21,0 37.175 25,0 832.151 10,5 160.219 19,3<br />
2030 160.082 22,9 41.948 26,2 968.397 11,8 194.177 20,1<br />
2035 168.321 24,5 47.755 28,4 1.113.129 13,2 241.587 21,7<br />
2040 173.986 25,7 53.788 30,9 1.244.970 14,3 287.079 23,1<br />
2045 177.345 26,6 59.222 33,4 1.349.556 15,2 339.595 25,2<br />
2050 180.134 27,6 62.764 34,8 1.464.938 16,1 394.224 26,9
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
um die Aufrechterhaltung des vergleichsweise hohen Niveaus der sozialen Sicherungssysteme<br />
europäischer Prägung <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e demografi sch alternde Gesellschaft im Kontext fortschreitender<br />
wirtschaftlicher Globalisierung (Commission of the Euro pean Communities 2005).<br />
1.1.2. Das demografi sche Altern der österreichischen Bevölkerung<br />
Sieht man von den auch demografi sch wirksamen politischen Katastrophen der ersten Hälfte<br />
des 20. Jahrhunderts ab, so folgt die Bevölkerungsentwicklung <strong>Österreich</strong>s weitgehend dem<br />
Muster vergleichbarer europäischer Länder. E<strong>in</strong> „erster“ demografi scher Übergang br<strong>in</strong>gt zwischen<br />
dem letzen Drittel des 19. Jahrhunderts und den 1950er Jahren e<strong>in</strong>e Verdoppelung der<br />
Lebenserwartung bei der Gebu rt. Unmittelbar nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert<br />
beg<strong>in</strong>nen auch die K<strong>in</strong>derzahlen nachhaltig zu s<strong>in</strong>ken. Dem erstaunlich (weltweit fast e<strong>in</strong>malig)<br />
niedrigen Fertilitätsniveau der 1930er Jahre (1,6 K<strong>in</strong>der pro Frau) folgen zwei Baby-Booms,<br />
jener der frühen 1940er Jahre, nach dem Anschluss <strong>Österreich</strong>s an Deutschland, sowie der (<strong>in</strong><br />
fast allen westeuropäischen Ländern beobachtbare) Baby-Boom der späten 1950er und frühen<br />
1960er Jahre. Das Ende dieses Baby-Booms Mitte der 1960er Jahre markiert wohl gleichzeitig<br />
auch den Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er neuen demogr afi schen Ära <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>, e<strong>in</strong>en „zweiten“ demografi -<br />
schen Übergang:<br />
» Die K<strong>in</strong>derzahlen schwanken auf niedrigem Niveau und bleiben seit den frühen<br />
1970er Jahren deutlich und nachhaltig unter dem sog. „demografi schen Reproduktionsniveau“<br />
von zwei K<strong>in</strong>dern pro Frau.<br />
» Die Lebenserwartung beg<strong>in</strong>nt seit den frühen 1970er Jahren weiter anzusteigen. Der<br />
Mortalitätsrückgang im höheren Erwachsenenalter ist der Motor dieser Entwicklung.<br />
» <strong>Österreich</strong> wurde zum Zuwan derungsland mit phasenweise beträchtlichen <strong>in</strong>ternationalen<br />
Wanderungsgew<strong>in</strong>nen und den daraus resultierenden gesellschaftlichen<br />
und politischen Problemstellungen. Zuwanderung sorgt andererseits da<strong>für</strong>, dass die<br />
Bevölkerungszahl weiter wächst.<br />
Die demografi sche Alterung lässt sich als e<strong>in</strong>e zeitlich um mehrere Jahrzehnte versetzte Folge<br />
des „ersten“ demogr afi schen Übergangs begr eifen, <strong>in</strong> die da s demografi sche Regime des<br />
„zweiten“ Übergangs nur <strong>in</strong> Nuancen e<strong>in</strong>greifen kann. Diese Perspektive macht deutlich, dass<br />
demografi sche Alterung e<strong>in</strong>en vergleichsweise langfristigen Prozess darstellt (Kytir 1996). Für<br />
<strong>Österreich</strong> umfasst er <strong>in</strong> etwa die Zeitspanne zwischen 1920 und 2040, dauert also <strong>in</strong>sgesamt<br />
rund 120 Jahre. Wir befi nden uns damit bereits im letzten Drittel des durch die demografi schen<br />
Übergänge vorgezeichneten Weges von e<strong>in</strong>er demografi sch jungen zu e<strong>in</strong>er demografi sch alten<br />
Gesellschaft.<br />
43
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
Da die ersten beiden Drittel dieser Ent wicklung bereits ausführlich dokumentiert und beschrieben<br />
wurden (siehe u.a. Kytir & Münz 2000), bilden die absehbaren Entwicklungen auf Basis der aktuellen<br />
demografi schen Prognosen (Hanika 2006) den Schwerpunkt der folgenden Ausführungen.<br />
Wie wird sich nun die Bevölkerung <strong>Österreich</strong>s <strong>in</strong> den kommenden Jahrzehnten entwickeln? Vier<br />
Faktoren bilden aus demografi scher Sicht den Rahmen <strong>für</strong> die erwartbaren Trends:<br />
1. Die gegenwärtige Bevölkerungs struktur (das „demografi sche Momentum“): Die Baby-<br />
Boom-Generation der frühen 1960er Jahre wird noch <strong>für</strong> e<strong>in</strong>ige Jahrzehnte das demografi -<br />
sche Bild <strong>Österreich</strong>s prägen. Die Baby-Boomer werden zunächst die Zahl der Personen im<br />
höheren Erwerbs alter und nach 2020 im Pensions alter stark erhöhen. Das weitere demografi<br />
sche Altern der Bevölkerung ist damit quasi zum Gutteil schon „vorprogrammiert“.<br />
2. K<strong>in</strong>derzahl und Ausmaß der K<strong>in</strong>derlosigkeit (Fertilität): <strong>Österreich</strong> ist und bleibt mit hoher<br />
Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit e<strong>in</strong> „low fertility country“. Die K<strong>in</strong>derzahl ist seit nunmehr über 30<br />
Jahren unter dem sog. „Reproduktionsniveau“ und liegt aktuell bei 1,4 K<strong>in</strong>dern pro Frau.<br />
Aus heutiger Sicht ist e<strong>in</strong> Anstieg auf zwei oder mehr K<strong>in</strong>der pro Frau auszuschließen,<br />
dagegen lassen sich sowohl Argumente <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en weiteren Rückgang als auch <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en<br />
(moderaten) Anstieg der K<strong>in</strong>derzahl fi nden. Sicher sche<strong>in</strong>en dagegen e<strong>in</strong> weiterer Anstieg<br />
des durchschnittlichen Fertilitätsalters sowie e<strong>in</strong> Anstieg des Anteils lebenslang k<strong>in</strong>derlos<br />
bleibender Frauen. So werden die Baby-Boom-Frauen der 1960er Jahre zu rund 18%<br />
k<strong>in</strong>derlos bleiben, <strong>für</strong> die <strong>in</strong> den 1970er und 1980er Jahren geborenen Frauen wird dieser<br />
Anteil auf zum<strong>in</strong>dest 25% steigen.<br />
3. Ausmaß der Wanderungsgew<strong>in</strong>ne aus <strong>in</strong>ternationaler Migration: <strong>Österreich</strong> ist seit der<br />
„Gastarbeiter“-Zuwanderung der 1960er Jahren e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>wanderungsland und wird es auch<br />
bleiben. Zuwanderungsbooms gab es <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> den frühen 1970er Jahren, <strong>in</strong> den<br />
späten 1980er und frühen 1990er Jahren sowie seit dem Jahr 2002. Aktuell liegen die jährlichen<br />
Wanderungsgew<strong>in</strong>ne ohne Asylwerber bei rund 25.000 bis 30.000 Personen, mit<br />
Asylwerbern noch entsprechend höher. Zuwanderung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ähnlichen Größenordnung<br />
ist auch <strong>für</strong> die Zukunft erwartbar und bewirkt, dass die E<strong>in</strong>wohnerzahl <strong>Österreich</strong>s <strong>in</strong> den<br />
kommenden Jahrzehnten auf mehr als 9 Millionen Menschen steigen wird. Derzeit leben<br />
<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> 10% Ausländer und rund 16% der Bevölkerung s<strong>in</strong>d im Aus land geboren.<br />
Gleichzeitig werden rund 30.000 Personen pro Jahr e<strong>in</strong>gebürgert.<br />
4. Lebenserwartungsgew<strong>in</strong>ne im (hohen) Erwachsenenalter (Mortalität): In <strong>Österreich</strong> hat<br />
nach 1970 e<strong>in</strong>e neue Phase des epidemiologischen Übergangs begonnen (siehe dazu<br />
auch die nachstehenden Ausführungen im Abschnitt „Das älter werdende Individuum“).<br />
So stieg <strong>in</strong> den vergangenen drei Jahrzehnten die Lebenserwartung bei der Geburt um<br />
durchschnittlich 2,5 bis 3,0 Jahre pro Jahrzehnt, die fernere Lebenserwartung 60+Jähriger<br />
um 1,6 bis 1,7 Jahre pro Jahr zehnt. Bei Frauen hat die Lebens erwartung damit aktuell 82,2<br />
Jahre, bei Männern 76,6 Jahre erreicht. Die Prog nosen <strong>für</strong> die kommenden Jahrzehnte<br />
44
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
gehen <strong>in</strong> ihrer Hauptvariante von e<strong>in</strong>er Abschwächung des Trends aus. Für das Jahr 2050<br />
wird hier bei den Männern e<strong>in</strong>e Lebenserwartung von mehr als 84 Jahren, bei den Frauen<br />
von 89 Jahren angenommen. Dies entspricht e<strong>in</strong>em An stieg von 1,7 (Männer) bzw. 1,5<br />
(Frauen) Jahren pro Jahrzehnt. Bei ihren Alternativvarianten geht die Prognose von e<strong>in</strong>em<br />
etwas stärkeren bzw. schwächeren Anstieg aus. Die „hohe Lebenserwartungsvariante“<br />
lässt die Lebenserwartung der Männer auf über 88 Jahre (+2,6 Jahre/Jahrzehnt), jene der<br />
Frauen auf 92 Jahre (+2,2 Jahre/Jahrzehnt) steigen. Die „niedrige“ Variante unterstellt<br />
dagegen vergleichsweise ger<strong>in</strong>ge Gew<strong>in</strong>ne im Ausmaß von +0,8 Jahren/Jahrzehnt, was <strong>für</strong><br />
das Jahr 2050 zu e<strong>in</strong>er Lebenserwartung von 80,3 Jahren <strong>für</strong> Männer und 86,0 Jahren <strong>für</strong><br />
Frauen führt.<br />
Bevölkerungsprognosen liefern auf Basis der voran stehend genannten Parameter – regional<br />
diff erenzierte – quantit ative Infor mationen über Zahl und Struktur der Bev ölkerung <strong>in</strong> den<br />
kommenden Jahrzehnten. Sie bieten damit e<strong>in</strong>e Basis <strong>für</strong> die Berechnung un terschiedlicher<br />
Maßzahlen und Indikatoren zur empirischen Beschrei bung des Phänomens demografi sche<br />
Alterung (Kytir 1996).<br />
1.1.2.1. INDIKATOREN ZUR DEMOGRAFISCHEN ALTERUNG<br />
Die Tabellen 2 und 3 präsentieren e<strong>in</strong>ige zentrale Alterungs<strong>in</strong>dikatoren <strong>für</strong> die österreichische<br />
Bevölkerung. Abbildung 1 zeigt die zukünftigen Veränderungen der Alters struktur anhand der<br />
<strong>in</strong> der Demogr afi e üblichen grafi schen Darstellung der Bevöl kerungspyramiden. E<strong>in</strong> grundsätzliches<br />
Problem jeder demografi schen Analyse zur Bevölkerungsalterung liegt dabei dar<strong>in</strong>,<br />
chronologisch abgegrenzte Altersgruppen verwenden zu müssen, um die <strong>in</strong> der Alterssoziologie<br />
und Gerontologie verwendeten Begriffl ichkeiten <strong>für</strong> das höhere Erwachsenenalter und se<strong>in</strong>e<br />
B<strong>in</strong>nendiff erenzierung abbilden zu können. Das Spektrum der Begriff e reicht dabei von der<br />
„Generation 50+“, den „jungen“ und den „alten“ Alten, Betagten und Hochbetagten bis zu den<br />
„Supercentenarians“ <strong>für</strong> die Gruppe der 110- und Mehrjährigen. Das Dilemma der Demografi e<br />
besteht nun <strong>in</strong>sbesondere dar<strong>in</strong>, diese Begriff e zwangsläufi g mit konkreten chronologischen<br />
Altersgrenzen zu versehen und diese Grenzen – mit gravierenden <strong>in</strong>terpretativen Konsequenzen<br />
- <strong>in</strong> ihren oft über viele Jahrzehnte reichenden Zeit vergleichen beizubehalten.<br />
45
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
Tabelle 2: Entwicklung der Zahl und des Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung<br />
vom letzten Drittel des 19. bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts<br />
Jahr<br />
65+ Jahre<br />
abs. <strong>in</strong> %<br />
75+ Jahre<br />
abs. <strong>in</strong> %<br />
80+ Jahre<br />
abs. <strong>in</strong> %<br />
85+ Jahre<br />
abs. <strong>in</strong> %<br />
95+ Jahre<br />
abs. <strong>in</strong> %<br />
1869 233.993 5,2 53.192 1,2 18.724 0,4 5.347 0,1 231 0,0<br />
1880 280.155 5,6 63.949 1,3 21.636 0,4 5.599 0,1 140 0,0<br />
1890 319.831 5,9 78.786 1,5 26.703 0,5 7.039 0,1 145 0,0<br />
1900 344.673 5,7 92.641 1,5 34.208 0,6 8.799 0,1 296 0,0<br />
1910 400.550 6,0 103.155 1,6 37.370 0,6 10.201 0,2 221 0,0<br />
1923 415.795 6,4 102.143 1,6 34.994 0,5 7.445 0,1 . .<br />
1934 535.407 7,9 148.429 2,2 56.362 0,8 13.713 0,2 244 0,0<br />
1951 733.407 10,6 220.976 3,2 84.804 1,2 23.441 0,3 377 0,0<br />
1955 792.880 11,4 254.820 3,7 101.217 1,5 28.179 0,4 504 0,0<br />
1960 861.336 12,2 289.613 4,1 124.165 1,8 36.384 0,5 662 0,0<br />
1965 958.181 13,2 322.618 4,4 143.171 2,0 46.148 0,6 963 0,0<br />
1970 1.051.060 14,1 350.229 4,7 158.320 2,1 53.043 0,7 1.450 0,0<br />
1975 1.127.070 14,9 394.131 5,2 175.279 2,3 59.962 0,8 1.999 0,0<br />
1980 1.162.928 15,4 449.268 6,0 202.187 2,7 68.134 0,9 2.243 0,0<br />
1985 1.073.815 14,2 495.758 6,6 238.487 3,2 82.612 1,1 2.978 0,0<br />
1990 1.146.612 14,9 530.433 6,9 274.394 3,6 103.411 1,3 3.689 0,0<br />
1995 1.202.448 15,1 488.360 6,1 305.816 3,8 126.774 1,6 5.660 0,1<br />
2000 1.235.840 15,4 567.703 7,1 278.765 3,5 144.626 1,8 6.839 0,1<br />
2005 1.338.387 16,3 634.174 7,7 354.251 4,3 134.243 1,6 9.326 0,1<br />
2010 1.464.751 17,4 662.351 7,9 397.244 4,7 182.424 2,2 10.161 0,1<br />
2015 1.570.466 18,4 726.056 8,5 412.678 4,8 206.026 2,4 9.673 0,1<br />
2020 1.677.343 19,4 818.028 9,4 462.666 5,3 211.895 2,4 15.665 0,2<br />
2025 1.851.116 21,1 896.586 10,2 536.555 6,1 250.237 2,9 17.051 0,2<br />
2030 2.077.222 23,5 972.877 11,0 594.747 6,7 298.326 3,4 18.011 0,2<br />
2035 2.272.929 25,5 1.097.701 12,3 648.206 7,3 332.543 3,7 25.909 0,3<br />
2040 2.374.171 26,5 1.264.925 14,1 746.790 8,3 366.564 4,1 29.576 0,3<br />
2045 2.422.314 27,0 1.404.146 15,6 880.640 9,8 437.304 4,9 35.348 0,4<br />
2050 2.474.145 27,5 1.451.093 16,1 980.336 10,9 527.600 5,9 41.026 0,5<br />
Quellen: Statistik Austria, Volkszählungen, Bevölkerungsfortschreibung bzw. Bevölkerungsregister sowie Bevölkerungsprog-<br />
nose 2006 (Hauptvariante)<br />
Diesem Dilemma entkommt auch die nachfolgende Darstellung zunächst nicht. So zeigt Tabelle 2<br />
die Entwicklung der Zahl und des Anteils mehrerer breiter Al tersgruppen, beg<strong>in</strong>nend mit den<br />
Personen im Alter von 65 und mehr Jahren (ältere Menschen) bis zu den Höchstaltrigen (95 und<br />
mehr Jahre). Die Zahlen machen deutlich, dass Zahl und Anteil alter Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> <strong>in</strong><br />
den kommenden Jahrzehnten spürbar zunehmen werden:<br />
46
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
» Die Gruppe der 65- und Mehrjährigen wächst den Prognosen der Statistik Austria<br />
(Hauptvariante) zufolge von derzeit 1,34 Mio auf 2,47 Mio, ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung<br />
steigt dem ge mäß von 16,3% (2005) auf 27,5% (2050).<br />
» Zurzeit leben <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> <strong>in</strong>sgesamt 634.000 Personen im Alter von 75 und mehr<br />
Jahren. Die Zahl der Menschen <strong>in</strong> dieser Altersgruppe wird <strong>in</strong> den kommenden 25<br />
Jahren (bis 2030) um 50% steigen und sich bis 2040 auf 1,26 Mio verdoppeln. Für<br />
das Jahr 2050 lässt die Prognose e<strong>in</strong>e Zahl von 1,45 Mio erwarten. Dementsprechend<br />
stark steigt auch das relative Gewicht dieser Alters gruppe, nämlich von derzeit 7,7%<br />
auf über 16% im Jahr 2050.<br />
Abbildung 1: Bevölkerungspyramiden <strong>Österreich</strong>s 2005, 2030 und 2050<br />
Männer 2005<br />
Frauen<br />
1910<br />
95<br />
1910<br />
1915<br />
90<br />
1915<br />
1920<br />
85<br />
1920<br />
1925<br />
80<br />
1925<br />
1930<br />
75<br />
1930<br />
1935<br />
70<br />
1935<br />
1940<br />
65<br />
1940<br />
1945<br />
60<br />
1945<br />
1950<br />
55<br />
1950<br />
1955<br />
50<br />
1955<br />
1960<br />
45<br />
1960<br />
1965<br />
40<br />
1965<br />
1970<br />
35<br />
1970<br />
1975<br />
30<br />
1975<br />
1980<br />
25<br />
1980<br />
1985<br />
20<br />
1985<br />
1990<br />
15<br />
1990<br />
1995<br />
10<br />
1995<br />
2000<br />
5<br />
2000<br />
2005<br />
0<br />
2005<br />
80.000 60.000 40.000 20.000 0 0 20.000 40.000 60.000 80.000<br />
Personen Personen<br />
Quelle: Statistik Austria, Bevölkerungsprognose 2006 (Hauptvariante)<br />
1955<br />
1960<br />
1965<br />
1970<br />
1975<br />
1980<br />
1985<br />
1990<br />
1995<br />
2000<br />
2005<br />
2010<br />
2015<br />
2020<br />
2025<br />
2030<br />
2035<br />
2040<br />
2045<br />
2050<br />
1935<br />
1940<br />
1945<br />
1950<br />
1955<br />
1960<br />
1965<br />
1970<br />
1975<br />
1980<br />
1985<br />
1990<br />
1995<br />
2000<br />
2005<br />
2010<br />
2015<br />
2020<br />
2025<br />
2030<br />
Männer 2050<br />
Frauen<br />
80.000 60.000 40.000 20.000 0 0 20.000 40.000 60.000 80.000<br />
95<br />
90<br />
85<br />
80<br />
75<br />
70<br />
65<br />
60<br />
55<br />
50<br />
45<br />
40<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
Personen Personen<br />
5<br />
0<br />
Männer 2030<br />
Frauen<br />
80.000 60.000 40.000 20.000 0 0 20.000 40.000 60.000 80.000<br />
95<br />
90<br />
85<br />
80<br />
75<br />
70<br />
65<br />
60<br />
55<br />
50<br />
45<br />
40<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
Personen Personen<br />
1955<br />
1960<br />
1965<br />
1970<br />
1975<br />
1980<br />
1985<br />
1990<br />
1995<br />
2000<br />
2005<br />
2010<br />
2015<br />
2020<br />
2025<br />
2030<br />
2035<br />
2040<br />
2045<br />
2050<br />
5<br />
0<br />
1935<br />
1940<br />
1945<br />
1950<br />
1955<br />
1960<br />
1965<br />
1970<br />
1975<br />
1980<br />
1985<br />
1990<br />
1995<br />
2000<br />
2005<br />
2010<br />
2015<br />
2020<br />
2025<br />
2030<br />
47
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
E<strong>in</strong>e weitere Möglichkeit der empirischen Beschreibung des Altersstrukturwandels mit dem Blickw<strong>in</strong>kel<br />
auf mögliche gesellschaftliche Folgen liegt dar<strong>in</strong>, breite Altersgruppen der Bevölkerung<br />
zue<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> zahlenmäßige Beziehung zu setzen. E<strong>in</strong>e Zusammen stellung der dabei <strong>in</strong> der Praxis<br />
häufi g verwendeten Möglichkeiten bietet Tab. 3. Der „traditionelle“ Zugang der Demografi e<br />
bezieht dabei die älteren Menschen auf die Personen im Erwerbsalter („Abhängigkeitsrate“ bzw.<br />
„Altenlastquote“), wobei sich wiederum das Problem der konkreten Alters abgrenzung dieser<br />
Lebensphasen stellt. Der zeitliche Trend dieser Maßzahlen unterscheidet sich allerd<strong>in</strong>gs zwischen<br />
den unterschiedlichen Möglichkeiten nur <strong>in</strong> Nuancen. Grenzt man das Erwerbsalter mit<br />
20 bis 64 Jahren ab, so zeigt sich, dass derzeit von 100 Personen dieser Altersgruppe 26 ältere<br />
Menschen „abhängig“ s<strong>in</strong>d. In den kommenden Dekaden wird sich dieses Verhältnis auf 50 pro<br />
100 steigen, oder mit anderen Worten: Die Zahl der 65+Jährigen wird im Jahr 2050 <strong>in</strong>sg esamt<br />
halb so groß se<strong>in</strong> wie die Zahl der 20- bis 65-Jährigen.<br />
Vor allem im angelsächsischen Sprachraum hat <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten verstärkt e<strong>in</strong> Perspektivenwechsel<br />
<strong>in</strong> der demografi schen Beschreibung generationeller Beziehun gen stattgefunden.<br />
An die Stelle der „Abhängigkeit“ älterer Menschen trat der Blickw<strong>in</strong>kel der „Unterstützung“ <strong>für</strong><br />
ältere Menschen. Die potential support ratio (potentielle Unterstützungsrate) bezieht demnach<br />
48<br />
» Dem Phänomen des „doppelten“ Alterns entsprechend (<strong>in</strong>sgesamt mehr alte Menschen<br />
zum e<strong>in</strong>en bei wachsender Bedeutung der Hoch- und Höchstaltrigen zum<br />
anderen), zeigt sich bei den 80+- bzw. 85+Jährigen e<strong>in</strong>e noch dynamischere Entwicklung.<br />
Langfristig (bis 2050) erhöhen sich die Zahlen dieser beiden Altersgruppen von<br />
354.000 bzw. 134.000 auf knapp e<strong>in</strong>e Mio (80+ Jahre) bzw. mehr als e<strong>in</strong>e halbe Mio<br />
(85+ Jahre). Bereits <strong>in</strong> 20 Jahren (2026) werden damit doppelt so viele Menschen im<br />
Alter von 85 und mehr Jahren <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> leben wie heute, im Jahr 2050 vier Mal so<br />
viele. Die 80+Jährigen werden dann 11%, die 85+Jährigen 6% der Bevölkerung stellen<br />
(2005: 4,3% bzw. 1,6%). Bezogen auf die Gruppe der älteren Menschen <strong>in</strong>sgesamt<br />
(65+ Jahre) entfallen derzeit 26% auf die über 80-Jährigen und 10% auf die über<br />
85-Jährigen. Die skizzierte Entwicklung des „doppelten“ Alterns führt dazu, dass im<br />
Jahr 2050 jede/r vierte (39,6%) ältere Mensch 80 Jahre oder älter und bereits jeder/e<br />
Fünfte (21,3%) 85 Jahre oder älter ist.<br />
» Derzeit leben <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> knapp 10.000 Personen, die 95 Jahre oder älter s<strong>in</strong>d. Diese<br />
Zahl wird sich bis 2040 verdreifachen und bis 2050 vervierfachen.<br />
» Prognoseergebnisse liegen auch noch <strong>für</strong> die kle<strong>in</strong>e Gruppe jener Menschen vor, die<br />
99 Jahre oder älter s<strong>in</strong>d. <strong>Österreich</strong>weit leben derzeit rund 1.200 Personen <strong>in</strong> diesem<br />
extremen Altersbereich, im Jahr 2050 werden es 5.500 se<strong>in</strong>.<br />
» Für die „Centenarians“ (100+ Jahre) bleiben Prognosen aus methodischen Gründen<br />
fragwürdig. Hier lässt sich nur die Entwicklung der letzten Jahrzehnte beschreiben.<br />
Derzeit gibt es zwischen 800 und 900 100+Jährige (zu 85% Frauen), vor zehn Jahren<br />
lag diese Zahl bei rund 200.
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
die Zahl der Menschen im Er werbsalter auf die Zahl der Menschen im darüber liegenden Altersbereich,<br />
der Nenner der Abhängigkeitsrate wird damit zum Zähler und umgekehrt. Auf diese<br />
Weise lässt sich zeigen, dass derzeit jedem älteren Menschen im Alter von 65 und mehr Jahren<br />
4,2 Personen im Erwerbsalter (15 bis 64 Jahre) potentiell unterstützend zur Seite stehen. Bis zum<br />
Jahr 2050 wird sich dieses Verhältnis genau halbieren, d.h., jeder ältere Mensch hat dann lediglich<br />
knapp über zwei Personen im Erwerbsalter als potentielles Unterstützungsnetzwerk zur Verfügung.<br />
Tabelle 3: Entwicklung von Maßzahlen zur demografi schen Alterung der österreichischen<br />
Bevölkerung (Abhängigkeits- und Unterstützungsraten) vom letzten Drittel des 19. bis zur<br />
Mitte des 21. Jahrhunderts<br />
Jahr<br />
65+J./<br />
15-64 J.<br />
1869 7,8 9,1 13,5 15,9 12,8 3,2<br />
1880 8,7 10,0 15,1 17,6 11,5 3,4<br />
1890 9,2 10,7 15,2 17,9 10,9 4,0<br />
1900 8,9 10,4 14,9 17,6 11,3 4,5<br />
1910 9,4 11,0 15,5 18,3 10,6 4,6<br />
1923 9,3 10,8 15,6 18,4 10,8 3,9<br />
1934 11,6 12,7 19,1 21,0 8,6 5,3<br />
1951 15,9 17,6 25,4 28,3 6,3 6,8<br />
1955 17,2 19,3 27,4 31,0 5,8 7,5<br />
1960 18,6 21,1 30,4 35,0 5,4 8,7<br />
1965 20,8 23,3 34,0 38,6 4,8 10,2<br />
1970 22,9 25,7 36,2 41,1 4,4 13,1<br />
1975 24,0 27,4 36,1 41,8 4,2 14,8<br />
1980 24,0 27,8 31,7 37,0 4,2 17,2<br />
1985 21,0 24,0 32,0 37,0 4,8 19,1<br />
1990 22,1 24,5 32,3 36,2 4,5 22,3<br />
1995 22,6 24,7 31,6 34,8 4,4 23,5<br />
2000 22,8 25,1 33,1 36,6 4,4 20,0<br />
2005 24,0 26,3 35,4 39,1 4,2 24,3<br />
2010 25,7 28,2 36,8 40,8 3,9 25,5<br />
2015 27,3 29,7 38,9 42,6 3,7 23,7<br />
2020 29,2 31,6 43,1 47,1 3,4 24,4<br />
2025 32,7 35,4 49,5 54,2 3,1 28,5<br />
2030 37,6 40,9 55,5 61,0 2,7 33,7<br />
2035 42,1 45,9 58,6 64,5 2,4 38,4<br />
2040 44,4 48,4 60,1 66,2 2,3 44,4<br />
2045 45,4 49,4 62,3 68,6 2,2 51,4<br />
2050 46,7 50,9 63,9 70,4 2,1 58,1<br />
Quellen: Statistik Austria, Volkszählungen, Bevölkerungsfortschreibung bzw. Bevölkerungsregister sowie Bevölkerungsprog-<br />
nose 2006 (Hauptvariante)<br />
Abhängigkeitsraten (%) Unterstützungsraten<br />
65+J./<br />
20-64 J.<br />
60+J./<br />
15-59 J.<br />
60+J./<br />
20-59 J.<br />
Potential Support<br />
Ratio1)<br />
Parent Support<br />
Ratio2)<br />
49
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
E<strong>in</strong>e ähnliche Maßzahl ist die sogenannte parent support ratio. Hier werden die 80+Jährig en<br />
auf ihre K<strong>in</strong>dergeneration, also die Altersgruppe der 50- bis 64-Jährigen, bezogen. Da <strong>in</strong> den<br />
kommenden 15 Jahren die k<strong>in</strong>derreichste Generationen des 20. Jahrhunderts (die Eltern des<br />
Baby-Booms der späten 1950er und frühen 1960er Jahre) <strong>in</strong>s hohe Alter, die Baby-Boomer selbst<br />
<strong>in</strong>s sechste Lebensjahrzehnt kommen, verändert sich die parent support ratio bis 2020 kaum.<br />
Erst danach, wenn die nach 1950 geborenen, deutlich k<strong>in</strong>derärmeren Männer und Frauen das<br />
hohe Alter erreichen, verschlechtert sich das zahlenmäßige Verhältnis der 80+Jährigen zu ihrer<br />
K<strong>in</strong>dergeneration (50- bis 64-Jährige) von 25 pro Hundert auf nahezu 60 pro Hundert (2050).<br />
Die Kritik an den starren, chronologischen Altersgrenzen der Demografi e mit ihren darauf aufbauenden<br />
unrefl ektierten Interpretationen ist zweifellos berichtigt (wenn auch <strong>in</strong> der politischen<br />
Diskussion demografi scher Themen zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> kaum hörbar), Alternativen dazu<br />
s<strong>in</strong>d aber schwer zu fi nden bzw. e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>teressierten Öff entlichkeit schwer zu vermitteln. Der<br />
letztlich e<strong>in</strong>zige Versuch, die starren Altersgrenzen durch dynamische, an die Entwicklung der<br />
Lebenserwartung gekoppelte Gren zen zu ersetzen, stammt von Ryder ( 1975). Dieser Ansatz<br />
wurde im deutschen Sprachraum kaum, aber auc h <strong>in</strong>ternational nur vere<strong>in</strong>zelt aufgegriff en,<br />
wobei die Ursachen da<strong>für</strong> wohl zum E<strong>in</strong>en <strong>in</strong> der Verfügbarkeit der da<strong>für</strong> notwendigen Sterbetafeln<br />
<strong>für</strong> historische Zeiträume und <strong>für</strong> die Zukunft (Prognosesterbetafeln), zum Anderen <strong>in</strong> der<br />
<strong>für</strong> Nicht-Demografen schwierig durchschaubaren Methode und Interpretation liegen dürften.<br />
Abbildung 2: Demografi sche Alterung <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> vom letzten Drittel des 19. bis zur Mitte<br />
des 21. Jahrhunderts unter der Perspektive e<strong>in</strong>er „fi xen“ und<br />
e<strong>in</strong>er „dynamischen“ Altersgrenze<br />
50<br />
Anteil <strong>in</strong> %<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
fixe Altersgrenze<br />
(Bev. 65+ Jahre)<br />
dynamische Altersgrenze<br />
(Bevölkerung mit e<strong>in</strong>er ferneren<br />
Lebenserwartung < 10 Jahre)<br />
1870<br />
1880<br />
1890<br />
1900<br />
1910<br />
1920<br />
1930<br />
1940<br />
1950<br />
1960<br />
1970<br />
1980<br />
1990<br />
2000<br />
2010<br />
2020<br />
2030<br />
2040<br />
2050<br />
ä ö<br />
ö ä<br />
J a h r<br />
ö ö
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
Der Grundgedanke ist folgender: Viele Untersuchungen konnten zeigen, dass die letzten Lebensjahre<br />
e<strong>in</strong>es Menschen – u nabhängig vom Sterbealter - g esundheitsbed<strong>in</strong>gt besonders prekär<br />
und damit kosten- und pfl ege<strong>in</strong>tensiv s<strong>in</strong>d. Demografi sch ge wendet bedeutet dies, dass jener<br />
Personenkreis <strong>für</strong> die Ab schätzung der F olgen der demogr afi schen Alterung von besonderem<br />
Interesse ist, dessen fernere Lebenserwartung (durchschnittliche Lebenserwartung <strong>für</strong> e<strong>in</strong> bereits<br />
erreichtes Lebens alter) e<strong>in</strong>en bestimmten Wert unterschreitet. Welche Anzahl an Jahren hier<br />
herangezogen wird bleibt arbiträr, Ryder schlägt zehn Jahre vor. Mit anderen Worten: Dargestellt<br />
wird im dy namischen Indikator demografi schen Alterns der Anteil jener Altersgruppe an der<br />
Gesamtbevölkerung, dessen fernere Lebenserwartung (im jeweils betrachteten Jahr) kle<strong>in</strong>er als<br />
zehn Jahre ist. Durch die steigende Lebenserwartung „rutscht“ das Alter <strong>für</strong> diesen Schwellenwert<br />
entsprechend nach oben – e<strong>in</strong> Rückgang der Sterblichkeit kann auf diese Weise <strong>in</strong> der Logik des<br />
Indikators die steigende Zahl der durch e<strong>in</strong>e starre Altersgrenze defi nierten älteren Menschen<br />
kompensieren.<br />
Abbildung 2 zeigt die Erg ebnisse dieser (<strong>für</strong> Männer und Frauen getrennt durchgeführten)<br />
Berechnungen <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> fü r den Zeitraum seit 1870 <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit den Ergebnissen<br />
der Bevölkerungsprognose bis zum Jahr 2050 u nd im Vergleich mit dem „st arren“ Indikator<br />
„Anteil der Menschen im Alter von 65 und mehr Jahren“. Der historische Rückblick lässt dabei<br />
den Schluss zu, dass unter der Perspektive e<strong>in</strong>es dynamischen Alterungs<strong>in</strong>dikators die österreichische<br />
Bevölkerung bis jetzt demografi sch kaum gealtert wäre. Die Lebenserwartungsgew<strong>in</strong>ne<br />
(und damit implizit der bessere Gesundheitszustand) der älteren Menschen seit dem letzten<br />
Drittel des 19. Jahrhunderts haben die negativen Konsequenzen (steigender Versorgungs- und<br />
Pfl egebedarf) praktisch vollständig kompensiert. In den kommenden 25 Jahren würde sich an<br />
dieser Situation kaum etwas ändern, erst nach 2030 steigt der dynamische Indikator über das<br />
derzeitige Niveau von rund 6% auf über 9% (2050) an.<br />
1.1.2.2. WIE SICHER SIND DEMOGRAFISCHE PROGNOSEN?<br />
Die Ergebnisse von Bevölkerungs prog nosen weisen zum<strong>in</strong>dest <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Zeitraum von mehreren<br />
Jahrzehnten generell e<strong>in</strong>en hohen Grad an Sicherheit auf. Dies hat weder mit der besonders<br />
großen Expertise der beteiligten Personen noch mit der Verwendung besonders ausgefeilter<br />
Methoden zu tun. Die relative Sicherheit von Be völkerungsprognosen ist schlicht das Resultat<br />
der „Trägheit“ demografi scher Strukturen. So lebt der überwiegende Teil der Menschen des Jahres<br />
2030 bereits im Lande, nämlich alle über 25-Jährigen, die lediglich dem (gut kalkulierbaren)<br />
Risiko des Todes sowie dem (quantit ativ bescheidenen) Risiko der Abw anderung ausgesetzt<br />
s<strong>in</strong>d. Etwas unsicherer ist die Prognose der Zahl der Geburten (<strong>in</strong> unserem Beispiel die Zahl der<br />
unter 25-Jährigen des Jahres 2030), da hier nicht vorhersehbare Schwankungen der F ertilität<br />
e<strong>in</strong>e Rolle spielen können sowie generell die Zahl der Zuwan derer.<br />
51
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
52<br />
Jahr<br />
Tabelle 4: Entwicklung der Zahl älterer Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> bis zum Jahr 2050 <strong>in</strong><br />
Abhängigkeit von den Lebenserwartungsannahmen<br />
Hauptvariante Hohe Lebenserwartung Niedrige Lebenserwartung<br />
Quelle: Statistik Austria, Bevölkerungsprognose 2006.<br />
Benchmark-Variante<br />
65+ J. 75+J. 85+ J. 65+ J. 75+J. 85+ J. 65+ J. 75+J. 85+ J. 65+ J. 75+J. 85+ J.<br />
2005 1.338.387 634.174 134.243 1.338.387 634.174 134.243 1.338.387 634.174 134.243 1.338.387 634.174 134.243<br />
2010 1.464.751 662.351 182.424 1.472.924 668.221 185.362 1.458.817 656.952 179.192 1.457.393 656.800 179.968<br />
2015 1.570.466 726.056 206.026 1.596.228 747.092 217.340 1.546.212 707.029 194.013 1.536.698 700.243 193.718<br />
2020 1.677.343 818.028 211.895 1.728.056 861.947 236.124 1.628.111 780.489 190.009 1.604.086 760.262 185.803<br />
2025 1.851.116 896.586 250.237 1.932.262 966.333 291.402 1.770.685 834.569 215.663 1.726.697 797.946 204.331<br />
2030 2.077.222 972.877 298.326 2.195.821 1.072.719 362.976 1.959.067 880.953 244.860 1.890.102 826.278 224.179<br />
2035 2.272.929 1.097.701 332.543 2.434.369 1.233.631 422.577 2.113.948 971.557 258.725 2.016.495 895.283 230.298<br />
2040 2.374.171 1.264.925 366.564 2.579.756 1.442.475 482.743 2.174.399 1.100.466 272.790 2.045.976 994.753 235.478<br />
2045 2.422.314 1.404.146 437.304 2.674.841 1.628.969 588.497 2.178.996 1.196.167 315.170 2.021.341 1.057.704 263.165<br />
2050 2.474.145 1.451.093 527.600 2.776.609 1.724.666 725.677 2.186.366 1.200.992 367.714 2.007.117 1.038.179 296.969<br />
Besonders ger<strong>in</strong>g ist vor diesem H<strong>in</strong>tergrund die Progno seunsicherheit im Ber eich der älteren<br />
Menschen. Die Fertilitäts annahmen spielen hier ke<strong>in</strong>e Rolle (sehr wohl jedoch <strong>für</strong> den Anteil Älterer<br />
an der Gesamtbevölkerung) und (<strong>in</strong>ternationale) Migrationsprozesse betreff en ältere Menschen<br />
kaum. Als e<strong>in</strong>ziger wichtiger demografi scher E<strong>in</strong>fl ussfaktor bleibt die Sterblichkeit. Die B andbreite<br />
der denkbaren Entwicklungen lässt sich damit durch die voran stehend bereits skizzierten<br />
Prognosevarianten mit unterschiedlichen Lebenserwartungsannahmen gut abdecken (Tabelle 4).<br />
Steigt die Lebenserwartung stärker als <strong>in</strong> der sog. Hauptvariante, so fällt auch der Zuwachs<br />
der Zahl alter Menschen entsprec hend höher aus. F ür die Gruppe der 65+Jährigen wäre das<br />
bezogen auf das Jahr 2050 e<strong>in</strong> Plus von rund 300.000 Personen (2,78 Mio gegenüber 2,47<br />
Mio <strong>in</strong> der Hauptvariante). Entsprechend kle<strong>in</strong>er ist der Anstieg der Zahl älterer Menschen<br />
bei e<strong>in</strong>er deutlichen Verlangsamung der L ebenserwartungsgew<strong>in</strong>ne (Variante mit niedriger<br />
Lebenserwartung). Verglichen mit der Hau ptvariante beträgt der Unterschied im Jahr 2050<br />
288.000 Personen (2,19 Mio gegenüber 2,47 Mio).<br />
Besonders gravierend s<strong>in</strong>d die unterschiedlichen Annahmen im Bereich der Lebenser wartung <strong>für</strong><br />
die Zahl der sehr Alten und Hochbetagten. In der Hauptvariante steigt die Zahl der 85+Jährigen<br />
auf 528.000, bei noch st ärker steigender Lebenserwartung dagegen um be<strong>in</strong>ahe 200.000<br />
Personen mehr auf 726.000 (2050). Umgekehrt bedeutet e<strong>in</strong> nur mehr bescheidener Anstieg<br />
der Lebenserwartung bis zum Jahr 2050 um 160.000 weniger Hochbetagte (368.000) als <strong>in</strong> der<br />
Hauptvariante. Die Benchmark-Variante „friert“ die Lebenserwartung (ebenso wie die Fertilität und<br />
die Migration) auf dem Niveau des Jahres 2005 e<strong>in</strong>. Die Ergebnisse zeigen damit ausschließlich<br />
den Eff ekt der Altersstruktur, also des Nachrückens jeweils stärker oder schwächer besetzter<br />
Jahrgänge <strong>in</strong>s hohe Alter. Die Verdoppelung der Zahl der 85+Jährigen (von derzeit 134.000 auf<br />
knapp 297.000 im Jahr 2050) <strong>in</strong> dieser Prognosevariante belegt den großen E<strong>in</strong>fl uss der derzeitigen<br />
Altersstruktur auf die demografi sche Alterung der kommenden Jahrzehnte.
1.1.2.3. GESCHLECHTSSPEZIFISCHE ASPEKTE<br />
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
Derzeit (2005) leben <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> 805.000 Frauen und 533.000 Männer im Alter von 65 und<br />
mehr Jahren (Tabelle 5). Die Ge schlechterproportion (Männer auf 100 Frauen) <strong>für</strong> diese Altersgruppe<br />
beträgt damit 66 (Tabelle 6). E<strong>in</strong>e Ursache dieses quantitativen Ungleichgewichts ist die<br />
kürzere Lebenserwartung der Männer. Sie sorgt da<strong>für</strong>, dass die Geschlechterproportion desto<br />
stärker zugunsten der Frauen ausfällt, je höher die betrachtete Alters gruppe ist. So lautet das<br />
Geschlechter ver hältnis bei der über 7-Jährigen Bevölkerung 100 Frauen zu 50 Männer. Und im<br />
hohen Alter (85+ Jahre) gibt es rund dreimal so viele Frauen wie Männer.<br />
Tabelle 5: Entwicklung der Zahl älterer Männer und Frauen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> seit 1970,<br />
Prognosen bis 2050<br />
65+ Jahre 75+ Jahre 80+ Jahre<br />
85+ Jahre<br />
Jahr Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen<br />
absolut <strong>in</strong> 1.000<br />
1970 397,7 653,4 114,8 235,4 49,8 108,5 16,3 36,8<br />
1975 418,0 709,0 126,1 268,0 51,1 124,1 16,6 43,3<br />
1980 420,7 742,2 144,3 305,0 57,3 144,9 17,2 50,9<br />
1985 374,0 699,8 156,5 339,2 68,6 169,9 20,5 62,1<br />
1990 395,0 751,6 165,2 365,2 78,1 196,3 26,2 77,3<br />
1995 432,6 769,9 147,3 341,1 86,3 219,5 31,8 94,9<br />
2000 465,9 769,9 172,8 394,9 76,9 201,8 36,5 108,1<br />
2005 533,3 805,1 211,3 422,9 100,7 253,5 34,0 100,3<br />
2010 606,5 858,3 236,1 426,3 125,4 271,9 46,9 135,5<br />
2015 666,6 903,8 275,7 450,4 140,4 272,2 60,4 145,6<br />
2020 721,6 955,7 321,9 496,1 168,5 294,1 67,4 144,5<br />
2025 804,5 1046,6 358,7 537,8 200,8 335,8 85,2 165,0<br />
2030 910,2 1167,0 391,6 581,3 225,3 369,5 103,0 195,3<br />
2035 999,0 1274,0 447,0 650,7 247,2 401,0 116,3 216,3<br />
2040 1040,8 1333,4 522,1 742,9 289,7 457,1 129,6 237,0<br />
2045 1060,4 1361,9 581,4 822,8 346,6 534,0 157,7 279,6<br />
2050 1081,5 1392,6 597,4 853,7 386,6 593,7 193,3 334,3<br />
Quellen: Statistik Austria, Bevölkerungsfortschreibung bzw. Bevölkerungsregister sowie Bevölkerungsprognose 2006<br />
(Hauptvariante)<br />
53
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
54<br />
Tabelle 6: Entwicklung der Geschlechterproportionen im höheren Erwachsenenalter <strong>in</strong><br />
<strong>Österreich</strong> seit 1970, Prognosen bis 2050<br />
Jahr<br />
<strong>in</strong>sg. 50+ Jahre<br />
Männer auf 1.000 Frauen<br />
60+ Jahre 65+ Jahre 75+ Jahre 80+ Jahre 85+ Jahre<br />
1970 891 675 646 609 488 459 443<br />
1975 896 649 619 590 471 412 384<br />
1980 896 659 586 567 473 396 338<br />
1985 904 678 567 534 461 404 330<br />
1990 918 708 595 526 452 398 338<br />
1995 932 741 629 562 432 393 335<br />
2000 937 774 675 605 438 381 338<br />
2005 946 804 723 662 500 397 339<br />
2010 951 829 756 707 554 461 346<br />
2015 953 850 779 738 612 516 415<br />
2020 953 859 797 755 649 573 467<br />
2025 951 857 810 769 667 598 516<br />
2030 948 856 813 780 674 610 527<br />
2035 946 853 810 784 687 616 538<br />
2040 944 851 809 781 703 634 547<br />
2045 943 848 806 779 707 649 564<br />
2050 942 847 804 777 700 651 578<br />
Quellen: Statistik Austria, Bevölkerungsfortschreibung bzw. Bevölkerungsregister sowie Bevölkerungsprognose 2006<br />
(Hauptvariante)<br />
Neben den Unterschieden <strong>in</strong> der L ebenserwartung hat das zahlenmäßige Ungleichgewicht<br />
auch historische Gründe, nämlich die Folgen zweier Weltkriege mit ihrer hohen Zahl an Militärsterbefällen.<br />
Dieser Faktor verliert durch das allmähliche „Wegsterben“ der davon betroff enen<br />
Jahrgänge allerd<strong>in</strong>gs zunehmend an Bedeutung. Dazu kommt, dass die Sterblichkeitsannahmen<br />
der Bev ölkerungsprognose den seit Mitte der 1980er Jahre beobac htbaren Trend e<strong>in</strong>er<br />
kont<strong>in</strong>uierlichen Verr<strong>in</strong>gerung der Lebenserwartungsdiff erenz zwischen Frauen und Männern<br />
(1984: 7,2 Jahre; 2005: 5,6 Jahre) fortschreiben. In den kommenden Jahrzehnten steigt daher<br />
die Zahl der älteren Männer deutlich stärker als die Zahl der älteren Frauen, d.h., die Geschlechterproportionen<br />
werden etwas ausgeglichener se<strong>in</strong> als heute. Konkret heißt das: Ab dem Jahr<br />
2030 entfallen bei den über 65-Jährigen 78 Männer auf 100 Frauen, und bei den Hochbetagten<br />
(85+Jahre) wird es nicht mehr dreimal sondern nur mehr rund doppelt so viele Frauen wie<br />
Männer geben. Die ab solute Zahl hochbetagter Männer steig t damit bis zum Jahr 2050 von<br />
34.000 auf 193.000, jene der gleichaltrigen Frauen von 100.000 auf 334.000. Damit bleibt das<br />
Alter, <strong>in</strong>sbesondere das hohe Alter, auch <strong>in</strong> Zukunft e<strong>in</strong>e weiblich dom<strong>in</strong>ierte Lebensphase.
1.1.2.4. REGIONALE ASPEKTE<br />
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
Die Entwicklung von Zahl und Anteil älterer Menschen <strong>in</strong> der österreichischen Bevölkerung<br />
im 20. Jahrhundert wurde ganz wesentlich durch die außergewöhnliche Entwicklung Wiens<br />
bee<strong>in</strong>fl usst. Die demogr afi sche Alterung Wiens erreichte schon <strong>in</strong> den frühen 1 960er Jahren<br />
ihren Höhepunkt. Seither wird Wien durch das Nachrücken besonders stark besetzter Geburtsjahrgänge<br />
<strong>in</strong>s Hauptsterbealter, aber auch durch Zuwanderung demografi sch gesehen wieder<br />
jünger. Heute entspricht der Anteil älterer Menschen über 65 Jahre <strong>in</strong> Wien mit 16% dem österreichischen<br />
Durchschnitts wert.<br />
Tabelle 7: Entwicklung der Zahl älterer Menschen nach Bundesländern seit 1970,<br />
Prognosen bis 2050<br />
Jahr <strong>Österreich</strong><br />
Burgenland<br />
Kärnten<br />
Nieder-<br />
österreich<br />
Ober-<br />
österreich<br />
Quellen: Statistik Austria, Volkszählungen (1880-1951), Bevölkerungsfortschreibung (Jahresdurchschnitt; 1960-2000) und<br />
Bevölkerungsprognose (Jahresdurchschnitt; Hauptvariante)<br />
Bevölkerung im Alter von 65 und mehr Jahren<br />
Salzburg Steiermark Tirol Vorarlberg Wien<br />
<strong>Österreich</strong><br />
ohne Wien<br />
1970 1.051.060 35.824 59.107 212.932 144.946 43.773 150.741 56.483 25.310 321.944 729.116<br />
1980 1.162.928 40.678 72.828 231.430 166.884 54.773 171.398 71.018 32.437 321.482 841.446<br />
1990 1.146.612 42.803 78.671 225.439 177.026 59.919 175.691 76.028 34.979 276.056 870.556<br />
2000 1.235.840 49.348 90.556 246.465 201.987 68.944 194.926 88.900 42.700 252.014 983.826<br />
2005 1.338.387 53.557 98.239 270.979 221.543 76.655 210.043 100.563 49.160 257.648 1.080.739<br />
2015 1.570.466 58.109 111.976 317.718 255.044 97.150 235.835 126.724 63.139 304.771 1.265.695<br />
2030 2.077.222 78.362 149.871 419.341 352.623 134.194 308.521 175.071 87.922 371.317 1.705.905<br />
2050 2.474.145 91.586 165.822 512.448 419.565 160.267 356.807 212.369 108.703 446.578 2.027.567<br />
Bevölkerung im Alter von 75 und mehr Jahren<br />
1970 350.229 11.232 18.932 72.303 46.860 13.640 49.368 18.469 8.050 111.375 238.854<br />
1980 449.268 15.202 26.414 91.789 61.868 19.933 63.005 25.795 11.869 133.393 315.875<br />
1990 530.433 18.563 34.880 105.528 77.457 25.546 77.443 35.568 16.598 138.850 391.583<br />
2000 567.703 21.308 41.126 110.013 90.042 31.529 88.350 39.645 18.106 127.584 440.119<br />
2005 634.174 25.012 47.721 124.818 102.507 35.495 100.910 45.721 21.399 130.591 503.583<br />
2015 726.056 29.007 53.498 148.450 121.702 43.259 112.954 57.386 28.540 131.260 594.796<br />
2030 972.877 36.418 70.536 195.966 160.491 63.994 143.407 83.130 41.837 177.098 795.779<br />
2050 1.451.093 54.729 102.066 300.576 249.773 94.987 212.771 128.227 64.293 243.671 1.207.422<br />
Bevölkerung im Alter von 85 und mehr Jahren<br />
1970 53.043 1.634 2.836 11.767 6.606 1.978 7.227 2.864 1.242 16.889 36.154<br />
1980 68.134 2.196 3.885 14.411 8.925 2.839 9.239 3.894 1.678 21.067 47.067<br />
1990 103.411 3.372 6.252 21.179 14.095 4.486 14.001 6.772 3.303 29.951 73.460<br />
2000 144.626 4.745 10.253 28.025 21.162 7.858 21.161 10.620 4.962 35.840 108.786<br />
2005 134.243 4.425 10.162 25.153 20.891 7.758 20.645 10.043 4.363 30.803 103.440<br />
2015 206.026 7.995 15.972 40.409 33.562 12.309 32.687 15.631 7.525 39.936 166.090<br />
2030 298.326 10.130 21.549 60.907 47.959 19.655 44.004 26.152 12.720 55.250 243.076<br />
2050 527.600 20.247 39.715 107.840 92.972 35.253 78.477 48.827 23.797 80.472 447.128<br />
55
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
Diese Sonderentwicklung Wiens wird sich auch <strong>in</strong> den k ommenden Jahrzehnten fortsetzten.<br />
Die Anteile der über 65-Jährigen werden zwar auch zukünftig im Osten und Süden <strong>Österreich</strong>s<br />
höher se<strong>in</strong> als im Westen des Bundesgebietes. E<strong>in</strong>e deutliche Ausnahme <strong>in</strong> der Ostregion bildet<br />
allerd<strong>in</strong>gs Wien, wo der Anteil der älteren Menschen von dzt. 16,0% (2005) nur auf 19,3% (2030)<br />
steigen dürfte. Das wäre zu diesem Zeitpunkt der niedrigste Anteil über 65-Jähriger aller Bundesländer.<br />
Demo grafi sch deutlich älter wird die Bevölkerung im Burgenland und <strong>in</strong> Kärnten se<strong>in</strong>.<br />
Hier zählen 2031 mehr als 28% der Bevölkerung zur Gruppe der älteren Menschen (65+ Jahre)<br />
E<strong>in</strong> anderes Bild zeigt sich bei der Betrachtung der Absolutveränderungen der über 65-Jährigen<br />
Bevölkerung (Tabelle 7). Hier s<strong>in</strong>d die stärksten Zuwächse im Westen <strong>Österreich</strong>s zu erwarten.<br />
In Vorarlberg (+104%), <strong>in</strong> Tirol (+98%) u nd <strong>in</strong> Salzburg (+98%) w ird sich die Zahl der über<br />
65-Jährigen im Laufe des Prognose zeitraumes gegenüber 2005 verdoppeln. Oberösterreich,<br />
Niederösterreich und Kärnten liegen mit Zuwächsen von +76%, +71% bzw. +68% bis zum Jahr<br />
2030 näher am Bundesdurchschnitt von +70%. In Wien (+50%) sowie im Burgenland (+57%)<br />
und <strong>in</strong> der Steiermark (+59%) s<strong>in</strong>d die prognostiz ierten Anstiege der über 65-Jährig en am<br />
niedrigsten.<br />
Kle<strong>in</strong>räumige demografi sche Prognosen auf der Ebene der politischen Bezirke <strong>Österreich</strong>s machen<br />
deutlich, dass wir <strong>in</strong> Zukunft mit zwei unterschiedlichen regionalen Entwicklungsmustern<br />
konfrontiert se<strong>in</strong> werden:<br />
1. In den strukturschwachen Regionen Ost- und Südösterreichs, also im Waldviertel, im<br />
nördlichen We<strong>in</strong>viertel, im Mittelburgenland, <strong>in</strong> der Obersteiermark sowie <strong>in</strong> Teilen Kärntens<br />
wird die Zahl der alten Menschen vergleichsweise wenig ansteigen, der jetzt schon<br />
hohe Anteil älterer Menschen wird allerd<strong>in</strong>gs weiter wachsen und <strong>in</strong> manchen dieser<br />
Regionen auf rund 35% klettern. Dieser Trend wird möglicherweise <strong>in</strong> Zukunft noch dadurch<br />
verstärkt, dass die landschaftlich attraktiven Teile der Peripherie als (zusätzliche)<br />
Wohnsitze <strong>für</strong> die noch mobilen alten Menschen der städtischen Ballungsräume genutzt<br />
werden.<br />
2. In den suburbanen Gebieten mit starker Zuwanderung sowie <strong>in</strong> den westösterreichischen<br />
Regionen mit e<strong>in</strong>er bis <strong>in</strong> die jüngere Vergangenheit vergleichsweise hohen Fertilität wird<br />
die Zahl alter Menschen stark zunehmen. Der Bedarf an entsprechender mediz<strong>in</strong>ischer<br />
und pfl egerischer Infrastruktur wird die Kommunalpolitik der betroff enen Regio-nen und<br />
Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Jahrzehnten nachhaltig dom<strong>in</strong>ieren. Da aber auch die erwerbsfähige<br />
Bevölkerung wächst und die Zahl der Jugendlichen nur ger<strong>in</strong>gfügig kle<strong>in</strong>er wird, steigt<br />
der Altenanteil zwar an, bleibt hier aber unter dem österreichischen Durchschnitt.<br />
56
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
Abbildung 3: Entwicklung der Zahl der über 65-Jährigen und über 85-Jährigen 2001-2031<br />
nach Politischen Bezirken<br />
57
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
1.1.2.5. ÄLTERE MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND<br />
Derzeit leben <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> nur wenige ältere Menschen, die nicht die österreichische Staatsbürgerschaft<br />
besitzen. Insgesamt triff t das auf 46.000 Personen (=3,2%) im Alter von 65 und mehr<br />
Jahren zu. Deutlich größer ist mit 168.000 Personen (=12,0%) die Gruppe der außerhalb der<br />
Grenzen des heutigen <strong>Österreich</strong> geborenen älteren Menschen (Tabelle 8). Allerd<strong>in</strong>gs handelt<br />
es sich dabei wohl zum überwiegenden Teil um Menschen aus deutschsprachigen Gebieten, die<br />
im Zuge der politischen Folgen des 2. Weltkriegs nach 1945 nach <strong>Österreich</strong> kamen. Derzeit gibt<br />
es ke<strong>in</strong>e verlässlichen Prognosen, wie sich die Zahl der älteren Ausländer und Ausländer<strong>in</strong>nen<br />
bzw. die Zahl der foreign born <strong>in</strong> den kommenden Jahrzehnten entwickeln werden. Während<br />
Prognosen über Ausl änderzahlen – aufgru nd der schwierig vorhersehbaren Entwicklung der<br />
E<strong>in</strong>bürgerungsquoten - generell fragwürdig bleiben, ließe sich die Zahl der älteren Menschen<br />
mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund grundsätzlich leichter vorausberechnen. Schon e<strong>in</strong> Blick auf die<br />
aktuellen Zahlen der im Ausland geborenen jüngeren Menschen macht klar, dass das Alter <strong>in</strong><br />
Zukunft ethno-kulturell deutlich heterogener se<strong>in</strong> wird als heute. So s<strong>in</strong>d fast 19% der 30- bis<br />
unter 50-Jährigen außerhalb der Grenzen <strong>Österreich</strong>s geboren. Mit e<strong>in</strong>em Anteilswert gleicher<br />
Größenordnung ist daher <strong>in</strong> etwa 20 bis 30 Jahren auch bei den über 65-Jährigen zu rechnen.<br />
58<br />
Tabelle 8: Bevölkerung am 1.1.2007 nach Geburtsland, Staatsangehörigkeit und Alter<br />
Alter<br />
(<strong>in</strong> Jahren)<br />
Quelle: Statistik Austria<br />
Insgesamt<br />
absolut <strong>in</strong><br />
1.000<br />
1.1.2.6. HAUSHALTSPROGNOSEN<br />
im Inland Geborene im Ausland Geborene<br />
<strong>in</strong>sgesamt Österr.<br />
Nicht-<br />
Österr.<br />
<strong>in</strong>sgesamt<br />
<strong>in</strong> %<br />
Österr.<br />
Nicht-<br />
Österr.<br />
Insgesamt 8.298,90 85,1 83,7 1,4 14,9 6,3 8,6<br />
unter 15 1.294,70 94,1 87,9 6,3 5,9 1,9 4,0<br />
15 bis unter 30 1.550,90 82,5 81,2 1,2 17,5 5,0 12,6<br />
30 bis unter 50 2.588,80 81,4 81,0 0,4 18,6 7,1 11,5<br />
50 bis unter 65 1.461,50 83,7 83,5 0,2 16,3 7,9 8,4<br />
65 u.m. Jahre 1.403,00 88,0 87,8 0,2 12,0 8,9 3,0<br />
75 u.m. Jahre 651,90 88,4 88,2 0,3 11,6 9,5 2,0<br />
Haushaltsprognosen schreiben die alters- u nd geschlechtsspezifi schen Trends des Lebens<br />
<strong>in</strong> E<strong>in</strong>- und Mehrpersonenhaus halten bzw. <strong>in</strong> Anstaltshaushalten fort und verknüpfen diese<br />
Entwicklung mit den Ergebnissen demografi scher Prognosen (Hanika 2006). Auf diese Weise<br />
lässt sich abschätzen, w ie sich die Zahl der alle<strong>in</strong>lebenden älteren Menschen bz w. die Zahl<br />
der <strong>in</strong> Instit utionen (Alten- u nd Pfl egeheimen) lebenden älteren Männer u nd Frauen <strong>in</strong> den<br />
kommenden Jahrzehnten verändern wird (Tabelle 9).
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
Derzeit leben 433.000 (=31,4%) ältere Menschen (65+ Jahre) alle<strong>in</strong>e und weitere 58.000 (4,2%)<br />
<strong>in</strong> Anstalten. Dabei s<strong>in</strong>d nahezu 80% der alle<strong>in</strong>lebenden und der <strong>in</strong> Anstalten lebenden Personen<br />
Frauen. Da die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit alle<strong>in</strong>e bzw. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Anstaltshaushalt zu leben mit dem<br />
Lebens alter deutlich ansteigt, sorgt das demografi sche Altern der Bevölkerung da<strong>für</strong>, dass die<br />
Zahl der nicht <strong>in</strong> Mehrpersonenhaushalten lebenden älteren Menschen <strong>in</strong> Zukunft stark ansteigt.<br />
Für die 65+Jährigen zeigen die entsprechenden Progno sen e<strong>in</strong>e Zunahme der Alle<strong>in</strong>lebenden<br />
um 83% auf 794.000 bzw. e<strong>in</strong>en Anstieg der <strong>in</strong> Institutionen Lebenden um den Faktor 2,5 auf<br />
147.000 bis zum Jahr 2050. Der Männeranteil bei diesen Personengruppen bleibt auch <strong>in</strong> Zukunft<br />
deutlich unter 30%. Trotz des vergleichsweise etwas stärkeren Anstiegs der Zahl älterer Männer<br />
bleibt das Leben ohne Angehörige damit auch <strong>in</strong> Zukunft <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong> „Frauenschicksal“.<br />
Tabelle 9: Ältere Menschen <strong>in</strong> E<strong>in</strong>- und Mehrpersonenhaushalten bzw. Anstaltshaushalten,<br />
Prognose bis 2050<br />
Jahr<br />
E<strong>in</strong>personenhaushalten<br />
Personen <strong>in</strong> …<br />
Mehrpersonenhaushalten<br />
Anstaltshaushalten<br />
Insgesamt<br />
Quelle: Statistik Austria, Haushaltsprognose 2006<br />
E<strong>in</strong>personenhaushalten<br />
Männer <strong>in</strong> …<br />
Mehrpersonenhaushalten<br />
Anstaltshaushalten<br />
<strong>in</strong>sgesamt<br />
E<strong>in</strong>personenhaushalten<br />
Mehrpersonenhaushalten<br />
Anstaltshaushalten<br />
2001 1.122.847 6.830.538 89.661 8.043.046 456.949 3.403.833 33.347 3.894.129 665.898 3.426.705 56.314 4.148.917<br />
2006 1.222.726 6.964.818 96.462 8.284.006 516.776 3.476.775 35.893 4.029.444 705.950 3.488.043 60.569 4.254.562<br />
2015 1.396.750 7.049.182 109.034 8.554.966 614.594 3.519.756 40.413 4.174.763 782.156 3.529.426 68.621 4.380.203<br />
2030 1.579.647 7.138.221 134.291 8.852.159 683.712 3.576.372 47.884 4.307.968 895.935 3.561.849 86.407 4.544.191<br />
2050 1.702.960 7.101.383 185.441 8.989.784 714.617 3.585.805 60.451 4.360.873 988.343 3.515.578 124.990 4.628.911<br />
65+ Jahre<br />
2001 404.856 786.509 52.755 1.244.120 75.227 387.766 10.279 473.272 329.629 398.743 42.476 770.848<br />
2006 432.986 888.960 58.223 1.380.169 92.377 451.863 12.029 556.269 340.609 437.097 46.194 823.900<br />
2015 484.608 1.016.713 69.145 1.570.466 121.985 528.939 15.722 666.646 362.623 487.774 53.423 903.820<br />
2030 640.753 1.341.300 95.169 2.077.222 176.781 709.510 23.922 910.213 463.972 631.790 71.247 1.167.009<br />
2050 794.361 1.532.486 147.298 2.474.145 222.892 821.656 36.959 1.081.507 571.469 710.830 110.339 1.392.638<br />
75+ Jahre<br />
2001 242.173 298.322 44.523 585.018 35.974 136.956 7.300 180.230 206.199 161.366 37.223 404.788<br />
2006 253.217 342.381 49.348 644.946 43.849 166.182 8.649 218.680 209.368 176.199 40.699 426.266<br />
2015 267.111 400.264 58.681 726.056 59.090 204.841 11.759 275.690 208.021 195.423 46.922 450.366<br />
2030 353.622 537.686 81.569 972.877 90.253 282.662 18.647 391.562 263.369 255.024 62.922 581.315<br />
2050 526.447 789.995 134.651 1.451.093 141.324 424.051 32.017 597.392 385.123 365.944 102.634 853.701<br />
85+ Jahre<br />
Männer<br />
<strong>in</strong>sgesamt<br />
Frauen <strong>in</strong> …<br />
Frauen<br />
<strong>in</strong>sgesamt<br />
2001 62.236 53.770 25.003 141.009 10.009 21.829 3.626 35.464 52.227 31.941 21.377 105.545<br />
2006 63.187 55.838 26.180 145.205 10.431 22.725 3.867 37.023 52.756 33.113 22.313 108.182<br />
2015 84.692 85.207 36.127 206.026 17.038 37.296 6.065 60.399 67.654 47.911 30.062 145.627<br />
2030 114.485 132.327 51.514 298.326 29.851 62.479 10.685 103.015 84.634 69.848 40.829 195.311<br />
2050 200.126 235.288 92.186 527.600 55.982 116.826 20.456 193.264 144.144 118.462 71.730 334.336<br />
59
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
Von besonderem sozial- und gesundheitspolitischem Interesse ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />
die Entwicklung <strong>in</strong> j enem Altersbereich, <strong>in</strong> dem da s Risiko auf Hilfe oder Pfl ege angewiesen<br />
zu se<strong>in</strong>, besonders hoch i st. Derzeit lebt die Mehrheit der <strong>in</strong>sgesamt rund 145.000 hochbetagten<br />
Personen im Alter von 85 u nd mehr Jahren al le<strong>in</strong>e (63.000), weitere 26 .000 leben <strong>in</strong><br />
Anstaltshaushalten. Durch den <strong>in</strong>sges amt massiven Anstieg der Hoc hbetagten auf mehr als<br />
e<strong>in</strong>e halbe Million Menschen bis zum Jahr 2050 vervielfacht sich den Prognosen zufolge auch<br />
die Zahl der alle<strong>in</strong>e bzw. <strong>in</strong> Anstalten lebenden Männer und Frauen dieser Altersgruppe. Mitte<br />
des Jahrhunderts wären dann 200.000 Hochbetagte im Fall der Hilfs- und Pfl egebedürftigkeit<br />
auf die Betreuung von außerhalb des Haushalts lebenden Personen angewiesen. Relativ noch<br />
stärker ist die Zunahme im Bereich der <strong>in</strong> Alten- und Pfl egheimen lebenden Menschen. Die <strong>für</strong><br />
2050 prognostizierte Zahl von 92.000 hochbetagten Bewohner und Bewohner<strong>in</strong>nen entspricht<br />
ungefähr der Zahl der derzeit <strong>in</strong>sgesamt, also über alle Altersgruppen h<strong>in</strong>weg, <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> <strong>in</strong><br />
Anstaltshaushalten lebenden Menschen.<br />
1.2. Das älter werdende Individuum<br />
1.2.1. Der epidemiologische Übergang<br />
In <strong>Österreich</strong> setz te im letz ten Drittel des 19. Jahrhunderts jener fundamentale Wan del der<br />
Sterblichkeitsverhältnisse e<strong>in</strong>, der seit Omran (1971) <strong>in</strong> An lehnung an den „demogr afi schen<br />
Übergang“ als der „epidemiologische Übergang“ bezeichnet wird. Die Mortalitätsverhältnisse<br />
begannen sich dabei <strong>in</strong> dreierlei H<strong>in</strong>sicht zu verändern: Das Sterbealter stieg an, parallel dazu<br />
kam es zu e<strong>in</strong>em Wandel des Todesursachenspektrums, und die durchschnittliche Lebenserwartung<br />
erhöhte sich kont<strong>in</strong>uierlich.<br />
Unter vor<strong>in</strong>dustriellen Sterblichkeitsverhältnissen betraf der Tod überwiegend die jüngsten<br />
Altersgruppen, vor allem das Säugl<strong>in</strong>gs- und Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>dalter. Alle<strong>in</strong> auf die 0- bis unter 5-Jährigen<br />
entfi el nahezu die Hälfte aller Todesfälle. Der Tod e<strong>in</strong>es alten oder gar sehr alten Menschen war<br />
demgegenüber e<strong>in</strong> seltenes Ereignis: Von 100 Verstorbenen waren im Durchschnitt lediglich e<strong>in</strong><br />
bis zwei 85 Jahre oder älter . Diese Altersverteilung der Todesfälle wurde im Laufe der letz ten<br />
130 Jahre buchstäblich auf den Kopf gestellt. Rund zwei Drittel aller Verstorbenen s<strong>in</strong>d heute<br />
75 Jahre oder älter, weniger als 2% jünger als 30 Jahre. Der Tod wird damit heute von uns ganz<br />
selbstverständlich mit dem hohen Alter assoziiert. H<strong>in</strong>ter diesen Veränderungen im Sterbealter<br />
steht der grundlegende Wandel des Todesursachenspektrums. An die Stelle tödlich verlaufender<br />
Infektionskrankheiten traten nach und nach chronisch-degenerative Krankheitsformen des<br />
höheren Erwachsenenalters, also <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebs. Zusammen<br />
s<strong>in</strong>d diese beiden Krankheitsgruppen gegenwärtig <strong>für</strong> 70% bis 80% aller Todesfälle <strong>in</strong><br />
<strong>Österreich</strong> (ebenso wie <strong>in</strong> Westeuropa <strong>in</strong>sgesamt) verantwortlich. Der „Rückzug“ des Todes aus<br />
dem Säugl<strong>in</strong>gs- und K<strong>in</strong>desalter ließ die Lebenserwartung entsprechend ansteigen. So zeigen<br />
die Sterbetafeln <strong>für</strong> das Jahr 18 70 e<strong>in</strong>e du rchschnittliche Lebenserwartung (bei der Geburt)<br />
von lediglich 33 Jahren <strong>für</strong> Männer bzw. 36 Jahren <strong>für</strong> Frauen. Bis 1960 verdoppelten sich diese<br />
Werte: Männer konnten dann bereits mit 65 Jahren, Frauen mit 72 Jahren rechnen.<br />
60
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
1.2.2. Die vierte Phase des epidemiologischen Übergangs: die Sterblichkeitsentwicklung<br />
der letzten Jahrzehnte<br />
Nicht nur <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> sondern <strong>in</strong> den meisten westlichen Industriestaaten brachten die 1960er<br />
Jahre kaum weitere Lebenserwartungsgew<strong>in</strong>ne. Vor dem H<strong>in</strong>tergrund dieser Entwicklung g<strong>in</strong>g<br />
man damals allgeme<strong>in</strong> davon aus, dass der „epidemiologische Übergang“ <strong>in</strong> den wirtschaftlich<br />
entwickelten Ländern weitgehend abgeschlossen wäre. Die Sterberaten <strong>in</strong> den ersten Lebensjahren<br />
waren bereits sehr ger<strong>in</strong>g, weitere substantielle Gew<strong>in</strong>ne an Lebens erwartung wären<br />
damit – so die Me<strong>in</strong>ung vieler Experten und Expert<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> den frühen 1970er Jahren – <strong>in</strong> Zukunft<br />
kaum mehr zu erwarten. Im Rückblick wissen wir, dass diese E<strong>in</strong>schätzung falsch war. Denn seit<br />
den frühen 1970er Jahren steigt die Lebenserwartung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em beachtlichen Tempo weiter an, <strong>in</strong><br />
<strong>Österreich</strong> im Ausmaß von rund zwei bis drei Jahren pro Jahrzehnt. Da<strong>für</strong> verantwortlich ist vor<br />
allem der Rückgang der Sterblichkeit im höheren Erwachsenenalter. In dieser neuen, „vierten“<br />
Phase des „epidemiologischen Übergangs“ (Olshansky & Ault 1986), bleiben Zivilisationskrankheiten<br />
zwar die hauptsächlichen Todesursachen, das Sterberisiko verlagert sich aber <strong>für</strong> viele<br />
dieser Krankheiten sukzessive <strong>in</strong> e<strong>in</strong> immer höheres L ebensalter, da sie entweder erst später<br />
im Leben auftreten, sich langsamer entwickeln oder – aufgrund mediz<strong>in</strong>ischer Interventionen<br />
– erst nach längerer Dauer zum Tod führen.<br />
Tabelle 10: Entwicklung der ferneren Lebenserwartung im hohen Erwachsenenalter nach<br />
Geschlecht seit 1970<br />
fernere Lebenserwartung im Alter … <strong>in</strong> Jahren<br />
Jahr<br />
Männer Frauen<br />
65 75 80 85 90 65 75 80 85 90<br />
1970/72 11,9 7,1 5,3 3,9 3,0 15,1 8,6 6,1 4,4 3,3<br />
1980/82 13,0 7,5 5,5 4,1 3,0 16,4 9,3 6,6 4,6 3,3<br />
1990/92 14,5 8,6 6,3 4,5 3,2 18,0 10,5 7,5 5,2 3,6<br />
2000/2002 16,2 9,7 7,0 5,0 3,4 19,7 11,8 8,5 5,8 3,9<br />
2006 17,2 10,4 7,5 5,3 3,7 20,6 12,5 9,0 6,2 4,2<br />
Quelle: Statistik Austria, Sterbetafeln 1970/72 bis 2006<br />
61
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
62<br />
Tabelle 11: Die steigenden Überlebenschancen im hohen und höchsten Alter: Überlebenswahrsche<strong>in</strong>lichkeiten<br />
1970 bis 2006<br />
Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit 65-Jähriger, den Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit 80-Jähriger, den<br />
Jahr<br />
80. Geburtstag zu erleben (<strong>in</strong> %) 90. Geburtstag zu erleben (<strong>in</strong> %)<br />
Männer Frauen Männer Frauen<br />
1970 32,0 49,8 13,0 18,7<br />
1975 34,5 53,9 12,8 20,0<br />
1980 38,4 57,5 14,7 22,2<br />
1985 42,2 60,8 15,6 24,2<br />
1990 47,1 66,1 19,8 28,2<br />
1995 50,4 68,9 21,3 32,1<br />
2000 55,0 72,5 26,1 36,0<br />
2001 56,8 73,7 27,0 38,3<br />
2002 57,0 73,4 26,8 37,9<br />
2003 57,2 74,2 27,1 36,8<br />
2004 59,4 75,7 29,0 39,5<br />
2005 60,2 75,8 29,0 39,8<br />
2006 61,5 76,5 30,0 41,0<br />
Quelle: Statistik Austria, Sterbetafeln 1970 bis 2006; eigene Berechnungen<br />
Aus demografi scher Sicht bewirkte der Sterblichkeitsrückgang der letzten Jahrzehnte jedenfalls<br />
e<strong>in</strong>e sub stantielle „Expansion“ der Altersph ase. Die Dy namik dieser Entw icklung stellt<br />
dabei – <strong>in</strong>sbesondere bei den Männern – im hi storischen Langzeitvergleich tatsächlich e<strong>in</strong>e<br />
e<strong>in</strong>zigartige Situation dar (Ab b. 4). So stieg die fernere Lebenserwartung 65-Jähriger Männer<br />
zwischen 1970/72 u nd 2006 von 11,9 Jahren auf 17,2 Jahre. Die L ebenserwartung 65-Jähriger<br />
Frauen erhöhte sich im selben Zeitraum von 15,1 Jahre auf 20,6 Jahre (Tabelle 10). D. h., unter<br />
den gegenwärtigen Sterblichkeitsverhältnissen kann e<strong>in</strong> 65-Jähriger Mann damit rechnen, durchschnittlich<br />
82,2 Jahre alt zu werden, e<strong>in</strong>e 65-Jährige Frau sogar 85,6 Jahre. Auch <strong>für</strong> 80-Jährige<br />
Männer und Frauen vergrößerte sich die Zahl statistisch noch erwartbarer Lebensjahre deutlich:<br />
Männer, die dieses Lebensalter erreichen, werden heute im Durchschnitt 87,6 Jahre (+2,2 Jahre<br />
gegenüber 1970/72), Frauen 89,0 Jahre (+2,9 Jahre verglichen mit 1970/72) alt.<br />
S<strong>in</strong>kende Sterblichkeit im höheren Er wachsenenalter bedeutet aber nicht nur e<strong>in</strong>e steigende<br />
(fernere) Lebenserwartung, sondern führt auch dazu, dass – statistisch gesehen – die Chancen<br />
steigen, nicht vor dem Erreichen e<strong>in</strong>es bestimmten Lebensalters zu versterben (Tabelle 11). So<br />
lag die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit e<strong>in</strong>es 65-Jährigen Mannes, das 81. Lebensjahr zu erreichen <strong>in</strong> den<br />
frühen 1970er Jahren bei rund e<strong>in</strong>em Drittel, zwei Drittel der 65-Jährigen Männer verstarben also<br />
vor ihrem 80. Geburtstag. Unter den aktuellen Sterblichkeitsverhältnissen beträgt die Chance<br />
<strong>für</strong> das Erreichen des 81. Lebensjahres bei den Männern im Alter von 65 und mehr Jahren bereits<br />
62%. Für Frauen zeigt sich – auf e<strong>in</strong>em höheren Niveau – e<strong>in</strong> ähnliches Bild: Am Beg<strong>in</strong>n der<br />
1970er Jahre verstarb die Hälfte der 65-Jährigen Frauen vor ihren 80. Geburtstag, gegenwärtig<br />
(2006) stehen die Chancen <strong>für</strong> das Erreichen dieses Alters bereits bei 77%.
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
Abbildung 4: Fernere Lebenserwartung 60-Jähriger, 75-Jähriger und 85-Jähriger Männer und<br />
Frauen: <strong>Österreich</strong> 1868/71 bis 2006<br />
fernere Lebenserwartung <strong>in</strong> Jahre<br />
26<br />
24<br />
22<br />
20<br />
18<br />
16<br />
14<br />
12<br />
10<br />
8<br />
6<br />
4<br />
2<br />
0<br />
1870<br />
1880<br />
1890<br />
1900<br />
1910<br />
1920<br />
1930<br />
1940<br />
1950<br />
1960<br />
1970<br />
1980<br />
1990<br />
2000<br />
2010<br />
J a h r<br />
Quelle: STATISTIK AUSTRIA, Sterbetafeln.<br />
60-jährige Frauen<br />
60-jährige Männer<br />
75-jährige Frauen<br />
75-jährige Männer<br />
85-jährige Frauen<br />
85-jährige Männer<br />
Auch der Sterblichkeitsrückgang im hohen und höchsten Alter lässt sich auf diese Weise „greifbarer“<br />
machen als durch Lebenserwartungswerte alle<strong>in</strong>e. So ließen die Sterblichkeitsverhältnisse<br />
am Beg<strong>in</strong>n der 1970er Jahre nur jeden achten 80-Jährigen Mann (13%) das 91. Lebensjahr<br />
erreichen, <strong>für</strong> Frauen lag diese Wahrs che<strong>in</strong>lichkeit bei 18%. In den letz ten Jahrzehnten haben<br />
sich die Überlebenschancen <strong>in</strong> diesem hohen Altersbereich <strong>für</strong> Männer auf 30% und <strong>für</strong> Frauen<br />
auf 41% erhöht. Zum<strong>in</strong>dest bei den Fr auen stellt sich damit selbst extreme Hochaltrigkeit ke<strong>in</strong>eswegs<br />
länger als das Phänomen e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>derheit dar.<br />
1.2.3. Zur Entwicklung der Morbidität <strong>in</strong> der vierten Phase des epidemiologischen<br />
Übergangs<br />
Gleichzeitig mit dem bemerkenswerten Sterblichkeitsrückgang bei älteren Men schen rückte<br />
die Frage nach der „Qualität“ der gewonnenen Jahre immer stärker <strong>in</strong> den Mittelpunkt des Interesses.<br />
„Dem Leben mehr Jahre“ oder „Den Jahren mehr Leben“ lautet das metaphernhafte<br />
Wortspiel, das die als negativ gesehene Entwicklung e<strong>in</strong>er „bloßen“ Lebensverlängerung chronisch<br />
kranker und damit funktional entsprechend bee<strong>in</strong>trächtigter alter Menschen dem positiven Szenario<br />
e<strong>in</strong>es langen Lebens <strong>in</strong> guter Gesundheit gegenüberstellt. Aus demografi scher Sicht geht es bei der<br />
Entscheidung, welche der beiden Alternativen die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte besser<br />
charakterisiert, um die geme<strong>in</strong>same Betrachtung von Morbidität und Mortalität <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bevölkerung.<br />
63
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
Beg<strong>in</strong>nend mit den frühen 1980er Jahren wurde die wissenschaftliche Diskussion um diese Frage<br />
von zwei gegensätzlichen Modellen beherrscht. Auf der e<strong>in</strong>en Seite stand die Vorstellung e<strong>in</strong>er<br />
„Expansion“ der Morbidität, hervorgerufen durch e<strong>in</strong> Medi z<strong>in</strong>system, das bei chronisch kranken<br />
alten Menschen den Tod „h<strong>in</strong>auszögert“, die zugrund liegenden Krankheiten aber letztlich nicht<br />
heilen kann und d amit quasi automatisch massenhaft alte Menschen <strong>in</strong> sch lechter körperlicher<br />
Verfassung „produziert“. Als Gegenmodell fungierte die Vorstellung e<strong>in</strong>er „Kompression“<br />
der Morbidität: Basierend auf der Tatsache, dass es e<strong>in</strong>e (biologisch vorgegebene) maximale<br />
durchschnittliche Lebenserwartung geben muss, verr<strong>in</strong>gern sich die <strong>in</strong> schlechter Gesundheit<br />
verbrachten Jahre wenn (1) diese maximale Lebenserwartung von e<strong>in</strong>er Bevölkerung erreicht<br />
ist, die Lebenserwartung also nicht mehr weiter ansteigt, und (2) die negativen Konsequenzen<br />
chronischer Krankheiten immer später im Leben manifest werden.<br />
Dem gegenwärtigen Stand der Diskussion um diese Thematik entsprechend, taugt ke<strong>in</strong>es der<br />
beiden Modelle zur Beschreibung der Mor talitäts- und Morbiditätstrends der vergangenen<br />
Jahrzehnte. Das „Kompressions modell“ entzieht sich e<strong>in</strong>er empirischen Überprüfung aus dem<br />
e<strong>in</strong>fachen Grund, dass die im Modell getroff ene Annahme des Erreichens der maximalen durchschnittlichen<br />
Lebenserwartung vor dem H<strong>in</strong>tergrund der jährlich steigenden Lebenserwartung<br />
(noch) nicht erfüllt ist. Das „Expansionsmodell“ wird von zahlreichen Studien empirisch widerlegt.<br />
Sie zeigen, dass die Zahl, <strong>in</strong>sbesondere aber der Anteil der <strong>in</strong> schlechter Gesundheit verbrachten<br />
Jahre bei älteren Menschen <strong>in</strong> den vergangenen Jahrzehnten ke<strong>in</strong>eswegs angestiegen<br />
s<strong>in</strong>d (Rob<strong>in</strong>e & Michel 2004).<br />
E<strong>in</strong>e bessere modellhafte Beschreibung der aktuellen Entwicklung kann die Vorstellung e<strong>in</strong>es<br />
„dynamischen Gleichgewichts“ leisten, d.h., sowohl das durchschnittliche Sterbealter als auch<br />
das Alter, ab dem chronische Krankheiten zu schwerwiegenderen gesundheitlichen Problemen<br />
führen, steigen diesem Modell nach an. Für <strong>Österreich</strong> bestätigen entsprechende Berechnungen<br />
der „Lebenserwartung <strong>in</strong> guter Gesundheit“ das Modell e<strong>in</strong>er steigender Lebenserwartung bei<br />
simultan rückläufi ger Häufi gkeit schwererer Formen funktionaler Bee<strong>in</strong>trächtigung im höheren<br />
Erwachsenenalter.<br />
Ausgangsbasis dieser Berechnungen <strong>für</strong> die österreichische Bevölkerung bilden die nach Alter<br />
und Geschlecht gegliederte Verteilung der Antworten auf die Frage nach der subjektiven E<strong>in</strong>schätzung<br />
der eigenen Gesundheit <strong>in</strong> repräsentativen Stichprobenerhebungen sowie Sterbetafeln.<br />
Trotz e<strong>in</strong>er Reihe methodischer Unsicherheiten und Problemen zeichnen die Ergebnisse<br />
e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutiges Bild. Die Zahl und der Anteil der <strong>in</strong> (subjektiv) guter Gesundheit verbrachten<br />
Jahre stiegen bei älteren Men schen seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre stark an, und zwar<br />
<strong>für</strong> beide Geschlechter und bei den „jü ngeren“ Alten ebenso w ie bei den Hoch betagten. Die<br />
Dynamik dieser Entwicklung hat sich <strong>in</strong> den letzten zehn Jahren aber deutlich abg eschwächt.<br />
Während sich davor die E<strong>in</strong>schätzung der eigenen Gesundheit sogar überproportional positiv<br />
entwickelte, halten sich danach der Anstieg der ferneren Lebenserwartung und die bessere<br />
E<strong>in</strong> schätzung des Gesundheitszustandes die Waage.<br />
64
In konkreten Zahlen heißt das Folgendes (Tabelle 12):<br />
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
» Für 60-Jährige Männer stieg die Zahl der noch zu erwartenden Lebensjahre <strong>in</strong> guter<br />
Gesundheit von durchschnittlich 5,9 im Jahr 1978 auf 10,8 im Jahr 2006, <strong>für</strong> Frauen<br />
im gleichen Zeitraum von 5,2 auf 11,6 Jahre. Der Anteil dieser Jahre an der gesamten<br />
ferneren Lebenserwartung (bis zum Alter von 90 Jahren) erhöhte sich dementsprechend<br />
deutlich, nämlich bei den Män nern von 37% (1978) auf über 50% (2006), bei<br />
den Frauen von 27% (1978) auf knapp 50% (2006).<br />
» Im Alter von 75 Jahren fällt der relative Zugew<strong>in</strong>n an <strong>in</strong> guter Gesundheit verbrachten<br />
Jahren sogar noch deutlicher aus. Heute (2006) können Männer zu diesem Alter mit<br />
weiteren 4,2 Jahren <strong>in</strong> guter Gesundheit rechnen, Frauen mit 3,9 Jahren. 1978 lagen<br />
die entsprechenden Werte <strong>für</strong> Männer erst bei 1,7 Jahren, <strong>für</strong> Frauen bei 1,3 Jahren.<br />
Für 75-Jährige Männer stieg der Anteil der weiteren Lebens jahre <strong>in</strong> guter Ge sund heit<br />
<strong>in</strong> diesem Zeitraum damit von 25% auf 44%, <strong>für</strong> 75-Jährige Frauen von 16% auf 35%.<br />
Tabelle 12: Fernere Lebenserwartung (bis zum Alter von 90 Jahren) <strong>in</strong> guter Gesundheit: ältere<br />
Menschen <strong>in</strong> Privathaushalten 1978 bis 2006<br />
Alter<br />
(<strong>in</strong><br />
Jahren)<br />
Männer Frauen<br />
1978 1983 1991 1998 2006 1978 1983 1991 1998 2006<br />
Fernere Lebenserwartung (bis zum Alter von 90 Jahren) <strong>in</strong> guter Gesundheit (<strong>in</strong> Jahren)<br />
60 5,9 6,7 8,0 10,4 10,8 5,2 6,8 8,1 11,3 11,6<br />
65 4,1 4,8 5,9 7,7 8,5 3,5 4,7 5,9 8,4 8,4<br />
70 2,7 3,2 4,0 5,5 6,0 2,3 3,1 4,0 5,8 5,8<br />
75 1,7 1,9 2,7 3,7 4,2 1,3 1,8 2,5 3,7 3,9<br />
80 1,1 1,1 1,5 2,4 2,8 0,8 1,0 1,6 2,0 2,3<br />
85 0,5 0,4 0,9 1,2 1,8 0,4 0,6 0,7 0,9 1,4<br />
Anteil der <strong>in</strong> guter Gesundheit verbrachten Jahre an der ferneren Lebenserwartung<br />
(bis zum Alter von 90 Jahren; <strong>in</strong> %)<br />
60 37,1 41,3 45,0 55,5 53,1 26,7 33,7 37,7 50,0 49,2<br />
65 33,5 37,5 41,5 51,7 51,2 22,8 29,3 34,2 45,9 43,8<br />
70 28,5 32,8 36,5 47,5 46,8 19,8 25,2 30,1 41,1 38,9<br />
75 24,7 26,9 32,9 42,9 44,4 15,8 20,7 26,3 36,1 35,1<br />
80 22,0 22,2 26,8 40,2 43,0 13,4 16,6 24,2 29,6 31,4<br />
85 16,6 14,2 26,3 36,4 50,0 10,9 17,6 19,0 24,1 35,0<br />
Quellen: Eigene Berechnungen auf Basis der Mikrozensus-Sonderprogramme "Gesundheit" <strong>in</strong> den Jahren 1978, 1983 und<br />
1991, dem Sonderprogramm "Ältere Menschen" im Jahr 1998, der Gesundheitsbefragung 2006/07 und der Sterbetafeln<br />
1978, 1983, 1991, 1998 und 2006 der Statistik Austria. Mit "<strong>in</strong> guter Gesundheit" werden die Antwortkategorien "sehr gut"<br />
und "gut" der Frage nach der subjektiven Beurteilung des eigenen Gesundheitszustandes bezeichnet.<br />
65
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
Im H<strong>in</strong>blick auf die Diskussion um die Folgen der demografi schen Alterung <strong>für</strong> das Gesundheitswesen<br />
und die Gesund heitsausgaben ist entscheidend, ob dieser positive Trend <strong>in</strong> den<br />
kommenden Jahr zehnten weiter anhält und damit quasi die „Vorstufe“ e<strong>in</strong>es Szenarios „Kompression<br />
der Morbidität“ darstellt. E<strong>in</strong>schränkend sei allerd<strong>in</strong>gs darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass es<br />
<strong>für</strong> die Kostenentwicklung im Gesund heits bereich entscheidend ist, ob der subjektiv bessere<br />
Gesundheitszustand älterer Men schen das Resultat er folgreicher Prävention ist, chronische<br />
Krankheiten also tatsächlich später im Leben manifest werden, oder ob er die F olge sehr effi -<br />
zienter (und teurer) mediz<strong>in</strong>ischer Therapien darstellt. Nur ersteres entkoppelt die steigende<br />
Zahl alter Menschen von der Kostenentwicklung und kann damit quasi kompensatorisch auf<br />
die be<strong>für</strong>chteten negativen Folgen der demografi schen Alterung wirken.<br />
1.3. Resümee und Ausblick<br />
Zahl und Anteil älterer, <strong>in</strong>sbesondere aber sehr alter u nd hochbetagter Menschen werden<br />
<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> ähn lich wie <strong>in</strong> vergleichbaren europäischen Ländern <strong>in</strong> den k ommenden Jahrzehnten<br />
weiter ansteigen. Diese Entwicklung ist durch das demografi sche „Momentum“, also<br />
durch die derzeitige Altersstruktur der Bevölkerung nur <strong>in</strong> Nuan cen bee<strong>in</strong>fl ussbar. Unter e<strong>in</strong>er<br />
Langfristper spektive stellt sich die Entwicklung der kommenden Jahrzehnte als letzter Schritt<br />
des Umbaus der Gesellschaft von demografi sch jung zu demografi sch alt dar. Die Gesell schaft<br />
<strong>in</strong>sgesamt, die e<strong>in</strong>zelnen Gene rationen und letztlich jeder e<strong>in</strong>zelne wird von den Konsequenzen<br />
dieser Entwicklung betroff en se<strong>in</strong>. Die Di skussionen um dieses Thema wurden meist im H<strong>in</strong>blick<br />
auf e<strong>in</strong>e alternde und schrumpfende Bevölkerung geführt. Wie Prognosen <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong><br />
zeigen, br<strong>in</strong>gen die kommenden Jahrzehnte aber demografi sche Alterung bei e<strong>in</strong>er gleichzeitig<br />
wachsenden Bevölkerung. Manche Befü rchtungen relativieren sich dadurch, andere b leiben<br />
zweifellos berechtigt.<br />
Die Lebenserwartung älterer Menschen ist durch den Sterblichkeitsrückgang im hohen Erwachsenenalter<br />
<strong>in</strong> den letzten drei Jahrzehnten stark gestiegen. Diese demografi sche Expansion der<br />
Altersphase war er freulicherweise von e<strong>in</strong>er Verbesserung des Gesundheitszustands älterer<br />
Menschen begleitet. Hält dieser Trend an und beruht er auf biographisch immer später manifest<br />
werdenden chronischen Krank heiten und nicht ausschließlich auf den Therapieerfolgen des<br />
Mediz<strong>in</strong>systems, so könnte das kompensatorisch auf den demografi sch steigenden Bedarf an<br />
mediz<strong>in</strong>ischen Leistungen und die da<strong>für</strong> notwendigen Kosten wirken.<br />
66
LITERATUR<br />
DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG<br />
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a new solidarity between the generations”. Brussels.<br />
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Spr<strong>in</strong>ger-Verlag.<br />
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2000: Zur Lebenssituation älterer Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>: 22-51, Wien: Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong><br />
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ag<strong>in</strong>g. In: Journals of Gerontology, Series A, 59: 590-597.<br />
Ryder, Norman B. (1975): Notes on stationary populations. In: Population Index, 41: 3-28.<br />
United Nations (2006): World Population Prospects. The 2004 Revision. Volume III, Analytical<br />
Report. New York: United Nations Publications.<br />
67
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
2. LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN<br />
ÖSTERREICH<br />
URSULA RISCHANEK<br />
2.1. So leben <strong>Österreich</strong>s <strong>Hochaltrige</strong><br />
<strong>Österreich</strong> stellt <strong>in</strong> der demografi schen Entwicklung ke<strong>in</strong>e Ausnahme dar: Auch hierzulande klaff t<br />
die Schere zwischen Alt und Jung immer mehr ause<strong>in</strong>ander. Heute s<strong>in</strong>d bereits etwa 645.000<br />
Menschen älter als 75 Jahre. Knapp 426.000 davon s<strong>in</strong>d Frauen – das Alter ist somit weiblich<br />
(Statistik Austria, Statist. Jahrbuch 200 7: 47). Für 2020 prognostiziert die Statistik Austria,<br />
dass mehr als 818.000 Menschen, davon zirka 496.000 Frauen, älter als 75 Jahre se<strong>in</strong> werden<br />
(ebenda). Betrachtet man den Familienstand, so zeigt sich, dass bei den Frauen über 75 Jahre<br />
fast 65% verwitwet und 20,4% verheiratet s<strong>in</strong>d, bei den Männern aber nur 23,2% verwitwet und<br />
immerh<strong>in</strong> 69,3% verheiratet s<strong>in</strong>d. 5,2% der Frauen sowie drei Prozent der Männer s<strong>in</strong>d geschieden,<br />
9,6% der Frauen und 4,5% der Männer s<strong>in</strong>d ledig (Mikro zensus 2003). Nur sieben Prozent<br />
der Männer über 75 leben alle<strong>in</strong>, bei den Frauen s<strong>in</strong>d es h<strong>in</strong>gegen 37,6% (ebenda).<br />
Die Jahre ab etw a 75, 80 s <strong>in</strong>d gekennzeichnet von gravierenden E<strong>in</strong>schnitten: Dem Tod des<br />
Partners bzw. der P artner<strong>in</strong> oder auc h e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des, zunehmenden gesundheitlichen Bee<strong>in</strong>trächtigungen,<br />
steigender Pfl egebedürftigkeit, möglicherweise dem E<strong>in</strong>zug <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Heim.<br />
Die familiären bzw. verwandtschaftlichen Netzwerke betreff end, stellt man fest, dass sie bei<br />
Personen über 75 Jahre immerh<strong>in</strong> aus durchschnittlich 8,5 Personen bestehen. Männer haben<br />
dabei e<strong>in</strong> etwas größeres Netzwerk – auch deshal b, weil sie meist mit e<strong>in</strong>er Partner<strong>in</strong> leben.<br />
Immerh<strong>in</strong> 28% haben nur drei oder weniger Verwandte, aber 36% können sich auf e<strong>in</strong> Familien-<br />
Netzwerk von zehn oder mehr Personen stützen. Personen über 85 Jahre haben zu etwas mehr<br />
als e<strong>in</strong>em Drittel nur noch e<strong>in</strong>e sehr ger<strong>in</strong>ge Zahl lebender Verwandter. Diese Netzwerke werden<br />
mit zunehmendem Alter immer enger: So leben etwa 39% der Hochbetagten (85+) <strong>in</strong> Vier- und<br />
Mehrgenerationen-Familienverbänden. Bei den 80- bis 84-Jährigen Frauen leben 30% mit e<strong>in</strong>em<br />
(Enkel)K<strong>in</strong>d im selben Haus, bei den 85- und Mehrjährigen s<strong>in</strong>d es 37%. Etwa 22% der 85- und<br />
Mehrjährigen haben ke<strong>in</strong>e lebenden Angehörigen mehr.<br />
Und diese Netzwerk e werden <strong>in</strong>tensiv gepfl egt: Immerh<strong>in</strong> 7 5% der Menschen über 7 0 Jahre<br />
haben m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal pro Woche Kontakt zu ihren Familienangehörigen, 18% pfl egen die<br />
Kontakte e<strong>in</strong> bis zweimal pro Monat, fünf Prozent tun es e<strong>in</strong>- bis zweimal pro Jahr und nur zwei<br />
Prozent haben nie Kontakt zu ihrer Familie. Wichtiger als Freunde von früher s<strong>in</strong>d bei sozialen<br />
Kontakten und Kommunikation noch die Nachbarn: Immerh<strong>in</strong> 49% der über 70-Jährigen haben<br />
m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal pro Woche Kontakt zu den Nachbarn, aber nur 20% pfl egen den Kontakt zu<br />
Freunden <strong>in</strong> dieser Intensität. 34% kontaktieren ihre Freunde gelegentlich (e<strong>in</strong>- bis zweimal pro<br />
Monat), 31% tun es e<strong>in</strong>- bis zweimal pro Jahr. Und 14% haben ke<strong>in</strong>en Kontakt mehr. Aber nur<br />
sechs Prozent dieser Altersgruppe haben nie Kontakt zu den Nachbarn, 15% treten nur e<strong>in</strong> bis<br />
69
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
zweimal pro Jahr mit den Nachbarn <strong>in</strong> Kontakt, 30% tun es e<strong>in</strong> bis zweimal pro Monat (Siegl<strong>in</strong>de<br />
Gruber, <strong>Österreich</strong>isches Hilfswerk, Zweigstelle Wien, Interview im Oktober 2003).<br />
Trotzdem leiden Senior/<strong>in</strong>nen häufi g unter E<strong>in</strong>samkeit: Immerh<strong>in</strong> 28% fühlen sich e<strong>in</strong>sam –<br />
wobei dies vor allem auf Partnerlose (48%) und die über 7-Jährigen (50%) zutriff t (Fessel + GfK<br />
2003). Zu unterscheiden dabei i st soziale Isolation durch das Fehlen sozialer Kontakte und<br />
den Verlust von Gleichaltrigen und subjektives E<strong>in</strong>samkeits gefühl. E<strong>in</strong>samkeitsforscher jedoch<br />
stellen ganz deutlich klar: Viele Alte haben zwar weniger Kontakte als Junge, empfi nden aber<br />
das Alle<strong>in</strong>se<strong>in</strong> als weniger belastend (Possemeyer 2002: 44). Erst <strong>in</strong> der allerletzten Lebenszeit<br />
s<strong>in</strong>d alte Menschen e<strong>in</strong>samer, die eigentliche Ursache da<strong>für</strong> s<strong>in</strong>d jedoch Depressionen, so der<br />
deutsche Psychologe Frieder Lang von der Mart<strong>in</strong> Luther Universität zu Halle-Wittenberg (ebenda).<br />
Untersuchungen zufolge leidet heute ungefähr jeder zehnte alte Mensch an Depressionen im Alter,<br />
<strong>in</strong> Altersheimen ist es sogar jeder vierte Bewohner.<br />
2.2. Wohnsituation der <strong>Hochaltrige</strong>n <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
Fast drei Viertel aller <strong>Hochaltrige</strong>n lebt – auch wenn bei Personen, die älter als 80 Jahre s<strong>in</strong>d,<br />
die Tendenz zur Übersiedlung <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Heim steigt - nach wie vor <strong>in</strong> der eigenen Wohnung; aber<br />
auch geme<strong>in</strong>same Wohnungen mit den K<strong>in</strong>dern s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Seltenheit – genaue Zahlen gibt es<br />
dazu aber nicht. Letzteres gilt vor allem <strong>für</strong> die ländlichen Bereiche. Hier ist das Drei- bis Vier-<br />
Generationen-Wohnen im gleichen Haus oder auf dem gleichen Grundstück durchaus verbreitet.<br />
Gleiches gilt auch weitgehend <strong>für</strong> kle<strong>in</strong>städtische Strukturen <strong>in</strong> traditionellen <strong>Arbeit</strong>er-, Handwerker-<br />
und Angestelltenhaushalten. In Großstädten h<strong>in</strong>gegen s<strong>in</strong>d die Lebens- und Wohnbed<strong>in</strong>gungen<br />
sehr unterschiedlich. Meist jedoch leben alte Menschen zum<strong>in</strong>dest im selben Grätzel<br />
wie ihre K<strong>in</strong>der und Enkel.<br />
Die Wohnungen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der R egel groß – f ast 257.400 Haushalte, <strong>in</strong> denen m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e<br />
Person im Alter von 80 Jahren lebt, nutzen Wohnungen mit drei oder mehr Zimmern (Statistik<br />
Austria, Mikrozensus 2006). Die Gesamtzahl der Haushalte, <strong>in</strong> denen m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e Person<br />
im Alter von 80 Jahren oder älter lebt, beträgt 299.100.<br />
Der durchschnittliche Aufwand pro Wohnung liegt bei 252 Euro pro Monat, der durchschnittliche<br />
Quadratmeteraufwand bei 3,8 E uro. Zur Orientierung: das durchschnittliche Nettojahrese<strong>in</strong>kommen<br />
von Pensionist/<strong>in</strong>nen mit Wohnsitz <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> - die Pension bzw. Rente ist<br />
die wichtigste E<strong>in</strong>kommensquelle älterer Menschen - liegt laut Lohnsteuerstatistik 2005 bei<br />
13.639 Euro (Männer: 16.344 Euro, Frauen: 10.394 Euro). Es fl ießt also <strong>in</strong> etwa e<strong>in</strong> Viertel des<br />
monatlichen Nettoe<strong>in</strong>kommens <strong>in</strong> den Wohnungsaufwand.<br />
Mit zunehmendem Alter reduziert sich der räumliche Aktionsradius e<strong>in</strong>er Person, das Spektrum<br />
der von ihr <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es städtischen oder dörfl ichen Gebietes aufgesuchten Orte verr<strong>in</strong>gert<br />
sich vor allem aus körperlichen, aber auch sozialen und psychischen Gründen – so werden <strong>in</strong><br />
der Gruppe der 80- bis 84-Jährigen 8,3 Diagnosen pro Patient registriert.<br />
70
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Dazu zählen u.a. E<strong>in</strong>bußen bei Hör- und Sehfähigkeit (Altersschwerhörigkeit, frequenzverzerrtes<br />
Hören, Ohrgeräusche, Alters sichtigkeit, verr<strong>in</strong>gerte Lichtempfi ndlichkeit, e<strong>in</strong>geschränktes<br />
Gesichtsfeld, höhere Blendungsempfi ndlichkeit), die Abnahme der körperlichen Beweglichkeit<br />
etwa durch Krankheiten des Bewegungsapparates und die Verr<strong>in</strong>gerung der Kraftentwicklung,<br />
die Verr<strong>in</strong>gerung der motorischen Präzision, Park<strong>in</strong>son und Demenz. Bei e<strong>in</strong>em Viertel bis e<strong>in</strong>em<br />
Drittel der Menschen über 60 Jahre verr<strong>in</strong>gert sich die Beweglichkeit von Gelenken und Muskeln,<br />
bei etwa 40% der 80-Jährig en ist e<strong>in</strong>e Verschlechterung deutlich festz ustellen. Frauen s<strong>in</strong>d<br />
davon stärker betroff en als Männer. Rund die Hälfte der Frauen über 80 Jahre kann z. B. nicht<br />
mehr ohne Schwierigkeiten E<strong>in</strong>kaufstaschen tragen, sich bücken oder Stiegen steigen (Stadt<br />
Wien 2001: 17). Der ältere oder alte Mensch kann oft die Wohnung nicht mehr alle<strong>in</strong> verlassen,<br />
da es z. B. ke<strong>in</strong>en Lift gibt, er die Treppen aber nicht bewältigen kann.<br />
Dadurch, dass der Aktionsradius s<strong>in</strong>kt und die Wohnung zum zentralen Lebensraum wird, wird<br />
auch die emotionale B<strong>in</strong>dung an die Wohnung stärker. Verstärkt wird diese Entwicklung dadurch,<br />
dass alte Menschen oft schon jahrzehntelang <strong>in</strong> der Wohnung waren, viele Möbelstücke e<strong>in</strong>e<br />
bestimmte Er<strong>in</strong>nerung wecken und auch dadu rch dem Bewohner Sicherheit geben. Ältere<br />
Menschen verbr<strong>in</strong>gen den Großteil des Tages <strong>in</strong> ihrer Wohnung – Menschen <strong>in</strong> betreuten Wohnungen<br />
halten sich durchschnittlich 20,5 Stunden <strong>in</strong> ihrer Wohnung, etwa e<strong>in</strong>e halbe Stunde<br />
im Wohnhaus und nur knapp 2,5 Stunden außer halb des Wohn gebäudes auf (Saup 2001: 96).<br />
Doch auch <strong>in</strong> der Wohnung selbst kommt es durch die altersbed<strong>in</strong>g ten Kompetenze<strong>in</strong>schränkungen<br />
zu Problemen. Der/die B etagte kann nicht mehr al le<strong>in</strong> <strong>in</strong> die B adewanne steigen, da<br />
der Rand zu hoch ist, etc. Die Folgen s<strong>in</strong>d nicht nur massive E<strong>in</strong> schränkungen, sondern auch e<strong>in</strong><br />
erhöhtes Risiko. Immerh<strong>in</strong> sterben pro Jahr nach Angaben des Instituts „Sicher Leben“ etwa 800<br />
Menschen bei Stürzen <strong>in</strong> der Wohnung oder <strong>in</strong> deren unmittelbaren Umgebung. Über 80% aller<br />
Verletzungen von Menschen über 60 Jahre s<strong>in</strong>d diesen Angaben zufolge auf Stürze zurück zuführen<br />
(Institut Sicher Leben 2005, Kuratorium <strong>für</strong> Verkehrs sicherheit, Freizeitunfallstatistik 2005)<br />
Oft reichen allerd<strong>in</strong>gs kle<strong>in</strong>e Änderungen, wie etwa e<strong>in</strong> Handlauf, Haltegriff e im Bad, e<strong>in</strong>e bessere<br />
Beleuchtung, um die Wohnbed<strong>in</strong>gungen wieder zu optimieren. Ist die Wohnung altersgerecht,<br />
werden auch die Gesu ndheits- und Pfl egee<strong>in</strong>richtungen <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gerem Maß frequentiert, was<br />
wiederum <strong>für</strong> die öff entliche Hand e<strong>in</strong> gewisses E<strong>in</strong>sparungspotenzial birgt.<br />
Auff allend ist, dass alte Menschen trotzdem mit ihrer Wohnung im Großen und Ganzen zufrieden<br />
s<strong>in</strong>d. Hauptkritikpunkt ist stets der Lärm – sei es Verkehrslärm oder jener der Nachbarn.<br />
Sonstige Mängel werden ignoriert, da man mit ihnen zu leben gelernt hat. Die Übersiedlung <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong> Seniorenheim wird so lange wie möglich h<strong>in</strong>ausgeschoben. Erst im Akutfall ist der Betroffene<br />
zu diesem Schritt bereit. Hauptgrund da<strong>für</strong> ist die Tatsache, dass <strong>für</strong> viele Menschen die<br />
Übersiedlung <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Heim als E<strong>in</strong>geständnis des Alters und als echter Beweis <strong>für</strong> den Beg<strong>in</strong>n<br />
des letzten Lebensabschnittes gesehen wird. Denn die eig ene Wohnung ist immer noch e<strong>in</strong><br />
Synonym <strong>für</strong> Eigenständigkeit.<br />
71
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
E<strong>in</strong> wenig anders ist die Situation bei Übersiedlungen <strong>in</strong> (betreute) Wohnungen. Wie <strong>in</strong> deutschen<br />
und österreichischen Studien nachgewiesen, s<strong>in</strong>d ältere Menschen zwar weniger geneigt<br />
umzuziehen, die Umzugsbereitschaft ist aber dennoch gegeben. Die deutsche Studie „Neue<br />
Wohnung auch im Alter“ der Schader-Stiftung kommt zum Schluss, dass heute bereits rund e<strong>in</strong><br />
Drittel der über 50-Jährigen zum<strong>in</strong>dest noch e<strong>in</strong>mal umzieht – meist <strong>in</strong> jüngeren Jahren – und e<strong>in</strong><br />
weiteres Drittel grundsätzlich umzugsbereit ist (He<strong>in</strong>ze & Eichener 1997). Die Landesbausparkasse<br />
Hannover geht gar davon aus, dass jede/r zweite Mieter/<strong>in</strong> und jeder vierte Eigentümerhaushalt<br />
zwischen dem 55. und dem 75. Lebensjahr an e<strong>in</strong>e Übersiedlung denkt (Kr<strong>in</strong>gs-Heckemeier &<br />
Baba 1999). E<strong>in</strong> Grund <strong>für</strong> den Umzug ist die Tatsache, dass zahlreiche ältere Menschen gerne<br />
aus ihrer großen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>ere, benutzerfreundlichere Wohnung umziehen würden.<br />
Die Bereitschaft, zu übersiedeln wäre also vorhanden, wenn auch tatsächlich nur e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er<br />
Teil im fortgeschrittenen Alter noch e<strong>in</strong>mal umzieht. Die Gründe, warum dem so ist, s<strong>in</strong>d unterschiedlich:<br />
Zum Teil wissen viele ältere Menschen nicht, w ie sie zu e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>eren Wohnung<br />
kommen können. Mehr Aufk lärung und Initiativen zum Wohnungstausch wären <strong>in</strong> diesem<br />
Fall von Seiten der Kommunen und Bauträger nötig. Sie könnten angesichts ihres Bestandes<br />
Tauschbörsen organisieren. Darüber h<strong>in</strong>aus scheuen viele ältere Menschen die Mühen e<strong>in</strong>es<br />
Umzuges. E<strong>in</strong> entsprechendes Serviceangebot könnte hier helfen. Dieses sollte sich nicht nur<br />
auf die Übersiedlung selbst beschränken: In e<strong>in</strong>er Vorbereitungsphase sollten die Mieter auf<br />
den Umzug e<strong>in</strong>gestimmt, die techni schen Notwendigkeiten erfasst und behördliche Schritte<br />
verabredet werden. Im Zuge e<strong>in</strong>er Nach betreuung sollten die Miet er dann auch noch Hilfe -<br />
stellungen beim E<strong>in</strong>richten der neuen Wohnungen, bei leichten Tätigkeiten (Bilder aufhängen,<br />
Geräte anschließen) sowie bei Behördengängen erhalten (He<strong>in</strong>ze & Eichener 1997). Dies würde<br />
vor allem <strong>Hochaltrige</strong>n die Entscheidung, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e geeignete Wohnung zu übersiedeln, erleichtern.<br />
Bauherren, vor allem im mehrgeschossigen Wohnbau, s<strong>in</strong>d dazu aufgerufen, ihre Wohnhausanlagen<br />
auch h<strong>in</strong>ter der Wohnungstür barrierefrei zu planen – das häufi g erwähnte Argument,<br />
dies sei teu rer als e<strong>in</strong> „norm aler“ Wohnbau konnte von der FG W-Forschungsgesellschaft <strong>für</strong><br />
Wohnen, Bauen und Planen im Zuge e<strong>in</strong>es Forschungs projektes im Rahmen der Programml<strong>in</strong>ie<br />
„Haus der Zukunft“ widerlegt werden (Rischanek & Amann 2004).<br />
Merkmale altersgerechten Bauens und Sanierens s<strong>in</strong>d vielfältig. Grundsätzlich zu unterscheiden<br />
s<strong>in</strong>d gebäude-, wohnungs- und wo hnumfeldbezogene Maßnahmen. Umfassende Maßnahmenkataloge<br />
im Rahmen e<strong>in</strong>er Checkliste <strong>für</strong> barrierefreie Wohnanlagen, Wohnungen und<br />
Wohnumfeld (im Wesentlichen unterteilt nach zw<strong>in</strong>genden und fakultativen Kriterien je nach<br />
Gebäudeteil und Wohnungs räumlichkeiten) s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> dem im Zuge des bereits erwähnten „Haus<br />
der Zukunft“-Projektes seitens der FGW erstellt worden (Rischanek & Amann 2004). E<strong>in</strong>e Vielzahl<br />
dieser Maß nahmen ist im Rahmen der Wohnbauförderung verschiedener Bundesländer im<br />
Neubau- und Sanierungsbereich <strong>in</strong> verschiedener Weise auch förderbar, wenngleich h<strong>in</strong>sichtlich<br />
der Förderungsrelevanz altersgerechten Wohnbaus zum Teil gravierende Unterschiede erkennbar<br />
s<strong>in</strong>d. Auch das Bundessozialamt gewährt unter be stimmten Voraussetzungen Förderungen <strong>für</strong><br />
die altersgerechte Adaptierung von Wohnräumen.<br />
72
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
» Die wichtigsten altersgerechten Adaptierungs-Maßnahmen s<strong>in</strong>d:<br />
» übersichtliche wohnungsnahe Grünzüge ohne hohe Hecken<br />
» gute blendungsfreie Beleuchtung<br />
» sichtbare Stufen (die erste und letzte Stufe sollten auf alle Fälle sicht- und tastbar<br />
markiert se<strong>in</strong>) mit Handläufen<br />
» leichte Bedienbarkeit von Türsperren und leichte Türen mit großen Griff en<br />
» Steckdosen und Schalter sollten <strong>in</strong> 80 bis 100 Zentimetern Höhe angebracht und<br />
leichtbedienbar se<strong>in</strong> (z. B. Kipp schalter); u.U. Bewegungssen soren<br />
» Rutschfeste Bodenbeläge<br />
» Schwellenfreier Zugang zu Allgeme<strong>in</strong>- und Freiräumen<br />
» Heizungsregler sollten oben am Heizkörper montiert se<strong>in</strong><br />
» Ausreichend (Telefon)Steckdosen (manche <strong>in</strong> der Höhe der Lichtschalter)<br />
» Der Sicherungskasten sollte leicht zugänglich se<strong>in</strong><br />
» Haltegriff e im WC, bei der Badewanne und der schwellenfrei begehbaren Dusche<br />
» Rutschfester Sitz <strong>in</strong> der Dusche<br />
» Die Duschwände sollten stützsicher se<strong>in</strong><br />
» Rutschhemmender Bodenbelag im Bad (aufgeraute Fliesen)<br />
2.3. Senior/<strong>in</strong>nen-Wohnformen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
2.3.1. Wohnen <strong>in</strong> der eigenen Wohnung<br />
Wie wohnen <strong>Österreich</strong>s <strong>Hochaltrige</strong> nun genau: Insgesamt gibt es <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> mehr als 299.100<br />
Haushalte, <strong>in</strong> denen P ersonen über 7 9 Jahre leben – die Zahl der Haus halte <strong>in</strong>sgesamt liegt<br />
hierzulande bei 3,5 Mil lionen (Statistik Austria, Mikrozensus 2006). Der Großteil von ihnen,<br />
nämlich fast 76%, wohnt <strong>in</strong> Gebäuden, die Privatpersonen gehören. Das heißt, entweder <strong>in</strong><br />
Eigentums- oder <strong>in</strong> Mietwohnungen, die <strong>in</strong> Privatbesitz s<strong>in</strong>d. Etwa elf bzw. knapp neun Prozent<br />
leben <strong>in</strong> Wohnungen im Eigentum von Gebietskörperschaften bzw. geme<strong>in</strong>nützigen Bauvere<strong>in</strong>igungen,<br />
fünf Prozent bewohnen Wohnungen im Eigentum von sonstigen juristischen Personen.<br />
Vgl. dazu Abbildung 1.<br />
73
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
74<br />
Abbildung 1: Personen <strong>in</strong> Privatwohnungen (Hauptwohnsitze) über 75 Jahre, nach Eigentümer<br />
des Gebäudes (2001)<br />
Quelle: Statistik Austria, VZ 2001, eig. Berechnungen<br />
Betrachtet man den Rechtsgrund <strong>für</strong> die Wohnungsbenützung genauer, ergibt sich folgendes<br />
Bild: Etwa e<strong>in</strong> Drittel der Be völkerung über 75 Jahre lebt <strong>in</strong> unbefristeten Mietwohnungen, größer<br />
ist <strong>in</strong> dieser Altersgruppe nur noch der Anteil derer, die im eigenen Haus leben. 9,8% wohnen <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> ihrem Eigentum stehenden Wohnung. Sonstige Rechtsverhältnisse machen immerh<strong>in</strong><br />
18% aus. Siehe dazu Abbildung 2.<br />
100%<br />
80%<br />
60%<br />
40%<br />
20%<br />
Abbildung 2: Rechtsgrund <strong>für</strong> die Wohnungs benützung nach Altersgruppen (2001)<br />
0%<br />
20-24<br />
25-29<br />
30-39<br />
40-49<br />
50-59<br />
Quelle: Statistik Austria, Volkszählung 2001, eig. Berechnungen<br />
60-74<br />
75+<br />
Privatperson/en<br />
Gebietskörperschaft<br />
Geme<strong>in</strong>nützige<br />
Bauvere<strong>in</strong>igung<br />
sonstige juristische Person<br />
Sonstiges Rechtsverhältnis<br />
Dienst- oder Naturalwohnung<br />
Eigenbenützung durch<br />
Wohnungseigentümer<br />
Eigenbenützung durch<br />
Gebäudeeigentümer<br />
Hauptmiete unbefristet<br />
Hauptmiete befristet
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Die Tatsache, dass viele Personen über 75 Jahre im Eigentum oder <strong>in</strong> langjährigen, und daher oft<br />
günstigen Mietwohnungen leben, verschleiert aber auf den ersten Blick e<strong>in</strong> massives Problem:<br />
Zwar ist <strong>für</strong> sie der Wohnungsbedarf per se gedeckt. Handelt es sich um e<strong>in</strong>kommensschwache<br />
hochaltrige Haushalte, so i st zum e<strong>in</strong>en die Adaptieru ng der ang estammten Wohnung, zum<br />
anderen e<strong>in</strong>e Übersiedlung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e moderne, aber teurere Wohnung <strong>in</strong> der Regel kaum durchführbar,<br />
weil nicht fi nanzierbar.<br />
Wenn auch der Wohnkomfort <strong>in</strong> vielen Fällen bereits gegeben ist, so gibt es doch immer noch<br />
alte Menschen, die <strong>in</strong> Häusern oder Wohnungen ohne Zentralheizung oder Bad leben müssen.<br />
Dies gilt vor allem <strong>für</strong> abgelegene Bauernhäuser oder Substandardwohnungen <strong>in</strong> Großstädten.<br />
Bezogen auf die Hauptwohnsitze leben immerh<strong>in</strong> 4,5% (24.000) der über 75-Jährigen <strong>in</strong> Wohnungen<br />
der Kategorie D, also <strong>in</strong> Wohnungen, <strong>in</strong> denen entweder e<strong>in</strong>e Wasserentnahmestelle oder<br />
das WC fehlt. 2,5% (13.700) nutzen Wohnungen der Kategorie C (e<strong>in</strong>e Wasserentnahmestelle<br />
sowie e<strong>in</strong> WC s<strong>in</strong>d vorhanden); der Löwenanteil allerd<strong>in</strong>gs bewohnt Wohnungen der Kategorien<br />
A (79,6% bzw. 424.000) mit Bad, WC und Zentralheizung und B (13,3% bzw. 71.000), <strong>in</strong> denen<br />
es Bad und WC, aber ke<strong>in</strong>e Zentralheizung gibt. Siehe auch Abbildung 3.<br />
Häufi g jedoch entsprechen die Häuser oder Wohnungen, <strong>in</strong> denen <strong>Hochaltrige</strong> ihren Lebens abend<br />
verbr<strong>in</strong>gen, trotz aller Ausstattungsqualität nicht mehr den Bedü rfnissen des Lebenszyklus,<br />
da sie zu groß, <strong>in</strong> der Erh altung teuer oder nicht altersgerecht gestaltet und daher oft schwer<br />
alle<strong>in</strong> zu bewirtschaften s<strong>in</strong>d. Untersuchungen darüber, wie viele Häuser bzw. Wohnungen als<br />
nicht altersgerecht gelten bzw. so empfunden werden, gibt es leider nicht. Zu bedenken gilt es<br />
dabei, dass alte Menschen ihre Wohnung ja subjektiv auch nicht als unpassend empfi nden,<br />
auch wenn alle objektiven Kriterien da<strong>für</strong> sprechen.<br />
Abbildung 3: Ausstattungskategorien nach Altersgruppen (2001)<br />
100%<br />
80%<br />
60%<br />
40%<br />
20%<br />
0%<br />
20 bis 24 J.<br />
25 bis 29 J.<br />
30 bis 34 J.<br />
90,3<br />
35 bis 39 J.<br />
40 bis 44 J.<br />
Quelle: Statistik Austria, Volkszählung 2001, eig. Berechnungen<br />
45 bis 49 J.<br />
50 bis 60 J.<br />
60 bis 75 J.<br />
79,6<br />
75+ J.<br />
Kat. D<br />
Kat. C<br />
Kat. B<br />
Kat. A<br />
75
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Zum Wohnungsaufwand ist zu sagen, dass 537.000 Pensionistenhaushalte <strong>in</strong> entgeltlich benutzen<br />
Wohnungen leben. (Zum Aufwand zählen laut Mikrozensus neben dem Wohnungsentgelt der<br />
Anteil an den Betriebskosten und den laufenden öff entlichen Aufgaben; ebenso zum Wohnungsaufwand<br />
zählen laufende Entgelte <strong>für</strong> sonstige Leistungen, die nicht Betriebskosten im S<strong>in</strong>ne<br />
des MRG s<strong>in</strong>d, jedoch im Zusammenhang mit der Wohnungsbenutzung stehen, z. B. Benützung<br />
von E<strong>in</strong>richtungsgegenständen, Kosten e<strong>in</strong>er Haus zentralheizung, Grundgebühren e<strong>in</strong>er zentralen<br />
Waschanlage. In den Wohnungs aufwand e<strong>in</strong>zubeziehen s<strong>in</strong>d auch Erhaltungsbeiträge.) Der<br />
durchschnittliche Aufwand pro Wohnung liegt bei 252 Euro pro Monat, der durchschnittliche<br />
Quadratmeteraufwand bei 3,8 Euro. Es ist darauf zu ve rweisen, dass die zugrunde liegende<br />
Quelle, der Mikrozensus, h<strong>in</strong>sichtlich der Preisangaben e<strong>in</strong>e relativ große Unschärfe aufweist.<br />
Von diesen 537.000 Haushalten leben 121.000 <strong>in</strong> Eigentumswohnungen (durchschnittlicher<br />
Aufwand pro Wohnung: 229 Euro, pro Quadratmeter: 3,0) und 395.000 <strong>in</strong> Mietwohnungen (ohne<br />
Untermiete). Für letztere liegt der durchschnittliche Aufwand pro Wohnung bei 258 Euro, der<br />
Aufwand pro Quadratmeter bei 4,0 Euro.<br />
Geheizt wird <strong>in</strong> 47,4% der Haushalte mit e<strong>in</strong>em Haushaltsvorstand über 75 Jahre mittels Hauszentralheizung,<br />
10,3% s<strong>in</strong>d an e<strong>in</strong>e F ernheizung angeschlossen. In 5,2% k ommt die Wärme<br />
von Gaskonvektoren und <strong>in</strong> 7,4% von e<strong>in</strong>er fest verbundenen Elektroheizung (Statistik Austria,<br />
Mikrozensus 2003), 13,2% verfügen über e<strong>in</strong>e Zentralheizung <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>z elwohnung oder<br />
e<strong>in</strong>e Etagenheizung. 15,6% der Haushalte mit e<strong>in</strong>em Haushaltsvorstand, der älter als 75 Jahre<br />
ist, heizen mittels E<strong>in</strong>zelofenheizung – <strong>für</strong> die Bewohner heißt dies, dass das entsprechende<br />
Heizmaterial (z. B. Öl, Kohle, Koks oder Holz) besorgt, <strong>in</strong> die Wohnung transportiert und gelagert<br />
werden muss. Für <strong>Hochaltrige</strong> ohne fremde Hilfe meist unmöglich. Dazu kommt noch der<br />
fehlende Komfort – es muss regelmäßig händisch e<strong>in</strong>geheizt werden.<br />
Zwar wird <strong>in</strong> vielen Bauordnungen, wie etwa der Wiener, darauf Wert gelegt, dass neu errichtete<br />
Wohnungen barrierefrei gestaltet s<strong>in</strong>d, doch leben viele ältere Menschen <strong>in</strong> bereits bestehenden<br />
Wohnungen oder Häusern, <strong>in</strong> denen es beispielsweise ke<strong>in</strong>en Lift gibt. Sessellifte o.ä. s<strong>in</strong>d vor<br />
allem <strong>in</strong> E<strong>in</strong>familienhäusern oft die optimale Lösung.<br />
In diesem Zusammenhang darf nicht auf die Technik vergessen werden – Pfl egeroboter kommen<br />
zwar vorerst nur <strong>in</strong> Japan zum E<strong>in</strong>satz – aber die Smart Home Technologie ist auch <strong>in</strong> Eu ropa<br />
bereits weit verbreitet. BUS- und andere Systeme, die nach e<strong>in</strong>er ge wissen Zeit automatisch<br />
Strom, Gas oder Herde abdrehen, zählen da g enauso dazu wie Jalousien oder Lichtsch alter,<br />
die auf Zuruf agieren. Aber auch Videogespräche mit Betreuungspersonal oder Arzt s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong><br />
D<strong>in</strong>g der Unmöglichkeit mehr wie Computer, die beim Verlassen des Hauses oder der Wohnung<br />
die Bewohner daran er<strong>in</strong>nern, die Haus türe zu verschließen. In der Praxis bewährt – auch bei<br />
demenziell Erkrankten – haben sich beispielsweise Zeitschaltuhren <strong>für</strong> Elektrogeräte, Sturz-,<br />
Rauch- oder Bewegungsmelder, Füllstandsmelder im Bad, automatische Tablettentimer, Personenortungs-<br />
sowie Raumüberwachungssysteme.<br />
76
2.3.2. Altenwohn- und Pfl egeheime<br />
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
In <strong>Österreich</strong> gibt es Altenwohn- und Pfl egeheime, die zum Teil von den Ländern betrieben werden,<br />
Vertragsheime des Landes oder private bzw. konfessionelle Heime s<strong>in</strong>d. Nur etwa sieben Prozent<br />
der alten Menschen, mei st <strong>Hochaltrige</strong>, wohnen allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> Heimen. Das durchschnittliche<br />
E<strong>in</strong>trittsalter <strong>in</strong>s Heim liegt bei etwa 82 Jahren. In manchen Bundesländern, etwa <strong>in</strong> Niederösterreich,<br />
wurden die Altenheime <strong>in</strong> den letzten Jahren von Wohn- <strong>in</strong> Pfl egeheime umgewandelt.<br />
Das Leistungsspektrum der e<strong>in</strong>z elnen Heime, fü r die te ils jahrelange Wartezeiten gelten, ist<br />
unterschiedlich – dies gilt sowohl <strong>für</strong> die hauswirtschaftliche Betreuung als auch <strong>für</strong> das therapeutische,<br />
mediz<strong>in</strong>ische und kulturelle Angebot. Weiters hat nicht jedes Wohnheim e<strong>in</strong>e<br />
Pfl egeabteilung – <strong>in</strong> diesem Fall kann es passieren, dass bei Pfl egebedürftigkeit e<strong>in</strong>e neuerliche<br />
Übersiedlung <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Pfl egeheim ansteht.<br />
2.3.3. Senior/<strong>in</strong>nenresidenzen<br />
Senior/<strong>in</strong>nenresidenzen s<strong>in</strong>d im Pr<strong>in</strong>zip e<strong>in</strong>e Mischform aus Heim und betreutem Wohnen,<br />
allerd<strong>in</strong>gs im hochpreisigen Segment. In der Regel handelt es sich um luxuriöse Appartements<br />
<strong>in</strong> verschiedenen Größen, die entweder mit oder ohne Bet reuungspaket sowie Verpfl egung<br />
gemietet werden können. Weiters werden diverseste Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und<br />
Betreuung geboten: dies reicht – wie auch <strong>in</strong> „normalen“ Altenheimen von Ärzt/<strong>in</strong>nen, Massage,<br />
Kegelbahn etc. bis zu organisierten Ausfl ügen oder Kulturevents. Pfl egefälle können zum e<strong>in</strong>en<br />
im eigenen Appartement betreut werden – <strong>in</strong> der Regel steht <strong>für</strong> die Rundum-Pfl ege auch e<strong>in</strong>e<br />
Pfl egeabteilung bereit. Prob lematisch wird es allerd<strong>in</strong>gs, wenn Bewohner/<strong>in</strong>nen von Senior/<br />
<strong>in</strong>nenresidenzen verarmen: meist bedeutet dies e<strong>in</strong>e neuerliche Übersiedlung, sobald die Miete<br />
nicht mehr bezahlt werden kann. Manchmal ist e<strong>in</strong> Verbleib zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> der Pfl egeabteilung<br />
möglich, sofern es Zuzahlungen (z. B. vom Fonds <strong>Soziales</strong> Wien) gibt. E<strong>in</strong> umfassender F<strong>in</strong>anzierungsplan<br />
ist daher vor Abschluss e<strong>in</strong>es Mietvertrages ratsam. Anders als bei Alten- b zw.<br />
Pfl egeheimen ist hier das E<strong>in</strong>trittsalter niedriger – auch Personen ab 65 oder 70 Jahren wählen<br />
diese Wohnform.<br />
2.3.4. Betreutes Wohnen<br />
„Betreutes Wohnen“ lautet e<strong>in</strong> Schlagwort, das immer öfter zu hören ist. E<strong>in</strong>e genaue Defi nition<br />
<strong>für</strong> diese Spezialform des Wohnens im Alter gibt es jedoch nicht, weder <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> noch <strong>in</strong><br />
Deutschland. Für die e<strong>in</strong>en bedeutet „Betreuung“ das Anbieten e<strong>in</strong>er altersgerecht adaptierten<br />
Wohnung und e<strong>in</strong>es Notrufs, vielleicht auch noch die Bestelung e<strong>in</strong>es Hausmeisters mit Sanitäterausbildung.<br />
E<strong>in</strong>e gegebenenfalls erforderliche Betreuung durch soziale Dienste muss sich der<br />
Bewohner/<strong>in</strong>nen jedoch selbst organisieren. Für die anderen bedeutet es e<strong>in</strong> breit gefächertes<br />
Angebot an Dienstleistungen und pfl egerischer Betreuung (Grundservice und Wahlleistungen),<br />
die e<strong>in</strong>en möglichst langen Verbleib <strong>in</strong> der altengerecht ausgestatteten Wohnung erlaubt. Anerkanntes<br />
Ziel aller Projekte, die oft im Bereich des geförderten Wohnbaus <strong>in</strong> Kooperation mit<br />
77
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Geme<strong>in</strong>den, aber auc h freifi nanziert entstehen, i st es, die Selbstständigkeit der Bewohner/<br />
<strong>in</strong>nen so l ange als möglich zu bewahren, den Wohn- statt den Pfl egecharakter zu betonen<br />
und gleichzeitig größtmögliche Sicherheit zu geben. Das Fehlen e<strong>in</strong>er exakten Defi nition von<br />
e<strong>in</strong>heitlichen Qualitätskriterien führt auf Seiten der Kunden zu vielerlei Missverständnissen.<br />
In Deutschland gibt es zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>ige Grundkriterien <strong>für</strong> betreutes Wohnen: Eigentümer oder<br />
Mieter von altersgerecht adaptierten Wohnungen schließen e<strong>in</strong>en Betreuungsvertrag ab, der<br />
ihnen neben e<strong>in</strong>er Grundleistung (Notfallsbereitschaft und Hausmeisterservice) bei Bedarf auch<br />
Betreuungsleistungen sichert (Heeg 1994). Am besten ist es, wenn e<strong>in</strong>e betreute Wohnanlage<br />
<strong>in</strong> enger Verb<strong>in</strong>dung mit e<strong>in</strong>er Begegnungsstätte geplant werden kann. Wo dies nicht möglich<br />
ist, sollten zum<strong>in</strong>dest Geme<strong>in</strong>schaftsräume angeboten werden, die e<strong>in</strong>en Anreiz oder e<strong>in</strong>e<br />
Möglichkeit bieten, zu e<strong>in</strong>er Hausgeme<strong>in</strong>schaft zusammen zu wachsen, <strong>in</strong> der g egenseitige<br />
Unterstützung zur Selbstverständlichkeit wird.<br />
E<strong>in</strong>e Diskrepanz zwischen der von den Bewohner/<strong>in</strong>nen erlebten und der von der E<strong>in</strong>richtung<br />
geplanten und gelieferten Qualität kann zu erheblichen Nachteilen <strong>für</strong> die E<strong>in</strong>richtung führen.<br />
So stellen Dienst leistungen, die zwar angeboten, von den Bewohner/<strong>in</strong>nen jedoch aus welchen<br />
Gründen auch immer nicht genutzt werden können, ke<strong>in</strong>en Beitrag zur Steigerung von Kundenzufriedenheit<br />
dar. E<strong>in</strong> Übererfüllen von Dienstleistungen muss also vermieden werden, da es<br />
von den Kunden/Kund<strong>in</strong>nen nur unterdurchschnittlich oder gar nicht honoriert wird. Werden<br />
Dienstleistungen nicht angeboten, die vom Kunden erwünscht s<strong>in</strong>d, so t rägt dies enorm zur<br />
Unzufriedenheit bei. Untersuchungen haben gezeigt, dass bei unzureichender Bedürfnisbefriedigung<br />
die Kunden/ Kund<strong>in</strong>nen häufi g den Anbieter wechseln, allerd<strong>in</strong>gs nur zu 14% wegen der<br />
mangelnden Produktqualität, sondern zu 68% wegen mangelnder Dienstleistungsqualität. Es<br />
darf auch nicht vergessen werden, dass e<strong>in</strong> negativ erlebter Service eher weiter erzählt wird als<br />
e<strong>in</strong> positiver. Flexibilität und Kostenbewusstse<strong>in</strong> sowie Transparenz s<strong>in</strong>d weitere Kriterien, die<br />
mittelfristig zum Erfolg beitragen. Stichwort Transparenz: Diese bezieht sich nicht nur auf die<br />
Kosten, sondern auch auf das Angebot. So sollte im Betreuungsvertrag genau ersichtlich se<strong>in</strong>,<br />
welche Dienstleistungen beispielsweise <strong>in</strong> der Grundbetreuung enthalten s<strong>in</strong>d und welche dazu<br />
gekauft werden müssen. In e<strong>in</strong>er Umfrage unter Bewohner/<strong>in</strong>nen von betreuten Wohnungen <strong>in</strong><br />
Deutschland (Saup 2001: 100ff ) zeigte sich, dass etwa e<strong>in</strong>em Drittel der Bewohner/<strong>in</strong>nen nicht<br />
klar war, wo<strong>für</strong> sie die monatliche Betreuungs pauschale zahlten. Auch bezüglich der hauswirtschaftlichen,<br />
pfl egerischen Wahlleistungen und der sozialen und sonstigen Angebote zeigte<br />
sich bei e<strong>in</strong>em erheb lichen Teil der Senior/<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>e große Unsicherheit bezüglich Angebot<br />
und Kosten. Betreuungsträger sollten d aher nicht nur im Bet reuungsvertrag, sondern auch<br />
laufend und regelmäßig über Angebot und Kosten <strong>in</strong>formieren. Für diese Betreuungsverträge<br />
gibt es derzeit ke<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong> gültigen Standards, sie müssen jedoch den Bestimmungen des<br />
Konsumentenschutzgesetzes entsprechen.<br />
Betreute Wohnungen s<strong>in</strong>d pr<strong>in</strong>zipiell sehr wohl e<strong>in</strong>e Wohnalternative auch fü r <strong>Hochaltrige</strong> –<br />
sofern tatsächlich die erforderliche Betreuung gewährleistet werden kann.<br />
78
2.3.5. Senior/<strong>in</strong>nenwohngeme<strong>in</strong>schaften<br />
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
In verschiedenen Bundesländern s<strong>in</strong>d als Alternative zu Heimen Wohngeme<strong>in</strong>schaften e<strong>in</strong>gerichtet<br />
worden. Mit Unterstützung mobiler Dienste und Betreuung durch Sozialarbeiter können<br />
die Älteren sel bst bestimmt wohnen. In m anchen Wohngeme<strong>in</strong>schaften teilen die Bewohner<br />
Küche, Bad und WC, <strong>in</strong> anderen wiederum gibt es Zimmer mit eigenem Bad und WC. Teils können<br />
die eigenen Möbel mitgenommen werden.<br />
Senior/<strong>in</strong>nenwohngeme<strong>in</strong>schaften könnten – auch auf privater Basis - e<strong>in</strong>e Chance etwa <strong>für</strong><br />
jene Regionen se<strong>in</strong>, <strong>in</strong> denen die Abwanderung der jüngeren Bevölkerung relativ massiv ist,<br />
da durch sie älteren Menschen der Verbleib <strong>in</strong> ihrer Geme<strong>in</strong>de ermöglicht wird. Wichtig <strong>für</strong> das<br />
Funktion ieren von Senior/<strong>in</strong>nen-WG`s ist, dass die Wohngeme<strong>in</strong>schaften betreut s<strong>in</strong>d. Und<br />
sei es nur <strong>in</strong> dieser Form, dass von e<strong>in</strong>em „Mediator“ oder „M anager“ die Aufgaben <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Woche verteilt werden, um Reibereien zu verh<strong>in</strong>dern. Er/sie kann auch bei den auft retenden<br />
Schwierigkeiten der Bewohner/<strong>in</strong>nen untere<strong>in</strong>ander vermitteln. Ideal ist es auch, wenn vom<br />
Bauherren oder dem Träger der E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong> Hausmeisterservice sowie die Re<strong>in</strong>igung der Geme<strong>in</strong>schaftsräume<br />
organisiert wird. Gegeben se<strong>in</strong> sollte auch der Kontakt zu e<strong>in</strong>er Sozialstation<br />
bzw. der Nachtbereitschaft etwa <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Altersheim. Auch hier solten die Bewohner/<strong>in</strong>nen die<br />
Möglich keit haben, sich je nach Bedarf ihr <strong>in</strong>dividuelles Paket schnüren zu lassen – wobei die<br />
Selbstorganisation und –hilfe den Bewohnern/<strong>in</strong>nen nicht abgenommen werden soll und darf.<br />
Wichtig ist bei Geme<strong>in</strong>schaften auch, dass sowohl vom Alter als auch vom Gesundheitszustand<br />
her auf e<strong>in</strong>e ausgewogene Mischung geachtet wird, um das Projekt nicht bald zum Scheitern zu<br />
br<strong>in</strong>gen. E<strong>in</strong> wesentlicher Vorteil e<strong>in</strong>er „gemanagten“ Senior/<strong>in</strong>nen-WG ist, dass die Aktivität<br />
der Bewohner/<strong>in</strong>nen auf längere Zeit erhalten wird. International allerd<strong>in</strong>gs hat sich gezeigt,<br />
dass davon ausgegangen wird, dass bei Vorliegen entsprechender Indikationen e<strong>in</strong> Umzug <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong> Heim nicht abzuwenden ist – die Entscheidung über diesen Zeitpunkt hängt zum e<strong>in</strong>en von<br />
der aktuellen Situation <strong>in</strong> der Gruppe ab, zum anderen werden dort auch externe Berater/<strong>in</strong>nen<br />
(z. B. Hausarzt) zu Rate gezogen (Narten & Tischer 1999: 43).<br />
2.3.6. Betreutes Wohnen am Bauernhof<br />
Vere<strong>in</strong>zelt gibt es <strong>in</strong> verschiedenen Bundes ländern (z. B. Oberösterreich, Steiermark) auch die<br />
Möglichkeit des Betreuten Wohnens am B auernhof. Diese K ooperation mehrerer Landwirte/<br />
<strong>in</strong>nen schaff t <strong>für</strong> Senior/<strong>in</strong>nen neue Möglich keiten <strong>für</strong> selbstständiges, aber bet reutes Wohnen.<br />
Familienmitglieder des Landwirtes/der Landwirt<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Altenbetreuung ausgebildet<br />
und können am Hof <strong>in</strong> eigenen Wohne<strong>in</strong>heiten lebenden Pensionist/<strong>in</strong>nen gegen Entgelt bei<br />
Bedarf Hilfestellungen geben. F<strong>in</strong>anziert wird das Projekt im Rahmen der Ziel 5b- und LEADER<br />
Projekt-Förderung.<br />
Pro Betrieb wurden zwei bis drei senior/<strong>in</strong>nengerechte Wohne<strong>in</strong>heiten mit Bad und Küche (alle<br />
zwischen 50 und 70 Quadratmeter) e<strong>in</strong>gerichtet, die Wohnungen s<strong>in</strong>d wohnbeihilfefähig. Pro<br />
79
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Hof hat sich e<strong>in</strong> Familienmitglied als Altenbetreuer/<strong>in</strong> ausbilden lassen und kann daher – bei<br />
Bedarf – den bejahrten Mitbewohner/<strong>in</strong>nen unterstützen. Hauswirtschaftliche Tätigkeiten wie<br />
Kochen, Putzen etc. können zu e<strong>in</strong>em festgesetzten Stundentarif <strong>in</strong> Anspruch genommen werden.<br />
Gleiches gilt <strong>für</strong> Hilfe bei der Pfl ege oder beim Ankleiden. Für die Betreuung durch Mobile<br />
Dienste brauchen die Senior/<strong>in</strong>nen nur den Kostenanteil je nach Höhe ihrer Pension bezahlen.<br />
Auf e<strong>in</strong>igen Höfen ist es auch die Kurzzeitbetreuung nach e<strong>in</strong>em Krankenhausaufenthalt möglich<br />
Die Senior/<strong>in</strong>nen schließen mit dem Sozialhilfeverband e<strong>in</strong>en Betreuungsvertrag, der die<br />
Rufhilfe des Roten Kreuzes sowie zwei Stunden Beratung zum selbstständigen Bewohnen e<strong>in</strong>er<br />
Wohnung be<strong>in</strong>haltet.<br />
Der Vorteil <strong>für</strong> die meist „jungen Alten“ ist, dass Anonymität und E<strong>in</strong>samkeit kaum vorkommen;<br />
auch erfahren sie durch die E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung <strong>in</strong> den Alltag am Bauernhof und die sich dadurch ergebenden<br />
sozialen Kontakte wichtige körperliche, emotionale und geistige Anregungen.<br />
80<br />
Vorteile <strong>für</strong> die Landwirte/Landwirt<strong>in</strong>nen:<br />
» E<strong>in</strong>ige der ausgebildeten Familienmitglieder befi nden sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Dienstverhältnis<br />
mit dem Roten Kreuz;<br />
» Erhaltung des landwirtschaftlichen Voll- oder Nebenerwerbs betriebs<br />
» Stundenlohn <strong>für</strong> Hilfeleistungen<br />
» Raummiete<br />
» Nutzung der Gebäudesubstanz<br />
Als Nachteile <strong>für</strong> die Landwirte/Landwirt<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d die sehr hohen Investitionskosten, die langfristige<br />
B<strong>in</strong>dung der Familie an e<strong>in</strong>en Betriebszweig, persönliche und ideelle E<strong>in</strong>fl üsse durch<br />
die Tatsache, dass permanent Nichtfamilienmitglieder am Hof s<strong>in</strong>d zu sehen. Dazu kommt,<br />
dass nicht nur die Wohnung altersgerecht (barrierefrei und beh<strong>in</strong>dertengerecht) se<strong>in</strong> muss; der<br />
Sicherheitsaspekt im und um das Haus sowie dem ganzen landwirtschaftlichen Betrieb ist <strong>für</strong><br />
das Angebot des Betreuten Wohnens ganz wesentlich (Landtechnische Schriftenreihe 1999: 9).<br />
Grundsätzlich können auch bei dieser Wohnform Angebote ohne Dienstleistungen (die sich aber<br />
nur <strong>für</strong> rüstige Alte eignen, die nicht pfl egebedürftig s<strong>in</strong>d) sowie Angebote mit Dienstleistungen<br />
unterschieden werden.<br />
2.3.7. Exkurs: Wohnen mit Demenz<br />
Demenz wird zunehmend e<strong>in</strong> Thema. Verschiedene Schätzungen gehen davon aus, dass etwa<br />
e<strong>in</strong> Drittel der <strong>Hochaltrige</strong>n <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> an Demenz erkranken und somit <strong>in</strong> ihrer Alltagskompetenz<br />
weitgehend e<strong>in</strong>geschränkt se<strong>in</strong> w ird. Für 2050 werden 240.000 Demenzkranke<br />
<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> erwartet. Herausforderungen und Belastungen ergeben sich nach Saup durch
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Gedächtnisveränderungen, Verständigungs- und Orientierungsprobleme, Probleme mit der<br />
alltäglichen Versorgung und durch aggressives Verhalten, emotionelle Veränderungen, Unruhe<br />
sowie Fremd- und Selbstgefährdung. Gegenwärtig und wahrsche<strong>in</strong>lich auch künftig leben die<br />
meisten demenziell erkrankten Menschen nicht <strong>in</strong> Heimen oder Sonderwohnformen, sondern<br />
<strong>in</strong> „normalen“ Wohnungen und werden <strong>in</strong> der Regel von Angehörigen betreut. Mehr als <strong>für</strong> alle<br />
anderen alten Menschen ist der Verbleib <strong>in</strong> der eigenen Wohnung <strong>für</strong> demenziell erkrankte Menschen<br />
wichtig: er stellt e<strong>in</strong>en wesentlichen Anker bei wachsendem Verlust der Orientierung dar.<br />
Und doch birgt er enorme Gefahren – nicht nur <strong>für</strong> den Erkrankten/die Erkrankte, sondern auch<br />
<strong>für</strong> Andere. Ge fahrenquellen s<strong>in</strong>d zum e<strong>in</strong>en nicht abgedrehte Wasserhähne oder Elektrogeräte.<br />
Verschlossene Türen verschlechtern die Orientierung, spiegelnde, dunkle oder gemusterte Bodenbeläge<br />
beispielsweise werden oft als angste<strong>in</strong>fl össende Gefahrenquellen wahrgenommen.<br />
Neben diesen wohnungs- bzw. hausbezogenen Maßnahmen s<strong>in</strong>d soziale Alltagsbegleitung und<br />
pfl egerische sowie hauswirtschaftliche Dienstleistungen bedeutende moderierende Faktoren<br />
<strong>für</strong> den Wohnalltag und die selbstständige Lebensführung von demenziell erkrankten Men schen<br />
(Saup & Eberhard 2005: 79). Andererseits verführen hell gestaltete E<strong>in</strong>gangsbereiche zum Verlassen<br />
der Wohnung. Und trotzdem – <strong>für</strong> den Erkrankten/die Erkrankte kann e<strong>in</strong>e Übersiedlung<br />
beispielsweise <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Heim den Verlust e<strong>in</strong>es Teils se<strong>in</strong>er Persönlichkeit bedeuten. Um e<strong>in</strong>en<br />
Ortswechsel zu vermeiden, kann ebenfalls e<strong>in</strong>e Adaptierung der Wohnung hilfreich se<strong>in</strong> - wobei<br />
darauf zu achten ist, dass so wenig Veränderungen wie möglich vorgenommen werden, um den<br />
Erkrankten/die Erkrankte nicht mehr zu verwirren als unbed<strong>in</strong>gt notwendig.<br />
Besonders spannungsgeladen kann sich das Zusammenleben von an Demenz Erkrankten/<br />
Erkrankte und gesunden Men schen im bet reuten Wohnen, aber auch <strong>in</strong> Heimen g estalten.<br />
Schwierig ist es vor allem, den Spagat zwischen den Bedürfnissen beider Gruppen zu fi nden.<br />
Um dies zu ermöglichen, müssen die räumlichen und sozialen Merkmale ihrer Wohnsituation<br />
immer wieder auf die sich wandelnden Bedürfnisse und Ressourcen angepasst werden.<br />
In Deutschland, aber auch <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>, haben sich mittlerweile ambulant betreute Wohngeme<strong>in</strong>schaften<br />
<strong>für</strong> Menschen mit Demenz etabliert - Schätzungen sprechen <strong>in</strong> Deutschland mittlerweile<br />
von 200 derartigen E<strong>in</strong>richtungen. In der Regel leben dort nach Angaben von Christel<br />
Bienste<strong>in</strong>, der Leiter<strong>in</strong> des Instituts <strong>für</strong> Pfl egewissenschaften der Universität Witten/Herdecke<br />
sechs bis acht Menschen als Mieter/<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Wohnung zusammen und werden von e<strong>in</strong>em<br />
selbst gewählten ambulanten Pfl egedienst rund um die Uhr – wenn nötig auch palliativ – betreut<br />
(Tagung „Wohnen mit Demenz“ des Fonds <strong>Soziales</strong> Wien. Wien, 17. Jänner 2007). Die Bewohner/<br />
<strong>in</strong>nen oder deren Angehörige entscheiden über Wohnungsausstattung, Mitbewohner/<strong>in</strong>nen, wer<br />
die Betreuung stellt, wie sie strukturiert ist. Die Tagesstruktur ist nicht starr vorgegeben, sondern<br />
orientiert sich am geme<strong>in</strong>samen Alltag und der Biografi e der Bewohner/<strong>in</strong>nen. Angehörige und<br />
gesetzliche Vertreter/<strong>in</strong>nen kontrollieren die Pfl ege vor Ort, darüber h<strong>in</strong>aus gibt es regelmäßige<br />
Besprechungen der WG-Mitglieder/<strong>in</strong>nen, ihrer Angehörigen und Sachwalter/<strong>in</strong>nen.<br />
Anders als bei diesen Wohngeme<strong>in</strong>schaften ist betreutes Wohnen nach Saup langfristig ke<strong>in</strong>e<br />
Alternative zu e<strong>in</strong>er Versorgung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er st ationären E<strong>in</strong>richtung. Denn e<strong>in</strong>e Versorgung des/<br />
81
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
der Erkrankten ist bei fortgeschrittener Erkrankung nur <strong>in</strong> Ausnahmefällen tatsächlich möglich.<br />
Unvermeidbar ersche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong> Auszug dann, wenn die Mitbewohner/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> ihrer Wohnqualität<br />
durch störende Aktivitäten oder durch aggressives bzw. gefährliches Verhalten des/der Erkrankten<br />
e<strong>in</strong>geschränkt werden.<br />
2.4. Internationale Modelle<br />
2.4.1. Senior/<strong>in</strong>nen-WG`s <strong>in</strong> Dänemark<br />
In Dänemark s<strong>in</strong>d Wohngeme<strong>in</strong>schaften Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre entst anden.<br />
Ursache war die Entscheidung, die herkömmlichen Altenheime durch neue Formen des Wohnens<br />
und der Bet reuung zu ersetzen. E<strong>in</strong> Ziel war es damals, die Norm alität der Wohn- und<br />
Lebenssituation älterer Menschen so weit als möglich zu erhalten. Um dies zu erreichen, gab<br />
es Sonderprogramme <strong>für</strong> die n achträgliche altersg erechte Anpassung von Wohnungen oder<br />
den Neubau von altersangemessenem Wohnraum und Maßnahmen, um das soziale Leben der<br />
Älteren zu fördern bzw. sie zur Selbsthilfe und Eigen<strong>in</strong>itiative zu bewegen.<br />
Auf Eigen<strong>in</strong>itiative s<strong>in</strong>d – wie <strong>in</strong> den Niederl anden – auch die meisten Wohn geme<strong>in</strong>schaften<br />
zurück zu führen. Charakteristisch da<strong>für</strong> ist, dass es sich d abei meist um e<strong>in</strong>e Reihe von kle<strong>in</strong>eren,<br />
<strong>in</strong> sich abgeschlossenen Wohnungen handelt, die du rch Geme<strong>in</strong>schaftsräume und<br />
geme<strong>in</strong>schaftlich zu nutzende Freifl ächen ergänzt werden. Mittlerweile hat das Geme<strong>in</strong>schaftswohnen<br />
sowohl <strong>in</strong>nerhalb des sozialen Wohnbaus als auch <strong>für</strong> die kommunalen Konzepte des<br />
Altenwohnens an Bedeutung gewonnen.<br />
Altersgerechte Wohnungen werden sowohl durch Um- als auch Neubau n ach allgeme<strong>in</strong> gültigen<br />
Standards geschaff en, seit es ke<strong>in</strong>e traditionellen Alters- und Pfl egeheime mehr gibt. Zwei<br />
Typen werden unterschieden: die „Flats for elderly <strong>in</strong> non-profi t-hous<strong>in</strong>g“, die mit öff entlichen<br />
Darlehen bis zu 94% der Gesamtkosten gefördert werden und das „Hous<strong>in</strong>g for the elderly and<br />
disabled persons“ mit e<strong>in</strong>er Fördergrenze von 85%. Die Zuständigkeit <strong>für</strong> die ambulanten und<br />
stationären Dienste liegt bei den Kommunen selbst, die <strong>für</strong> alle seniorenpolitischen Belange <strong>in</strong><br />
der Geme<strong>in</strong>de verantwortlich s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong> wesentlicher Unterschied zu unserem System ist auch die<br />
Tatsache, dass generell und auch im Betreuten Wohnen, das fast fl ächendeckend anzutreff en ist,<br />
die pfl egerischen und hauswirtschaftlichen Dienste steuerfi nanziert <strong>für</strong> die Älteren bei Vorliegen<br />
e<strong>in</strong>er mediz<strong>in</strong>ischen Indikation kostenlos s<strong>in</strong>d. Besondere Betreuungspauschalen werden<br />
nicht erhoben. Der Zugang zu diesen Wohnungen ist übrigens nicht e<strong>in</strong>kommensabhängig, es<br />
variiert jedoch die Miethöhe entsprechend dem E<strong>in</strong>kommen.<br />
2.4.2. Förderungsbeispiele im Rahmen der Wohnbauförderung<br />
Sowohl im Bereich Neubau als auch bei Sanierungen gibt es <strong>in</strong> den österreichischen Bundesländern<br />
Möglichkeiten zur Förderung von seniorengerechten Maßnahmen. Hier werden drei<br />
Beispiele exemplarisch vorgestellt.<br />
82
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Als Sanierungsmaßnahmen gelten <strong>in</strong> sämtlichen Förderungssystemen der Länder generell Erhaltungsarbeiten<br />
im S<strong>in</strong>ne des MRG sowie Verbesserungsarbeiten. Altengerechte Sanierungsmaßnahmen<br />
s<strong>in</strong>d daher grundsätzlich und weitgehend darunter subsumier- und daher förderbar.<br />
Unterschiede ergeben sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er abweichenden Setzung von Schwer punkten bzw. Prioritäten<br />
(z. B. Vorrang von Verbesserungsarbeiten, ausschließliche Privilegierung beh<strong>in</strong>dertengerechter<br />
Sanierungen).<br />
Antragslegitimiert s<strong>in</strong>d im Wesentlichen und nahezu übere<strong>in</strong>stimmend Gebäude- bzw. Liegenschaftseigentümer,<br />
Bauberechtigte oder nach § 6 Abs.2 MRG oder § 14c Abs.2 WGG bestellte<br />
Verwalter, bei Sanierungsmaßnahmen <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Wohnung die Mieter/<strong>in</strong>nen, Wohnungseigentümer<br />
oder auch Eigentümer (Miteigentümer), welche die im Gebäude gelegene Wohnung<br />
selbst benützen.<br />
2.4.2.1. OBERÖSTERREICH<br />
Die Sonderwohnform des sog. „Betreubaren Wohnens“ nimmt als Komb<strong>in</strong>ation von Betreuungsleistungen<br />
und geschaff enen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen <strong>für</strong> alter sgerechtes Wohnen seit 1997 <strong>in</strong><br />
Oberösterreich (auch) im Bereich des geförderten Wohnbaus e<strong>in</strong>e Vorrangstellung e<strong>in</strong>. Gemäß<br />
diesem Konzept soll älteren sowie beh<strong>in</strong>derten Menschen e<strong>in</strong>e selbständige Lebensführung <strong>in</strong>nerhalb<br />
der eigenen Wohnung ermöglicht werden und zu diesem Zweck die betreubare Wohnung<br />
barrierefrei und beh<strong>in</strong>dertengerecht ausgestattet se<strong>in</strong>. Die Errichtung von Mietwohnungen <strong>in</strong><br />
Form des „Betreubaren Wohnens“ ist <strong>in</strong>sofern privilegiert, als bis zu maximal 90% der Gesamtbaukosten<br />
durch Gewährung e<strong>in</strong>es Direktdarlehens des Landes, die restlichen (zum<strong>in</strong>dest) zehn<br />
Prozent durch Eigenmittel des Bauträgers fi nanziert werden. Da s Modell unterscheidet sich<br />
dadurch von den übrigen Förderungsschienen <strong>für</strong> die Errichtung von Miet(kauf)- und Eigentumswohnungen<br />
vor allem <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em deutlich höheren Landesdarlehen. Das Ausmaß des Darlehens<br />
beträgt <strong>in</strong> diesen Fällen 60% der Gesamtbaukosten.<br />
Bei Errichtung e<strong>in</strong>es barrierefreien Personenaufzugs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gebäude mit höchstens drei Geschossen<br />
wird e<strong>in</strong> Förderungszuschlag von Euro 50,- je m² Wohnnutzfl äche gewährt.<br />
Die Laufzeit des Darlehens beträgt grundsätzlich 46 Jahre (g er<strong>in</strong>gfügig erhöht bei Errichtung<br />
e<strong>in</strong>es barrierefreien P ersonenaufzugs); die Annuitäten betragen anfänglich 1,596% des ursprünglichen<br />
Darlehensbetrags. Als zusätzliche Besonderheit ist e<strong>in</strong>e Belastungsobergrenze<br />
(grundsätzlich F<strong>in</strong>anzierungsbelastung aus Rückzahlung des Landesdarlehens, e<strong>in</strong>es allfälligen<br />
Kapitalmarktdarlehens sowie seitens des Bauträgers e<strong>in</strong>gesetzten M<strong>in</strong>desteigenmitteln) von<br />
Euro 2,45 je m² und Monat festgelegt.<br />
2.4.2.2. STEIERMARK<br />
Gemäß § 5 Abs. 1 Z. 8 Stmk. Wohnbauförderungsgesetz 1993 ist im Zuge der Errichtung von Gebäuden<br />
mit mehr als zwei Wohnungen als unbed<strong>in</strong>gte Förderungsvoraussetzung vorgesehen,<br />
83
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
dass auf die Bedürfnisse beh<strong>in</strong>derter und alter Menschen <strong>in</strong>sofern Bedacht genommen wird,<br />
als die beh<strong>in</strong>derten - und altengerechte Adaptierbarkeit <strong>in</strong>sbesondere der Sanitärräume sichergestellt<br />
ist und bauliche B arrieren vermieden werden. K onkret müssen der Gebäudee<strong>in</strong>g ang<br />
sowie das Erdgeschoss stufenlos erreichbar se<strong>in</strong>. Das gleiche gilt bei allfälligem E<strong>in</strong>bau e<strong>in</strong>es<br />
Personenaufzugs, welcher überdies e<strong>in</strong>en st ufenlosen Zugang zu allen Geschossen ermöglichen<br />
und e<strong>in</strong>e <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Rollstuhl ausreichend bemessene Kab<strong>in</strong>engröße aufzuweisen hat. In<br />
Gebäuden mit mehr als drei oberirdischen Geschossen ist der E<strong>in</strong>bau e<strong>in</strong>es Personenaufzugs<br />
zw<strong>in</strong>gend vorzunehmen, <strong>in</strong> Gebäuden mit drei oberirdischen Geschossen der planliche Nachweis<br />
der Möglichkeit des E<strong>in</strong>baues zu erbr<strong>in</strong>gen. In besonders begründeten Fällen, <strong>in</strong>sbesondere<br />
bei Gebäuden <strong>in</strong> Hanglage, kann sich die stufenlose Erreichbarkeit auf Teile des Gebäudes<br />
beschränken.<br />
Bei beh<strong>in</strong>dertengerechter Bauausführung e<strong>in</strong>er Wohnung werden die Mehrkosten als ungewöhnliche<br />
Umstände im S<strong>in</strong>ne des §7 Abs. 4 der Stmk. Wohnbauförderungsverordnung anerkannt. Bei<br />
Senioren/<strong>in</strong>nenwohnungen beträgt der Zuschlag bis zu 25%. Dadurch erhöht sich entsprechend<br />
das Ausmaß des durch rückzahlbare Annuitätenzuschüsse des Landes geförderten Kapitalmarktdarlehens.<br />
Je nach Art der Wohnung (Miet- oder Eigentumswohnung) und Förderungsschiene<br />
(herkömmliches Mietwohnungs- oder soziales Wohnbaumodell) werden Kapitalmarktdarlehen<br />
von Euro 1.121,- oder 1.105,- je m² Nutzfl äche bezuschusst. Diese Grundbeträge werden unter<br />
bestimmten Voraussetzungen (z. B. bei Gebäuden mit ger<strong>in</strong>ger Geschossanzahl) erhöht.<br />
Die Ermittlung der Zuschüsse erfolgt nach e<strong>in</strong>em komplizierten System. Sie werden im Wesentlichen<br />
unter konstanter Heranziehung e<strong>in</strong>es fi ktiven Darlehensz<strong>in</strong>ssatzes von sieben Prozent<br />
auf Dauer e<strong>in</strong>er Darlehenslaufzeit von 25 Jahren berechnet. Die derart (halbjährlich) errechnete<br />
Annuität wird um die zu leistende Miete <strong>in</strong> Höhe von 2,2% der Darlehenssumme reduziert, der<br />
Diff erenzbetrag zur fi ktiven Annuität als Annuitätenzuschuss des Landes gewährt. Durch Erhöhung<br />
des Mietz<strong>in</strong>ses von 2,2% der Darlehens summe um jährlich zwei Prozent reduziert sich<br />
die Förderungsleistung bis zur Darlehenstilgung.<br />
2.4.2.3. WIEN<br />
Mit der Novelle 2004 zur Neubauverordnung 2001 wurde <strong>in</strong> Wien die Möglichkeit geschaff en,<br />
<strong>für</strong> seniorengerechtes Bauen e<strong>in</strong>e höhere Förderung zu gewähren. Die Mehr ausstattung <strong>für</strong><br />
beh<strong>in</strong>derten- bzw. seniorengerechte Wohnungen (Notruftelefon, Zutrittskontrolle über Zyl<strong>in</strong>der -<br />
schloss, rutschsichere Verfl iesung, bodengleicher Dusc hbereich, Anhaltegriff e, barrierefreie<br />
Zugänge, Beh<strong>in</strong>dertenplatz <strong>in</strong> der Tiefgarage usw.) soll im Wege e<strong>in</strong>es Nutzfl ächenzuschlages<br />
(bis zu 75% der Nettonutzfl äche) zu e<strong>in</strong>er verbesserten Förderung führen (§ 1 Abs. 5 letzter Satz<br />
Neubauförderungsverordnung 2001).<br />
Die Errichtung von Miet- und Eigentums wohnungen <strong>in</strong> Mehr wohnungsbauten wird durch Gewährung<br />
von Direktdarlehen des Landes je m² Wohnnutzfl äche gefördert und zwar je nach Gesamtnutzfl<br />
äche der Wohnungen mit Euro 510,- oder 585,- (Mietwohnungen) bzw. Euro 365,- oder<br />
84
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
440,- (Eigentumswohnungen). Durch den erwähnten Nutzfl ächenzuschlag von 75% erhöht sich<br />
das Förderungsausmaß beträchtlich.<br />
2.5. Trends und Tendenzen<br />
Nach wie vor ist Wohnen <strong>in</strong> den eig enen vier Wänden die belieb teste Wohnform von älteren<br />
Menschen – und wird es vermutlich auch bleib en. Dazu k ommt, dass angesichts der stetig<br />
steigenden Zahl Älterer die vorhandenen Heimplätze – selbst wenn weiter aufgestockt wird –<br />
nicht zur Wohnversorgung ausreichen werden.<br />
Aus diesem Grund muss hier weiter angesetzt werden: Bauträger haben zwar <strong>in</strong> den vergangenen<br />
Jahren die entsprechende Zielgruppe e<strong>in</strong> wenig entdeckt – aber noch viel zu wenig. Unter<br />
anderem sollte bei Bauträgern das Bewusstse<strong>in</strong> geweckt werden, ihre An lagen bereits von<br />
vornhere<strong>in</strong> den Bedürfnissen älterer und hochaltriger Bewohner/<strong>in</strong>nen entsprechend zu planen<br />
– oder zum<strong>in</strong>dest so, dass gegebenenfalls leicht umgerüstet werden kann. Die entsprechenden<br />
Maßnahmen kommen darüber h<strong>in</strong> aus <strong>in</strong> der Regel nicht nur Senioren/<strong>in</strong>nen, sondern auch<br />
K<strong>in</strong>dern oder beh<strong>in</strong>derten Menschen zugute. Was die Zielgruppe betriff t, zeigt sich, dass der<br />
Vorteil e<strong>in</strong>er adaptierten Wohnung nach wie vor nicht <strong>in</strong> deren Bewusstse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gedrungen ist.<br />
Der Markt <strong>für</strong> Senior/<strong>in</strong>nenwohnen ist zwar per se vorhanden, es besteht aber noch massiver<br />
Überzeugungsbedarf von Seiten der Bauträger, aber auch mobiler Dienste etc., um älteren Menschen<br />
bewusst zu machen, dass e<strong>in</strong>e h<strong>in</strong>dernisfreie Wohnung zum e<strong>in</strong>en den Al ltag deutlich<br />
erleichtern und möglicherweise die Übersiedlung <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Altersheim verzögern kann. Gleichzeitig<br />
sollten auch Baufi rmen, Architekten etc. näher an das Thema herangeführt und ihre Sensibilität<br />
dem Thema gegenüber erhöht werden.<br />
Selbst unter der Annahme, dass das Mobilit ätsverhalten älterer Menschen <strong>in</strong> den nächsten<br />
Jahren nicht zunimmt, bed<strong>in</strong>gt alle<strong>in</strong> der demografi sche Wandel der Altersstruktur, dass <strong>in</strong> zehn<br />
bis fünfzehn Jahren – wenn die Babyboom-Generation (Geburtsjahr gänge 1955 bis 1965) <strong>in</strong> den<br />
dritten Lebensabschnitt e<strong>in</strong>tritt - die über 50-Jährigen die zahlenmäßig stärkste Nachfrager gruppe<br />
am Wohnungsmarkt se<strong>in</strong> wird. Parallel dazu ist zu berücksichtigen, dass die Lebenserwartung<br />
und somit auch die Zahl der Hoch betagten ebenfalls weiter steig en wird – e<strong>in</strong>e besondere<br />
Herausforderung <strong>für</strong> die Wohnungswirtschaft.<br />
E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner „Königsweg“ <strong>für</strong> die Wohnversorgung der k ünftigen <strong>Hochaltrige</strong>n kann sicher<br />
nicht gefunden werden. Vielmehr ist zu erwarten, dass zahlreiche kle<strong>in</strong>ere und größere Projektentwicklungen<br />
am Markt mehr oder weniger Erfolg haben werden. Schließlich s<strong>in</strong>d schon<br />
manche der j etzigen, aber noch viel mehr die künftigen älteren u nd alten K unden mündige<br />
Konsument<strong>in</strong>nen/Konsumenten, die sehr genaue Vorstellungen davon haben, was sie möchten<br />
und was es k osten darf. Zu berücksichtigen wird auc h se<strong>in</strong>, d ass die k ünftigen <strong>Hochaltrige</strong>n<br />
nicht nur selbstständiger, sondern auch besser gebildet, anspruchsvoller, mobiler und mehr<br />
an die Technik gewohnt se<strong>in</strong> we rden. Dieses marktmäßige Herantasten ist der Weg, auf dem<br />
die adäquate Wohnversorgung der alternden Bevölkerung sichergestellt werden kann. Dabei<br />
85
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
darf nicht vergessen werden, dass das Thema „Wohnen“ nicht isoliert betrachtet werden darf:<br />
Neben dem Wohnumfeld muss auch der Pfl ege und deren F<strong>in</strong>anzierung Platz e<strong>in</strong>geräumt werden.<br />
Die letzten beiden Punkte s<strong>in</strong>d schon alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick darauf wichtig, dass zum e<strong>in</strong>en<br />
die Zahl der E<strong>in</strong>personenhaushalte – sei es mit oder ohne K<strong>in</strong>der – stetig steig t und die neue<br />
Vielgenerationenfamilie zwar e<strong>in</strong>e lange Ausdehnung <strong>in</strong> der Zeit über fast e<strong>in</strong> Jahrhundert h<strong>in</strong><br />
bedeutet, aber durch die Geburtenarmut nur ger<strong>in</strong>ge Breite aufweist. In Zukunft wird es immer<br />
weniger K<strong>in</strong>der u nd Enkel geben, die überh aupt Pfl egeaufgaben übernehmen können. Die<br />
Selbstverständlichkeit des „Zur-Verfügung-Stehens“ der jüngeren und mittleren Generationen<br />
<strong>für</strong> die Alten ist gemäß zahlreichen Studien nicht mehr gegeben.<br />
Die Wohnversorgung älterer und alter Menschen wird daher zusehends zu e<strong>in</strong>em Thema, mit<br />
dem sich Bund, Länder, Geme<strong>in</strong>den, aber auch die Wohnungswirtschaft selbst möglichst rasch<br />
vehement ause<strong>in</strong>andersetzen müssen - nicht nur die Wohnversorgung, sondern auch die Betreuung<br />
betreff end. Schließlich s<strong>in</strong>d es erst diese Dienstleistungen, die vielen, oft alle<strong>in</strong>stehenden<br />
Menschen den Verbleib <strong>in</strong> ihren eigenen vier Wänden möglich machen.<br />
86
LITERATUR<br />
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Rischanek, Ursula & Am ann, Wolfgang (2004): Seniorenbezogene Konzepte <strong>für</strong> Neubau u nd<br />
Sanierung. Handbuch. Schriftenreihe der Forschungsgesellschaft <strong>für</strong> Wohnen, Bauen und Planen,<br />
Nr. 152. Wien.<br />
Fessel + GfK (2003): Generation 50 plus <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>. Repräsentativbefragung der Fessel + GfK<br />
Sozialforschung. Wien.<br />
Heeg, Sybille (1994): Verbesserte Wohnkonzepte <strong>für</strong> Menschen im Heim aus der Sicht e<strong>in</strong>er Architekt<strong>in</strong>.<br />
In: Andreas Kruse & Hans-Werner Wahl (Hg), Altern und Wohnen im Heim: Endstation<br />
oder Lebensort? Bern, Gött<strong>in</strong>gen, Toronto, Seattle: Verlag Hans Huber.<br />
He<strong>in</strong>ze, Rolf G. & Eichener, Volker (1997): Neue Wohnung auch im Alter. Folgerungen aus dem<br />
demographischen Wandel <strong>für</strong> Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft. Darmstadt: Schader-<br />
Stiftung.<br />
Institut Sicher Leben (2005): Lebensgefahr <strong>in</strong> der eigenen Wohnung. Aussendung, Wien.<br />
Kr<strong>in</strong>gs-Heckemeier, Marie-Therese & Ba ba, Ludger (1999): Wohnmobilität <strong>in</strong> der zweiten Lebenshälfte.<br />
Motive, Erwartungen, Potenziale <strong>in</strong> Niedersachsen. Hannover: LBS Schriftenreihe.<br />
Kuratorium <strong>für</strong> Verkehrssicherheit (2005): Freizeitunfallstatistik 2005.<br />
Landtechnische Schriftenreihe (1999): Betreutes Wohnen am Bauernhof. E<strong>in</strong> Leitfaden als Entscheidungshilfe.<br />
Wien: <strong>Österreich</strong>isches Kuratorium <strong>für</strong> Landtechnik und -entwicklung.<br />
Narten, Renate & Tischer Sylvia (1999): Raumk onzepte <strong>für</strong> Wohngeme<strong>in</strong>schaften selbständig<br />
lebender alter Menschen – Erfahrungen aus niederländischen Wohnprojekten. Stuttgart: Fraunhofer<br />
IRB Verlag.<br />
Possemeyer, Ines (2002): E<strong>in</strong>samkeit. In: Geo - Das neue Bild der Erde, (10): 20-46.<br />
Saup, W<strong>in</strong>fried (2001): Ältere Menschen im Bet reuten Wohnen: Ergebnisse der Augsbu rger<br />
Längsschnittstudie Band 1. Augsburg: Verlag <strong>für</strong> Gerontologie Alexander Möckl.<br />
Saup, W<strong>in</strong>fried (2001): Ältere Menschen im Bet reuten Wohnen: Ergebnisse der Augsbu rger<br />
Längsschnittstudie Band 2. Augsburg: Verlag <strong>für</strong> Gerontologie Alexander Möckl.<br />
Saup, W<strong>in</strong>fried, Eberhard, Angela (2005): Umgang mit Demenzkranken im Betreuten Wohnen.<br />
E<strong>in</strong> konzeptgeleiteter Ratgeber. Augsburg: Verlag <strong>für</strong> Gerontologie Alexander Möckl.<br />
87
LEBENSFORMEN UND WOHNSITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Stadt Wien (2001): Statistische Mitteilungen zur Gesundheit <strong>in</strong> Wien 2001/2002. Wien.<br />
Statistik Austria (2004): Volkszählung 2001. Gebäude- und Wohnungszählung. Wien.<br />
Statistik Austria (2005): Erweiterte Wohnungserhebung. Mikrozensus 2003. Wien.<br />
Statistik Austria (2006): Bevölkerungsvorausschätzung 2006-2050 (mittlere Variante). Statistisches<br />
Handbuch 2007. Wien.<br />
Statistik Austria (2007): Mikrozensus 2006. Wien.<br />
88
ÖKOLOGIE IM ALTER<br />
3. ÖKOLOGIE IM ALTER – DER ZUGANG ZUR (SOZIALEN) INFRASTRUKTUR<br />
DER WOHNUMGEBUNG UNTER BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG REGIO-<br />
NALER UNTERSCHIEDE UND BESONDERHEITEN<br />
CORNELIA KRAJASITS<br />
3.1. Die Fragestellung<br />
Die tiefgreifenden demogr afi schen Veränderungen der eu ropäischen Gesellschaft vollziehen<br />
sich sehr unterschiedlich im Raum. So stehen Regionen mit starkem Bevölkerungswachstum<br />
solchen mit enormen Schrumpfungen gegenüber. Die vorliegenden räumlichen Bevölkerungsprognosen<br />
gehen dav on aus, d ass sich die se Disparitäten <strong>in</strong> den k ommenden Jahr zehnten<br />
weiter verschärfen werden. Polarisierung und räumliche Segregation <strong>in</strong> Bezug auf Bevölkerung<br />
und Bevölkerungs struktur ist die Folge.<br />
Diese Entwicklung stellt nicht nur das Gesundheits- und Sozialsystem vor hohe Anforderungen,<br />
auch die Raumentwick lungs- und Raumordnungspolitik sowie die Planung s<strong>in</strong>d diesbezüglich<br />
gefordert. Daher werden sich auch diese Politikbereiche verstärkt darauf e<strong>in</strong>richten müssen, dass<br />
Menschen älter als 80 Jahre werden und dies zukünftig eher die Regel als die Ausnahme se<strong>in</strong> wird.<br />
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der räumlichen Dimension der Lebensbed<strong>in</strong>gungen<br />
und der Anforderungen von hochbetagten Menschen an ihre gebaute und soziale Umwelt.<br />
Aktionsradien und Entwicklungsprozesse im hö heren Lebensalter s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> besonderer Weise<br />
von den j eweiligen (persönlichen) Ressourcen und den Begrenz ungen der g egebenen Umweltbed<strong>in</strong>gungen<br />
abhängig und werden von diesen stimuliert und gefördert oder unterdrückt und<br />
begrenzt. Als Umwelt wird <strong>in</strong> diesem Zusammenhang <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie die Wohnumwelt, das heißt<br />
vor allem die entsprechenden E<strong>in</strong>richtungen der Dase<strong>in</strong>svorsorge wie bspw. Nahversorgung,<br />
Bank, Post, mediz<strong>in</strong>ische Grundversorgung (Arzt, Apotheke), oder E<strong>in</strong>richt ungen der K<strong>in</strong>der -<br />
betreuung oder Betreuung älterer Menschen, Verkehrsangebote sowie die nachbarschaftlichen,<br />
kommunikativen (z. B. Vere<strong>in</strong>e, Gasthäuser) und kommunalen (E<strong>in</strong>richtungen der Geme<strong>in</strong>de)<br />
Umwelten verstanden. Dementsprechend konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf<br />
die aktuellen und zu erwartenden Veränderungen der r äumlichen Strukturen und die dar aus<br />
resultierenden Konsequenzen <strong>für</strong> hochbetagte Menschen, also jene Menschen, deren räumliches,<br />
soziales und gesellschaftliches Mobilitätsverhalten vermehrt durch E<strong>in</strong>schränkungen des<br />
Sehens, Hörens, der Bewegungsfähigkeit sowie der kognitiven Leistungsfähigkeit und Krankheit<br />
bee<strong>in</strong>fl usst bzw. geprägt wird.<br />
3.2. Demografi sche Veränderungen und deren räumliche Dimension<br />
Die angesprochene demografi sche Entwicklung ist auch <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> zu beobachten. Auch hier<br />
stehen Regionen mit dynamischer Bevölkerungsentwicklung solchen mit teilweise dramatischen<br />
Bevölkerungsrück gängen gegenüber. Zu den wachsenden Regionen zählen <strong>in</strong>sbesondere die<br />
89
ÖKOLOGIE IM ALTER<br />
Kle<strong>in</strong>- und Mittelstädte sowie die Suburbanisierungs gebiete, also die Stadtumlandgeme<strong>in</strong>den<br />
der großen Städte. Zu den Verlierern zählen periphere Regionen mit ungünstiger ökonomischer<br />
Struktur und dementsprechend großem <strong>Arbeit</strong>splatzmangel sowie schlechten Erreichbarkeitsverhältnissen.<br />
Auch <strong>in</strong> H<strong>in</strong>sicht auf Altersstruktur und Herkunft gibt es regional große Unterschiede<br />
zum e<strong>in</strong>en zwischen den l ändlichen und städtischen Regionen und zum anderen<br />
<strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>zelner Stadt- bzw. Regionsteile.<br />
In <strong>Österreich</strong> steigt der Anteil der Senior<strong>in</strong>nen und Senioren an der gesamten Wohnbevölkerung<br />
stetig. Der Anteil der über 60-Jährigen betrug im Jahr 2001 im österreichi schen Durchschnitt<br />
21,1%, der Anteil der über 80-Jährig en lag österreichweit bei ru nd 3,6%. In den st ädtischen<br />
Regionen Wien und <strong>in</strong> den Landesh auptstädten ist dieser Anteil durchwegs höher als <strong>in</strong> den<br />
ländlichen Regionen.<br />
Laut Volkszählung lebten 2001 <strong>in</strong> Österreic h 291.622 Personen, die ält er als 80 Jahre waren,<br />
das waren um 3,1% mehr als noch im Jahr 1991. Mit 23% lebt fast e<strong>in</strong> Viertel der Bevölkerung<br />
dieser Altersgruppe <strong>in</strong> Wien, rund 14% <strong>in</strong> den Landeshauptstädten und rund 63% <strong>in</strong> den ländlichen<br />
Regionen. Wenngleich <strong>in</strong> Wien der Anteil der älteren Bevölkerungsgruppen immer noch<br />
überdurchschnittlich hoch ist, so ist <strong>in</strong> den letzten 10 Jahren doch e<strong>in</strong>e auff ällige Verschiebung<br />
<strong>in</strong> Richtung der ländlichen Regionen zu beobachten. Als Folge der Zuwanderung von Student/<br />
<strong>in</strong>nen und Schüler/<strong>in</strong>nen (Bildungs zuwanderung) und der Zuwanderung von Personen mit<br />
nicht österreichischer Staatsbürgerschaft im er werbsfähigen Alter hat e<strong>in</strong>e Verjüngung der<br />
Altersstruktur stattgefunden. Während zwischen 1991 und 2001 die Zahl der über 80-Jährigen<br />
Wohnbevölkerung <strong>in</strong> Wien um 13,3% zurückgegangen ist, ist sie <strong>in</strong> den Landeshauptstädten um<br />
8,1% und <strong>in</strong> den ländlichen Regionen um 9,6% angestiegen.<br />
90<br />
Tabelle 1: Raumstruktur der hochaltrigen Wohnbevölkerung <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> 1991-2001<br />
2001<br />
Wohnbevölkerung<br />
1991<br />
1991-2001 <strong>in</strong> %<br />
<strong>in</strong>sgesamt<br />
über<br />
80-Jährige<br />
<strong>in</strong>sgesamt<br />
über<br />
80-Jährige<br />
über<br />
80-Jährige<br />
Absolut<br />
<strong>Österreich</strong><br />
Anteil <strong>in</strong> %<br />
8.032.926 291.622 7.795.786 282.730 8.892<br />
<strong>Österreich</strong> 100,00% 100,00% 100,00% 100,00% 3,1<br />
Wien 19,30% 23,00% 19,80% 27,40% -13,3<br />
Landeshauptstädte 11,70% 14,20% 12,40% 13,60% 8,1<br />
Sonst. Geme<strong>in</strong>den 69,00% 62,80% 67,80% 59,10% 9,6<br />
Quelle: Statistik Austria, eigene Berechnungen
ÖKOLOGIE IM ALTER<br />
Die ostösterreichischen Bundesländer, gefolgt von der Steiermark und Kärnten, weisen seit Jahren<br />
besonders hohe Anteile der älteren Bevölkerung auf. In Wien s<strong>in</strong>d vor allem die westlichen,<br />
südwestlichen sowie die <strong>in</strong>nerstädtischen Bezirke von Überalterung betroff en. Vergleichsweise<br />
niedrige Anteile haben nach wie vor die Bundesländer im Westen <strong>Österreich</strong>s, wobei <strong>in</strong> den vergangenen<br />
Dekaden allerd<strong>in</strong>gs auch hier e<strong>in</strong>e zunehmende Annäherung an den österreichischen<br />
Durchschnittswert stattgefunden hat.<br />
E<strong>in</strong> detaillierter Blick auf die nicht städtischen Regionen <strong>Österreich</strong>s zeigt, dass der Anteil der<br />
über 80-Jährigen Wohnbevölkerung vor allem <strong>in</strong> den nördlichen Teilen des Wald- und We<strong>in</strong>viertels,<br />
im südlichen alp<strong>in</strong>en Teil der R egion Niederösterreich Süd, <strong>in</strong> Teilen des mittleren und<br />
südlichen Burgenlandes, der Ost steiermark sowie der Obersteierm ark sowie Teilen Kärntens<br />
und des oberösterreichischen und steirischen Salzkammergutes überdurchschnittlich hoch<br />
ist. Meist handelt es sich um Geme<strong>in</strong>den entlang bzw. nahe von Staatsgrenzen oder im voralp<strong>in</strong>en<br />
Raum, peripher gelegen und damit schlecht erreichbar und/oder von strukturellen Krisen<br />
(Bergbau, Grundstoffi ndustrie, Textil <strong>in</strong>dustrie...) betroff en und mit Abwanderung konfrontiert.<br />
Abbildung 1: Regionale Verteilung der über 80-Jährigen Wohnbevölkerung<br />
3.2.1. Zukünftige Entwicklungen – Bevölkerungsprognosen<br />
Die vorliegenden Bevölkerungsprognosen gehen von e<strong>in</strong>er überproportional starken Zunahme<br />
der hochaltrigen Wohnbevölkerung aus. Laut Bevölkerungsprognose der Statistik Austria wird<br />
die Zahl der 70- bis 80-Jährigen von derzeit rund 580.000 Personen auf etwas über e<strong>in</strong>e Mio.<br />
im Jahr 2035, die Zahl der über 80-Jährigen von 371.000 auf 655.000 Personen anwachsen. Die<br />
ÖROK-Bevölkerungsprognose beispielsweise rechnet mit e<strong>in</strong>em Zuwachs der über 85-Jährigen<br />
91
ÖKOLOGIE IM ALTER<br />
auf 298.000 im Jahr 2031. Die Anteile werden auf 3,5% bis 4,0% geschätzt. Aufgrund der derzeitigen<br />
Alterstruktur und der zu beobachtenden Bevölkerungs bewegungen wird erwartet, dass<br />
sich die regionale Struktur <strong>in</strong> den nächsten Jahrzehnten allerd<strong>in</strong>gs wieder etwas verändern wird.<br />
Mit deutlichen Zunahmen der angesprochenen Altersgruppe wird vor allem <strong>in</strong> den suburbanen<br />
Gebieten gerechnet, jene Gebiete, die derzeit am dynamischsten wachsen. Auch <strong>für</strong> Westösterreich<br />
werden steigende Anteile der älteren Bevölkerungs gruppen prognostiziert (ÖROK 2004).<br />
3.3. Infrastrukturausstattung der Regionen <strong>in</strong> Bezug auf die Anforderungen<br />
hochbetagter Menschen<br />
Gerade im hohen Alter, wenn Menschen e<strong>in</strong>en Großteil ihres Alltags (Versorgung, soziale Kontakte)<br />
im unmittelbaren Wohnbereich verbr<strong>in</strong>gen, wirken sich gute Wohnbed<strong>in</strong>gungen und die<br />
Qualität des entsprechenden Wohnumfelds maßgeblich auf die Lebenszufriedenheit und die<br />
Selbständigkeit der Personen aus. Dementsprechend wichtig ist die Frage nach der räumlichen<br />
Verteilung und der räumlichen Zugäng lichkeit zur Nahversorgung, zur mediz<strong>in</strong>ischen Grundversorgung<br />
und zu den entsprechenden Betreuungse<strong>in</strong>richtungen <strong>für</strong> ältere bzw. hochbetagte<br />
Menschen.<br />
Sowohl das Angebot an als auch die Nachfrage nach Leistungen der Dase<strong>in</strong>svorsorge oder Dienstleistungen<br />
im allgeme<strong>in</strong>en Interesse, wie: öff entliche Verkehrsverb<strong>in</strong>dungen, Lebens mittelgeschäfte,<br />
ärztliche Versorgung, Post usw., unterliegen <strong>in</strong> den letzten Jahren e<strong>in</strong>em dynamischen Wandel.<br />
Die Angebotsseite wird bestimmt von Liberalisierungstendenzen und verstärktem Wettbewerb,<br />
sowie durch e<strong>in</strong>e neue Sicht <strong>in</strong> Bezug auf staatliche Aufgaben und dem Trend zur Privatisierung<br />
öff entlicher Leistungen und sowie dem technischen Fortschritt. Auf der Nachfrageseite bestimmen<br />
die Änderungen des Verbraucherverhaltens und der Bedarf an neuen Leistungen (Betreuungsleistungen,<br />
Information und Beratung) – her vorgerufen durch den demogr afi schen und<br />
gesellschaftlichen Wandel – die Entwicklungsmuster und -strukturen. Auf den Raum bezogen<br />
äußert sich dies vor allem <strong>in</strong> räumlichen Konzentrations tendenzen und im Rückzug des Angebotes<br />
aus der Fläche. Dies verbunden mit dem steigenden Motorisierungsgrad der Bevölkerung<br />
führt zu erhöhter Mobilität.<br />
Grundsätzlich wird davon ausgegangen – und dies fi ndet sich auch <strong>in</strong> den regionalpolitischen<br />
und raumplanerischen Zielsetzungen wieder –, dass die Leistungen der Dase<strong>in</strong>svorsorge allen<br />
Bevölkerungs grup pen <strong>in</strong> entsprechendem Ausmaß und zu entsprechenden Preisen zugänglich<br />
se<strong>in</strong> sollen. Räumliche Ungleichgewichte schränken die Handlungsmöglichkeiten von bestimmten<br />
Bevölkerungsgruppen e<strong>in</strong>. Von E<strong>in</strong>schränkungen dieser Art ist besonders die Bevölkerung<br />
<strong>in</strong> peripheren, dünn besiedelten und strukturschwachen Räumen, wo neben <strong>Arbeit</strong>splätzen<br />
auch Infrastrukturen <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger Anzahl und Vielfalt vorhanden oder nur schwer erreichbar s<strong>in</strong>d,<br />
betroff en. Wege, die nicht zurückgelegt werden können, schneiden Entwicklungsmöglichkeiten<br />
ab, verh<strong>in</strong>dern Kommunikation und Interaktion und verstärken physische, soziale und mentale<br />
Immobilität. Dies triff t hochaltrige und wenig mobile Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em noch stärkeren Maß.<br />
92
ÖKOLOGIE IM ALTER<br />
Der Ausgleich räumlicher Disparitäten, die Herstellung gleichwertiger Lebensbed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> allen<br />
Teilräumen und damit die Erzielung gesellschaftlicher Integration über alle Bevölkerungsgruppen<br />
werden als Zielvorstellungen der Raumentwicklungs politik, wie sie auch im <strong>Österreich</strong>ischen<br />
Raumordnungskonzept 2001 (ÖROK 2001) festgeschrieben wurden, formuliert. Damit wird die<br />
Schaff ung gleichwertiger Lebensbed<strong>in</strong>gungen als Auftrag an die planende und vorsorgende Verwaltung<br />
gerichtet, allen Bevölkerungsgruppen e<strong>in</strong>en Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen zu<br />
ermöglichen, ohne Anspruch zu erheben, dass dabei jemals perfekte Gleichheit herrschen kann.<br />
Die zielorientierte räumliche Organisation der Dase<strong>in</strong>sgrundfunktionen ist somit e<strong>in</strong>e der zentralen<br />
Aufgaben der Raumordnung und Raumplanung. Als Dase<strong>in</strong>sgrundfunktionen werden jene<br />
grundlegenden menschlichen Dase<strong>in</strong>säußerungen und Aktivitäten verstanden, die von allen<br />
Bevölkerungsgruppen ausgeübt werden und raumwirksam ausgeprägt s<strong>in</strong>d. Dazu zählen Wohnen,<br />
<strong>Arbeit</strong>, Verkehr, Bildung, Ver- und Entsorgung, Erholung und Kommunikation. Leistungen<br />
der Dase<strong>in</strong>svorsorge decken damit e<strong>in</strong> sehr br eites Spektrum an Lebensbedürfnissen ab, die<br />
allerd<strong>in</strong>gs mit dem Alter und dem Lebenszusammenhang sehr stark variieren.<br />
Im Zusammenhang mit der vorliegenden Fragestellung lassen sich im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er sozi al und<br />
ökologisch nachhaltigen Funktions fähigkeit von Räumen folgende Fragen stellen:<br />
» Welche Leistungen bzw. Ausstattung muss e<strong>in</strong> Raum bieten, damit auch die älteren<br />
Bewohner und Bewohner<strong>in</strong>nen angemessene und gerechte Chancen <strong>für</strong> die Entfaltung<br />
ihrer spezifi schen Lebensbedürfnisse vorfi nden?<br />
» Welche Güter und Leistungen sollen/müssen <strong>in</strong> welcher Qualität verfügbar se<strong>in</strong>?<br />
Zur Beantwortung dieser Fragen s<strong>in</strong>d vor allem zwei Kriterien <strong>in</strong> Betracht zu ziehen, nämlich die<br />
räumliche Zugänglichkeit, die du rch die Erreich barkeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ang emessenen Zeit gesichert<br />
werden muss, und die soziale Zugänglichkeit, die durch erschw<strong>in</strong>gliche Preise gesichert werden<br />
muss.<br />
Für die Bestimmung der räumlichen Funktionsfähigkeit ist vor allem das Mobilitäts potenzial der<br />
Bevölkerung maßgeblich. Die räumlichzeitliche Erreichbarkeit ist e<strong>in</strong>e Funktion der vorhandenen<br />
Verkehrs<strong>in</strong>frastruktur und des (öff entlichen) Verkehrsangebotes sowie der den Nutzern und<br />
Nutzer<strong>in</strong>nen zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel. Wenn beispielsweise e<strong>in</strong> hoher Anteil der<br />
Bewohner und Bewohner<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>er Region Kraftfahrzeuge besitzt und benutzt, dann s<strong>in</strong>d die<br />
Aktionsräume und damit die Funktionsfähigkeit von Räumen deutlich größer als <strong>in</strong> Regionen,<br />
<strong>in</strong> denen die Bevölkerung zu e<strong>in</strong>em großen Teil die täglichen Wege zu Fuß oder mit öff entlichen<br />
Verkehrsmitteln bewältigt oder bewältigen muss. Es muss davon ausgegangen werden, dass<br />
mit steigendem Alter der Aktivitätsradius und damit auch die erreichbare Fläche kle<strong>in</strong>er wird. So<br />
haben beispielsweise Mobilitäts untersuchungen <strong>in</strong> der Steiermark ergeben, dass der Aktionsradius<br />
von Personen über 84 Jahren lediglich 7% der Fl äche e<strong>in</strong>er durchschnittlichen Person<br />
93
ÖKOLOGIE IM ALTER<br />
ausmacht (Sammer & Röschel 1999). Für ältere Menschen können sich daraus schwerwiegende<br />
Probleme bei der Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs ergeben.<br />
3.3.1. Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs<br />
Die Versorgung mit Lebensmitteln ist e<strong>in</strong> zentraler Bestandteil der Dase<strong>in</strong>svorsorge. Speziell <strong>in</strong><br />
diesem Bereich haben sich Angebot und Nachfrage <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten stark gewandelt.<br />
Sowohl im ländlichen als auch im städtischen Raum ist die Zahl der Lebensmittelgeschäfte stark<br />
gesunken, während die Zahl der Supermärkte deutlich angestiegen ist. Auch auf der Nachfrageseite<br />
haben sich Veränderungen ergeben. Die E<strong>in</strong>käufe werden vorwiegend mit dem Auto<br />
erledigt. Die Nahversorger, meist mit deutlich kle<strong>in</strong>erem und oftmals auch teurerem Sortiment,<br />
bleiben <strong>für</strong> die nicht motorisierten Haushalte. Dieser Trend wird durch neue räumlich konzentrierte<br />
Angebote (E<strong>in</strong>kaufszentren am Orts- bzw. Stadtrand) weiter verstärkt, was e<strong>in</strong>e weitere<br />
Abnahme von Lebensmittelgeschä ften speziell <strong>in</strong> den l ändlichen Regionen nach sich ziehen<br />
wird. Untersuchungen zeigen, dass <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en überlebensfähigen Lebensmittele<strong>in</strong>zelhandel die<br />
volle Kaufkraft von 700-1.000 Kunden und Kund<strong>in</strong>nen (Ste<strong>in</strong>mann 1998) notwendig ist, womit<br />
Standorte speziell <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>eren Geme<strong>in</strong>den und Ortschaften mit älterer Wohnbevölkerung nicht<br />
aufrechterhalten werden können. Mancherorts wird dem Verlust von Lebensmittelversorgung<br />
mit mobilen Händlern zu begegnen versucht.<br />
1970 waren weitgehend alle Ortschaften <strong>Österreich</strong>s mit Lebensmittelhändlern versorgt, im Jahr<br />
2001 hatten bereits 26% der Bevölkerung im ländlichen Raum ke<strong>in</strong> Lebens mittelgeschäft mehr<br />
im Ort (ÖROK 2006). In weiten Teilen Niederösterreichs, der Ost- und Südweststeiermark sowie<br />
<strong>in</strong> vielen <strong>in</strong>neralp<strong>in</strong>en Geme<strong>in</strong>den der Steiermark gibt es entweder überhaupt ke<strong>in</strong>e Beschäftigten<br />
mehr im Lebensmittele<strong>in</strong>zelhandel bzw. ist die Zahl der Beschäftigten/E<strong>in</strong>wohner stark<br />
gesunken. Andererseits hat e<strong>in</strong>e Ausweitung der Beschäftigung/E<strong>in</strong>wohner vor allem <strong>in</strong> tourismus<strong>in</strong>tensiven<br />
Geme<strong>in</strong>den oder <strong>in</strong> manchen suburbanen Regionen stattgefunden.<br />
Aber auch <strong>in</strong> den Städten ist die Entwicklung vom fußläufi g erreichbaren Lebensmittelhändler<br />
h<strong>in</strong> zu den Supermärkten – meist an stark frequentierten, verkehrsreichen Standorten – zu beobachten.<br />
Auch hier haben sich die Wege <strong>für</strong> die Güter des täglichen Bedarfs deutlich vergrößert.<br />
Von dieser Entwicklung besonders betroff en s<strong>in</strong>d vor allem Wohngebiete <strong>in</strong> Grünlagen sowie<br />
solche mit ger<strong>in</strong>ger Bevölkerungs dichte oder ger<strong>in</strong>ger Kaufkraft. Speziell <strong>in</strong> Wien zeigt sich <strong>in</strong><br />
den letzten Jahren, dass <strong>in</strong> dichtbebauten Stadtteilen (meist mit hohem Anteil ausländischer<br />
Wohnbevölkerung) im Rahmen der „ethnic economy“ neue Strukturen im Bereich der Nahversorgung<br />
entstehen. Diese kle<strong>in</strong>en Lebensmittel- und Gemüsegeschäfte sowie Bäckereien mit<br />
sehr fl exiblen Öff nungszeiten tragen <strong>in</strong> diesen Vierteln zur Verbesserung der Nahversorgung bei<br />
und verkürzen die Wege, was speziell <strong>für</strong> die ältere und wenig mobile Bevölkerung von großer<br />
Bedeutung ist.<br />
94
ÖKOLOGIE IM ALTER<br />
Abbildung 2: Veränderung der Beschäftigten im Lebensmittelhandel je E<strong>in</strong>wohner 1991-2001<br />
Quelle: ÖROK 2006: Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit ländlicher Räume<br />
E<strong>in</strong>e ähnliche Entwicklung wie im Lebensmittelhandel ist auch im Bereich der P ostdienste zu<br />
beobachten. Durch Vorgaben der Europäischen Union h<strong>in</strong>sichtlich Liberalisierung der Postdienste<br />
ist es auch hier zu e<strong>in</strong>em grundlegenden Wandel gekommen. Zur Verbesserung der<br />
Wettbewerbsfähigkeit wurden von Seiten der Post unrentable Leistungen abgebaut. Seit dem<br />
Jahr 2002 werden laufend Postämter, vorwiegend <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Geme<strong>in</strong>den mit ger<strong>in</strong>ger Bevölkerungsdichte,<br />
geschlossen. Teilweise werden die se durch Postpartner und Postservicestellen<br />
ersetzt. Diese Entwicklung hat zur Folge, dass zwischen 1989 und 2005 die Zahl der Postämter<br />
von 2.310 auf ca. 1.330 gesunken ist. Wurden Ende der 1980er Jahre noch 3.491 Personen von<br />
e<strong>in</strong>em Postamt versorgt, so s<strong>in</strong>d es im Jahr 2005 ru nd 5.280 Personen. Im europäischen Vergleich<br />
liegt <strong>Österreich</strong> bei der Versorgung mit Poststandorten bereits unter dem europäischen<br />
Durchschnitt (ÖROK 2006). Die regionale Verteilung der Postämter bzw. die Schließungen folgen<br />
dem bereits angesprochenen regionalen Muster, die Betroff enheit ist <strong>in</strong> den peripheren und/<br />
oder <strong>in</strong>neralp<strong>in</strong>en Regionen mit ger<strong>in</strong>ger Bevölkerungsdichte und überdurchschnittlich hohem<br />
Anteil an älterer Wohnbevölkerung am stärksten.<br />
Mit dem Verlust der fußläufi gen Erreichbarkeit von Nahversorgern und Postdiensten geht aber<br />
nicht nur der Verlust der selbstbestimmten Lebensgestaltung <strong>für</strong> nichtmotorisierte bzw. nicht<br />
mobile Personen e<strong>in</strong>her, damit verbunden ist auch der Verlust von <strong>in</strong>fo rmellen Kommunikations-<br />
und Informationsknoten. In Geme<strong>in</strong>den, die über wenige Kommunikations orte (Gasthäuser,<br />
Vere<strong>in</strong>slokale, Bibliotheken usw.) verfügen, übernehmen die Nahversorger bzw. Post speziell<br />
<strong>für</strong> ältere Menschen, die <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em familiären Zusammenhang leben, auch die Funktion als Orte<br />
der Begegnung und des kommunikativen Austausches (ÖROK 2001).<br />
95
ÖKOLOGIE IM ALTER<br />
3.3.2. Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen<br />
Für hochbetagte Menschen stellt die Ge sundheitsversorgung e<strong>in</strong>e wesentliche Basisleistung<br />
der Dase<strong>in</strong>svorsorge dar. In den letzten Jahren hat sich die mediz<strong>in</strong>ische Versorgung deutlich<br />
verbessert und auch die räumliche Versorgungsqualität mit niedergelassenen Kassenärzt/<strong>in</strong>nen<br />
hat österreichweit e<strong>in</strong>en relativ e<strong>in</strong>heitlichen Versorgungsstandard erreicht.<br />
Die Versorgungsdichte (2004) auf der Ebene der im <strong>Österreich</strong>ischen Strukturplan Gesundheit<br />
(ÖSG) 2006 festgelegten 32 Versorgungsregionen zeigt auf den österreichischen Durchschnitt<br />
bezogen leicht unterdurchschnittliche Werte <strong>in</strong> den Regionen Niederösterreichs, im Mühlviertel,<br />
im Salzburger Zentralraum und <strong>in</strong> Kärnten, überdurchschnittlich hohe Werte werden <strong>für</strong> die<br />
südlichen Teile Vorarlbergs (Bludenz, Feldkirch), <strong>für</strong> das Burgenland, sowie <strong>für</strong> weite Teile der<br />
Steiermark ausgewiesen. E<strong>in</strong> Blick auf die Geme<strong>in</strong>deebene zeigt allerd<strong>in</strong>gs, dass im Jahr 2001<br />
von den 2.387 Geme<strong>in</strong>den <strong>Österreich</strong>s 636 Geme<strong>in</strong>den oder 27% über ke<strong>in</strong>e niedergelassenen<br />
Ärzt/<strong>in</strong>nen verfügen und dass die Versorgung mit Fachärzt/<strong>in</strong>nen vor allem <strong>in</strong> den zentralen<br />
Orten erfolgt. Nur rund 520 Geme<strong>in</strong>den (22%) verfügen über e<strong>in</strong>e eigene Apotheke.<br />
96<br />
Abbildung 3: Ärztliche Versorgungsdichte nach Versorgungsregionen<br />
Quelle: Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Gesundheit und Frauen 2006<br />
Abgesehen von den niedergelassenen Ärzt/<strong>in</strong>nen spielt auch die Versorgung und Erreichbarkeit<br />
von Akutkrankenanstalten <strong>für</strong> die älteren Bewohner/<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>e g anz wichtige Rolle. Grundsätzlich<br />
weist <strong>Österreich</strong> bez üglich der Ak utbettendichte e<strong>in</strong>en im eu ropäischen Vergleich<br />
überdurchschnittlich hohen Wert auf. Allerd<strong>in</strong>gs können aufgrund der topografi schen (teilweise<br />
klimatischen) Rahmenbed<strong>in</strong>gungen h<strong>in</strong>sichtlich der Erreichbarkeit e<strong>in</strong>ige Problemgebiete
ÖKOLOGIE IM ALTER<br />
identifi ziert werden. Sol che Problemgebiete, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong>e längere Fahrzeit als 30 M<strong>in</strong>uten im<br />
Individualverkehr erforderlich ist, befi nden sich beispielsweise <strong>in</strong> alp<strong>in</strong>en Regionen Westösterreichs,<br />
der Steiermark (Bezirk Murau, Liezen), <strong>in</strong> Unterkärnten, <strong>in</strong> nördlichen Teilen <strong>Österreich</strong>s<br />
(Mühl- und Waldviertel) sowie im burgenländischen Seew<strong>in</strong>kel. Dies s<strong>in</strong>d Regionen, wo vielfach<br />
bereits jetzt e<strong>in</strong> überdurchschnittlich hoher Anteil der über 80-Jährigen Wohnbevölkerung zu<br />
verzeichnen ist.<br />
3.3.3. Erreichbarkeiten – Versorgung mit Diensten des öff entlichen<br />
Verkehrs<br />
Das Mobilitätsverhalten und der Aktivitäts radius von hochbetagten Menschen unterscheidet<br />
sich nicht nur von dem anderer, jüngerer Alter sgruppen, sondern ist auch <strong>in</strong>nerhalb der eigenen<br />
Alters gruppe je nach gesundheitlichem Zustand unterschiedlich. Außerhäusliche Mobilität wird<br />
im Alter immer schwieriger, weil die körperlichen Kräfte allmählich nachlassen und die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />
sensorischer Bee<strong>in</strong>trächtig ungen zunimmt.<br />
Als wichtige Rahmenbed<strong>in</strong>gungen <strong>für</strong> Mobilität hochaltriger Personen s<strong>in</strong>d daher neben den<br />
<strong>in</strong>dividuellen Voraussetzungen wie die <strong>in</strong>dividuellen Ressourcen, Kompetenzen und Bedürfnisse<br />
e<strong>in</strong>er Person auch die Haushaltsform sowie das bestehende soziale Netzwerk und die Voraussetzungen<br />
des Wohnumfeldes wie z. B. die Verfügbarkeit von Dienstleistungse<strong>in</strong>richtungen und<br />
die Möglichkeit der Nutzung öff entlicher Verkehrsmittel. Zu den häufi gsten Aktivitäten älterer<br />
Menschen zählen die alltäglichen E<strong>in</strong>käufe und Besorgungen, kle<strong>in</strong>ere Spaziergänge sowie die<br />
Wege, die im Zusammenhang mit der Gesundheitsversorgung stehen (vgl. dazu Simma & Rauh<br />
1999, Sammer & Röschel 1999, Sammer & Weber 2002).<br />
Die Tendenz zur Konzentration von Dienstleistungs-, Freizeit- und adm<strong>in</strong>istrativen E<strong>in</strong>richtungen<br />
und der Abbau regionaler öff entlicher Verkehrsverb<strong>in</strong>dungen macht <strong>in</strong>dividuelle Mobilität zu e<strong>in</strong>er<br />
immer größeren Notwendigkeit, um e<strong>in</strong>e selbständige Lebensführung, soziale Integration und<br />
gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisten. Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden,<br />
dass mit zunehmendem Alter e<strong>in</strong>e Verlagerung der Verkehrsmittelnutzung vom Individualverkehr<br />
auf öff entliche Verkehrsmittel und auf das Zu Fuß gehen stattfi ndet.<br />
Für <strong>Österreich</strong> lässt sich feststellen, dass die <strong>für</strong> die ältere Wohnbevölkerung bedeutsame Versorgungsdichte<br />
<strong>in</strong> Bezug auf Nahversorgung, mediz<strong>in</strong>ische Versorgung, kulturelle und soziale<br />
E<strong>in</strong>richtungen i m fußläufi gen E<strong>in</strong>zugsbereich zurückgeht und sich damit die Versorgungssicherheit,<br />
die Quant ität und die Qualität des Angebotes von Haushalten bzw. Personen, die über<br />
ke<strong>in</strong>e eigenes Kraftfahrzeug verfügen, deutlich verschlechtern. Davon besonders betroff en s<strong>in</strong>d<br />
ältere und hochaltrige Menschen. Wenngleich diese Tendenz sowohl <strong>in</strong> den ländlichen als auch<br />
städtischen Regionen gleichermaßen zu beobachten ist, so kann <strong>in</strong> den Städten durch e<strong>in</strong> gut<br />
funktionierendes öff entliches Verkehrssystem <strong>für</strong> weniger mobile Menschen diese Problematik<br />
etwas entschärft werden.<br />
97
ÖKOLOGIE IM ALTER<br />
Analysen des öff entlichen Verkehrsnetzes zeigen, dass e<strong>in</strong>e fl ächendeckende Versorgung mit<br />
entsprechenden Verkehrs angeboten speziell im ländlichen Raum <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> nicht gegeben ist,<br />
bzw. sich ausschließ lich an den Schüler- bzw. Pendlerverkehren orientiert (IPE GmbH 2000). Da<br />
<strong>in</strong> den nächsten Jahren mit e<strong>in</strong>er weiteren Reduktion der Schüler/<strong>in</strong>nen zahlen <strong>in</strong> den peripheren<br />
Gebieten zu rechnen ist, muss davon ausgegangen werden, dass hier e<strong>in</strong> weiterer Abbau des<br />
jetzt schon unzureichenden Angebotes im Öff entlichen Verkehr kommen wird und dies speziell<br />
<strong>für</strong> die ältere Bevölkerung weitere E<strong>in</strong>schränkungen <strong>in</strong> der Mobilität nach sich ziehen wird. Die<br />
Frage der mobilen Versorgung e<strong>in</strong>erseits, aber auch neue Formen der Verkehrsorganisation (z.<br />
B. Ruftaxis usw.) werden hier zu überlegen se<strong>in</strong>.<br />
Quelle: ÖROK 1999<br />
98<br />
Abbildung 4: Bedienungsqualität im öff entlichen Verkehr <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
Die Karte zeigt die starke Konzentration des Angebotes im öff entlichen Verkehr <strong>in</strong> den städtischen<br />
Ballungsräumen bzw. entlang der wichtigsten Bahnrelationen. Die Versorgung der Fläche dünnt<br />
sich <strong>in</strong> den <strong>in</strong>neralp<strong>in</strong>en Regionen, sowie <strong>in</strong> den südöstlichen und nordwestlichen Landesteilen<br />
Nieder- und Oberösterreichs sowie <strong>in</strong> Osttirol aus. Viele Orte werden hier nicht mehr bedient.<br />
3.3.4. Kommunikations- und Erholungsräume<br />
Das soziale Beziehungsgefl echt im Wohnumfeld wird von der älteren Bevölkerung als e<strong>in</strong> sehr<br />
wichtiges Element von Wohnqualität gewertet. Nachbarschafts netze können aber weder die<br />
primären Netzwerke von Familie und Verwandtschaft ersetzen, noch <strong>in</strong> größerem Maße zur<br />
Entlastung öff entlicher sozialer Leistungen beitragen (z. B. ÖROK 2001).
ÖKOLOGIE IM ALTER<br />
Sowohl im städtischen als auch im ländlichen Raum ist e<strong>in</strong> breites Spektrum an E<strong>in</strong>richtungen<br />
des sozialen und kulturellen Lebens vorhanden. Untersuchungen zeigen, dass <strong>in</strong> solchen Geme<strong>in</strong>den,<br />
die stark von Abwanderung und von Reduktion haushaltsbezogener Dienstleistungen<br />
betroff en s<strong>in</strong>d, auch weiterh<strong>in</strong> s oweit möglich e<strong>in</strong> fu nktionierendes Vere<strong>in</strong>sleben aufrechterhalten<br />
wird und über di verse Aktivitäten Versuche unternommen werden(z. B. ÖROK 2001,<br />
ÖROK 2006), al le Bevölkerungsschichten und Generationen hier e<strong>in</strong>z ubeziehen, wenngleich<br />
<strong>für</strong> hochbetagte Menschen mit dem Verlust der primären Versorgungse<strong>in</strong>richtungen vielfach<br />
die wichtigsten Begegnungs- und Kommunikationsorte bzw. -anlässe verloren gegangen s<strong>in</strong>d.<br />
Im ländlichen Raum kann der Zugang zu den Erholu ngsräumen als weitestgehend gegeben<br />
angesehen werden, während im städtischen Zusammenhang die Frage nach der Zugänglichkeit<br />
zu Grün- und Erholungs räumen <strong>für</strong> hochbetagte Menschen e<strong>in</strong>e g anz zentrale Frage h<strong>in</strong>sichtlich<br />
der Lebens qualität ist. Der Anteil hochbetagter Menschen ist <strong>in</strong> <strong>in</strong>nerstädtischen Gebieten<br />
mit wenig Grünanteil oftmals überdurchschnittlich hoch. So beträgt bspw. der Anteil der über<br />
75-Jährigen Wohnbevölkerung an der gesamten Wohnbevölkerung im der Wiener Innenstadt (1.<br />
Bezirk) über 11%, auf ganz Wien gerechnet s<strong>in</strong>d es rd. 8%. Auch der 3. und 4. Bezirk erreichen<br />
Anteil von über 8%. In diesen Wohngebieten mit hoher Dichte fe hlen leicht erreichbare, entsprechend<br />
ausgestattete und sichere städtische Grünräume.<br />
3.4. Ausblick und Perspektiven – Ansatzpunkte <strong>für</strong> politisches Handeln<br />
Wenngleich die Raumordnung, die Stadtplanung und die Regionalpolitik dem An spruch der<br />
Herstellung bzw. Sicherung gleich wertiger Rahmenbed<strong>in</strong>gungen im Raum folgen, so zeigt sich,<br />
dass bisher <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> <strong>in</strong> diesem Fachbereich der Frage der älter werdenden Gesellschaft und<br />
den damit verbunden Anforderungen an die räumliche und <strong>in</strong>frastrukturelle Entwicklung nur sehr<br />
wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Zielgruppenorientierte Fragenstellungen werden eher<br />
punktuell behandelt (z. B. Verkehr und Mobilität, Wohnen), e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensivere Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />
mit den Konsequenzen des demografi schen Wandels <strong>für</strong> den Raum fi ndet nicht wirklich statt.<br />
Gesellschaftliche Entwicklung wird <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie mit Wachstum, Innovation und Dyna mik<br />
gleichgesetzt, Bevölkerungsrückgang und Alterung der Bevölkerung wird daher derzeit eher als<br />
Bedrohung denn als Heraus forderung angesehen. Da es <strong>in</strong> Zukunft aber immer mehr Städte und<br />
Regionen mit e<strong>in</strong>em hohen Anteil ältere und hochbetagter Bevölkerung geben wird, muss <strong>in</strong><br />
erster L<strong>in</strong>ie das Bewusstse<strong>in</strong> bei den kommunalen, regionalen, staatlichen und gesellschaftlichen<br />
Akteuren <strong>für</strong> diese neue Herausforderung der Bewältigung des demografi schen Wandels<br />
geschärft werden. Erst e<strong>in</strong>e stärker zielgruppenorientierte Sichtweise wird es möglich machen,<br />
teilräumlich angepasste Strategien zu entwickeln. Teilräumlich angepasste Strategien s<strong>in</strong>d<br />
notwendig, weil ländliche Regionen nicht nur mit anderen Themen- und Problemstellungen<br />
konfrontiert s<strong>in</strong>d als städtische Regionen, sondern diese auch u nterschiedliche Voraussetzzungen<br />
und Möglichkeiten (z. B. Topografi e, Klima, Kompetenzen, F<strong>in</strong>anzen usw.) haben, auf<br />
die Anforderungen zu reagieren.<br />
99
ÖKOLOGIE IM ALTER<br />
Der ger<strong>in</strong>ger werdende Aktionsr adius älterer Menschen er fordert e<strong>in</strong>e stärkere Orientierung<br />
am Pr<strong>in</strong>zip der k le<strong>in</strong>räumigen Erschließung gegenüber der großr äumigen Verb<strong>in</strong>dung. Kompakte<br />
und durchmischte Siedlungsentwicklung ist ebenso anz ustreben, wie die Umsetz ung<br />
des Modells der Stadt der kurzen Wege. Voraussetzungen da<strong>für</strong> s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Sicherung<br />
des Angebots der Grundversorgung <strong>in</strong> Bezug auf Güter des täglichen Bedarfs und Freizeit und<br />
Erholung <strong>in</strong> erreich barer Entfernung (Planungsexpert/<strong>in</strong>nen gehen von e<strong>in</strong>er Entfernu ng von<br />
maximal 15 Gehm<strong>in</strong>uten aus (siehe dazu Institut <strong>für</strong> ökologische Stadtentwicklung 1995, PGO<br />
1994). Der überwiegende Teil der größeren österreichischen Städte orientiert sich im Rahmen<br />
der stadtplanerischen Aktivitäten an diesem Modell. Ansätze zur Realisierung fi nden sich vor<br />
allem im Wohnbau, der Stadtteilentwicklung und -betreuung sowie im Bereich der Mobilität,<br />
Verkehrsorganisation und -sicherheit.<br />
Auch wenn sich soziale Beziehungen nicht planen lassen, kann die Stadtplanung e<strong>in</strong>en Beitrag<br />
zur Schaff ung e<strong>in</strong>er kommunikationsfreundlichen Raumstruktur und e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>teiligen wohngebietsnahen<br />
Versorgungsstruktur beitragen. Überlegenswert und ausbaubar s <strong>in</strong>d weiterh<strong>in</strong><br />
nachbarschaftliche Aktivitäten durch Geme<strong>in</strong>wesenarbeit und verstärkte Partizipation im Wohnumfeld<br />
auch unter E<strong>in</strong>beziehung der älteren (hochaltrigen) Bevölkerung.<br />
Angesichts e<strong>in</strong>geschränkter Budgetmittel kommt im Zusammenhang mit der Sicherung der<br />
technischen und sozialen Infrastrukturen auch der <strong>in</strong>terkommunalen und regionalen Kooperation<br />
große Be deutung zu. Speziell <strong>in</strong> jenen Regionen, die Probleme mit der Bevölkerungsdichte<br />
haben, könnten durch verstärkte Zusammenarbeit <strong>in</strong>novative Lösungen zur Angebotsentwicklung<br />
im Bereich der sozialen Infrastruktur sowie der Mobilität gefunden und umgesetzt werden.<br />
Erfahrungen zeigen, dass es von erheblichem Vorteil <strong>für</strong> alle Beteiligten se<strong>in</strong> kann, wenn sich<br />
Geme<strong>in</strong>den zusammenschließen und ausgewählte Aufgaben geme<strong>in</strong>sam bzw. untere<strong>in</strong>ander<br />
abgestimmt durchführen.<br />
E<strong>in</strong>e stärker zielgruppenorientierte teilräumlich angelegte Ausrichtung der Aktivitäten bedarf<br />
auch detaillierter Analysen. E<strong>in</strong>e Grundvoraussetzung da<strong>für</strong> ist die Verfügbarkeit entsprechender<br />
repräsentativer Datensätze zur Erfassung der objektiven und subjektiven Qualität der Lebensumwelten<br />
(Wohnen, Wohnbedürfnisse, Wohnumfelder, Mobilitätsbedürfnisse- und möglichkeiten)<br />
unter Berücksichtigung der Heterogenität des Alters und der dar aus resultierenden<br />
Lebenszusammenhänge und Anforderungen an die entsprechenden r äumlichen, baulichen,<br />
ökonomischen und sozialen Umwelten.<br />
100
LITERATUR<br />
ÖKOLOGIE IM ALTER<br />
Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Gesundheit und Frauen (2006): <strong>Österreich</strong>ischer Strukturplan Gesundheit<br />
(ÖSG) 2006. Wien.<br />
Institut <strong>für</strong> Ökologische Stadtentwicklung (1995): E<strong>in</strong>e Ökostadt als fl ächensparendes und<br />
umweltverträgliches Siedlungsmodell. Wien.<br />
IPE GmbH (2000): Erreichbarkeitsverhältnisse im öff entlichen Verkehr und im Individualverkehr<br />
1997/1998. Gutachten der Firma IPE (Integrierte Planung und Entwicklung regionaler Transport-<br />
und Versorgungssysteme). In: ÖROK (Hg), Schriftenreihe Nr. 155. Wien.<br />
ÖROK (1999): Atlas zur räumlichen Entwicklung <strong>Österreich</strong>s. Wien.<br />
ÖROK (2001): <strong>Österreich</strong>isches Raumordnungskonzept 2001. Wien.<br />
ÖROK (2001): Soziale Infrastruktur, Aufgabenfeld der Geme<strong>in</strong>den (Experten gutachten des <strong>Österreich</strong>ischen<br />
Instituts <strong>für</strong> Raumplanung (ÖIR) (Bearb.: Claudia Doubek u.a), Wien.<br />
ÖROK (2004): ÖROK-Prognosen 2001-2031, Teil 1: Bevölkerung und <strong>Arbeit</strong>skräfte nach Regionen und<br />
Bezirken <strong>Österreich</strong>s (bearbeitet von STATISTIK AUSTRIA), Wien, ÖROK Schriftenreihe 166/I. Wien.<br />
ÖROK (2006): Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit ländlicher Räume – Dienstleistungen<br />
der Dase<strong>in</strong>svorsorge und regionale Governance (bearbeitet von Ros<strong>in</strong>ak und Partner ZT GmbH),<br />
Wien 2006, ÖROK Schriftenreihe 171. Wien.<br />
Planungsgeme<strong>in</strong>schaft Ost (PGO), (1994): Siedlungspolitisches Konzept Ostregion - K onzept<br />
<strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Dezentralisierungsstrategie im Umland von Wien, Wien.<br />
Sammer, Gerd & Röschel, Gerald (1999): Mobilität älterer Menschen <strong>in</strong> der Steiermark. In: Gerald<br />
Schöpfer (Hg), Seniorenreport Steiermark. Altwerden <strong>in</strong> der Steiermark – Lust oder Last?: 201-240.<br />
Graz: Schriftenreihe der <strong>Arbeit</strong>sgeme<strong>in</strong>shaft <strong>für</strong> Wirtschafts- und Sozialgeschichte.<br />
Sammer, Gerd & Weber, Gerl<strong>in</strong>d (2002): MOVE – Mobilitäts- und Versorgungserfordernisse im<br />
strukturschwachen ländlichen Raum als Folge des Strukturwandels. Schlußbericht im Auftrag<br />
der Steiermärkischen Landesregierung, Fachabteilung 2b. Wien.<br />
Simma, Anja & Rau h, Wolfgang (1999): Senioren und Mobilität. Schriftenreihe Wissenschaft<br />
und Verkehr 1/1999 des VCÖ, Wien: VCÖ - Verkehrsclub <strong>Österreich</strong>.<br />
Ste<strong>in</strong>mann, Otto E. (1 998): Nahversorgung – Praktische Möglichkeiten und Grenzen. In:<br />
Standort+Markt (Hg), Jubiläumsschrift 25 Jahre Standort + Markt. Baden.<br />
101
ÖKOLOGIE IM ALTER<br />
102
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
4. DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
ALOIS GUGER, CHRISTINE MAYRHUBER<br />
STATISTISCHE ASSISTENZ: MARTINA AGWI<br />
4.1. E<strong>in</strong>leitung<br />
Die ökonomische Situation der Hochbe tagten wird durch demographische, gesellschafts- und<br />
sozialpolitische Faktoren zunehmend <strong>in</strong> den Blickpunkt des öff entlichen und sozialpolitischen<br />
Interesses gerückt:<br />
» Die demographische Dimension besteht <strong>in</strong> der raschen Zunahme der Lebenserwartung.<br />
Selbst bei steigendem Pensionsantrittsalter wird die Lebensphase nach dem<br />
Austritt aus dem Erwerbsleben, <strong>in</strong> der ke<strong>in</strong> Aktive<strong>in</strong>kommen mehr bezogen wird,<br />
immer länger. In der Folge wird die Abhängigkeit von öff entlichen Trans ferleistungen<br />
und <strong>in</strong>dividuellen Ersparnissen größer.<br />
» Gesellschaftspolitisch bedeuten die zunehmende Individualisierung durch sich ändernde<br />
Familienstrukturen und die Erwerbsbeteiligung beider Geschlechter, dass die<br />
Betreuung der Älteren immer weniger <strong>in</strong> der Familie erfolgen kann und <strong>in</strong> noch stärkerem<br />
Maße <strong>in</strong> die öff entliche Verantwortung übertragen werden wird.<br />
» Zum höheren Pfl egebedarf kommt sozialpolitisch auch der größere Pensionsaufwand<br />
durch längeren Pensions bezug. Daher wurden <strong>in</strong> den meisten Ländern <strong>in</strong> den letzten<br />
beiden Jahrzehnten die Leistungen der öff entlichen Pensionssysteme verr<strong>in</strong>gert:<br />
sowohl durch niedrigere Antritts pensionen (Ersatzraten) als auch durch e<strong>in</strong>e Verr<strong>in</strong>gerung<br />
der jährlichen Pensionsanpassung. Der Lebensstandard der Hochbetagten läuft<br />
damit Gefahr, nach und nach immer weiter h<strong>in</strong>ter jenen der aktiven Bevölkerung und<br />
der „Neupensionist/<strong>in</strong>nen“ zurückzufallen.<br />
» Die Armutsgefährdung der älteren Bevölkerung wird daher <strong>in</strong> immer mehr Ländern zu<br />
e<strong>in</strong>em dr<strong>in</strong>genden Problem. In Irland, Portugal, Griechen land, Australien, Japan, den<br />
USA, <strong>in</strong> Belgien, Norwegen, F<strong>in</strong>nland, der Schweiz, <strong>in</strong> Großbritannien und Frankreich<br />
liegen die Armutsraten der Bevölkerung im Rentenalter deutlich über den Armutsraten<br />
der aktiven Bevölkerung.<br />
Die ökonomische Situation älterer Menschen wird <strong>in</strong> entscheidendem Maße von der L eistungsfähigkeit<br />
der Altersversorgung e<strong>in</strong>es Landes bestimmt. In <strong>Österreich</strong> bildet das öff enliche<br />
Pensionssystem das wichtigste Instrument der ökonomischen Absicherung im Alter. Rund 90%<br />
der Pensionsleistungen stammen aus der gesetzlichen Pensionsversicherung, die e<strong>in</strong>e Pfl ichtversicherung<br />
<strong>für</strong> alle Erwerbstätigen im Rahmen der Allgeme<strong>in</strong>en Sozialversicherung darstellt.<br />
Kaum <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen Industrieland kommt der öff entlichen Säule der Absicherung im Alter<br />
so große Bedeutung zu.<br />
103
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Die <strong>in</strong>dividuelle Alterspension beträgt – abhängig von den erworbenen Versicherungszeiten und<br />
dem Pensionsantrittsalter – maximal 80% des Erwerbse<strong>in</strong>kommens. Damit folgt die gesetzliche<br />
Pensionsversicherung dem Pr<strong>in</strong>zip der Lebensstandardsicherung. Personen, die e<strong>in</strong>er kont<strong>in</strong>uierlichen<br />
Erwerbstätigkeit nachgehen oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er stabilen Partnerschaft mit e<strong>in</strong>er versicherten<br />
Person leben, s <strong>in</strong>d damit im Alt er auch im <strong>in</strong>tern ationalen Vergleich relativ gut abgesichert.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs spiegeln sich die ungleichen Erwerbse<strong>in</strong>kommen und die ungleich langen Versicherungsverläufe<br />
<strong>in</strong> der Altersv ersorgung. Die Ungleichheit der Er werbse<strong>in</strong>kommen wird <strong>in</strong> den<br />
Pensionsleistungen e<strong>in</strong>erseits durch die Ausgleichzulage 1 , die – sobald e<strong>in</strong> Pensionsanspruch<br />
besteht – e<strong>in</strong>e (e<strong>in</strong> kommensgeprüfte) M<strong>in</strong>destpension darstellt, und andererseits durch die<br />
Höchstbeitrags- bzw. Höchstbemessungsgrundlage 2 , die e<strong>in</strong>e Höchstpension defi niert, merklich<br />
abgemildert.<br />
Dieser Beitrag analysiert die ökonomische Situation der Hochbetagten <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>. Nach e<strong>in</strong>em<br />
kurzen Überblick über das zugrundeliegende empirische Material wird zuerst die <strong>in</strong>dividuelle<br />
Absicherung im Rahmen der gesetzlichen Pensionsversicherung analysiert. Im Anschluss daran<br />
wird die ökonomische Situation der Hochbetagten auf Basis der E<strong>in</strong>kommen und des Konsumniveaus<br />
und deren Verteilung im Haush altszusammenhang und <strong>in</strong> Relation zur Bevölkerung<br />
im Erwerbsalter bzw. <strong>in</strong> R elation zu den neuz utretenden Pensionisten untersucht. Der letz te<br />
Abschnitt befasst sich schließlich mit der Armutsgefährdung der Hochbetagten <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>.<br />
4.2. Empirische Grundlagen und methodische Anmerkungen<br />
Die Daten aus der Pensionsversicherung liefern H<strong>in</strong>weise über das Ausmaß und die Breite der<br />
autonomen, <strong>in</strong>dividuellen Ab sicherung im Alter, geben aber ke<strong>in</strong>e h<strong>in</strong>reichenden Informationen<br />
über die tatsächliche ökonomische Situation: Erstens beziehen sich die verfügbaren Daten auf<br />
Pensionsfälle und nicht auf Personen; zweitens kann e<strong>in</strong>e Person mehrere E<strong>in</strong>kommen (Eigenpension,<br />
H<strong>in</strong>terbliebenenpension, Kapital- und Erwerbse<strong>in</strong>künfte etc.) aus unterschiedlichen<br />
Quellen beziehen und drittens ist die ökonomische Lage vor allem im Haushaltszusammenhang<br />
zu beurteilen.<br />
Die wichtigsten Quellen dieser Untersuchung bilden daher die Konsumerhebungen 1999/2000<br />
und 2004/2005. Sie liefern Information über das E<strong>in</strong>kommens- und Konsumniveau der Haushalte,<br />
<strong>in</strong> denen die Hochbetagten leben, sowie über deren Verteilung; über die Bewohner von<br />
Pfl egeheimen s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Informationen verfügbar.<br />
1 Der Ausgleichszulagenrichtsatz beträgt im Jahr 2006 690 € monatlich, 14-mal im Jahr. 2005 wurden 10,6% aller Pensio-<br />
104<br />
nen durch e<strong>in</strong>e Ausgleichzulage ergänzt.<br />
2 Die Höchstbeitragsgrundlage beträgt 3.750 € (2006). Gemäß Lohnsteuerstatistik bezogen 2,5% von den 2,11 Mio. Pensi-<br />
onist/<strong>in</strong>nen im Jahr 2004 die Höchstpension.
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Unter Berücksichtigung der Haushaltsgröße wird aus dem Vergleich zwischen den verfügbaren<br />
E<strong>in</strong>kommen und den Konsumaus gaben der Haushalte (der Konsumquote) bzw. aus dem Vergleich<br />
zwischen E<strong>in</strong>kommen und Ersparnissen (Sparquote) der Bevölkerung im Erwerbsalter und der<br />
Haus halte der „jungen“ Pensionist/<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>erseits und denen der Hochbetagten andererseits,<br />
die ökonomische Lage der Zielgruppe beurteilt.<br />
Schließlich bildet das auf Konsume<strong>in</strong>heiten 3 bezogene verfügbare Haushaltse<strong>in</strong>kommen aus<br />
den Konsumerhebungen auch die Gru ndlage <strong>für</strong> die Abschätzung der Armutsgefährdung. In<br />
Anlehnung an den Beschluss des Europäischen Rates von Laeken im Dezember 2001 werden<br />
auch hier 60% des Median 4 -Äquivalenze<strong>in</strong>kommens als kritischer Wert <strong>für</strong> die Armutsgefährdung<br />
festgelegt (BMSG 2004: 212).<br />
EU-SILC 5 bildet <strong>für</strong> die geg enständliche Untersuchung ke<strong>in</strong>e brauchbare Da tenbasis, d a d er<br />
Stichprobenumfang zu kle<strong>in</strong> ist. Um fü r die Gru ppe der Hoch altrigen statistisch gesicherte<br />
Aussagen zu treff en, s<strong>in</strong>d die Besetzungszahlen zu ger<strong>in</strong>g.<br />
Der Begriff Hochbetagte wird <strong>in</strong> dieser <strong>Arbeit</strong> beim Alter von 80 Jahren abg egrenzt, aber de r<br />
Datenlage entsprechend fl exibel <strong>in</strong>terpretiert, da <strong>für</strong> über 80-Jährige die Besetzungszahlen zum<br />
Teil sehr niedrig s<strong>in</strong>d.<br />
Generell ist e<strong>in</strong>schränk end anzumerken, dass <strong>in</strong> dieser Analyse nur Hochbet agte, die <strong>in</strong> privaten<br />
Haushalten leben, Berücksichtigung fi nden. Dadurch ergibt sich möglicherweise e<strong>in</strong> zu<br />
„rosiges“ Bild, da die Pfl egebedürftigkeit der Heimbewohner unverhältnismäßig größer und die<br />
ökonomische Lage entsprechend schlechter se<strong>in</strong> dürfte.<br />
3 Um die Haushaltsgröße <strong>in</strong> verbrauchsrelevanter Form zu berücksichtigen, wird <strong>in</strong> der Verteilungsanalyse mit Äquivalenzskalen<br />
gearbeitet, die e<strong>in</strong>e Gewichtung nach Anzahl und Alter der Haushaltsmitglieder darstellen. Diese Gewichte<br />
werden auch als Konsume<strong>in</strong>heiten bezeichnet und das damit gewichtete Haushaltse<strong>in</strong>kommen als Äquivalenze<strong>in</strong>kommen.<br />
Im Abschnitt 4.2. fi ndet sich e<strong>in</strong>e genaue Defi nition der hier verwendeten Äquivalenzzahlen.<br />
4 Das Mediane<strong>in</strong>kommen teilt die E<strong>in</strong>kommensbezieher <strong>in</strong> zwei gleich große Hälften; 50% verdienen weniger und 50%<br />
mehr als das Mediane<strong>in</strong>kommen.<br />
5 Europäische Statistik über E<strong>in</strong>kommen und Lebensbed<strong>in</strong>gungen (EC Statistics on Income and Liv<strong>in</strong>g Conditions).<br />
105
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
4.3. Die Bedeutung der Pensionse<strong>in</strong>kommen<br />
Die gesetzliche Pensionsversicherung umfasst die Pensionsversicherung der Unselbständigen 6 und<br />
der Selbständigen 7 . Die Daten des Hauptverbands der österreichischen Sozialversicherungsträger<br />
(ohne Ruhe- und Versorgungsgenüsse von BeamtInnen 8 folgen dem Konzept der Versicherungsverhältnisse:<br />
Hat e<strong>in</strong>e Person sowohl e<strong>in</strong>e Alterspension als auch e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>terbliebenenpension,<br />
dann werden <strong>in</strong> der Statistik beide Pensionen bzw. beide Pensionshöhen getrennt vermerkt.<br />
Damit s<strong>in</strong>d Rückschl üsse auf das Versorgungsniveau der e<strong>in</strong>zelnen P ensionist/<strong>in</strong>nen nur mit<br />
E<strong>in</strong>schränkungen möglich. Die Daten der gesetzlichen Pensionsversicherung eignen sich dennoch<br />
dazu, e<strong>in</strong>ige Veränderungen <strong>in</strong> der Pensionsstruktur und der Pensionse<strong>in</strong>kommen <strong>in</strong> der<br />
Vergangenheit darzustellen. E<strong>in</strong>e personenbezogene Sonderauswertung der Pensionen zeigt,<br />
dass zum 1. Juli 2006 die Zahl der Pensionen mit 2,390 Mio. um 13,9% (bzw. 291.646) höher war<br />
als die Zahl der Pensionsbezieher/<strong>in</strong>nen, die sich e<strong>in</strong>schließlich Beamtenpensionist/<strong>in</strong>nen auf<br />
2,098 Mio. Personen belief (Haydn 2007). Vor allem Frauen beziehen zwei oder mehr Pensionen,<br />
ihr Anteil liegt bei 20 ,9%, während nur 4,7% der P ensionisten e<strong>in</strong>en Doppelpens ionsbezug<br />
haben. Die häufi gste Komb<strong>in</strong>ation ist der Bezug e<strong>in</strong>er Eigenpension mit e<strong>in</strong>er Witwenpension.<br />
Von 509.575 Witwen erhielten 52% aus schließlich e<strong>in</strong>e Witwenpension und 48% e<strong>in</strong>e weitere<br />
Pensionsleistung (meist Eigenpension).<br />
In der Darstellung der Pensionse<strong>in</strong>kommen laut Sozialversicherungsstatistik treten durch die<br />
Doppelbezüge Unschärfen auf: Die Pensionse<strong>in</strong>kommen liegen durchaus höher als hier die<br />
Beitragsstatistik vermittelt.<br />
4.3.1. Pensionsneuzuerkennungen an Hochbetagte<br />
Der größte Teil der Pensionsneuzugänge erfolgt <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> vor dem Regelpensionsalter. Rund<br />
drei Viertel aller Direktpensionen werden vor dem Regelpensions alter <strong>in</strong> Form von vorzeitigen<br />
Alterspensionen oder Invaliditäts-, Berufs- oder Er werbsunfähigkeitspensionen beansprucht.<br />
Rund e<strong>in</strong> Viertel der Direktpensionist/<strong>in</strong>nen tritt z um Regelpensionsalter <strong>in</strong> den Ruhestand e<strong>in</strong>;<br />
e<strong>in</strong> seit 1995 relativ konstanter Anteil von rund 2,5% ist beim Pensionsantritt bereits 70 Jahre<br />
oder älter.<br />
6 P ensionsversicherungsanstalt (<strong>Arbeit</strong>erInnen und Angestellte), Versicherungsanstalt <strong>für</strong> Bergbau, Versicherungs anstalt<br />
106<br />
<strong>für</strong> Eisenbahnen.<br />
7 Soz ialversicherungsanstalt der Gewerblichen Wirtschaft, Sozialversicherungsanstalt der Bauern.<br />
8 Informationen über Ruhe- und Versorgungsgenüsse der Beamt/<strong>in</strong>nen haben die jeweiligen Gebietskörperschaften<br />
(Bund, Länder, Geme<strong>in</strong>den), diese haben ke<strong>in</strong>e Meldepfl icht an den Hauptverband und veröff entlichen nur teilweise<br />
Daten. In dieser <strong>Arbeit</strong> werden daher die beamteten Hochbetagten nur <strong>in</strong> den Daten der Lohnsteuerstatistik<br />
(Übersicht 5) und im Haushaltszusammenhang (ab Abschnitt 1.4) miterfasst.
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Tabelle 1: Pensionsneuzuerkennungen, 1995 und 2005 im Vergleich<br />
Pensionsantrittsalter<br />
Direkt- H<strong>in</strong>terbliebenen-<br />
Pensionen<br />
Pensionsfälle<br />
Direkt- H<strong>in</strong>terbliebenen<strong>in</strong><br />
% der Neuzugänge<br />
1995<br />
70 bis 79 Jahre 1.958 12.010 2,2 45,7<br />
80 Jahre und älter 283 3.849 0,3 14,7<br />
70 Jahre und älter<br />
2005<br />
2.241 15.859 2,6 60,4<br />
70 bis 79 Jahre 1.538 14.068 1,9 53,7<br />
80 Jahre und älter 573 5.497 0,7 21,0<br />
70 Jahre und älter 2.111 19.565 2,6 74,7<br />
Quelle: Hauptverband der Sozialver sicherungsträger, WIFO-Berechnungen.<br />
Der Großteil der Pensionsneuzugänge von Hochbetagten erfolgt aufgrund e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>terbliebenenpension.<br />
Dieser Anteil der Hochbetagten an Neuzugängen zu den Witwen- und Witwerpensionen steigt<br />
deutlich an: 1995 waren 60% 70 Jahre und älter (15% 80 Jahre und darüber), im Jahr 2005 schon<br />
75% 70 Jahre und älter (bzw. 20% 80 Jahre und älter) (Tabelle 1). Dieser steig ende Anteil ist durch<br />
die steigende Zahl an Hochbetagten ebenso begründet wie durch die Tatsache, dass der steigende<br />
Eigenpensionsanteil der Frauen mit e<strong>in</strong>er zunehmenden Zahl an Witwerpensionen e<strong>in</strong>hergeht.<br />
4.3.2. Versorgungsgrad mit Pensionen<br />
Der Anteil von Pensionen an der j eweiligen Bevölkerungs kohorte gibt erste H<strong>in</strong>weise auf den<br />
Versorgungs grad mit P ensionsleistungen. Die Ergebnis se <strong>in</strong> Tabelle 2 ma chen deutlich, dass<br />
Männer stärker über Direktpensionen (Alterspensionen und Invaliditätspensionen) abgesichert<br />
s<strong>in</strong>d als Frauen. Im Jahr 2005 verfügten <strong>in</strong> der Altersgruppe der 60- bis 69-Jährigen 78,5% der<br />
Männer und 73,1% der Frauen über e<strong>in</strong>e Direktpension; <strong>in</strong> den Alterskohorten darüber rund 96%<br />
der Männer und 65% der Frauen. Da hier die Ruhegenüsse der Beamten 9 noch h<strong>in</strong>zugerechnet<br />
werden müssten, liegt <strong>für</strong> die Männer be<strong>in</strong>ahe e<strong>in</strong>e Vollversorgung vor, während bis zu über<br />
e<strong>in</strong>em Drittel der hochbetagten Frauen über ke<strong>in</strong>e Eigenpension verfügt.<br />
Seit 1995 ist der Versorgungsgrad mit Direktpensionen <strong>in</strong> allen Alterskohorten ge stiegen, ausgenommen<br />
<strong>für</strong> 60- bis 69-Jährige Männer, von ihnen hatten 1995 rund 85% e<strong>in</strong>e Eigenpension,<br />
dieser Anteil sank bis 2005 auf 78,5%. Der Grund <strong>für</strong> diesen Rückgang bei den Männern lieg t<br />
im höheren Pensions antrittsalter 2005 gegenüber 1995 10 .<br />
9 Im Jahr 2005 gab es 287.500 Personen mit Ruhe- bzw. Versorgungsgenuss, davon 162.200 Männer und 125.300 Frauen.<br />
10 1995 gab es <strong>für</strong> Männer die Möglichkeit, mit dem vollendeten 57. Lebensjahr <strong>in</strong> die vorzeitige Alterspension bei gem<strong>in</strong>-<br />
derter Erwerbsfähigkeit zu gehen, 2005 war erst mit 61,5 Lebensjahren der früheste Pensionsantritt möglich.<br />
107
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Tabelle 2: Direkt- und H<strong>in</strong>terbliebenen pensionen <strong>in</strong> Relation zur Wohn be völker ung, 1995 und<br />
2005 im Vergleich<br />
Direktpensionen Witwen-, Witwerpensionen Pensionen <strong>in</strong>sgesamt<br />
Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen<br />
<strong>in</strong> % der jeweiligen Wohnbevölkerung<br />
1995<br />
60 bis 69 Jahre 84,9 60,6 2,2 23,1 87,2 83,7<br />
70 bis 79 Jahre 93,5 61,9 5,0 44,0 98,5 105,9<br />
80 Jahre und älter<br />
2005<br />
89,8 50,9 9,2 65,4 98,9 116,2<br />
60 bis 69 Jahre 78,5 73,1 2,3 18,3 80,8 91,4<br />
70 bis 79 Jahre 96,1 64,8 5,5 40,7 101,6 105,5<br />
80 Jahre und älter 95,6 62,5 12,5 63,0 108,1 125,5<br />
Quelle: Hauptverband der Sozialversicherungsträger, WIFO-Berechnungen.<br />
Der Anteil der Frauen mit Direktpensionen lag 2005 zwar höher als 1995, allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>kt er immer<br />
noch mit zunehmendem Alter. Obwohl auch <strong>für</strong> Frauen das Frühpensionsalter angehoben wurde,<br />
ist <strong>in</strong> der entsprechenden Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen Frauen e<strong>in</strong> steigender Anteil an<br />
Direktpensionsbezügen beobachtbar. Die st ärkere <strong>Arbeit</strong>smarktpartizipation der Fr auen und<br />
deren Anspruchsberechtigung zeigt hier off ensichtlich Wirkung.<br />
In Summe ist die Zahl der P ensionen – Direkt - und H<strong>in</strong>terbliebenenpensionen (also Witwen-<br />
und Witwerpensionen) – durch Mehrfachbezug größer als die Zahl der entsprechenden<br />
Wohnbevölkerung. Vor allem <strong>für</strong> Frauen älterer Geburtsjahrgänge erfolgt die Absicherung im<br />
Alter zu e<strong>in</strong>em bedeutenden Teil über die Witwenpensionen. Die Zahl der Pensionen, die an<br />
80-Jährige und ältere Frauen ausbezahlt wird, liegt um e<strong>in</strong> Viertel höher als die Zahl der E<strong>in</strong>wohner/<strong>in</strong>nen.<br />
Aber auch bei den hochbetagten Männern gibt es hier – wie schon e<strong>in</strong>gangs<br />
erwähnt – Doppelpensionsbezüge.<br />
Die dargestellten Anteile der Wohnbevölkerung mit Pensionsbezug geben noch ke<strong>in</strong>e Anhaltspunkte<br />
über das Versorgungs niveau der Hochbetagten. Im nächsten Schritt wird daher die Pensionshöhe<br />
<strong>in</strong> die Betrachtung e<strong>in</strong>gebunden.<br />
108
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
4.3.3. Durchschnittliche Pensionshöhe nach Altersgruppen<br />
Die sogenannte „Reifung“ des Alterssicherungssystems, womit die steigende Zahl an Pensionsübertritten<br />
mit langen Versicherungszeiten und hohen E<strong>in</strong>kommen bezeichnet wird, zeigte sich<br />
<strong>in</strong> der jüngsten Vergangenheit 11 durch zwei Sachverhalte. Zum e<strong>in</strong>en ist der Eigenpensionsanteil<br />
bei den 60- bis 69-Jährigen höher als bei den Hochbetagten. Insbesondere die höhere Frauenerwerbsbeteiligung<br />
12 ermöglicht e<strong>in</strong>er steig enden Anzahl von Frauen e<strong>in</strong>e Alterspens ion. Zum<br />
anderen s<strong>in</strong>d aufgrund der längeren Erwerbsverläufe die Durchschnittspensionen bei den jüngeren<br />
Pensionist/<strong>in</strong>nen höher als bei den Hochbetagten.<br />
Grundsätzlich ist die Pensionshöhe von der Anzahl der Versicherungsjahre, der durchschnittlichen<br />
E<strong>in</strong>kommenshöhe, vom <strong>in</strong>dividuellen Pensionsantrittsalter und vom Pensionsantrittsjahr<br />
abhängig. Durch die zahlreichen Reformen <strong>in</strong> der jü ngeren Vergangenheit kommen je<br />
nach Pensions antrittsjahr unterschiedliche Rechtslagen 13 zur Pensionshöhenberechnung zur<br />
Anwen dung. Bei den Direkt pensionen liegen die Durchschnittshöhen der Alters pensionen<br />
höher als bei den Invaliditätspensionen. Hier kommen die durchschnittlich längeren Versicherungsjahre<br />
zum Tragen. Die H<strong>in</strong>terb liebenenleistungen orientieren sich am E<strong>in</strong>kommen<br />
bzw. an der Pensionshöhe des „Erblassers“, daher s<strong>in</strong>d Witwenpensionen mehr als doppelt<br />
so hoch wie Witwerpensionen.<br />
11 Die veränderten Zugangsbed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> den vergangenen Pensionsreformen wie beispielsweise die schrittweise E<strong>in</strong>-<br />
führung der Pensionshöhenberechnung auf der Grundlage des gesamten Lebense<strong>in</strong>kommens (Stichwort lebenslange<br />
Durchrechnung), wird diese Reifungsprozesse verlangsamen.<br />
12 Im Jahr 1985 lag die Frauenerwerbsquoten bei 52,5% und stieg bis 2005 um knapp 10 Prozentpunkte auf 62,3% an.<br />
13 Für vorzeitige Alterspensionen gibt es seit 2000 <strong>für</strong> jedes Jahr des vorzeitigen Pensionsübertritts e<strong>in</strong>en Abschlag von<br />
3%, 2003 wurde er auf 4,2% angehoben.<br />
109
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
110<br />
Tabelle 3: Monatliche Durchschnittspensionen nach Altersgruppen und Versicherungsanstalt<br />
im Jahr 2005<br />
Invaliditätspensionen Alterspensionen H<strong>in</strong>terbliebenenpensionen<br />
Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen<br />
<strong>in</strong> €<br />
Insgesamt<br />
60- bis 69-Jährige 1.082 574 1.394 775 585 276<br />
70- bis 79-Jährige 980 456 1.149 654 584 249<br />
80-Jährige und älter<br />
Unselbständige<br />
800 412 1.082 627 551 249<br />
60- bis 69-Jährige 1.084 588 1.387 778 588 279<br />
70- bis 79-Jährige 1.002 497 1.152 660 596 259<br />
80-Jährige und älter<br />
Selbständige<br />
785 445 1.090 629 553 262<br />
60- bis 69-Jährige 983 513 1.208 684 551 255<br />
70- bis 79-Jährige 902 422 1.088 595 538 226<br />
80-Jährige und älter 738 382 962 524 517 215<br />
Quelle: Hauptverband der Sozialversicherungsträger, WIFO-Berechnungen. – Pensionsangaben ohne Sonderzahlungen (also<br />
14-mal jährlich).<br />
In Tabelle 3 s<strong>in</strong>d die Durchschnittspensionen verschiedener Altersgruppen dargestellt. Die Invaliditätspensionen<br />
der 80-Jährigen und Älteren s<strong>in</strong>d um rund ¼ niedriger als jene der 60- bis<br />
69-Jährigen; diese Diff erenz ist bei den hoch betagten Frauen mit fast 30% höher als bei den<br />
Männern. Weniger stark, aber immer noch um e<strong>in</strong> Fünftel, unterscheiden sich die Alterspensionen<br />
der Hochbetagten von den jüngeren Pensionist/<strong>in</strong>nen. Die Witwenpensionen der über<br />
80-Jährigen Frauen liegen um knapp 6%, jene der Witwer um knapp 10% niedriger als <strong>in</strong> der<br />
Altersgruppe der 60- bis 69-Jährigen.<br />
Bei allen Direktpensionen erreichen die Frauenpensionen nur zwischen 50% (Invaliditätspensionen)<br />
und 58% (Alters pensionen) der Männerpensionen. In allen Altersgruppen s<strong>in</strong>d sowohl<br />
die Invaliditäts- wie auch Alterspensionen der vormals un selbständig Erwerbstätigen höher als<br />
jene der Selbständigen, die dav on abgeleiteten H<strong>in</strong>terbliebenenpensionen folgen ebenfalls<br />
diesem Muster. Ausschlaggebend da<strong>für</strong> s<strong>in</strong>d die niedrigen Bauernpensionen.<br />
4.3.4. Pensionsanpassung<br />
Die Höhe der Bestandspensionen wird jährlich angepasst. In der Vergangenheit war die Pensionsanpassung<br />
an die Netto-Lohnentwicklung gekoppelt, zukünftig werden die Bruttopensionen<br />
jährlich im Ausmaß der Verbraucherpreise erhöht. Zwischen 1985 und 2005 s<strong>in</strong>d die Bestandspensionen<br />
im Zuge der Pensionsanpassung um 55,2% erhöht worden, im selben Zeitraum stieg der<br />
Index der Verbraucherpreise um 54,9% (Hauptverband 2006: 89). Hatte j emand e<strong>in</strong>en Pensionsbezug<br />
von 1985 bis 2005, dann stieg <strong>in</strong> diesem Zeitraum se<strong>in</strong>e/ihre reale Bruttopension nur<br />
um 0,2%. Die Reallöhne erreichten 2005 e<strong>in</strong>e um 1,9% höhere Kaufkraft als 1985. Die schwache
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Anhebung der Pensionen ist e<strong>in</strong> Phänomen des letzten Jahrzehnts: Von Mitte der achtziger bis<br />
Mitte der neunziger Jahre betrug die reale (<strong>in</strong>fl ationsbere<strong>in</strong>igte) Pensionsanpassung noch 6,9%,<br />
seither blieb die P ensionsanpassung 6,7 Proz entpunkte h<strong>in</strong>ter der Prei sentwicklung zurück.<br />
Die hohen Pensionen waren stärker als die niedrigen betroff en, letztere wurden zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong><br />
den letzten Jahren fast immer mit der Infl ationsentwicklung angepasst. Die höheren Pensionen<br />
(über dem Median) wurden mehrmals nur mit e<strong>in</strong>em Fixbetrag, der der Infl ationsabgeltung <strong>für</strong><br />
die Medianpension entsprach, angehoben.<br />
Die ger<strong>in</strong>geren Pensionshöhen der Hoc hbetagten stehen also nicht nur mit ihrer g er<strong>in</strong>geren<br />
Erstpension <strong>in</strong> Zusammenhang, sondern auch mit der Pensionsanpassung, die im letzten Jahrzehnt<br />
<strong>für</strong> die Bestandspensionen Kaufkrafte<strong>in</strong>bußen bedeutete.<br />
4.3.5. Verteilung der Pensionse<strong>in</strong>kommen <strong>in</strong> der gesetzlichen Pensionsversicherung<br />
Neben der Höhe der Durchschnittspensionen ist <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schätzung der ökonomischen Lage<br />
auch die Verteilung dieser Pensionen von großer Bedeutung. Die <strong>in</strong>dividuelle Pensionshöhe ist<br />
nicht nur vom vorangegangenen E<strong>in</strong>kommen und den Versicherungsjahren abhängig, sondern<br />
auch von der j eweils geltenden Rechts lage. Die Pensionsreformen seit Mitte der neu nziger<br />
Jahre waren alle durch e<strong>in</strong>e Ab schwächung des Solidaritätspr<strong>in</strong>zips und e<strong>in</strong>e Stärkung des<br />
Versicherungs pr<strong>in</strong>zips – also e<strong>in</strong>e stärkere Abhängigkeit der Pensionen von der <strong>in</strong>dividuellen<br />
Beitragsleistung – gekennzeichnet. Die Verteilung der Pensions e<strong>in</strong>kommen dürfte dadurch eher<br />
ungleicher werden.<br />
In Tabelle 4 ist die Quartilsverteilung 14 ) der Alterspensionen auf Basis der Daten des Hauptverbands<br />
der österreichischen Sozialversicherungsträger und <strong>in</strong> Tabelle 5 s<strong>in</strong>d die lohnsteuerpfl ichtigen<br />
E<strong>in</strong>kommen der Pensionist/<strong>in</strong>nen auf Basis der Lohnsteuerstatistik dargestellt. Die Daten aus<br />
der Sozialversicherung berücksichtigen nur Pensionen der Sozialversicherungsträger und daher<br />
auch ke<strong>in</strong>e Ruhegenüsse der Beamten, jene aus der Lohnsteuerstatistik alle Pensionen, auch<br />
Privatpensionen und andere lohnsteuerpfl ichtige E<strong>in</strong>kommen. Allerd<strong>in</strong>gs stehen diese Daten<br />
nicht nach Alterskohorten zur Verfügung, sondern nur <strong>für</strong> die Pensionist/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong>sgesamt. Die<br />
Pensionsdaten des Hauptverbands beruhen auf dem Fallkonzept der Versicherung 15 ). Personen<br />
14 Die Quartilsverteilung („Viertelverteilung“) teilt nach der E<strong>in</strong>kommenshöhe geordnet die Anzahl der Pensi-onsbeziehe-<br />
rInnen <strong>in</strong> vier gleich große Gruppen e<strong>in</strong> und vergleicht das Pensionse<strong>in</strong>kommen der jeweiligen Gruppen mite<strong>in</strong>ander.<br />
15 E<strong>in</strong>e Person kann sowohl e<strong>in</strong>e Eigenpension als auch e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>terbliebenenpension haben, im Fallkonzept werden die<br />
beiden Pensionen als getrennte Fälle erfasst, beim Personenkonzept nur e<strong>in</strong> Mal. Die Lohnsteuerstatistik folgt dem<br />
letztgenannten Personenkonzept.<br />
111
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
mit mehreren Versicherungsverhältnissen (Erwerbse<strong>in</strong>kommen und/oder Pensionen) 16 ) s<strong>in</strong>d<br />
aber <strong>in</strong> der per sonenbezogenen Verteilungsanalyse der L ohnsteuerstatistik e<strong>in</strong>bezogen (vgl.<br />
Guger & Marterbauer 2005).<br />
112<br />
Tabelle 4: Verteilung der Alterspensions e<strong>in</strong>kommen 1995 bis 2005 Sozialversicher<br />
ungsdaten<br />
Quartilsobergrenzen Anteile an den Bruttoalterspensionen<br />
1995 2000 2005 1995 2000 2005<br />
bis ... €*) <strong>in</strong> %<br />
1.Quartil 420 454 474 7,4 6,8 6,0<br />
2.Quartil 674 781 875 17,3 18,3 17,1<br />
3.Quartil 1.110 1.290 1.426 28,0 30,5 29,1<br />
4.Quartil >1.110 >1.290 >1.426 42,2 44,4 47,8<br />
Summe 100,0 100,0 100,0<br />
G<strong>in</strong>i-Maß 0,338 0,331 0,369<br />
Quelle: Hauptverband der Sozialversicherungsträger, WIFO-Berechnungen. – *) Quartilsobergrenzen ohne Sonderzahlungen<br />
(14-mal jährlich).<br />
Tabelle 5: Verteilung der lohnsteuerpfl ichtigen Bruttopensionen der Pensionist/<strong>in</strong>nen,<br />
1995 bis 2005<br />
Quartilsobergrenzen Anteile an den Bruttopensionen<br />
1995 2000 2005 1995 2000 2005<br />
bis ... €*) <strong>in</strong> %<br />
1.Quartil 440 485 525 5,8 5,3 5,0<br />
2.Quartil 715 825 932 15,5 15,3 15,8<br />
3.Quartil 1.225 1.390 1.547 25,6 25,7 26,8<br />
4.Quartil >1.225 >1.390 >1.547 53,2 53,8 52,4<br />
Summe 100,0 100,0 100,0<br />
G<strong>in</strong>i-Maß 0,423 0,435 0,423<br />
Quelle: Statistik Austria: Lohnsteuerstatistik, WIFO-Berechnungen. – *) Quartilsobergrenzen ohne Sonderzahlungen<br />
(14-mal jährlich).<br />
Die Unterschiede im Umfang der erfassten E<strong>in</strong>kommen spiegeln sich auch <strong>in</strong> der Verteilung: Die<br />
Alterspensionen aus der Sozialversicherung s<strong>in</strong>d weniger ungleich verteilt als die lohnsteuerpfl<br />
ichtigen E<strong>in</strong> künfte der Pensionist<strong>in</strong>nen und Pensionisten <strong>in</strong>sgesamt. Im Jahr 2005 bezogen<br />
die 25% mit den niedrigsten Alterspens ionen 6,0% der SV-Pensionen, aber nu r 5,0% al ler<br />
lohnsteuerpfl ichtigen Bruttoe<strong>in</strong>kommen der Pensionist/<strong>in</strong>nen. Auf das oberste Viertel mit den<br />
16 2005 hatten 1,2% der unselbständig Beschäftigten e<strong>in</strong>en Pensionsbezug, 13,9% der Pensionist/<strong>in</strong>nen hatten zwei<br />
Pensionen.
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
höchsten Pensionse<strong>in</strong>kommen entfi elen 47,8% der SV-Pensionen und 52,4% aller lohnsteuerpfl<br />
ichtigen E<strong>in</strong>kommen der privaten und öff entlichen Pensionist/<strong>in</strong>nen.<br />
Die Verteilungstrends s<strong>in</strong>d nach den beiden Quellen nicht e<strong>in</strong>deutig: Die Verteilung der Pensionen<br />
aus der Sozialversicherung ist seit Mitte der neunziger Jahre ungleicher geworden. Die<br />
Anteile der untersten beiden Quartile s<strong>in</strong>d kont<strong>in</strong>uierlich gesunken, und der Anteil des obersten<br />
gestiegen. Nach den Daten der Lohnsteuerstatistik, die alle Pensionist<strong>in</strong>nen und Pensionisten<br />
und alle ihre lohnsteuerpfl ichtigen E<strong>in</strong>künfte berücksichtigt, nahm die Ungleich heit <strong>in</strong> der<br />
zweiten Hälfte der neunziger Jahre noch leicht zu, hat sich aber 2000 bis 2005 eher verr<strong>in</strong>gert;<br />
der G<strong>in</strong>i-Koeffi zient 17 ) sank seit 2000 von 0,435 auf 0,423.<br />
Durch die Progression der Lo hnsteuer s<strong>in</strong>d die Nett oe<strong>in</strong>kommen etwas gleicher verteilt: 2005<br />
stieg der Anteil des untersten Quartils nach Steuern um rund 0,8 Prozentpunkte von 5% auf 5,8%<br />
an, während im obersten Quartil der Anteil der Nettoe<strong>in</strong>kommen durch die Steuerleistung um<br />
gut 4½ Prozentpunkte schrumpfte, von 52,4% auf 47,7%.<br />
Die Verteilung nach Geschlechtern anhand der SV-Daten zeigt, dass die Alterspensions e<strong>in</strong>kommen<br />
der Männer etwas gleicher verteilt s<strong>in</strong>d als jene der Frauen. Das unterste Quartil der Männer bezog<br />
2005 6,2% der Pensionse<strong>in</strong>kommen, bei den Frauen waren es 7,5%. Das oberste Viertel der Pensionist/<strong>in</strong>nen<br />
bezog 47,5% der Pensionse<strong>in</strong>kommen, bei den Pensionisten lag der entsprechende<br />
Anteil bei 41,2%. Die Grenze <strong>für</strong> das oberste Viertel der Pensionist/<strong>in</strong>nen liegt bei e<strong>in</strong>er monatlichen<br />
Pensionsleistung von nur 975 €, während die entsprechende Grenze bei den Pensionisten<br />
mit 1.826 € be<strong>in</strong>ahe doppelt so hoch ist.<br />
Diese stark variierenden Pensionshöhen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Spiegelbild der u nterschiedlichen <strong>Arbeit</strong>smarkt<strong>in</strong>tegration<br />
von Frauen und Männern. Insbesondere Frauen weisen zu e<strong>in</strong>em hohen Anteil<br />
kurze und/oder <strong>in</strong>stabile Erwerbsverläufe mit ger<strong>in</strong>gem E<strong>in</strong>kommen auf, während sich die Versicherungsverläufe<br />
der Männer weniger stark vone<strong>in</strong>ander unterscheiden. In den vergangenen 10<br />
Jahren vergrößerte sich die Spreizung der Pensionse<strong>in</strong>kommen <strong>für</strong> beide Geschlechter, deutlich<br />
stärker aber bei den Männern. Neben <strong>in</strong>stabilen Erwerbsverläufen und der Zunahme der Teilzeitbeschäftigung<br />
– <strong>in</strong>sbesondere bei Frauen – können hier<strong>für</strong> auch die Änderungen im Pensionsrecht<br />
18 ) verantwortlich gemacht werden (vgl. Mayrhuber 2006).<br />
17 Der G<strong>in</strong>i-Koeffi zient ist e<strong>in</strong> Maß <strong>für</strong> die E<strong>in</strong>kommensungleichheit und kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen: E<strong>in</strong><br />
Koeffi zient von 0 würde bedeuten, dass e<strong>in</strong>e vollkommene Gleichverteilung vorliegt (alle Pensionist/<strong>in</strong>nen bekommen<br />
gleich hohe Pensionen); je höher der Wert, desto größer die Ungleichverteilung.<br />
18 Gegenüber 1995 gibt es 2005 <strong>in</strong> der Pensionsberechnung Abschläge <strong>für</strong> den vorzeitigen Pensionsübertritt, die E<strong>in</strong>be-<br />
ziehung der 18 besten E<strong>in</strong>kommensjahre als Bemessungsgrundlage und e<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>geres Gewicht der Versicherungsjahre<br />
(Steigerungsbeträge).<br />
113
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
114<br />
Tabelle 6: Verteilung der Alterspensions e<strong>in</strong>kommen nach Geschlechtern 1995 bis 2005<br />
Quartilsobergrenzen Anteile an den Bruttoalterspensionen<br />
1995 2000 2005 1995 2000 2005<br />
bis ... €*) <strong>in</strong> %<br />
Männer<br />
1.Quartil 674 745 775 8,6 7,9 6,2<br />
2.Quartil 1.038 1.181 1.324 22,0 23,3 21,6<br />
3.Quartil 1.365 1.532 1.826 31,0 32,8 30,9<br />
4.Quartil >1.365 >1.532 >1.826 38,4 36,1 41,2<br />
Summe 100,0 100,0 100,0<br />
G<strong>in</strong>i-Maß<br />
Frauen<br />
0,262 0,252 0,307<br />
1.Quartil 347 382 375 8,1 7,9 7,5<br />
2.Quartil 565 600 675 18,7 18,6 18,0<br />
3.Quartil 783 890 975 26,8 27,2 26,9<br />
4.Quartil >783 >890 >975 46,4 46,3 47,5<br />
Summe 100,0 100,0 100,0<br />
G<strong>in</strong>i-Maß 0,336 0,249 0,359<br />
Quelle: Hauptverband der Sozialversicherungs träger, WIFO-Berechnungen. – *) Quartilsober grenzen ohne Sonderzahlungen<br />
(14-mal jährlich)<br />
4.4. Die E<strong>in</strong>kommenssituation der Hoch betagten im Haushalts<br />
zusammenhang<br />
Die Daten aus der Sozialversicherung und der Lohnsteuerstatistik erlauben e<strong>in</strong>en Überblick über<br />
die Ausstattung mit <strong>in</strong>dividuellem Erwerbs- und Pensionse<strong>in</strong>kommen, liefern aber wenig Infor -<br />
mationen über die tatsächliche ökonomische Lage der Haushalte, <strong>in</strong> denen Hochbetagte leben.<br />
Die e<strong>in</strong>zige Datenquelle mit genügend Beobachtungen, um statistisch e<strong>in</strong>igermaßen abgesicherte<br />
Aussagen über die ökonomische Lage Hochbetagter zu treff en, ist die Konsumerhebung. Sie liefert<br />
Informationen über E<strong>in</strong>kommen und Verbrauch im Haushaltszusammenhang (Url & Wüger 2005).<br />
Die <strong>in</strong> dieser <strong>Arbeit</strong> verwendeten E<strong>in</strong> kommen enthalten alle <strong>in</strong> der K onsumerhebung erfragten<br />
Erwerbs-, Kapital- und Transfere<strong>in</strong>kommen (<strong>in</strong>klusive Pfl ege geld und Familienbeihilfen).<br />
4.4.1. Niveau und Struktur der Netto-Haushaltse<strong>in</strong>kommen nach Altersgruppen<br />
Allerd<strong>in</strong>gs weisen auch diese Daten e<strong>in</strong>e rel ativ große Streuung der E<strong>in</strong>kommen aus, daher<br />
wird <strong>in</strong> den folgenden Tabellen 7 und 8 neben den Durchschnittse<strong>in</strong>kommen auch das mittlere<br />
E<strong>in</strong>kommen, also das Mediane<strong>in</strong>kommen, angegeben.
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Tabelle 7: Netto-Haushaltse<strong>in</strong>kommen nach dem Alter des Haushaltsvorstandes 2004/2005<br />
Netto-<br />
Haushaltse<strong>in</strong>kommen<br />
Unter 30<br />
Jahre<br />
30 bis 59<br />
Jahre<br />
60 bis 64<br />
Jahre<br />
<strong>in</strong> €<br />
65 bis 79<br />
Jahre<br />
80 Jahre<br />
und älter<br />
Insgesamt<br />
Durchschnitt 2.067 2.920 2.405 1.967 1.670 2.547<br />
Median*) 1.865 2.643 2.022 1.637 1.385 2.227<br />
Index, <strong>in</strong>sgesamt = 100<br />
Durchschnitt 81,2 114,6 94,4 77,3 65,6 100,0<br />
Quelle: Statistik Austria: Konsumerhebung 2004/2005, WIFO-Berechnungen. – *) Mediane<strong>in</strong>kommen: 50% verdienen weni-<br />
ger bzw. mehr.<br />
Nach der letzten Konsumerhebung 2004/2005 betrug das monatliche Nettoe<strong>in</strong>kommen – <strong>in</strong>klusive<br />
Sonderzahlungen, also zwölfmal jährlich – im Durchschnitt aller Haushalte 2.547 €. Die Hälfte<br />
der Haushalte verfügte über weniger als 2.227 € (Mediane<strong>in</strong>kommen). Das Nettoe<strong>in</strong>kommen<br />
der Haushalte mit e<strong>in</strong>em hochaltrigen (80 Jahre und älter) Haushaltsvorstand 19 ) war mit 1.670 €<br />
um rund e<strong>in</strong> Drittel niedriger; <strong>in</strong> der Altersgruppe der 65- bis 79-Jährigen schwach um e<strong>in</strong> Viertel<br />
und <strong>in</strong> den Haushalten der „Jungpensionisten“ 20 ) rund 5% niedriger. Die Haushalte mit e<strong>in</strong>em<br />
Haushaltsvorstand im Haupterwerbsalter zwischen 30 und 59 Jahren verfügten über rund 15%<br />
mehr und die Haushalte der unter 30-Jährigen um schwach 20% weniger als der Durchschnitt<br />
aller Haushalte.<br />
In der Konsumerhebung 1999/2000 wurden die E<strong>in</strong>kommen sehr detailliert erhoben. Danach<br />
zeigt sich, d ass im Durchschnitt aller Haushalte schwach zwei Drittel der Netto-E<strong>in</strong>kommen<br />
aus dem Er werbsleben <strong>in</strong> F orm von Löhnen und Gehältern, Ge w<strong>in</strong>nen und sonstigen Selbständigene<strong>in</strong>künften<br />
stammen, e<strong>in</strong> Drittel aus Transfere<strong>in</strong>kommen – Pensionen, Pfl egegeld,<br />
Familienbeihilfen, Karenz- bzw. K<strong>in</strong>derbetreuungsgeld, Stipendien, <strong>Arbeit</strong>slosen geld, Notstandshilfe<br />
sowie Sozialhilfe – und gut 1% aus Kapitale<strong>in</strong>künften (Z<strong>in</strong>sen, E<strong>in</strong>künfte aus Vermietung<br />
und Verpachtung). Letztere dürften angesichts hoher Spare<strong>in</strong>lagen merklich untererfasst se<strong>in</strong>.<br />
Die Struktur der E<strong>in</strong> kommen nach Altersgruppen (Grafi k 1) entspricht den Erwartungen: Im<br />
Erwerbsalter dom<strong>in</strong>ieren mit gut vier Fünftel die Erwerbse<strong>in</strong>kommen; auf die Transfers, die <strong>in</strong><br />
diesen Altersgruppen vor allem aus familienbezogenen Leistungen und <strong>Arbeit</strong>slosengeldern<br />
bestehen, entfallen 15% bis 18%, Kapitale<strong>in</strong>künfte spielen e<strong>in</strong>e unterdurchschnittliche Rolle.<br />
19 Die Defi nition des Haushaltsvorstandes entspricht der Eigenangabe nach der Konsumerhebung 1999/2000 bzw. dem<br />
Haushaltsmitglied mit dem höchsten E<strong>in</strong>kommen <strong>in</strong> der Konsumerhebung 2004/2005. Vere<strong>in</strong>fachend werden <strong>in</strong> den<br />
Tabellen 7 und 8 die Haushalte nach dem Alter des Haushaltsvorstandes unterschieden. In e<strong>in</strong>er separaten Darstellung<br />
wird später aufgezeigt <strong>in</strong> welchen E<strong>in</strong>kommensschichten die Hochbetagten leben.<br />
20 Das eff ektive durchschnittliche Pensionsantrittsalter liegt unter 60 Jahren.<br />
115
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Im Pensions alter bilden öff entliche Transfers (Pensionen und Pfl egegeld) die wichtigste E<strong>in</strong>kommensquelle:<br />
Auf sie entfallen 95% der Netto-Haushaltse<strong>in</strong>kommen der Hochbetagten (80 Jahre<br />
und älter) und 87% der E<strong>in</strong>kommen der 65- bis 79-Jährigen. Durch den relativ frühen Pensionsantritt<br />
bilden auch <strong>in</strong> der Altergruppe der 60- bis 64-Jährigen die Pensionen mit gut zwei Drittel<br />
bereits die wichtigste E<strong>in</strong>kommensquelle, nur mehr gut 30% der Netto-Haushaltse<strong>in</strong>kommen<br />
stammen aus Erwerbstätigkeit – <strong>in</strong> der Altersgruppe der 65- bis 79-Jährigen rund 11%.<br />
Kapitale<strong>in</strong>künfte – so weit sie angegeben wurden – spielen <strong>in</strong> der Altersgruppe der „Jungpensionist/<strong>in</strong>nen“<br />
mit 2,6% des Netto-Haushaltse<strong>in</strong>kommens die größte Rolle; <strong>in</strong> der Altersgruppe<br />
der 65- bis 79-Jährigen stammen 1,9% und vom Haushaltse<strong>in</strong>kommen der <strong>Hochaltrige</strong>n 1,2%<br />
aus Kapitale<strong>in</strong>künften.<br />
E<strong>in</strong>kommensanteile<br />
116<br />
Abbildung 1: Die Zusammensetzung des Haushaltse<strong>in</strong>kommens nach Altersgruppen<br />
100%<br />
80%<br />
60%<br />
40%<br />
20%<br />
0%<br />
0,3<br />
15,5<br />
84,2<br />
Bis 30<br />
Jahre<br />
E<strong>in</strong>kunftsarten nach Altersgruppen<br />
0,9<br />
17,7<br />
81,4<br />
30 bis 59<br />
Jahre<br />
2,6<br />
66,7<br />
30,7<br />
60 bis 64<br />
Jahre<br />
Quelle: Statistik Austria: Konsumerhebung 1999/2000, WIFO-Berechnungen.<br />
Neben den laufenden Pensionse<strong>in</strong>kommen und Kapitale<strong>in</strong>künften können Ersparnisse <strong>in</strong> Form<br />
von Geldvermögen (Girokonten, Bare<strong>in</strong>lagen, Aktien, Anleihen, Fonds, Unternehmensbeteiligungen)<br />
e<strong>in</strong>e weitere A bsicherung im Alter darstel len. Die Hochbetagten haben mit knapp<br />
40.000 € e<strong>in</strong> um e<strong>in</strong> Viertel ger<strong>in</strong>geres Bruttogeldvermögen als der Durchschnitt aller Haushalte<br />
(vgl. Moosl echner 2006). Das Medianvermögen der Hochbetagten liegt mit knapp 15.000 €<br />
1,9<br />
86,8<br />
11,3<br />
65 bis 79<br />
Jahre<br />
Alter des Haushaltsvorstands<br />
1,2<br />
95,0<br />
3,9<br />
80 Jahre<br />
und älter<br />
1,1<br />
33,3<br />
65,6<br />
Insgesamt<br />
Erwerbse<strong>in</strong>kommen Transfere<strong>in</strong>kommen Kapitale<strong>in</strong>künfte
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
um e<strong>in</strong> Drittel unter dem Gesamtdurchschnitt. Neben der ungleichen Verteilung <strong>in</strong>nerhalb der<br />
Alters gruppen zeigen sich auch deutliche Unterschiede entlang den Altersgruppen, wobei das<br />
Geldvermögen <strong>in</strong> der Altersgruppe der 60- bis 69-Jährigen den Höchstwert e<strong>in</strong>nimmt.<br />
Quelle: Mooslechner 2006.<br />
Abbildung 2: Bruttogeldvermögen der Haushalte nach Altersgruppen<br />
4.4.2. Die Netto-Äquivalenze<strong>in</strong>kommen nach Altersgruppen<br />
Der Vergleich der Haushaltse<strong>in</strong>kommen gibt nur bed<strong>in</strong>gt Auskunft über die ökonomische Situation<br />
verschiedener Altersgruppen, da sich die Haushalte auch nach Größe und Zusammensetzung<br />
unterscheiden. So fi nden sich Familien mit K<strong>in</strong>dern vor allem <strong>in</strong> Haushalten im Er werbs alter,<br />
während im Pensionsalter – <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> der Altersgruppe der Hochbetagten – viele E<strong>in</strong>personenhaushalte<br />
(Witwen und Witwer) anzutreff en s<strong>in</strong>d.<br />
Zur Beurteilung der ökonomischen Lage werden daher aufgrund der Überlegung, dass sich <strong>für</strong><br />
Mehrpersonenhalte E<strong>in</strong>sparungen <strong>in</strong> den Lebenshaltungskosten ergeben und die Konsumausgaben<br />
<strong>für</strong> K<strong>in</strong>der niedriger s<strong>in</strong>d als <strong>für</strong> Erwachsene, mit Hilfe von Äquivalenzskalen Konsumgewichte<br />
(Konsume<strong>in</strong>heiten) gebildet, die sowohl die Haushaltsgröße als auch die Zusammensetzung<br />
der Haushalte berücksichtigt (Wüger & B uchegger 2003, Guger 2003). Das gebräuchlichste<br />
117
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Gewichtungsschema bildet die EU-Skala, die der ersten erwachsenen Person im Haushalt e<strong>in</strong><br />
Gewicht von 1, jeder weiteren Person ab dem Alter von 14 Jahren 0,5 und jedem K<strong>in</strong>d unter 14<br />
Jahren 0,3 zuordnet. Für e<strong>in</strong>en Haushalt mit 2 Erwachsenen und 2 K<strong>in</strong>dern im Alter von 16 und<br />
13 Jahren, ergibt sich daraus e<strong>in</strong>e Äquivalenzzahl von 2,3. Aus dem Haushaltse<strong>in</strong>kommen und<br />
dieser Äquivalenzzahl werden <strong>für</strong> jeden Haushalt Äquivalenze<strong>in</strong>kommen gebildet und <strong>in</strong> Tabelle<br />
8 dargestellt. Diese Äquivalenze<strong>in</strong>kommen erlauben e<strong>in</strong>en Vergleich der ökonomischen Lage,<br />
der auch Haushaltsgröße und Haushaltstruktur berücksichtigt.<br />
Tabelle 8: Netto-Äquivalenze<strong>in</strong>kommen nach dem Alter des Haushaltsvorstandes 2004/2005<br />
Netto-<br />
Haushaltse<strong>in</strong>kommen<br />
Unter 30<br />
Jahre<br />
30 bis 59<br />
Jahre<br />
60 bis 64<br />
Jahre<br />
<strong>in</strong> €<br />
65 bis 79<br />
Jahre<br />
80 Jahre<br />
und älter<br />
Insgesamt<br />
Durchschnitt 1.430 1.729 1.659 1.453 1.386 1.623<br />
Median 1.350 1.608 1.501 1.305 1.235 1.495<br />
Index, <strong>in</strong>sgesamt = 100<br />
Durchschnitt 88,1 106,5 102,2 89,5 85,4 100,0<br />
Quelle: Statistik Austria: Konsumerhebung 2004/2005, WIFO-Berechnungen.<br />
Gewichtet nach Konsume<strong>in</strong>heiten verfügten die Haush alte der Hoch betagten laut Konsumerhebung<br />
2004/2005 über e<strong>in</strong> durchschnittliches Nettoe<strong>in</strong>kommen (Äquivalenze<strong>in</strong>kommen)<br />
von 1.386 €, u nd damit um schwach 15% w eniger als der Du rchschnitt aller Haushalte. Die<br />
Haushalte der 65- bis 79-Jährigen hatten gut 10%, die der unter 30-Jährigen um 12% weniger,<br />
die Haushalte im Erwerbsalter 6½% und die 60- bis 64-Jährigen gut 2% mehr E<strong>in</strong>kommen als<br />
der Durchschnitt aller Haushalte.<br />
4.4.3. Die Verteilung der Netto-Äquivalenze<strong>in</strong>kommen nach Altersgruppen<br />
Die Verteilung der E<strong>in</strong> kommen nach Altersgruppen ist mit Vorsicht zu <strong>in</strong>terpretieren, da die<br />
Standardabweichungen der Mittelwerte relativ groß s<strong>in</strong>d. Gemessen an der Quartilsdistanz, dem<br />
Verhältnis zwischen dem E<strong>in</strong>kommen an der Untergrenze des 4. Quartils und der Obergrenze<br />
des 1. Quartils, ist die Verteilung der E<strong>in</strong>kommen der Pensionistenhaushalte egalitärer als die<br />
Verteilung der Haushaltse<strong>in</strong>kommen der aktiven Bevölkerung.<br />
118
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Tabelle 9: Quartilsverteilung der Haushalte im Pensionsalter nach Äquivalenze<strong>in</strong>kommen<br />
Quelle: Statistik Austria: Konsumerhebung 2004/2005, WIFO-Berechnungen. – Quartilsdistanz: Untergrenze des 4. Quartils/<br />
Obergrenze des 1. Quartils.<br />
Tabelle 10: Quartilsverteilung der Haushalte im Erwerbsalter nach Äquivalenze<strong>in</strong>kommen<br />
Quelle: Statistik Austria: Konsumerhebung 2004/2005, WIFO-Berechnungen. – Quartilsdistanz: Untergrenze des 4. Quartils/<br />
Obergrenze des 1. Quartils.<br />
60 bis 64 Jahre 65 bis 79 Jahre 80 Jahre und älter<br />
Quartilsobergrenzen<br />
Durchschnitt<br />
Quartilsobergrenzen<br />
Durchschnitt<br />
<strong>in</strong> €<br />
Quartilsobergrenzen<br />
Durchschnitt<br />
1. Quartil 1.154 900 997 785 953 772<br />
2. Quartil 1.501 1.336 1.305 1.144 1.235 1.092<br />
3. Quartil 1.995 1.730 1.734 1.482 1.689 1.453<br />
4. Quartil >1.995 2.683 >1.734 2.403 >1.689 2.240<br />
Durchschnitt 1.659 1.453 1.386<br />
Quartilsdistanz 1,73 1,74 1,77<br />
Bis 30 Jahre 30 bis 59 Jahre Alle Haushalte<br />
Quartilsobergrenzen<br />
Durchschnitt<br />
Quartilsobergrenzen<br />
Durchschnitt<br />
<strong>in</strong> €<br />
Quartilsobergrenzen<br />
Durchschnitt<br />
1. Quartil 996 663 1.185 874 1.099 820<br />
2. Quartil 1.350 1.175 1.608 1.399 1.494 1.293<br />
3. Quartil 1.794 1.584 2.109 1.838 1.986 1.718<br />
4. Quartil >1.794 2.305 >2.109 2.821 >1.986 2.662<br />
Durchschnitt 1.430 1.729 1.623<br />
Quartilsdistanz 1,8 1,78 1,81<br />
Innerhalb der älteren Bevölkerung ist die Quartilsdistanz der Äquivalenze<strong>in</strong>kommen der Hochbetagten<br />
mit 1,77 am höchsten, sie entspricht ungefähr jener der Bevölkerung im Haupterwerbsalter<br />
(1,78). Am egalitärsten s<strong>in</strong>d die E<strong>in</strong>kommen der „jüngeren“ Pensionistengruppen (1,73 bzw. 1,74)<br />
verteilt, <strong>in</strong> denen Er werbstätigkeit noch e<strong>in</strong>e ge wisse Rolle spielt; am ungleichsten (1,80), die<br />
der unter 30-Jährigen, von denen sich noch e<strong>in</strong> Teil <strong>in</strong> Ausbildung befi ndet. Da die E<strong>in</strong>kommensunterschiede<br />
zwischen den Alters gruppen größer s<strong>in</strong>d als <strong>in</strong>nerhalb der Altersgruppen, ist die<br />
Quartilsdistanz über alle Haushalte größer als <strong>in</strong> jeder e<strong>in</strong>zelnen Alterskohorte.<br />
Gewichtet <strong>in</strong> Konsume<strong>in</strong>heiten hat e<strong>in</strong> Viertel der Hochbetagten-Haushalte (80 Jahre und älter)<br />
monatlich mehr als 1.689 € zur Verfügung und e<strong>in</strong> Viertel muss mit e<strong>in</strong>em Nettoe<strong>in</strong>kommen von<br />
weniger als 953 € monatlich auskommen; das s<strong>in</strong>d um rund 150 € weniger als im Durchschnitt<br />
aller Haushalte (1.099 €).<br />
119
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Hochbetagte und ältere Menschen leben aber nicht nur <strong>in</strong> Haushalten mit Pensionisten oder<br />
Hochbetagten als Haushaltsvorstände, sondern auch <strong>in</strong> Haushalten, die jüngere, erwerbstätige<br />
Personen als Haushaltsvorstand angeben. Tabelle 11 stellt daher die Verteilung der älteren<br />
Personen – gruppiert nach dem Äquivalenze<strong>in</strong>kommen – <strong>in</strong> Quartilen der Gesamtbevölkerung<br />
dar. Dabei zeigt sich, dass die Mehrheit (53,4%) der 60- bis 64-Jährigen <strong>in</strong> der oberen Hälfte<br />
der E<strong>in</strong>kommensverteilung zu fi nden ist, während die älteren Pensionisten und Hochbetagten<br />
mehrheitlich <strong>in</strong> der unteren Hälfte der E<strong>in</strong>kommensverteilung leben: 60,6% der 65- bis 79-Jährigen<br />
und 57,8% der Hochbetagten leben <strong>in</strong> den beiden unteren E<strong>in</strong>kommensquartilen.<br />
120<br />
Tabelle 11: Die Verteilung der älteren Personen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung, nach<br />
Quartilen der Netto-Äquivalenze<strong>in</strong>kommen<br />
Netto-Äquivalenz- 60- bis 64- 65- bis 79- 80 Jahre<br />
e<strong>in</strong>kommensgrenzen<br />
Jährige<br />
Jährige<br />
und älter<br />
<strong>in</strong> €<br />
Anteile <strong>in</strong> %<br />
1. Quartil Bis 1.099 19,8 29,7 31,8<br />
2. Quartil 1.100 bis 1.494 26,8 30,9 26,0<br />
3. Quartil 1.495 bis 1.986 26,8 21,1 25,6<br />
4. Quartil 1.987 und mehr 26,6 18,3 16,9<br />
Summe 100,0 100,0 100,0<br />
Quelle: Statistik Austria: Konsumerhebung 2004/2005, WIFO-Berechnungen.<br />
E<strong>in</strong> schwaches Drittel (31,8%) der Hochbetagten (rund 92.000 Personen 21 )) lebte laut Konsumerhebung<br />
2004/2005 <strong>in</strong> Haushalten mit e<strong>in</strong>em nach Konsume<strong>in</strong>heiten gewichteten Nettohaushaltse<strong>in</strong>kommen<br />
(Äquivalenze<strong>in</strong>kommen) von weniger als 1.100 €; dasselbe galt <strong>für</strong> ¼ der Ges amtbevölkerung, schwach<br />
30% der 65- bis 79-Jährigen und schwach 20% der 60- bis 64-Jährigen Bevölkerung. Zum obersten<br />
Viertel der E<strong>in</strong>kommensverteilung zählten dagegen nur rund 17% der Hochbetagten (schwach 48.000<br />
Personen). Diesen Haus halten standen monatlich mehr als 1.986 € zur Verfügung; dies galt <strong>für</strong> fast<br />
27% der 60- bis 64-Jährigen und gut 18% der 65- bis 79-Jährigen.<br />
4.5. Armutsgefährdung im Alter<br />
Der EU-Konvention folgend wird Armuts gefährdung über das verfügbare E<strong>in</strong>kom men defi niert.<br />
Menschen, die <strong>in</strong> Haushalten mit weniger als 60% des Median-Äquivalenze<strong>in</strong>kommens leben,<br />
werden danach als armutsgefährdet bezeichnet. Nach diesem relativen Armutskonzept und den<br />
E<strong>in</strong>kommensdaten aus EU-SILC waren 2004 <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> 12,8% der Bevölkerung und 13% der<br />
Pensionisten armutsgefährdet. E<strong>in</strong>e engere Abgrenzung nach dem Alter ist aufgrund der kle<strong>in</strong>en<br />
Stichprobengröße nicht möglich; wir stützen uns daher auf die Konsumerhebung.<br />
21 Zahl der Personen laut Konsumerhebung 2004/2005, d. h. nur Personen, die <strong>in</strong> Haushalten leben (Personen <strong>in</strong> Anstal-<br />
ten s<strong>in</strong>d nicht erfasst).
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
Aus den Daten der Konsumerhebung 2004/ 2005 ergibt sich <strong>für</strong> alle österreichischen Haushalte nach<br />
diesem Konzept e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong> kommensbezogene Armutsgefährdungsquote von 14,8%. Die Armutsg efährdung<br />
der älteren Bevölkerung der 65- bis 79-Jährigen und der <strong>Hochaltrige</strong>n liegt bei rund 20%; nur<br />
die der Jungen ist mit 21,8% höher. Deutlich ger<strong>in</strong>ger ist sie <strong>für</strong> die Bevölkerung im Erwerbsalter (12%)<br />
und am niedrigsten <strong>für</strong> die Haushalte mit e<strong>in</strong>em Haushaltsvorstand im Alter von 60 bis 64 Jahren.<br />
Tabelle 12: Armutsgefährdung nach Alter des Haushaltsvorstandes<br />
Bis 30<br />
Jahre<br />
30 bis 59<br />
Jahre<br />
60 bis 64<br />
Jahre<br />
65 bis 79<br />
Jahre<br />
80 Jahre<br />
und älter<br />
Insgesamt<br />
Median des Äquivalenze<strong>in</strong>kommens<br />
<strong>in</strong> €<br />
Anteil der Armuts-<br />
1.350 1.608 1.501 1.305 1.235 1.495<br />
gefährdung <strong>in</strong> % 21,8 12,0 11,5 19,7 20,2 14,8<br />
Quelle: Statistik Austria: Konsumerhebung 2004/2005, WIFO-Berechnungen. – Schwelle der Armutsgefährdung: 60% des<br />
Median-Äquivalenze<strong>in</strong>kommens.<br />
Die Armutsgefährdung kann aber nicht nur aus der E<strong>in</strong>kommensperspektive beurteilt werden,<br />
sondern muss auch den Bedarf berücksichtigen. Im folgenden Kapitel werden daher den E<strong>in</strong>kommen<br />
auch die Konsumausgaben nach Altergruppen gegenübergestellt.<br />
4.6. Die Verbrauchssituation der Hochbetagten<br />
Die Konsumausgaben unterscheiden sich h<strong>in</strong>sichtlich Niveau und Struktur zwischen den Altersgruppen:<br />
Zum e<strong>in</strong>en geben Pensionistenhaushalte generell weniger <strong>für</strong> private Konsumzwecke<br />
aus als Erwerbstätigenhaushalte, und zum anderen verschiebt sich die Konsumstruktur zu mehr<br />
Ausgaben <strong>für</strong> Gesundheit, Wohnen sowie Heizung und Beleuchtung, während der Anteil der Ausgaben<br />
<strong>für</strong> Mobilität und Kleidung mit zunehmendem Alter s<strong>in</strong>kt. Fasst man die Verbrauchsgruppen<br />
Ernährung und alkoholfreie Getränke, Bekleidung und Schuhe sowie Wohnen, Beheizung und<br />
Beleuchtung als lebensnotwendige Konsumgüter zusammen, so geben Pensionistenhaushalte<br />
rund 48% ihres E<strong>in</strong>kommens da<strong>für</strong> aus, Erwerbstätigenhaushalte rund 41%. Die ältere Bevölkerung<br />
gibt auch viel mehr <strong>für</strong> Gesundheit und Krankenversicherungen aus als Erwerbstätige. Die<br />
verkehrbezogenen Aus gaben fallen dagegen im Alter deutlich ger<strong>in</strong>ger aus (Url & Wüger 2005).<br />
Die Unterschiede <strong>in</strong> der K onsumstruktur bedeuten auch, d ass die Haushalte der älteren und<br />
der jüngeren Bevölkerung vom Infl ationsprozess unterschiedlich betroff en s<strong>in</strong>d: Lebensnotwendige<br />
Güter sow ie Gesundheits- und Pfl egeleistungen, die g er<strong>in</strong>ge Produktivitätssteigerungen<br />
verzeichnen, verteuern sich relativ gegenüber den Erzeugnissen der Sachgütererzeugung. Der<br />
Pensionistenpreis<strong>in</strong>dex steigt daher <strong>in</strong> der Regel etwas stärker als der allgeme<strong>in</strong>e Verbraucherpreis<strong>in</strong>dex;<br />
seit dem Jahr 2000 wurde dadurch die Kaufkraft der Pensionisten um gut 1 Prozent<br />
stärker reduziert als die der Erwerbstätigen.<br />
121
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
122<br />
Tabelle 13: Sparquoten der Haushalte nach dem Alter des Haushaltsvorstandes<br />
Unter 30<br />
Jahre<br />
30 bis 59<br />
Jahre<br />
60 bis 64<br />
Jahre<br />
65 bis 79<br />
Jahre<br />
80 Jahre<br />
und älter<br />
Insgesamt<br />
Haushaltse<strong>in</strong>kommen <strong>in</strong> €*) 2.067 2.920 2.405 1.967 1.670 2.547<br />
Index, <strong>in</strong>sgesamt = 100 81,2 114,6 94,4 77,2 65,6 100,0<br />
Konsumausgaben <strong>in</strong> € 2.107 2.648 2.310 1.745 1.185 2.319<br />
Index, <strong>in</strong>sgesamt = 100 90,9 114,2 99,6 75,6 51,1 100,0<br />
Quelle: Statistik Austria: Konsumerhebung 2004/2005, WIFO-Berechnungen. – *) Monatlich <strong>in</strong>kl. Sonderzahlungen, d. h.<br />
12-mal jährlich).<br />
Sparen als Anteil am Netto-Haushaltse<strong>in</strong>kommen <strong>in</strong> %<br />
Sparquote -2 9,3 3,9 10,9 29,1 8,9<br />
Die Ergebnisse der Konsumerhebung 2004/2005 zeigen, dass die Konsumausgaben <strong>in</strong>sgesamt<br />
mit zunehmendem Alter deutlich stärker s<strong>in</strong>ken als das E<strong>in</strong>kommen. Während sich das Haushaltse<strong>in</strong>kommen<br />
der <strong>Hochaltrige</strong>n auf etwa 2/3 des Durchschnittse<strong>in</strong>kommens aller Haushalte<br />
beläuft, konsumieren <strong>Hochaltrige</strong> nur die Hälfte des Durchschnittskonsums aller Haushalte.<br />
Trotz ihres niedrigeren E<strong>in</strong>kommens sparen <strong>Hochaltrige</strong> fast 30% ihres E<strong>in</strong>kommens; im Durchschnitt<br />
aller Haushalte und der Haushalte im Haupterwerbsalter beträgt dagegen die Sparquote<br />
nur rund 9,0%. Neben den unter 30-Jährigen, von denen e<strong>in</strong> Teil noch <strong>in</strong> Ausbildung steht und<br />
die mehr konsumieren als sie an E<strong>in</strong>kommen beziehen, weisen auch die Haushalte der „Jungpensionisten“,<br />
der 60- bis 64-Jährigen, mit 4,0% e<strong>in</strong>e sehr niedrige Sparquote aus.<br />
Die Sparquote der Hochbetagten ist nicht nur im Durchschnitt hoch, sondern auch im untersten<br />
Quartil. Während <strong>in</strong> den übrigen Altergruppen die 25% mit den niedrigsten E<strong>in</strong>kommen mehr<br />
verbrauchen als sie an E<strong>in</strong>kommen zur Verfügung haben, liegt die Sparquote der Hochbetagten <strong>in</strong><br />
dieser E<strong>in</strong>kommensschicht bei rund 5%. Das aus den E<strong>in</strong>kommens daten abgeleitete überdurchschnittliche<br />
Risiko der Armutsgefährdung <strong>für</strong> Hochbetagte wird damit aus den Verbrauchsdaten<br />
nicht bestätigt; die Konsummöglichkeiten werden selbst <strong>in</strong> den niedrigen E<strong>in</strong>kommensgruppen<br />
nicht ausgeschöpft. Dies mag zum e<strong>in</strong>en mit günstigem Wohnraum <strong>in</strong> Altbauten, niedrigeren<br />
Ansprüchen im hohen Alter und/oder reduzierten Konsummöglichkeiten aufgrund gesundheitlicher<br />
E<strong>in</strong>schränkungen zusammenhängen, könnte zum anderen aber auch <strong>in</strong> erhöhtem<br />
Vorsorgesparen begründet liegen, um <strong>für</strong> zukünftige Pfl ege- bzw. Heimkosten gerüstet zu se<strong>in</strong>.<br />
Angesichts der deutlich negativen Sparquote der jungen Haushalte dürfte e<strong>in</strong> erheblicher Teil<br />
der Ersparnisse der älteren Bevölkerung auch <strong>in</strong> die Haushalte der „Enkel“ fl ießen.<br />
Die hohe K onsumquote der Altersgru ppe der „Jungpensionist/<strong>in</strong>nen“ dürfte zum e<strong>in</strong>en – im<br />
Vergleich mit den Erwerbstätigenhaus halten – durch die größere Verfügbarkeit über Freizeit<br />
und zum anderen – im Vergleich mit den älteren Pensionistengruppen – durch den besseren<br />
Gesundheits zustand zu erklären se<strong>in</strong>. Beide Faktoren erlauben ihnen e<strong>in</strong>e stärkere Teilnahme<br />
an gesellschaftlichen und touristischen Aktivitäten, während das höhere Gesu ndheitsrisiko
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
im Alter <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> weitgehend durch das öff entliche Gesundheitswesen abgedeckt ist und<br />
sich die privaten Aufwendungen <strong>in</strong> Grenzen halten. Insgesamt s<strong>in</strong>d – standardisiert auf gleiche<br />
Haushaltsgröße und E<strong>in</strong>kommenshöhe – die privaten Ausgaben <strong>für</strong> Gesundheitspfl ege der<br />
Pensionistenhaushalte um 35% höher als die der Haushalte der Erwerbstätigen, und belaufen<br />
sich auf 3,3% des Gesamtkonsums der Pensionistenhaus halte (Url & Wüger 2005: 778).<br />
4.7. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen<br />
Die ökonomische Situation im Alter wird <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> <strong>in</strong> entscheidendem Ausmaß durch das<br />
öff entliche Pensionssystem be stim mt. Über 90% der Pensionse<strong>in</strong>kommen stammen aus dieser<br />
ersten Säule der Absicherung im Alter. In ke<strong>in</strong>em anderen Industrieland kommt dieser e<strong>in</strong>e so<br />
große Bedeutung zu wie <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>. Im besonderen Maße gilt dies <strong>für</strong> Hochbetagte, da die<br />
beiden anderen Säulen der Pensionsvorsorge erst <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten stärker gefördert<br />
und ausgebaut wurden.<br />
Der Anteil der Wohnbevölkerung mit Pen sionsbezug steigt, je älter die betrachtete Personengruppe<br />
ist. In der A ltersgruppe der Hochbetagten (80-Jährige und älter) haben knapp 96%<br />
und 63% der Pensionist/<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>en Direktpensionsbezug (Alters- oder Invaliditätspension).<br />
Geme<strong>in</strong> sam mit den H<strong>in</strong>terbliebenenpensionen gibt es mehr Pensionsfälle als Personen <strong>in</strong><br />
dieser Altersgruppe. Die Witwenpensionen tragen entscheidend zur fi nanziellen Absicherung<br />
der hochbetagten Frauen bei.<br />
Die Pensionshöhen variieren sowohl zwischen Frauen und Männern als auch zwischen den<br />
verschiedenen Altersgruppen stark. Die durchschnittliche Alterspension der über 80-Jährigen<br />
Männer lag 2005 brutto bei m onatlich rund 1.100 €, jene der 60- bi s 69-Jährigen mit rund<br />
1.400 € u m 300 € mo natlich höher. Die Pensionen der über 80-Jährig en Frauen erreichten<br />
nur 630 € bzw. der 60- bis 69-Jährigen 780 € mon atlich. Gründe da<strong>für</strong> s<strong>in</strong>d zum e<strong>in</strong>en die<br />
unterschiedlichen Versicherungsverläufe je nach Ausmaß und Länge der Erwerbsbeteiligung,<br />
die sich vor allem bei Frauen <strong>in</strong> niedrigeren Erstpensionen niederschlagen und zum anderen,<br />
bei Hochbetagten, der weit zurückliegende Pensionsneuzugang, da – <strong>in</strong>sbesondere im letzten<br />
Jahrzehnt – die P ensionsanpassungen nicht mit der Entwertung der Kaufkraft Schritt hielten.<br />
Seit 1995 blieb die Anpassung der Bestandspensionen <strong>in</strong>sgesamt um 6,7 Prozentpunkte h<strong>in</strong>ter<br />
der Preisentwicklung zurück. Seit der jüngsten Pensionsreform ist <strong>für</strong> die Zukunft e<strong>in</strong>e Pensionsanpassung<br />
im Ausmaß der Infl ationsrate (bis 2009 allerd<strong>in</strong>gs nur <strong>für</strong> Pensionen bis zur halben<br />
Höchstbeitragsgrundlage) vorgesehen, um die Pensionen vor Kaufkrafte<strong>in</strong>bußen zu schützen.<br />
Dies bedeutet aber auch, dass <strong>in</strong> Zukunft, sobald wieder Reale<strong>in</strong>kommenszuwächse erzielt werden,<br />
e<strong>in</strong> Zurückbleiben der Bestandspensionen h<strong>in</strong>ter der Entwicklung der Erwerbse<strong>in</strong>kommen<br />
<strong>in</strong> Kauf genommen wird. Durch den langen Pensionsbezug werden die Hoch betagten davon<br />
besonders betroff en se<strong>in</strong>.<br />
Nach den Daten der Lohnsteuerstatistik bezog 2005 e<strong>in</strong> Viertel der Pensionierten im Durchschnitt<br />
monatlich (<strong>in</strong>klusive aller Sonderzahlungen – also zwölfmal jährlich) weniger als 613 €, die Hälfte<br />
123
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
weniger als 1.087 € und e<strong>in</strong> Viertel mehr als 1.805 €. Auf das unterste Viertel mit den niedrigsten<br />
E<strong>in</strong>kommen entfi elen 5,0% und auf das oberste Viertel 52,4% aller Bruttoe<strong>in</strong>künfte der Pensionisten.<br />
Der erwerbszentrierten Alterssicherung entsprechend spiegelt sich die Ungleichheit der<br />
Pensionen die Disparitäten der Erwerbse<strong>in</strong>kommen wieder.<br />
Die Daten aus der Sozialversicherung und der L ohnsteuerstatistik vermitteln e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck<br />
vom <strong>in</strong>dividuellen Versorgungs grad der P ensionist/<strong>in</strong>nen, sagen aber wenig aus über di e<br />
tatsächliche ökonomische Lage. Diese kann nur im Haushaltszusammenhang aussagekräftig<br />
analysiert werden. Zur Analyse der E<strong>in</strong> kommenssituation der hochaltrigen Bevölkerung auf der<br />
Haushaltsebene wurde <strong>in</strong> dieser <strong>Arbeit</strong> die Konsumerhebung 2004/2005 herangezogen, nach<br />
Konsume<strong>in</strong>heiten – also nach der Größe und der Altersstruktur des Haushalts gewichtet – und<br />
mit der E<strong>in</strong>kommenssituation der jüngeren Pensionist/<strong>in</strong>nenhaushalte und der Bevölkerung<br />
im Erwerbsalter verglichen.<br />
2005 betrug das monatliche Nettoe<strong>in</strong>kommen der Haushalte mit e<strong>in</strong>er oder e<strong>in</strong>em Hochbetagten<br />
(80 Jahre und älter) als Haushaltsvorstand 1.670 € und war damit 877 € oder e<strong>in</strong> Drittel niedriger<br />
als das durchschnittliche E<strong>in</strong>kommen aller Haushalte, das sich auf 2.547 € belief. Deutlich<br />
ger<strong>in</strong>ger s<strong>in</strong>d die Unterschiede unter Berücksichtigung der Haushaltsgröße. Hoch betagte wohnen<br />
als Witwen und Witwer vielfach alle<strong>in</strong>e und ohne K<strong>in</strong>der. Wird auf Basis der EU-Äquivalenzskalen<br />
die Haushaltsgröße mitberücksichtigt, so ergibt sich <strong>für</strong> 2005 e<strong>in</strong> n ach Konsume<strong>in</strong>heiten gewichtetes<br />
monatliches Haushaltse<strong>in</strong>kommen (Äquivalenze<strong>in</strong>kommen) <strong>für</strong> Haus halte mit e<strong>in</strong>em<br />
hochaltrigen (80 Jahre u nd älter) Haushaltsvorstand von netto 1.386 €; da s ist um 237 € oder<br />
15% weniger als im Durchschnitt aller Haushalte. Die Haushalte im Haupterwerbsalter verfügen<br />
über 6½% und die Haushalte der „Jungpensionist/<strong>in</strong>nen“ (im Alter von 60 bis 64 Jahren) um<br />
2,2% mehr, die Altersgruppe der 65- bis 70-Jährigen um 10% weniger an nach Konsume<strong>in</strong>heiten<br />
gewichteten Nettoe<strong>in</strong>kommen als der Durchschnitt aller Haushalte.<br />
Hochbetagte leben aber auch <strong>in</strong> Haushalten jüngerer Haushaltsvorstände. Ihre Verteilung über<br />
alle Haushalte zeigt, dass e<strong>in</strong> schwaches Drittel (31,8%) der Hochbetagten <strong>in</strong> Haushalten lebt,<br />
denen 2005 monatlich – <strong>in</strong>klusive Sonderzahlungen, also zwölfmal jährlich – weniger als 1.100 €<br />
an nach Konsume<strong>in</strong>heiten gewichtetem Nettohaushaltse<strong>in</strong>kommen zur Verfügung stand; dasselbe<br />
galt <strong>für</strong> e<strong>in</strong> Viertel der Gesamtbevölkerung, schwach 30% der 65- bi s 79-Jährigen und schwach<br />
20% der 60- bis 64-Jährigen Personen. Zum Viertel mit den höchsten E<strong>in</strong>kommen, die über mehr<br />
als 1.986 € verfügen konnten, zählten rund 17% der Hochbetagten (schwach 48.000 Personen),<br />
gut 18% der 65- bis 79-Jährigen und gut 26½% der 60- bis 65-Jährigen.<br />
Nach dem Konzept der relativen E<strong>in</strong>kommens armut, wonach die Armutsschwelle der EU-Konvention<br />
folgend bei 60% des Median-Äquivalenze<strong>in</strong>kommens liegt, ergibt sich aus den Daten<br />
der Konsumerhebung 2004/2005 e<strong>in</strong>e Armutsgefährdungsquote über alle Haushalte von 14,8%<br />
(EU-SILC: 12,8%). Nach Altergruppen s<strong>in</strong>d danach 20,2% der Haushalte der Hochbetagten und<br />
19,7% der 65- bis 79-Jährigen armutsgefährdet. Die ger<strong>in</strong>gste Armutsgefährdung weisen mit 11,5%<br />
„Jungpensionist/<strong>in</strong>nen“ (60- bis 64-Jährige) und mit 12% die Haushalte im Haupterwerbalter<br />
124
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
auf. Die Haushalte der über 80-Jährigen haben geme<strong>in</strong>sam mit den unter 30-Jährigen (21,8%)<br />
gemessen am E<strong>in</strong> kommen das höchste Armutsr isiko. Die Armutsg efährdung kann aber nicht<br />
nur am E<strong>in</strong>kommen bemessen werden, sondern muss auch den Bedarf mite<strong>in</strong>beziehen, der sich<br />
nach Alter und Haushaltsstruktur unterscheidet. So unterscheiden sich die Konsumausgaben<br />
der älteren Personen sowohl der Höhe als auch der Struktur nach deutlich von jenen der aktiven<br />
Bevölkerung. Während die Sparquote aller Haushalte und die der Haushalte im Haupterwerbsalter<br />
rund 9% beträgt, sparen die Haushalte der <strong>Hochaltrige</strong>n 29% ihres verfügbaren E<strong>in</strong>kommens,<br />
die 65- bis 79-Jährigen schwach 11%, die „Jungpensionisten“, deren E<strong>in</strong>kommen nur gut 5%<br />
unter dem Durchschnitt liegt, nur 4%.<br />
Die Haushalte der Hochbetagten verfügen im Durchschnitt nur über zwei Drittel des E<strong>in</strong>kommens<br />
der Haushalte <strong>in</strong>sgesamt, geben aber nu r halb so viel <strong>für</strong> Konsumzwecke aus wie e<strong>in</strong> du rchschnittlicher<br />
Haushalt, sparen also e<strong>in</strong>en viel größeren Teil ihres E<strong>in</strong>kommens. Das E<strong>in</strong>kommen<br />
alle<strong>in</strong>e bildet also ke<strong>in</strong>en ausreichenden Indikator zur Beurteilung der ökonomischen Lage der<br />
Hochbetagten: Sie verfügen über weniger E<strong>in</strong>kommen und weniger Vermögen als die Erwerbstätigen<br />
und jüngeren Senior/<strong>in</strong>nen, haben aber auch deutlich niedrig ere Konsumansprüche.<br />
Dies schlägt sich <strong>in</strong> ü berdurchschnittlich hohen Sparquoten nieder. Die A rmutsgefährdung<br />
der Hochbetagten dürfte daher ger<strong>in</strong>ger se<strong>in</strong> als im Durchschnitt aller Haushalte, obwohl das<br />
ausschließlich am E<strong>in</strong>kommen bemessene Armutsrisiko relativ hoch er sche<strong>in</strong>t. Die hohe Sparneigung<br />
der Hochbetagten dürfte mit mehreren Faktoren, wie mit Transfers an die K<strong>in</strong>der- und<br />
Enkel generation, e<strong>in</strong>er größeren Genügsamkeit dieser durch die kargen Kriegs- und Nachkriegsjahre<br />
der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts geprägten Generation, mit dem schwächeren<br />
Gesundheitszustand <strong>in</strong> diesem Alter und e<strong>in</strong>em gewissen Grad an Vorsorgesparen <strong>für</strong> zukünftigen<br />
Pfl egebedarf zusammenhängen. Für die Hochbetagten der nächsten Zukunft dürften aber diese<br />
Faktoren von wesentlich ger<strong>in</strong>gerer Bedeutung se<strong>in</strong>: Sie haben zum e<strong>in</strong>em den wesentlichen<br />
Teil ihre Sozialisation schon im Nachkriegsboom erfahren und dürften daher weniger genügsam<br />
se<strong>in</strong> als die heutige Generation der Hochbetagten, und zum anderen wird im Gefolge der rasch<br />
steigenden Lebenserwartung die Agilität und Konsumfähigkeit der Hochbetagten der Zukunft<br />
deutlich zunehmen.<br />
Die ökonomische Lage und das Armutsrisiko Hochbetagter entsprechen heute – soweit sie <strong>in</strong><br />
privaten Haushalten leben – im Großen und Ganzen dem Durchschnitt der Erwerbsbevölkerung.<br />
Die Daten weisen allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e erhebliche Streuung auf, die <strong>in</strong> Abhängigkeit von Pfl egebedarf<br />
und Wohnsituation auf erhebliche Unterschiede schließen lassen.<br />
125
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION DER HOCHBETAGTEN IN ÖSTERREICH<br />
LITERATUR<br />
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Guger, Alois & Mar terbauer, Markus (2005): Die langfristige Entwicklung der E<strong>in</strong> kommensverteilung<br />
<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>. In: BMSG: Bericht über die Soziale Lage 2003 – 2004; Wien: 255-276.<br />
Haydn, Re<strong>in</strong>hard (2006): Personenbezogene Daten <strong>in</strong> der Sozialversicherung, Soziale Sicherheit,<br />
59(2): 60-69.<br />
Hauptverband (2006): Handbuch der österreichischen Sozialversicherung, Wien: Hauptverband<br />
der österreichischen Sozialversicherungsträger.<br />
Mayrhuber, Christ<strong>in</strong>e (2006): Pensionshöhe und E<strong>in</strong>kommensersatzraten nach E<strong>in</strong>führung des<br />
Allgeme<strong>in</strong>en Pensionsgesetzes. In: WIFO-Monatsberichte, 79(11): 805-816.<br />
Mooslechner, Peter (2006), Ge ldvermögens verteilung <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>: Er gebnisse e<strong>in</strong>er Haushaltsbefragung<br />
der OeNB, Wien.<br />
Url, Thomas, Wüger, Michael (2005): Die Konsumausgaben österreichischer Haushalte im Pensionsalter.<br />
In: WIFO-Monatsberichte, 78(11): 775-782.<br />
Wüger, Michael & Buchegger, Ra<strong>in</strong>er (2003): Schätzung der direkten K<strong>in</strong>derkosten <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>.<br />
In: WIFO-Monatsberichte, 76(9): 699-717.<br />
126
5. ALLTAG IM ALTER<br />
FRANZ KOLLAND<br />
5.1. E<strong>in</strong>leitung<br />
ALLTAG IM ALTER<br />
Über den ganzen Lebenslauf ist die Alltagswelt durch Gewohnheiten bestimmt, durch Persönlichkeitseigenschaften<br />
und soziokulturelle Umweltbed<strong>in</strong>gungen. Die natürliche E<strong>in</strong>stellung<br />
besteht <strong>in</strong> jenen Annahmen und Überzeugungen, welche wir im alltäglichen Leben als fraglos<br />
gegebenen Boden unserer Wahrnehmungen und Handlungen h<strong>in</strong>nehmen.<br />
Der hauptsächliche Wissensbestand h<strong>in</strong>sichtlich des Alltagslebens im Alter betriff t die 50-75-Jährigen.<br />
Doch gilt dieses Wissen, welches auf e<strong>in</strong> hohes Aktivitätsniveau, auf autonome Lebensgestaltung,<br />
Mobilität und soziale Inklusion h<strong>in</strong>weist, auch <strong>für</strong> die <strong>Hochaltrige</strong>n? Paul Baltes (2006) verweist<br />
auf die höhere Vulnerabilität und E<strong>in</strong>schränkungen bei hochaltrigen Menschen. Demnach ist<br />
das Alltagsleben von hochaltrigen Menschen eher durch Langeweile, E<strong>in</strong>samkeit und Sorgen<br />
be stimmt und entspricht damit nicht (mehr) jenem im „jungen Alter“. E<strong>in</strong>e qualit ative Studie<br />
identifi zierte die Ritualisierung der Zeit und der Beschäftigungen im Alltag als besondere Handlungsstrategien<br />
des hohen Alters (Carlsson et al. 1991), die gleichzeitig Anpassungsleistungen<br />
darstellen, um die erhöhte Vulnerabilität auszugleichen. Diese Ritualisierung könnte auch als<br />
Rückzugsmotiv identifi ziert werden, wonach der Erhalt der häuslichen Gewohnheiten und Rout<strong>in</strong>en<br />
wichtiger wird als die gesellschaftliche Integration und soziale Mitwirkung. Demgegenüber<br />
fi nden sich Studien, die e<strong>in</strong>e erhebliche Diversität der Verhaltensweisen im hohen Alter<br />
belegen. Bury & Holme (1991) zeigen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Untersuchung, dass sich das Aktivitätsspektrum<br />
von über 90-Jährigen deutlich unterscheidet, und zwar je nachdem, wo und mit wem sie leben.<br />
E<strong>in</strong> Großteil des Wissens über die Alltags aktivitäten hochaltriger Menschen stammt aus der<br />
Geriatrie, speziell s<strong>in</strong>d es hier Kenntnisse über basale <strong>in</strong>strumentelle Tätigkeiten des täglichen<br />
Lebens. Es handelt sich dabei um hoch rout<strong>in</strong>isierte Aktivitäten, die stark durch die Gesundheit<br />
bee<strong>in</strong>fl usst s<strong>in</strong>d. Diese Aktivitäten wurden <strong>in</strong> den 1960er Jahren <strong>in</strong> zwei bekannten Indizes, dem<br />
ADL 1 (Katz et al. 1963) und dem Barthel-Index (Mahoney & Barthel 1965) zusammengefasst.<br />
Diese Studien verfolgten das Ziel, <strong>für</strong> jene Lebenssituation Kriterien <strong>für</strong> Hilfe und Unterstützung<br />
festzulegen, <strong>in</strong> der die wesentlichen Akti vitäten des täglichen Lebens nicht mehr ausg eführt<br />
werden können. Diese Indizes haben auch e<strong>in</strong>e Bedeutung im Zusammenhang mit der E<strong>in</strong>führung<br />
des Pfl egegeldes (<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>) erlangt. Die Zuteilung der Patienten zu e<strong>in</strong>er der Pfl egestufen<br />
1 ADL=Activities of Daily Liv<strong>in</strong>g, d.s. Aufstehen, Waschen und Anziehen, Essen und Tr<strong>in</strong>ken, Bewegung. Im Barthel-Index<br />
s<strong>in</strong>d ebenfalls Aktivitäten zum Essen und Tr<strong>in</strong>ken, Baden/Duschen, Körperpfl ege, An- und Ausziehen, Stuhl- und Harnkontrolle,<br />
Mobilität zusammengefasst.<br />
127
ALLTAG IM ALTER<br />
beruht auf dem Grad der Hilfe, die der Patient im täglichen Leben benötigt. Und der Hilfegrad<br />
wird anhand der E<strong>in</strong>geschränktheit <strong>in</strong> den Aktivitäten des täglichen Lebens bestimmt.<br />
Für e<strong>in</strong> Verständnis des Lebensalltags hochaltriger Menschen reicht es jedoch nicht aus, nur<br />
die basalen Alltagsaktivitäten zu be trachten. Aktivitäten des täglichen Lebens können erst aus<br />
dem Zusammenwirken zwischen Ressourcen der Person und Faktoren ihrer Umgebung erklärt<br />
werden (Olbrich & Diegritz 1995). E<strong>in</strong>e wesentliche Umgebungsvariable <strong>für</strong> <strong>Hochaltrige</strong> ist, ob<br />
sie privat oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Heim leben. Die „environmental docility“-Hypothese (Umweltgefügigkeitshypothese)<br />
von M. Powell Lawton (1980) besagt, dass mit verstärkter Bee<strong>in</strong>trächtigung der<br />
personalen Kompetenz im Alter Verhalten und Wohlbefi nden <strong>in</strong> größerem Ausmaß von Umweltfaktoren<br />
abhängig werden. Die empirischen Befunde relativieren den theoretischen Wert der ADL<br />
<strong>für</strong> die Erklärung des Hilfe- und Pfl egebedarfes. E<strong>in</strong>e holländische Studie bei über 85-Jährigen<br />
(Faber et al . 2001), die den funktionalen Status <strong>in</strong> physischer, sozialer und psychokognitiver<br />
H<strong>in</strong>sicht gemessen hat, kommt zu dem Schluss, dass zwar nur bei 10% der <strong>Hochaltrige</strong>n e<strong>in</strong><br />
guter funktionaler Status konstatiert werden konnte. Allerd<strong>in</strong>gs stellt die Studie auch fest, dass<br />
die meisten der Befragten e<strong>in</strong>en guten Status weniger als e<strong>in</strong>en bestimmten Zustand sehen,<br />
sondern vielmehr als e<strong>in</strong>en Proz ess der Anpa ssung, wobei soziale Aspekte u nd Erwartungshaltungen<br />
zum Teil wesentlicher s<strong>in</strong>d als physische Funktionstüchtigkeit.<br />
Wird der Al ltag im Alter über Al ltagskompetenz zu erfassen versucht, dann reicht auch nicht<br />
Bezugnahme auf e<strong>in</strong>en guten Funktionsstatus nach dem ADL-Index aus. Nach neueren Forschungen<br />
wird von e<strong>in</strong>em Zweikomponenten-Modell der Alltagskompetenz ausgegangen, und zwar<br />
der basalen und der er weiterten Alltagskompetenz (Baltes et al. 1 996). Während die ba sale<br />
Kompetenz durch Aktivitäten bestimmt ist, die <strong>für</strong> das tägliche Überleben von Bedeutung s<strong>in</strong>d,<br />
bezieht sich die erweiterte Kompetenz auf Aktivitäten, die von <strong>in</strong>dividuellen Präferenzen und<br />
Zielen bestimmt s<strong>in</strong>d. Dazu gehören soziale und Freizeitaktivitäten.<br />
Gesellschaftspolitisch s<strong>in</strong>d Untersuchungen zum Freizeitverhalten älterer Menschen desh alb<br />
von Bedeutung, weil nachgewiesen werden kann, dass sich e<strong>in</strong> entsprechendes Aktivitätsniveau<br />
günstig auf Lebenszufriedenheit und Gesundheit auswirkt (Rowe & Kahn 1997; Horgas et al. 1998;<br />
Engeln 2003). Darüber h<strong>in</strong>aus führen Freizeitaktivitäten zu sozialer Integration und die Entwicklung<br />
von Fertigkeiten und Fähigkeiten. Für das hohe Lebensalter ergeben sich daraus mehrere<br />
Anforderungen. Zunächst ist die Frage, <strong>in</strong>w ieweit es zu e<strong>in</strong>er Veränderung von Bedürfnissen<br />
kommt bzw. kohortenspezifi sche Bedürfnisse gegeben s<strong>in</strong>d und diese durch die vorhandenen<br />
Freizeitangebote abgedeckt s<strong>in</strong>d. Weiters stellt sich die Frage nach Angeboten unter der Bed<strong>in</strong>gung<br />
gesundheitlicher Veränderungen. E<strong>in</strong>e Reihe von Freizeitaktivitäten ist an Mobilität gebunden.<br />
Wie kann diese Mobilität aufrecht erhalten werden? Inwieweit braucht es Angebote, die darauf<br />
Rücksicht nehmen, dass hochaltrige Menschen drei Viertel ihres Alltags zu Hause verbr<strong>in</strong>gen?<br />
Die nachstehenden Ausführungen beziehen sich auf Freizeitaktivitäten, d.h. auf e<strong>in</strong>e Sammlung<br />
von Aktivitäten, bei denen davon ausg egangen wird, dass sie durch persönliche Präferenzen<br />
und Ziele bestimmt s<strong>in</strong>d. Soziale Aktivitäten bzw. soziale Beziehungen und die Aktivitäten der<br />
128
ALLTAG IM ALTER<br />
basalen Kompetenz s<strong>in</strong>d nicht Bestandteil der folgenden Ausführungen. Sie werden <strong>in</strong> anderen<br />
Kapiteln dieses Berichtes abgehandelt. Diff erenzierter dargestellt werden Fernsehen/Radiohören,<br />
Reisen und Bildung sowie religiöse Beteiligung. Dies liegt e<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong> der besonderen Bedeutung<br />
dieser Aktivitäten im Lebensalltag alter Menschen und andererseits an den verfügbaren<br />
Daten. Die Datenlage ist als äußerst unbefriedigend e<strong>in</strong>zuschätzen. Während die jungen Alten,<br />
bezeichnet auch als 50 plus Generation, zunehmend die Aufmerksamkeit der Freizeit<strong>in</strong>dustrie<br />
auf sich ziehen und beforscht werden, gibt es praktisch ke<strong>in</strong> Wissen über die über 80-Jährigen,<br />
die mehr als e<strong>in</strong> Viertel der 65-Jährigen und Älteren <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> darstellen. Besonders ungünstig<br />
ist die Datenlage h<strong>in</strong>sichtlich des Alltagslebens von Heimbewohnern.<br />
5.2. Soziale Bed<strong>in</strong>gungen von Freizeit- und Kulturaktivitäten<br />
Die neuere gerontologischen Freizeitforschung hebt die eigenständige Dimension der Altersfreizeit<br />
hervor (Tokarski 1989, Kleiber & Ray 1993). Freizeit ist e<strong>in</strong> von der Erwerbsarbeit weitgehend<br />
unabhängiger Lebensbereich. Wenn auch bestimmte <strong>Arbeit</strong>s haltungen und -e<strong>in</strong>stellungen,<br />
welche <strong>in</strong> der <strong>Arbeit</strong>swelt antra<strong>in</strong>iert werden (Leistung, Diszipl<strong>in</strong>, Pfl ichtgefühl), die nichtberufl<br />
ichen Aktivitäten bee<strong>in</strong>fl ussen (z. B. Do-it-yourself-Tätigkeiten), bilden sich <strong>in</strong> der Freizeit<br />
eigene Verhaltensmuster und Lebensstile aus. Der Bedeutungszuwachs der Freizeit im Alter ist<br />
zwar gekoppelt an die Entberufl ichung des Alters, jedoch die Gestaltung der Freizeit selbst ist<br />
nicht durch die ehemaligen <strong>Arbeit</strong>sbed<strong>in</strong>gungen vollkommen determ<strong>in</strong>iert. Dies umso mehr, je<br />
länger die Altersphase dauert. Es ergeben sich subjektive Dispositionsspielräume, die es dem<br />
Menschen gestatten, se<strong>in</strong>e Bedü rfnisse zu befriedigen, sich Wünsche zu erfüllen, und zwar<br />
auch solche, die bisher nicht im Bereich des Möglichen lagen.<br />
E<strong>in</strong> positiver Begriff von Freizeit im Alter, der jenseits von Ausruhen, Eskapismus und Langeweile<br />
liegt, beruht auf Vorstellungen von den Potentialen des Alters. Freizeit zielt nicht auf Existenzsicherung,<br />
sondern auf die Verbesserung der Lebensqualität . Auf Basis e<strong>in</strong>er schwedischen<br />
Längsschnittstudie („Umea 85+“) <strong>für</strong> hochaltrige Personen zeigt Silverste<strong>in</strong> (2002), dass e<strong>in</strong>e<br />
Verstärkung von Freizeitaktivitäten als adaptive Strategie gesehen werden k ann, um soziale<br />
und physische Defi zite zu kompensieren. Dieser Eff ekt ist besonders stark <strong>für</strong> hochaltrige verwitwete<br />
Männer, die wenig Kontakte zu Familienangehörigen auf weisen und gesundheitlich<br />
e<strong>in</strong>geschränkt s<strong>in</strong>d. Allerd<strong>in</strong>gs gilt nicht allgeme<strong>in</strong>, dass e<strong>in</strong> höheres Aktivitätsniveau besser<br />
ist. Denn weitere Auswertungen brachten das Ergebnis, dass etwa Kochen oder Gartentätigkeit<br />
ke<strong>in</strong>e positiven Gesundheits eff ekte aufweisen (Nilsson et al. 2006).<br />
Untersuchungen der Berl<strong>in</strong>er Altersstudie BASE zu den Aktivitätsprofi len <strong>Hochaltrige</strong>r (85 Jahre<br />
und älter) zeigen (Horgas et al . 1998), dass diese 19 % ihrer Wachzeit mit obligatorischen alltäglichen<br />
Aufgaben wie Aufstehen, Morgenpfl ege, Essen und leichten h auswirtschaftlichen<br />
Tätigkeiten verbr<strong>in</strong>gen, weitere 13% werden komplexeren Haus arbeiten gewidmet (z. B. Reparaturen).<br />
7% des Tagesablaufs werden <strong>für</strong> soziale Aktivitäten aufgewendet, 26% der Zeit s<strong>in</strong>d<br />
dem Ausruhen gewidmet und 35 Prozent werden schließlich <strong>für</strong> Freizeitaktivitäten und aktive<br />
Fortbewegung gewidmet. Gegenüber der Gru ppe der 7 0-84-Jährigen kommt es vor allem zu<br />
129
ALLTAG IM ALTER<br />
e<strong>in</strong>er Verschiebung von aktiver Freizeit h<strong>in</strong> zu Ausruhen. Während bei den 70-84-Jährigen 12%<br />
der Tageszeit dem Ausruhen gewidmet s<strong>in</strong>d, liegt der Anteil bei den 85-Jährigen und älteren bei<br />
25%. Geschlechts unterschiede zeigen sich dar<strong>in</strong>, dass Männer mehr Zeit mit Freizeitaktivitäten<br />
verbr<strong>in</strong>gen (41%:35%) und Frauen mehr Zeit <strong>für</strong> komplexere Hausarbeiten (18%:12%) aufwenden<br />
(Baltes et al. 1996).<br />
E<strong>in</strong> Großteil der Freizeitaktivitäten ist alterskorreliert, d.h., je älter jemand ist, desto ger<strong>in</strong>ger<br />
ist das durchschnittliche Niveau der allgeme<strong>in</strong>en Ausübung von Freizeitaktivitäten. Mayer und<br />
Wagner (1996) fanden <strong>in</strong> der Berl<strong>in</strong>er Altersstudie e<strong>in</strong>en deutlichen statistischen Zusammenhang<br />
zwischen diesen beiden Faktoren. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Vier-Länder-Studie<br />
mit zwei Messzeitpunkten Mollenkopf und Ruoppila (2000). Auch <strong>in</strong> dieser Untersuchung g<strong>in</strong>g<br />
mit höherem Alter die Beteiligu ng an Freizeitaktivitäten zurück. Doch dieser Zusammenhang,<br />
der alle<strong>in</strong> auf Alter und Aktivität beruht, verdeckt sowohl die verschiedenen sozioökonomischen<br />
Faktoren, die moderierend w irken, als auch die bet rächtliche Variabilität <strong>in</strong>nerhalb des Freizeitverhaltens.<br />
So stehen das Interesse an kulturellen Veranstaltungen und die Häufi gkeit der<br />
Besuche pro Jahr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em deutlichen Zusammenhang mit der Schichtzugehörigkeit. Der Anteil<br />
soziokulturell <strong>in</strong>aktiver <strong>Hochaltrige</strong>r beträgt <strong>in</strong> der Unterschicht 28% und <strong>in</strong> der oberen Mittelschicht<br />
4% (Mayer & Wagner 1996). Kulturelle Beteiligung ist also deutlich schichtabhängig. Den<br />
stärksten E<strong>in</strong>fl uss auf Kulturaktivitäten hat der Faktor Schulbildung. Je höher die Schulbildung,<br />
desto häufi ger die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen. Im Medienkonsum, bei Bewegungsaktivitäten<br />
mit niedriger Zugangsschwelle (z. B. Spazierengehen) und bei religiösen Aktivitäten<br />
s<strong>in</strong>d sowohl ger<strong>in</strong>ge Unterschiede nach dem Lebensalter als auch nach Schichtzugehörigkeit<br />
gegeben (Stra<strong>in</strong> et al. 2002).<br />
Für <strong>Österreich</strong> liegen Daten zu den Freizeitaktivitäten im Alter aus der Umfrage „Generation 50<br />
Plus“ des Fessel-GfK Instituts <strong>für</strong> Marktforschung aus dem Jahre 2006 vor. Die Tabelle zeigt, dass<br />
die konsumtiven Beschäftigungen die vordersten Rangplätze <strong>in</strong> der Freizeitnutzung e<strong>in</strong>nehmen<br />
und als alltagsbestimmend e<strong>in</strong>geschätzt werden können: es s<strong>in</strong>d dies bei den <strong>Hochaltrige</strong>n<br />
Fernsehen, Radio hören, Zeitungen, Zeitschriften, Illustrierte lesen. Zu e<strong>in</strong>em ähnlichen Ergebnis<br />
kommen Studien <strong>in</strong> den USA (McGuire et al. 2000), Kanada (Stra<strong>in</strong> et al. 2002), Schweden<br />
(Nilsson et al. 2006), Deutsch land (Mayer & Wagner 1996) und <strong>in</strong> der Schweiz (Höpfl <strong>in</strong>ger &<br />
Stuckelberger 1999). E<strong>in</strong>e weitere Gruppe von Aktivitäten wird weniger häufi g ausgeübt, zählt<br />
aber auch bei rund der Hälfte der <strong>Hochaltrige</strong>n zum Aktivitätsprofi l. Dazu gehören Tätigkeiten,<br />
die mit Bewegung und aktivem Handeln verknüpft s<strong>in</strong>d wie etwa Heimwerken oder e<strong>in</strong>em Hobby<br />
nachgehen, Gartenarbeit, auf den Friedhof gehen. Von ger<strong>in</strong>gerer Bedeutung s<strong>in</strong>d kulturelle und<br />
Sportaktivitäten. Sie gehören nicht zum Alltag im Alter. Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch<br />
<strong>für</strong> Schweden (Nilsson et al. 2006)<br />
Im Vergleich der Altersgruppen ist erwartungsgemäß e<strong>in</strong> deutlicher Rückgang bei zahlreichen<br />
Aktivitäten gegeben. Es kommt <strong>in</strong>sgesamt zu e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>engung des Aktivitäts spektrums, was auch<br />
durch andere Forschungen bestätigt wird (Iso-Ahola et al. 1994; Mayer & Wagner 1996; Horgas<br />
et al. 1998). Dazu kommt, dass <strong>Hochaltrige</strong> weniger häufi g Freizeitaktivitäten, die aufgegeben<br />
130
ALLTAG IM ALTER<br />
werden, durch andere ersetzen (Stra<strong>in</strong> et al. 2002). Die Reduktion der Freizeitaktivitäten hat mit<br />
dem Gesundheitszustand zu tun. So gehen <strong>Hochaltrige</strong> weniger <strong>in</strong>s Konzert, <strong>in</strong> Ausstellungen,<br />
<strong>in</strong>s Theater und betreiben weniger Sport, wenn sie gesundheitlich e<strong>in</strong>geschränkt s<strong>in</strong>d, d.h. im<br />
ADL-Index e<strong>in</strong>en ungünstigeren Wert aufweisen. Stra<strong>in</strong> et al. (2002) zeigen auf Basis ihrer Längsschnittstudie,<br />
dass die ger<strong>in</strong>gere Zahl an Freizeitaktivitäten bei den <strong>Hochaltrige</strong>n weni ger auf<br />
ihren Ausgangsgesundheits zustand zurückzuführen ist, sondern vielmehr auf gesundheitliche<br />
Veränderungen <strong>in</strong> der Beobachtungsperiode. Aber nicht nur objektive Veränderungen der Gesundheit<br />
s<strong>in</strong>d von Bedeutung <strong>für</strong> das Freizeitverhalten, sondern auch die subjektive E<strong>in</strong>schätzung<br />
der Gesundheit. Erwartungsgemäß wirkt sich dabei e<strong>in</strong>e gute subjektive Gesundheit vor allem<br />
auf Aktivitäten aus, welche physische Anstrengungen oder Mobilität voraussetzen (Höpfl <strong>in</strong>ger<br />
& Stuckelberger 1999).<br />
Tabelle 1: Häufi gkeit ausgewählter Freizeitaktivitäten nach Altersgruppen und Geschlecht,<br />
<strong>Österreich</strong> 2006, n=1.015 50-Jährige und ältere<br />
Insgesamt 50-59 60-69<br />
70-79 80+<br />
Alle m w m w m w m w m w<br />
Fernsehen* 98 98 97 95 96 99 96 99 98 99 96<br />
Radiohören* 91 91 91 94 93 91 93 91 87 79 85<br />
Zeitungen/Zeitschriften lesen* 91 93 89 91 90 93 87 94 87 93 93<br />
Ausruhen** 76 78 74 75 68 78 72 82 80 84 86<br />
Hobby nachgehen** 71 75 68 76 73 80 77 71 59 61 49<br />
Heimwerken** 63 68 60 73 68 76 59 59 58 43 44<br />
E<strong>in</strong>kaufsbummel** 61 56 66 63 76 57 69 44 60 43 48<br />
Auf den Friedhof gehen** 55 43 64 33 58 50 66 43 75 57 60<br />
Gartenpflege** 53 51 55 56 61 51 59 46 59 28 43<br />
Bücher lesen** 53 48 56 48 54 50 65 43 47 54 51<br />
Musik hören** 50 52 48 62 62 48 55 46 31 39 23<br />
Ausflüge unternehmen** 48 50 46 52 49 56 51 43 45 36 27<br />
mit Haustieren beschäftigen** 47 47 48 41 55 53 52 43 37 32 33<br />
selbst Sport betreiben** 41 44 39 54 51 46 45 31 24 32 17<br />
Handarbeiten/Basteln** 33 20 43 23 43 20 46 19 44 18 33<br />
Fotografieren/Filmen** 22 28 17 32 19 33 22 16 14 20 4<br />
im Internet surfen** 20 20 11 30 24 22 7 8 1 2 1<br />
Konzerte/Theater/Oper gehen** 18 16 20 17 23 17 25 13 16 9 6<br />
Musizieren** 14 12 15 12 14 11 17 11 19 11 8<br />
Ausstellungen besuchen** 11 10 12 12 12 10 15 8 12 4 4<br />
Quelle: Studie Generation 50 Plus 2006 der Fessel-GfK Marktforschung Ges.m.b.H.; eigene Berechnungen<br />
* Aktivität mehrmals wöchentlich oder häufi ger; ** Aktivität e<strong>in</strong>mal im Monat oder häufi ger<br />
E<strong>in</strong>en deutlichen E<strong>in</strong>fl uss auf Aktivitäten wie Theater- und Ausstellungsbesuch sowie Musi zieren<br />
und Bücherlesen übt das Schulbildungsniveau aus. <strong>Hochaltrige</strong> weisen e<strong>in</strong>en niedrigeren<br />
Bildungsstand auf (siehe weiter unten) und haben deshalb im Vergleich zu den 50-59-Jährigen<br />
e<strong>in</strong>e signifi kant niedrigere Beteiligung an den genannten Aktivitäten. E<strong>in</strong>e Reihe von Aktivitäten<br />
131
ALLTAG IM ALTER<br />
ist <strong>in</strong> umgekehrter Form bildungs- bzw. schichtkorreliert. Dazu gehören Aktivitäten wie Heimwerken,<br />
Handarbeiten/Basteln, Friedhofs besuche, Kochen und E<strong>in</strong>kaufsbummel machen. Diese<br />
Aktivitäten s<strong>in</strong>d zwar im Altersgruppen vergleich mit Ausnahme der Friedhofsbesuche rückläufi g,<br />
werden jedoch von Personen aus der E-Schicht („<strong>Arbeit</strong>erschicht„) häufi ger ausgeübt als von<br />
Personen der A-Schicht („Mittelschicht“). Die Beschäftigung mit Haustieren und im Garten ist<br />
nicht schichtabhängig.<br />
Zwischen Frauen und Männern zeigt die Tabelle Unterschiede dah<strong>in</strong>gehend, dass Männer häufi<br />
ger Hobbys nachgehen, häufi ger Musik hören, Ausfl üge unternehmen, Sport betreiben und<br />
Fotografi eren, während die hochaltrigen Frauen vergleichsweise häufi ger Radio hören, e<strong>in</strong>en<br />
E<strong>in</strong>kaufsbummel unternehmen, im Garten tätig s<strong>in</strong>d und Handarbeiten/Basteln.<br />
Mobilitätse<strong>in</strong>schränkungen und gesundheitliche Bed<strong>in</strong>gungen führen bei den über 80-Jährigen<br />
zu e<strong>in</strong>er stärker häuslichen Lebensform, die sich auch im Freizeitverhalten widerspiegelt. Lesen<br />
ist jene Aktivität, die von den Älteren am h äufi gsten als Liebl<strong>in</strong>gsbeschäftigung <strong>in</strong> der Freiz eit<br />
angegeben wird. Wer immer schon viel <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben gelesen hat, wird im Alter die zusätzliche<br />
freie Zeit noch mehr zum Lesen (Kolland 1996).<br />
Der Typ an Freizeitaktivitäten, der von älteren Menschen ausgewählt wird, hängt auch von gesellschaftlichen<br />
Fremd- bzw. Selbsterwartungen ab. E<strong>in</strong> negatives Altersbild führt – übernommen <strong>in</strong>s<br />
eigene Selbstbild – zu e<strong>in</strong>em eher passiven Freizeiterleben (Cutler & Hendricks 1990). Je höher<br />
jemand se<strong>in</strong>e Kompetenz e<strong>in</strong>schätzt bzw. je höher er von signifi kanten Anderen als kompetent<br />
e<strong>in</strong>geschätzt wird, desto höher ist se<strong>in</strong> Aktivitätsniveau (Sneegas 1986). In der Studie Generation<br />
50 Plus wurde die Aussage vorgegeben: „Ich fühle mich jünger als ich b<strong>in</strong>“. Und hier zeigt sich,<br />
dass Personen mit e<strong>in</strong>em pos itiven Altersselbstbild deutlich häufi ger Sport betreiben, Musik<br />
hören, auf Ausfl üge gehen, sich im Garten betätigen oder Heimwerken und Hobbys nachgehen.<br />
Umgekehrt: Bei e<strong>in</strong>em positiven Altersselbstbild fi ndet sich weniger der Friedhofsbesuch und<br />
wird weniger angegeben, sich „auszuruhen“. Ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fl uss hat das Altersselbstbild auf Fernsehen,<br />
Radiohören und Zeitung lesen.<br />
Die Messungen von Aktivitäten bzw. Zeitbudgetstudien geben zwar Aufschluss über das Ausmaß<br />
gesellschaftlicher Beteiligung und die Struktur im Tages- und Wochenrhythmus, aber sie geben<br />
ke<strong>in</strong>en Aufschluss über die <strong>in</strong>ter<strong>in</strong>dividuellen Schwankungsbreiten, die sich <strong>in</strong> bestimmten Freizeitstilen<br />
niederschlagen. Kennzeichnend ist <strong>für</strong> diese Freizeitstile, dass <strong>in</strong> ihnen sozial Typisiertes<br />
und unverwechselbar Individuelles zusammentreff en. E<strong>in</strong>e Variation <strong>in</strong> den Fr eizeit stilen ergibt<br />
sich aufgrund der erheblichen Spannweite der Gruppe der Älteren, die von den aktiven, gesunden<br />
bis zu den pfl egebedürftigen, weniger aktiven Älteren reicht. Dazu kommen sehr unterschiedliche<br />
ökonomische Lebensbed<strong>in</strong>gungen und kulturellkognitive Ressourcen (z. B. Fremdsprachenkompetenz,<br />
Kommunikationsfähigkeit). Besonders die k ulturellkognitiven Ressourcen verstärken<br />
die Ausbildung unterschiedlicher Altersfreizeitstile. Je diff erenzierter die k ulturellkognitiven<br />
Ressourcen, desto w ahrsche<strong>in</strong> licher s<strong>in</strong>d Freizeitformen <strong>in</strong> Richt ung auf e<strong>in</strong>e bewus ste Stilisierung<br />
des Lebens.<br />
132
5.3. Mediennutzung<br />
ALLTAG IM ALTER<br />
Die Älteren s<strong>in</strong>d – wie bereits au sgeführt – <strong>in</strong>tensive Nutzer der M assenmedien. Fernsehen,<br />
Radio und Pr<strong>in</strong>tmedien bee<strong>in</strong>fl ussen die Freizeitstruktur vieler Menschen, <strong>in</strong>dem zu bestimmten<br />
Tageszeiten, die auf Dauer festg elegt s<strong>in</strong>d oder we rden, die Tageszeitung gelesen wird, bestimmte<br />
Sendungen (z. B. Zeitgeschehen) im Fernsehen verfolgt oder im Radio gehört werden.<br />
Sie bee<strong>in</strong>fl ussen nicht nur die Zeitstruktur, aus ihnen heraus entstehen auch noch abgeleitete<br />
Tätigkeiten – etwa Kreuzworträtsel lösen, Schach spielen; im Zusammenhang mit Fernsehen<br />
etwa auch da s Anlegen e<strong>in</strong>er Videothek etc. Die Massenmedien verändern des Weiteren die<br />
Kommunikationsstruktur, denn die Medien kommunikation ist nicht nur <strong>für</strong> Alle<strong>in</strong>lebende,<br />
sondern <strong>für</strong> die überwiegende Mehrheit der älteren Men schen Teil ihrer Alltagskommunikation.<br />
Mediennutzung hängt auch mit aktiver Freizeitbeteiligung außer Haus zusammen, und zwar<br />
<strong>in</strong> der Weise, dass jene Älteren, die außer Haus aktiver s<strong>in</strong>d, jene s<strong>in</strong>d, die auch die Medien<br />
häufi ger nutzen (Mayer & Wagner 1996).<br />
Durch die Verbreitung der Massenmedien hat die eigene Wohnung als Ort der Freizeitgestaltung<br />
entscheidend an Geltung gewonnen. Die eigenen vier Wände wurden zu e<strong>in</strong>em Platz, der e<strong>in</strong><br />
immer vielseitigeres Privatleben zuließ. Beg<strong>in</strong>n dieser Pri vatisierung der Freiz eit war die Verlagerung<br />
des Fernsehens aus den Gasthäusern <strong>in</strong> die Wohnzimmer. Hörfunk, Fernsehen und<br />
Presse erreichen heute die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung.<br />
5.3.1. Fernsehen<br />
Der durchschnittliche tägliche Fernsehkonsum beträgt nach dem Teletest 2006 2 bei den 50-59-Jährigen<br />
3 Stunden und 24 M<strong>in</strong>uten, bei den 60- 74-Jährigen 3 Stunden und 58 M<strong>in</strong>uten u nd bei<br />
den 80-Jährigen und Älteren 4 Stunden und 31 M<strong>in</strong>uten. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung<br />
sehen Menschen ab 50 Jahre damit überdurchschnittlich viel fern, 2006 nämlich <strong>in</strong> der Gruppe<br />
der 50-59-Jährigen um 39 M<strong>in</strong>uten mehr , die 60-74-Jährigen um 1 Stunde und 15 M<strong>in</strong>uten u nd<br />
die 80-Jährigen und Älteren 1 Stunde und 48 M<strong>in</strong>uten. Ältere Zuschauer/<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d bei den Sehdauerwerten<br />
gegenüber allen anderen Altersgruppen führend. Die „alten Alten“ s<strong>in</strong>d besonders<br />
<strong>in</strong>tensive Fernsehnutzer/<strong>in</strong>nen. Neben dem Alter hat auch das Geschlecht e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fl uss auf die<br />
Sehdauer. So sehen Frauen an Werktagen mehr fern als Männer, letztere übertreff en da<strong>für</strong> Frauen<br />
beim Fernsehkonsum an Samstagen und Sonntagen. Die <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> feststellbare höhere<br />
Fernsehnutzung der älteren Frauen (bei den <strong>Hochaltrige</strong>n mehr als e<strong>in</strong>e Stunde) ist erklärungsbedürftig,<br />
nachdem <strong>in</strong> älteren Freizeitstudien darauf verwiesen wird (vgl. Tokarski 1989), dass<br />
2 Die Daten wurden freundlicherweise von der ORF-Medienforschung zur Verfügung gestellt. Allerd<strong>in</strong>gs muss darauf<br />
h<strong>in</strong>gewiesen werden, dass die Fallzahlen <strong>für</strong> den Teletest bei den über 80-Jährigen (n=103 Personen) sehr ger<strong>in</strong>g s<strong>in</strong>d.<br />
E<strong>in</strong> größere Fallzahl ist <strong>für</strong> die Gruppe der 75-Jährigen und Älteren gegeben (n=221 Personen). Ähnliches gilt <strong>für</strong> den<br />
Radiotest, wo die Fallzahl der 80-Jährigen und älteren rund 500 Personen beträgt.<br />
133
ALLTAG IM ALTER<br />
ältere F rauen a ufgrund ihrer stärkeren Beschäftigung im Haush alt und mit haushaltsnahen<br />
Tätigkeiten (z. B. Handarbeiten) weniger fernsehen als ältere Männer. E<strong>in</strong>e mögliche Erklärung<br />
liegt dar<strong>in</strong>, dass Frauen häufi ger tagsüber fernsehen und dies öfter <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit Haushaltstätigkeiten<br />
(z. B. Bügeln) tun.<br />
Die folgende Tabelle zeigt, dass im Zeitverlauf (1998-2006) die tägliche Nutzungszeit des Fernsehens<br />
zunächst etwas abgenommen hat, ab 2002 aber e<strong>in</strong>en steten Zuwachs aufweist. Im Vergleich<br />
zu den 50-59-Jährigen ist der Zuwachs sogar deutlich höher. E<strong>in</strong> Grund dürfte wohl dar<strong>in</strong><br />
liegen, dass die <strong>Hochaltrige</strong>n noch <strong>in</strong> sehr ger<strong>in</strong>gem Ausmaß das Internet nutzen. E<strong>in</strong> weiterer<br />
Grund ist, dass zunehmend Menschen <strong>in</strong>s hohe Al ter kommen, die e<strong>in</strong>e lang e Erfahrung mit<br />
Fernsehen haben.<br />
134<br />
Tabelle 2: Tägliche Nutzungszeit des Fern sehens <strong>in</strong> M<strong>in</strong>uten (n=3.160; 1997-2006)<br />
Insgesamt<br />
Altersgruppen<br />
TV gesamt: Erwachsene 12+ 50-59 60-74 75+ 80+<br />
1998 142 166 233 224 203<br />
2000 148 172 224 209 177<br />
2002 162 192 233 231 215<br />
2004 164 203 230 248 239<br />
2006* 163 204 238 257 271<br />
Quelle: ORF Teletest (siehe Fußnote 2) Jahresbericht 1998; * Jänner-November<br />
Auf den ersten Blick könnte die <strong>in</strong>tensive Fernsehnutzung hochaltriger Menschen zu e<strong>in</strong>er kritischen<br />
E<strong>in</strong>schätzung führen, weil daraus abgeleitet wird, dass alte Menschen herumsitzen und<br />
nichts tun. Auf e<strong>in</strong>en zweiten Blick, so Horgas et al. (1998), kann Fernsehen als e<strong>in</strong>e positive<br />
Aktivität e<strong>in</strong>geschätzt werden, weil alte Menschen, die <strong>in</strong> Pfl egeheimen leben, wenig er fernsehen<br />
als Personen, die zu Hause leben. In diesem S<strong>in</strong>n wäre Fernsehen verknüpft mit e<strong>in</strong>er<br />
unabhängigen Lebensführung. Off en bleibt allerd<strong>in</strong>gs, und dazu s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Daten vorhanden,<br />
wie das F ernsehen selbst gestaltet wird, ob es si ch um e<strong>in</strong> passives Dabeise<strong>in</strong> oder aktives<br />
Zusehen handelt oder ob gleich zeitig andere Tätigkeiten ausgeübt werden.<br />
Die nachfolgende Grafi k gibt Aufschluss ü ber das Fernsehverhalten im Verlauf e<strong>in</strong>es Tages.<br />
Dabei zeigen sich zwei Trends: Je älter, desto mehr wird ferngesehen und desto früher beg<strong>in</strong>nt<br />
die Fernsehnutzung.
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Intervall 03:00:00-03:05:00<br />
Intervall 03:30:00-03:35:00<br />
Intervall 04:00:00-04:05:00<br />
Intervall 04:30:00-04:35:00<br />
Intervall 05:00:00-05:05:00<br />
Intervall 05:30:00-05:35:00<br />
Intervall 06:00:00-06:05:00<br />
Intervall 06:30:00-06:35:00<br />
Abbildung 1: Tagesreichweite des Fern sehens am 1.11.2006<br />
Durchschnittliche RW (<strong>in</strong> %.) - 5 M<strong>in</strong>. Intervalle (1-11 2006)<br />
Intervall 07:00:00-07:05:00<br />
Intervall 07:30:00-07:35:00<br />
Intervall 08:00:00-08:05:00<br />
Intervall 08:30:00-08:35:00<br />
Intervall 09:00:00-09:05:00<br />
Intervall 09:30:00-09:35:00<br />
Intervall 10:00:00-10:05:00<br />
Intervall 10:30:00-10:35:00<br />
Intervall 11:00:00-11:05:00<br />
Intervall 11:30:00-11:35:00<br />
Intervall 12:00:00-12:05:00<br />
Intervall 12:30:00-12:35:00<br />
Intervall 13:00:00-13:05:00<br />
Intervall 13:30:00-13:35:00<br />
Quelle: ORF-Teletest (siehe Fußnote 2). Achsen: x-Achse: Tageszeiten y-Achse: Reichweite (Ausübende) <strong>in</strong> %.<br />
Intervall 14:00:00-14:05:00<br />
Intervall 14:30:00-14:35:00<br />
ALLTAG IM ALTER<br />
Zwischen älteren Frauen und älteren Männern bestehen ger<strong>in</strong>gfügige Unterschiede dergestalt,<br />
dass die 50-70-Jährigen Männer im Vergleich zu den Frauen etwas früher fernzusehen beg<strong>in</strong>nen<br />
und etwas später den Fernsehabend beenden. Bei den über 80-Jährigen s<strong>in</strong>d kaum mehr<br />
Unterschiede nach dem Geschlecht gegeben.<br />
Bei den am h äufi gsten gesehenen Sendungen unterscheiden sich die über 80-Jährig en nicht<br />
signifi kant von der Gruppe der 60-79-Jährigen. Die höchste Tagesreichweite weist die Sendung<br />
„Zeit im Bild“, danach folgen weitere Informationssendungen. Die Mehrheit der <strong>Hochaltrige</strong>n wird<br />
also durch diesen Sendungstyp erreicht, und zwar <strong>in</strong> der Zeit zwischen 19.00 und 22.00 Uhr. Die<br />
<strong>Hochaltrige</strong>n suchen über das Fernsehen e<strong>in</strong>en Zugang zum gesellschaftlich-politischen Geschehen<br />
und sie suchen Entspannung.<br />
Intervall 15:00:00-15:05:00<br />
Intervall 15:30:00-15:35:00<br />
Intervall 16:00:00-16:05:00<br />
Intervall 16:30:00-16:35:00<br />
Intervall 17:00:00-17:05:00<br />
Intervall 17:30:00-17:35:00<br />
Intervall 18:00:00-18:05:00<br />
Intervall 18:30:00-18:35:00<br />
Intervall 19:00:00-19:05:00<br />
Intervall 19:30:00-19:35:00<br />
Intervall 20:00:00-20:05:00<br />
Intervall 20:30:00-20:35:00<br />
Intervall 21:00:00-21:05:00<br />
Intervall 21:30:00-21:35:00<br />
Intervall 22:00:00-22:05:00<br />
Intervall 22:30:00-22:35:00<br />
Intervall 23:00:00-23:05:00<br />
Intervall 23:30:00-23:35:00<br />
Intervall 24:00:00-00:05:00<br />
Intervall 00:30:00-00:35:00<br />
E12+ Jahre<br />
75+ Jahre<br />
80+ Jahre<br />
Intervall 01:00:00-01:05:00<br />
Intervall 01:30:00-01:35:00<br />
Intervall 02:00:00-02:05:00<br />
Intervall 02:30:00-02:35:00<br />
135
ALLTAG IM ALTER<br />
Tabelle 3: Die zehn TV-Sendungen mit der größten Reichweite (Jänner-November 2006); 80+<br />
Nr. Send. Sendung Datum Zeit Dauer RW % RW<br />
Tsd.<br />
MA %<br />
1. ORF ZEIT IM BILD 1 Mo., 23.10.06 19:30 00:19 66,8 189 85<br />
2. ORF2 BUNDESLAND HEUTE Mo., 23.10.06 19:00 00:21 65,2 185 85<br />
3. ORF2<br />
THEMA SPEZIAL NATASCHA KAMPUSCH<br />
Mi., 06.09.06<br />
DAS ERSTE INTERVIEW<br />
20:15 00:47 60,2 164 81<br />
4. ORF2 ZEIT IM BILD 1 NATIONALRATSWAHL 2006So., 01.10.06 19:44 00:16 52,6 147 78<br />
5. ORF2 MUSIKANTENSTADL Sa., 18.11.06 20:15 02:38 50,4 144 78<br />
6. ORF2 NARRISCH GUAT Sa., 25.02.06 20:14 01:39 53,8 139 81<br />
7. ORF2 THEMA SPEZIAL Do., 24.08.06 20:15 00:42 49,7 135 73<br />
8. ORF1 VILLACHER FASCHING 2006 Di., 28.02.06 20:15 01:59 48,6 129 67<br />
9. ORF2 NATIONALRATSWAHL 2006 So., 01.10.06 19:00 00:24 44,7 125 73<br />
10. ORF2 KRONPRINZ RUDOLF I So., 30.04.06 20:14 01:28 45,1 124 69<br />
Quelle: ORF Teletest (siehe Fußnote 2)<br />
5.3.2. Radio hören<br />
E<strong>in</strong>e im Vergleich zum Fernsehen deutlich unter schiedliche Nutzung nach Altersgruppen zeigt<br />
sich <strong>für</strong> das Radiohören. Auf Basis des Radiotests 2006, an dem sich 24.000 Personen ab 14<br />
Jahren beteiligt haben, nimmt das Radiohören im Altersgruppenvergleich deutlich ab 3 . Während<br />
unter den 60-69-Jährigen die Hördauer bei 3 Stunden und 36 M<strong>in</strong>uten lag, betrug die Hördauer<br />
bei den 70-79-Jährigen 2 Stunden und 36 M<strong>in</strong>uten und bei den 80-Jährigen und Älteren 2 Stunden<br />
und 23 M<strong>in</strong>uten. Werden von den 60-69-Jährigen im Laufe des Tages vom Radio rund 86%<br />
erreicht, geht diese Zahl bei den 70-79-Jährigen auf 76% und bei den 80-Jährigen und Älteren<br />
auf 69% zurück. Am häufi gsten werden von den über 80-Jährigen die Regionalsender des ORF<br />
gehört. Dies gilt auch <strong>für</strong> die 60-79-Jährigen. Allerd<strong>in</strong>gs weisen letztere e<strong>in</strong>e breitere Radionutzung<br />
auf. Unter den 60-79-Jährigen ist der Anteil der Ö3-Hörer mehr als doppelt so hoch wie<br />
bei den über 80-Jährigen, und es ist auch der Anteil der Hörer von privaten Sendern fast dreimal<br />
höher. Nach Schulbildungsabschlüssen zeigt sich im Altersgruppenvergleich, dass im hohen<br />
Alter <strong>in</strong> der Hörerstruktur die Anteile der Pfl ichtschulabsolventen und Maturanten zunehmen,<br />
während der Anteil der Hörer unter den Berufs-/Fachschulabgängern zurückgeht. Dies hat zum<br />
Teil mit kohortenbed<strong>in</strong>gten Veränderungen der Schulbildungsabschlüsse zu tun, d.h. mit der<br />
ger<strong>in</strong>geren Schulbildung der ältesten Jahrgänge.<br />
3 Die Daten wurden von der ORF-Radioforschung zur Verfügung gestellt.<br />
136
Viertelstundenreichweiten <strong>in</strong> %<br />
ALLTAG IM ALTER<br />
Abbildung 2: Viertelstundenreichweiten des Radios im Altersgruppenvergleich 2006<br />
Quelle: ORF-Radioforschung, Radiotest Ganzjahr 2006, n=24.000 Personen 10 Jahre und älter, <strong>Österreich</strong>, Nutzung: Montag-<br />
Sonntag<br />
50<br />
45<br />
40<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
5.00 - 5.15<br />
6.00 - 6.15<br />
7.00 - 7.15<br />
8.00 - 8.15<br />
Die Radionutzungskurve aller Radiohörer/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> ab 10 Jahren zeigt zwischen 7.00<br />
und 8.15 Uhr die höchste Radionutz ung des Tages, gefolgt von e<strong>in</strong>er Mitt agsspitze (12/12.15<br />
Uhr). Bei den Radiohörer/<strong>in</strong>nen ab 60 Jahren erkennt man e<strong>in</strong>e stark ausgeprägte Morgenspitze<br />
(8/8.15 Uhr) und e<strong>in</strong>e etwas darunter liegende Mittagsspitze (12/12.15 Uhr), deren beide Werte<br />
über jener der Radiohörer/<strong>in</strong>nen ab 10 Jahren liegt. Vergleicht man die Radionutzung <strong>in</strong> den älteren<br />
Altersgruppen, dann zeigt sich wohl h<strong>in</strong>sichtlich der E<strong>in</strong>schaltzeiten kaum e<strong>in</strong> Unterschied<br />
zwischen <strong>Hochaltrige</strong>n und 60-79-Jährigen, jedoch die deutlich ger<strong>in</strong>gere Nutzung des Radios<br />
durch die <strong>Hochaltrige</strong>n. Notwendig wären hier Studien, die sich mit dem Zusammenhang von<br />
Radionutzung und Hörfähigkeit im hohen Alter befassen.<br />
5.3.3. Neue Medien<br />
9.00 - 9.15<br />
10.00 - 10.15<br />
11.00 - 11.15<br />
12.00 - 12.15<br />
13.00 - 13.15<br />
14.00 - 14.15<br />
15.00 - 15.15<br />
16.00 - 16.15<br />
17.00 - 17.15<br />
18.00 - 18.15<br />
19.00 - 19.15<br />
20.00 - 20.15<br />
60 Jahre - 69 Jahre 70 Jahre - 79 Jahre 80 Jahre+<br />
Radio gesamt<br />
21.00 - 21.15<br />
Nach dem Austrian Internet Monitor 2. Quartal 2007 verfügten 62% der österreichischen Haushalte<br />
über e<strong>in</strong>en Internetzugang. In zwei Drittel der Haushalte wird das Internet zum<strong>in</strong>dest mehrmals<br />
pro Woche genutzt. Männer nutzen das Internet häufi ger als Frauen und Personen mit mittlerer<br />
Schulbildung häufi ger als jene mit Matura oder Pfl ichtschulabschluss.<br />
137
ALLTAG IM ALTER<br />
Die <strong>für</strong> diesen Bericht zur Verfügung stehenden Daten von Fessel+GfK zeigen <strong>für</strong> 2006, dass<br />
fast die Hälfte der 50-59-Jährigen e<strong>in</strong>en Internetzugang im Haushalt hat, während dies bei den<br />
<strong>Hochaltrige</strong>n nur <strong>in</strong> jedem zehnten Haushalt der Fall ist. Deutlich stärker ist die Verbreitung des<br />
Mobiltelefons.<br />
138<br />
Tabelle 4: Besitz und Nutzung Neuer Medien nach Altersgruppen<br />
Insgesamt 50-59 60-69 70-79 80+<br />
Im Haushalt:<br />
Handy 76 94 80 58 40<br />
Computer 36 59 35 15 11<br />
Internet<br />
Internetnutzung:<br />
28 47 24 11 8<br />
Emails senden 20 36 18 5 2<br />
Surfen 18 32 16 5 2<br />
Suchmasch<strong>in</strong>en nutzen 17 29 15 5 2<br />
Reise<strong>in</strong>formationen 12 20 13 3 0<br />
Reisebuchung 6 11 6 0 0<br />
Onl<strong>in</strong>e-Bank<strong>in</strong>g 9 17 7 2 0<br />
Quelle: Studie Generation 50 Plus 2006 der Fessel-GfK Marktforschung Ges.m.b.H.; eigene Berechnungen<br />
Die Nutzung des Internet ist vor allem kommunikationsorientiert. Primär wird Internet genutzt<br />
zum Empfangen und Versenden von E-Mails. An zweiter Stelle steht die Informationssuche im<br />
Zusammenhang mit Waren oder Dienstleistungen. Die spezifi sche, sachbezogene Informationssuche<br />
er sche<strong>in</strong>t ebenfalls unter den meistgenannten Nutzungszwecken. Die feh lende<br />
Nutzung des Internet <strong>für</strong> Reise<strong>in</strong>formationen bzw. -buchung bei den <strong>Hochaltrige</strong>n hat auch mit<br />
der ger<strong>in</strong>gen Reise<strong>in</strong>tensität zu tun.<br />
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die „alten“ Medien der Massenkommunikation<br />
e<strong>in</strong>en wesentlichen Teil des Alltags hochaltriger Menschen ausmachen. Am Vormittag wird von<br />
mehr als zwei Drittel Radio gehört, am Abend wird ferngesehen. Im Vergleich zu den 60-79-Jährigen<br />
nimmt das Interesse am Radiohören ab, was zum Teil mit e<strong>in</strong>geschränkter Hörfähigkeit erklärt<br />
werden kann, während die Fernsehzeit zunimmt. Die „neuen“ Medien der Kommunikation s<strong>in</strong>d<br />
im hohen Alter – mit Aus nahme der Mobiltelefonie – noch wenig verbreitet. Für die Gruppe der<br />
<strong>Hochaltrige</strong>n gilt jedenfalls die These von der „Digital divide“, d.h. die <strong>Hochaltrige</strong>n können weder<br />
adäquat mit den Werkzeugen der digitalen Welt umgehen, wie z. B. Internet, noch verfügen sie<br />
über die entsprechende apparative Ausstattung und technische Unter stützung. Sie verfügen auch<br />
noch kaum über berufl iche Erfahrungen mit neuen Medien. In dieser H<strong>in</strong>sicht können deutliche<br />
Veränderungen <strong>in</strong> der Zukunft erwartet werden, we il davon ausg egangen werden kann, dass<br />
e<strong>in</strong>erseits die neuen Medien e<strong>in</strong>e stärkere Verbreitung <strong>in</strong> der Gesellschaft erfahren und andererseits<br />
Gewohnheiten aus früheren Lebensabschnitten „mitgenommen“ werden bzw. die <strong>für</strong><br />
die Nutzung der neuen Medien relevante Qualifi kation steigt.
5.4. Reise<strong>in</strong>tensität und Reisemotivation<br />
ALLTAG IM ALTER<br />
Im Fünften Bericht zur Lage der älteren Generation <strong>in</strong> der Bundesrepublik Deutschland (2005)<br />
wird hervorgehoben, dass die fi nanzielle Lage und die zeitlichen Res sourcen der älteren Menschen<br />
e<strong>in</strong> hohes Potenzial <strong>für</strong> Tourismusangebote zeigten. Reisen s<strong>in</strong>d zu e<strong>in</strong>em Symbolträger<br />
<strong>für</strong> alles das geworden is t, was d as Leben lebenswert macht: Mobilit ät, Abenteuer, Prestige.<br />
Pr<strong>in</strong>zipiell zeigen Untersuchungen, dass Reisegewohnheiten <strong>in</strong>s Alter transferiert werden, modifi<br />
ziert um den aktuellen gesundheitlichen Zustand (vgl. Kolland 2006).<br />
Die Reise<strong>in</strong>tensität bzw. Reisebeteiligung der älteren Bevölkerung hat <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten<br />
konstant zugenommen. Während 1972 von den über 65-Jährigen 23% e<strong>in</strong>e Urlaubsreise mit mehr<br />
als vier Übernachtungen gemacht hat, waren es 1987 28% und 2005 44% (Statistik Austria 2005:<br />
40, Statistik Austria 2006). Wenn allerd<strong>in</strong>gs von reisefreudigen Senioren/<strong>in</strong>nen die Rede ist,<br />
dann s<strong>in</strong>d damit primär die 50-69-Jährigen geme<strong>in</strong>t. Die nachfolgende Tabelle zeigt e<strong>in</strong> deutlich<br />
gestiegenes Reise<strong>in</strong>teresse bei dieser Altersgruppe, während von den über 7 5-Jährigen auch<br />
2002 vier Fünftel ke<strong>in</strong>e Urlaubsreise mit mehr als vier Übernachtungen absolviert hat. Festzuhalten<br />
ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang, dass die verfügbaren Daten e<strong>in</strong>erseits ke<strong>in</strong>e Darstellung<br />
des Reiseverhaltens der über 80-Jährigen ermöglichen und andererseits die vorhandenen Daten<br />
zu e<strong>in</strong>er Überschätzung der Reise<strong>in</strong>tensität der über 75-Jährigen führen, weil eher die mobilen<br />
und gesunden Personen <strong>in</strong> Privathaus halten befragt worden s<strong>in</strong>d. Reisen ist also e<strong>in</strong>e Aktivität,<br />
die nur <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit der über 80-Jährigen relevant ist.<br />
Feststellbar s<strong>in</strong>d starke regionale und geschlechtsspezifi sche Unterschiede. H<strong>in</strong>sichtlich der<br />
geschlechtsspezifi schen Unterschiede zeigt sich auf Basis der beiden Untersuchungen 2005<br />
und 2006 e<strong>in</strong> une<strong>in</strong>heitliches Bild. Während 2006 fast <strong>in</strong> allen Altersgruppen ab 50 Jahren Männer<br />
e<strong>in</strong>e höhere Reise<strong>in</strong>tensität aufweisen, gilt dies nicht <strong>für</strong> die Untersuchung 2005. Für e<strong>in</strong>e<br />
Beschreibung regionaler Unterschiede können lediglich Daten aus der Mikrozensuserhebung<br />
2002 herangezogen werden. Hier zeigt die Datenanalyse, dass von den über 75-Jährigen Wiener/<strong>in</strong>nen<br />
2002 35% mehr als e<strong>in</strong>e Urlaubsreise gemacht haben (Männer: 38%; Frauen: 32%).<br />
In Tirol lag der entsprechende Anteil bei den über 75-Jährigen bei 22% (Männer: 26%; Frauen:<br />
20%) und <strong>in</strong> Kärnten bei 12% (Männer: 14%; Frauen: 11%). Die ger<strong>in</strong>gste Reisebeteili gung älterer<br />
Menschen fi ndet sich im Burgenland, wo 2002 von den über 75-Jährgen 7% (Männer: 10%;<br />
Frauen: 5%) e<strong>in</strong>e Reise unternommen (Statistik Austria 2003, 303ff ). Die regionalen Unterschiede<br />
s<strong>in</strong>d sehr stark das Stadt-Land-Gefälle <strong>in</strong> der Reisebeteiligung bestimmt, d.h. der Anteil älterer<br />
Bäuer<strong>in</strong>nen und Bauern am Urlaubsverkehr ist nach wie vor ger<strong>in</strong>g.<br />
Zwischen 2002 und 2005 bzw . 2006 zeigt sich e<strong>in</strong>e deutl ich gestiegene Reise<strong>in</strong>tensität, die<br />
teilweise mit erhebungstechnischen Veränderungen zu tun hat (siehe dazu die Fußnoten <strong>in</strong> der<br />
Tabelle) und teilweise mit den Erhebungszeitpunkten. Nach den 9/11-Anschlägen <strong>in</strong> den USA<br />
2001 hat es e<strong>in</strong>en deutlichen Rückgang im Reiseverkehr gegeben, sodass der niedrige Wert<br />
2002 gewissermaßen e<strong>in</strong>en Ausreißer darstellt.<br />
139
ALLTAG IM ALTER<br />
140<br />
Tabelle 5: Reis<strong>in</strong>tensität älterer <strong>Österreich</strong>er/<strong>in</strong>nen 1990-2006<br />
M<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e Urlaubsreise mit vier und mehr Übernachtungen machten...<br />
1990 1993 1996 1999 2002 2005*) 2006**)<br />
Altersgruppe<br />
Alle<br />
Alle Frauen Männer Total Frauen Männer<br />
Angaben <strong>in</strong> %<br />
50-54 Jahre 47 49 53 52 48 61 63 58 66 61 70<br />
55-59 Jahre 38 42 49 51 47 59 64 55 64 66 62<br />
60-64 Jahre 39 41 42 45 46 61 58 66 56 54 59<br />
65-69 Jahre 39 40 38 40 40 55 51 62 61 54 69<br />
70-74 Jahre 32 34 37 36 32 44 49 38 48 44 52<br />
75+ 23 21 25 27 21 32 29 37 34 30 42<br />
Quelle: ÖSTAT (1992, 1995, 1998, 2000), Statistik Austria (2003), Statistik Austria (2005, 2006) 4<br />
*) Die höheren Werte <strong>in</strong> der Reise<strong>in</strong>tensität 2005 können zum Teil durch e<strong>in</strong>e verändertes Erhebungssystem erklärt werden.<br />
Die Erhebung erfolgt seit 2005 nicht mehr über den Mikrozensus (jährlich), sondern über e<strong>in</strong>e vierteljährliche Befragung,<br />
wodurch das Er<strong>in</strong>nerungsproblem kle<strong>in</strong>er wird und über e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>ere Stichprobe (MZ: 60.000 Personen bzw. 30.000 Wohnungen,<br />
Haushaltsbefragung: 3.500 Personen pro Quartal bzw. 14.000 Personen pro Jahr). Im MZ wurde mittels Papierfragebogen<br />
<strong>in</strong>terviewt, <strong>in</strong> der Haushaltsbefragung wird computerunterstützt befragt.<br />
**) Ab dem Jahr 2006 wurde mit dem ursprünglichen Befragungsdesign fortgefahren. Zur Erhebung der Reise<strong>in</strong>tensität <strong>für</strong><br />
den Zeitraum e<strong>in</strong>es Kalenderjahres, wurden <strong>in</strong> der letzten Befragungswelle des jeweiligen Berichtsjahres Zusatzfragen betreff<br />
end Reisetätigkeit <strong>für</strong> das gesamte abgelaufene Kalenderjahr e<strong>in</strong>gebaut. Details:<br />
http://www.statistik.at/web_de/static/urlaubs-_und_geschaeftsreisen_2006_021901.pdf<br />
Als primäre Ursache <strong>für</strong> die im Alters gruppenvergleich abnehmende Reisebeteiligung ist die<br />
Gesundheit zu nennen. 55% der 75-Jährigen und Älteren nannten 2002 gesundheitliche Gründe<br />
da<strong>für</strong>, dass sie zu Hause geblieben s<strong>in</strong>d. Die zweitwichtigste Ursache der ger<strong>in</strong>geren Reise<strong>in</strong>tensität<br />
im Alter liegt im mangelnden Interesse. In dieser H<strong>in</strong>sicht ist <strong>für</strong> die Zukunft e<strong>in</strong>e deutliche<br />
Änderung zu erwarten, da s ich das Reiseverhalten <strong>in</strong>sgesamt <strong>in</strong> der Bev ölkerung ändert und<br />
davon ausgegangen werden kann, dass Personen, die ihr ganzes Leben lang gereist s<strong>in</strong>d, dies<br />
auch im Alter tun werden.<br />
Als typisch <strong>für</strong> die Reisen im Alter gilt heute, dass diese länger dauern und im Vergleich zu anderen<br />
Altersgruppen eher im Inland bzw. im Sommer stattfi nden. Abhängig ist die Reiseaktivität<br />
der Älteren <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> weiters von E<strong>in</strong>kommen, Schulbildung und Gesundheitszustand. Über<br />
80-Jährige wählten 2006 im Vergleich zu den jüngeren Älteren bei Inlandsreisen als Unterkunft<br />
etwas häufi ger e<strong>in</strong> Privatquartier (80+:36%; 50-59-Jährige: 31%) und weniger häufi g e<strong>in</strong> Hotel<br />
(80+: 33%; 50-59-Jährige: 42%). Als Verkehrsmittel verwendeten die Hoch altrigen bei Inlandsreisen<br />
häufi ger Bus oder Bahn (80+:32%; 50-59-Jährige:16%) und seltener den eigenen PKW (80+:<br />
4 Die Daten aus den beiden Haushaltsbefragungen wurden freundlicherweise von der Statistik Austria zur Verfügung<br />
gestellt.
ALLTAG IM ALTER<br />
67%; 50-59-Jährige: 81%). Die aufgezeigten Unterschiede s<strong>in</strong>d durch e<strong>in</strong>e Reihe gesellschaftlicher<br />
Veränderungen bed<strong>in</strong>gt. Dazu gehört die zunehmende Ausstattung der Privathaushalte<br />
mit PKWs, e<strong>in</strong> größeres Hotelangebot, welches von den e<strong>in</strong>kommensstärkeren jüngeren Alten<br />
genutzt wird und e<strong>in</strong>e Veränderung des Reiseverhaltens, und zwar weg vom Urlaub als besonderes<br />
Ereignis im Jahresablauf h<strong>in</strong> zum wiederholten kurzdauernden Wegfahren.<br />
Auf Basis der Haushaltsbefragung 2006 5 kann auch etwas über die Reisemotive der <strong>Hochaltrige</strong>n<br />
ausgesagt werden. Auff ällig ist dabei, wenn die verschiedenen Altersgruppen verglichen<br />
werden, dass mit zu nehmendem Alter die Reisemotivation enger wird. Das hat zum Teil mit der<br />
Gesundheit der <strong>Hochaltrige</strong>n zu tun, wenn zum Beispiel sichtbar wird, dass sie weniger das Motiv<br />
Aktivurlaub nennen, es hat zum Teil mit neuen Reisestilen zu tun, etwa Shopp<strong>in</strong>g – e<strong>in</strong> Reisemotiv,<br />
welches sich bei <strong>Hochaltrige</strong>n gar nicht fi ndet. Als hauptsächlicher Reisezweck fi ndet sich 2006<br />
<strong>für</strong> die 126.000 Inlandsurlaubsreisen der 80-Jährigen und Älteren: Verwandten-, Bekanntenbesuch<br />
(29%); Erholungsurlaub, relaxen (28%); A ktivurlaub, Sommer- oder W<strong>in</strong>ter sport (19%);<br />
Kultur, Besichtigung, Rund- und Städtereisen (16%). Vergleichsweise ger<strong>in</strong>g ist der Anteil der<br />
Gesundheitsurlaubsreisen mit rund 10%. In den Reisemotiven treten deutliche Unterschiede zu<br />
den jüngeren Älteren hervor, d.h. wir fi nden je nach Alters gruppe verschiedene Urlaubsstile. Die<br />
Reisen der 50-54-Jährigen s<strong>in</strong>d stärker auf Aktivurlaub orientiert. In dieser Altersgruppe wird im<br />
Vergleich zu den <strong>Hochaltrige</strong>n doppelt so oft das Motiv aktive, sportorientierte Urlaubsgestaltung<br />
genannt. Verwandtenbesuche kommen mit 20% weniger oft vor, während der Wellness- bzw.<br />
Schönheitsurlaub bei rund jeder zehnten Inlandsreise als Reisezweck angegeben wird. Von den<br />
über 80-Jährigen geben 2% an, im Jahr 2006 e<strong>in</strong>en Wellness-/Schönheitsurlaub absolviert zu<br />
haben.<br />
Bei den Auslandsreisen werden von den <strong>Hochaltrige</strong>n zwei hauptsächliche Reisezwecke angegeben,<br />
nämlich Erholung und Kultur (<strong>in</strong>sgesamt 63%), während die 50-54-Jährigen vier hauptsächliche<br />
Reisezwecke nennen, nämlich Kulturreisen, Verwandtenbesuche, Erholungsurlaube<br />
und Strand-/Badeaufenthalte (<strong>in</strong>sgesamt 76%).<br />
Insgesamt legen die Daten die Vermutung nahe, dass die Motive „Ausruhen und Erholen“ bzw.<br />
Strand- und Badeaufenthalt <strong>in</strong> Zukunft an Bedeutung verlieren und im Gegenzug das Interesse<br />
am Aktivurlaub zur Förderung der Gesundheit und des körperlichen Wohlbefi ndens zunimmt. Für<br />
die nächste Zukunft ist mit e<strong>in</strong>em weiteren Anstieg der Reise<strong>in</strong>tensität der Älteren zu rechnen,<br />
bed<strong>in</strong>gt durch die höhere Reise<strong>in</strong>tensität der jetzt 40-50-Jährigen. Allerd<strong>in</strong>gs lassen die Daten<br />
auch darauf schließen, dass die Reise<strong>in</strong>dustrie bislang nur die mobilen und e<strong>in</strong>kommensstarken<br />
jungen Alten anspricht und noch wenig auf die Bedürfnisse hochaltriger Menschen Rücksicht<br />
nimmt (z. B. Barrierefreiheit, mediz<strong>in</strong>ische Versorgung, Zubr<strong>in</strong>gerdienste, Sicherheit).<br />
5 Siehe Fußnote 4.<br />
141
ALLTAG IM ALTER<br />
5.4.1. Ausfl ugsfahrten<br />
Neben den länger andauernden Reisen, die Kur- und Badeaufenthalte be<strong>in</strong>halten, neben Besichtigungen,<br />
Besuchen von Bekannten und Verwandten, hat <strong>für</strong> die Älteren e<strong>in</strong> anderer Typus<br />
von Tourismus starke Attraktivität erlangt: die (kurzdauernde) Ausfl ugs- oder Tagesfahrt. Wie <strong>in</strong><br />
Tabelle 1 (siehe weiter oben) angeführt, unternehmen 36% der über 80-Jährig en Männer und<br />
27% der über 80-Jährigen Frauen Ausfl üge. Nicht unterschieden werden kann dabei zwischen<br />
selbst- und fremdorganisierten Ausfl ügen. Letztere haben <strong>in</strong>sbesondere h<strong>in</strong>sichtlich ihrer sozial<strong>in</strong>tegrativen<br />
Wirkung e<strong>in</strong>e besondere Bedeutung.<br />
Neben Reisebüros s<strong>in</strong>d es vor allem Geme<strong>in</strong>den, Seniorenverbände und Vere<strong>in</strong>e die zu Autobusfahrten<br />
e<strong>in</strong>laden. Zu diesen meist preisgünstigen Ausfl ügen, die <strong>in</strong> der Regel an e<strong>in</strong>em Tag<br />
absolviert werden, gehören auch Kaff ee- bzw. Werbefahrten, die neben der Vermittlung von etwas<br />
Kultur und der Bereitstellung von e<strong>in</strong>em Essen, das Ziel verfolgen, den Teilnehmern/<strong>in</strong>nen<br />
verschiedenste Konsumartikel zum Kauf anzubieten. Letztere s<strong>in</strong>d besonders aus der Sicht des<br />
Konsumentenschutzes von Bedeutung, weil hier älteren Menschen etw a unter dem Titel der<br />
Gesundheitsprävention oftmals überteuerte Produkte verkauft werden bzw. Fragen der Produkthaftung<br />
und dergleichen ungeklärt s<strong>in</strong>d. 6<br />
Der Tourismustypus Ausfl üge be<strong>in</strong>haltet Fahrten zu (Landes)-Ausstellungen, Kulturstätten und<br />
Theatervorführungen sowie die Teilnahme an überregionalen Verbandstagungen von Freiwilliger<br />
Feuerwehr, Kameradschaftsvere<strong>in</strong>en und Seniorenorganisationen mit entsprechendem<br />
Kultur- und Unterhaltungsprogramm. Tagesfahrten erfüllen e<strong>in</strong>e andere Funktion und zeigen<br />
e<strong>in</strong>e andere Form der Beteiligung als andere Reisen. Die Teilnehmer/<strong>in</strong>nen von Tagesfahrten –<br />
zum<strong>in</strong>dest im ländlichen Bereich – k ommen aus demselben sozialen Universum, sie kennen<br />
sich untere<strong>in</strong>ander. E<strong>in</strong> Teil der Tagesfahrten wird nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Reisebüro gebucht, sondern<br />
aus dem sozialen Umfeld angeregt (Postwurfsendungen, Inserate <strong>in</strong> Tageszeitungen, Vere<strong>in</strong>saktivität,<br />
kirchliche Zeitschriften etc.).<br />
Welche Schlussfolgerungen können aus der ger<strong>in</strong>gen Reisebeteiligung von <strong>Hochaltrige</strong>n abgeleitet<br />
werden? F ür e<strong>in</strong>e st ärkere Reisetätigkeit der Hoch altrigen braucht es entsprechende<br />
produktpolitische Maßnahmen, die die körperlichen und gesundheitlichen E<strong>in</strong>schränkungen<br />
berücksichtigen. Zu den Maß nahmen gehören unaufdr<strong>in</strong>gliche Dienstleistungen bzw. Hilfen,<br />
die erkennen lassen , dass der Anbieter e<strong>in</strong>e positive Grundhaltung gegenüber dem Altern hat.<br />
Notwendig s<strong>in</strong>d stärker zielgruppen- und themenspezifi sche Angebote, die weniger am Kriterium<br />
Alter festgemacht werden (wie z. B. Seniorenreisen). Bei der Entwicklung von Reiseangeboten<br />
sollten unterschiedliche Persönlichkeitseigenschaften berücksichtigt werden. Personen, die<br />
6 Siehe dazu die entsprechenden H<strong>in</strong>weise der <strong>Arbeit</strong>erkammer unter<br />
http://www .arbeiterkammer.at/www-192-IP-23204.html [15.9.20079].<br />
142
ALLTAG IM ALTER<br />
gern Gesellschaft haben, sollten auf Gleichges<strong>in</strong>nte treff en können und bei Gru ppenreisen<br />
wären Rückzugsräume <strong>für</strong> weniger sozial bezogene Personen e<strong>in</strong>zuplanen (vgl. Schönknecht<br />
2003). Neue Angebote könnten etwa se<strong>in</strong>: „Urlaub mit Pfl ege“, d.h. geme<strong>in</strong>samer Urlaub von<br />
pfl egenden Angehörigen und Pfl egebedürftigen.<br />
5.5. Bildungsbeteiligung und <strong>in</strong>formelles Lernen<br />
Zwei Drittel der 80-Jä hrigen und Älteren verfügen nach den Volkszählungsdaten 2001 über<br />
e<strong>in</strong>en Pfl ichtschulabschluss und 3% über e<strong>in</strong>en u niversitären Abschluss. Ihr Bildungsstand<br />
ist damit deutlich niedriger als der der n achfolgenden Alterskohorten. So liegt der Anteil der<br />
Pfl ichtschulabgänger bei den 70-79-Jährigen bei 56%, bei den 60-69-Jährigen bei 48% und bei<br />
den 50-59-Jährigen bei 32%. Während 44% der 80-Jährigen und älteren Männer lediglich über<br />
e<strong>in</strong>en Pfl ichtschulabschluss verfügen, liegt dieser Anteil bei den Frauen bei 74%.<br />
Die älteren Menschen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit ger<strong>in</strong>g qualifi ziert, <strong>in</strong> der die Mehrheit mit dem Fahrstuhl<br />
e<strong>in</strong>e Etage höher gefahren ist. Es ist nicht die ger<strong>in</strong>ge Qualifi kation als solche, die als problematisch<br />
e<strong>in</strong>zuschätzen ist, sondern es ist die soziale Spaltung, die sich daraus ergibt, die von<br />
Bedeutung ist. Sie, die Älteren, s<strong>in</strong>d im zentralen Projekt der Gegenwartsgesellschaft, nämlich<br />
der Bildung, an den Rand geraten. E<strong>in</strong> besonderes Problem <strong>in</strong> demokratischen Gesellschaften<br />
besteht im Widerspruch zwischen Ermutigung, e<strong>in</strong>en bestimmten Bildungs status zu erreichen,<br />
und der Realität beschränkter Zugangschancen zu Bildung. Dies gilt etwa <strong>für</strong> e<strong>in</strong>kommensschwache<br />
Gruppen, die sich Weiterbildung nicht leisten können. Dazu kommt, dass die Bildung im<br />
hohen Alter e<strong>in</strong>en besonderen Stellenwert <strong>in</strong> der Gesundheitsprävention hat.<br />
Bereits <strong>in</strong> den 1970er Jahren konnte gezeigt werden (vgl. Lehr 1977), dass sich die Lernfähigkeit<br />
nicht generell im Lebenslauf verschlechtert, sondern nur <strong>in</strong> Bezug auf bestimmte Faktoren und<br />
Inhalte. In der Folge konnte e<strong>in</strong>e Reihe von positiven Eff ekten der Bildungsteilnahme nachgewiesen<br />
werden. Aufgrund mediz<strong>in</strong>ischer Erkenntnisse lässt sich mittlerweile die positive Wirkung<br />
von kont<strong>in</strong>uierlicher mentaler Stimulation auf den Erhalt guter Gesundheit nachweisen (Khaw<br />
1997). Neurologische Forschungen zeigen, dass mentales Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g die <strong>in</strong>tellektuellen Fähigkeiten<br />
positiv bee<strong>in</strong>fl usst, <strong>in</strong>dem etwa Gedächtnisverluste verr<strong>in</strong>gert bzw. rückgängig gemacht werden<br />
können (Kotulak 1997). Höhere Bildung, so Forschungsergebnisse, senkt das Mortalitätsrisiko<br />
(Huisman et al. 2005). Darüber h<strong>in</strong> aus führt Weiterbildungsteilnahme zu sozialer Integration<br />
bzw. verstärkt e<strong>in</strong> positives gesellschaftliches Altersbild (Palmore 1970), steigert das physische<br />
und psychische Wohlbefi nden (Schaie 1996), erhöht die Antizipation und Verarbeitung kritischer<br />
Lebensereignisse (Becker 1998) und wirkt sich positiv auf bürgerschaftlichem Engagement bzw.<br />
Freiwilligenarbeit aus (Rosenmayr & Kolland 2002).<br />
Trotz der nachgewiesenen positiven Eff ekte von Lernprozessen im Lebenslauf ist die tatsächliche<br />
Beteiligungsrate an Bildung <strong>in</strong> der nachberufl ichen Lebensphase ger<strong>in</strong>g. Die nachfolgende Tabelle<br />
gibt e<strong>in</strong>en Überblick über die Bildungsbeteiligung älterer Men schen <strong>in</strong> zehn europäischen Ländern.<br />
Dabei zeigt sich, d ass die Teilnahme an Bildung im letzten Monat <strong>in</strong> der Bevöl kerungsgruppe<br />
143
ALLTAG IM ALTER<br />
50-59 Jahre zwischen 2,5% <strong>in</strong> Italien und 27% <strong>in</strong> der Schweiz liegt. In der Bevölkerungsgruppe<br />
80 und älter beträgt der Anteil zwischen 0,2% <strong>in</strong> Spanien und 2% <strong>in</strong> der Schweiz. In dieser Untersuchung<br />
weist <strong>Österreich</strong> e<strong>in</strong>e vergleichsweise ger<strong>in</strong>ge Bildungsbeteiligung im Alter.<br />
144<br />
Tabelle 6: Beteiligung an Bildungsver anstaltungen von über 50-Jährigen im letzten Monat<br />
(Angaben <strong>in</strong> Prozent)<br />
Insgesamt 50-59 60-69 70-79 80+<br />
Schweiz 16,6 27,0 14,0 7,7 2,0<br />
Schweden 12,3 20,4 11,0 7,3 1,6<br />
Dänemark 10,3 18,6 5,8 5,1 0,9<br />
Niederlande 7,0 11,1 6,1 2,4 1,4<br />
Deutschland 5,4 11,0 4,2 1,0 0,8<br />
<strong>Österreich</strong> 4,0 7,9 2,2 1,7 0,5<br />
Frankreich 3,8 7,4 2,8 0,7 0,0<br />
Griechenland 3,6 5,1 4,4 1,1 1,8<br />
Spanien 1,9 3,5 2,4 0,0 0,2<br />
Italien 1,2 2,5 0,5 0,9 0,0<br />
Quelle: Survey of Health, Age<strong>in</strong>g, and Retirement <strong>in</strong> Europe (SHARE) 2005, gewichtet (zit. n. Künemund, Kolland 2007).<br />
Die bisher umfassendste Datengrundlage zur Bildungsbeteiligung <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> liegt <strong>in</strong> Form des<br />
Mikrozensus 2003 „Lebenslanges Lernen“ vor (Statistik Austria 2004). Das Fragenprogramm<br />
basiert auf e<strong>in</strong>er <strong>für</strong> alle EU-Staaten verb<strong>in</strong>dlichen Verordnung. In dieser Untersuchung wurden<br />
rund 40.000 Personen befragt, wobei es e<strong>in</strong>e Auskunftsverweigerung von 20% gegeben hat.<br />
Das Konzept des lebenslangen Lernens be<strong>in</strong>haltet drei u nterschiedliche Formen: formales<br />
Lernen, non-formales Lernen und <strong>in</strong>formelles Lernen. Das formale Lernen bezieht sich auf das<br />
<strong>in</strong> Bildungs- oder Ausbildungse<strong>in</strong>richtungen stattfi ndende Lernen, welches strukturiert ist und<br />
dessen Abschluss zertifi ziert wird. Da das formale Lernen bei über 80-Jährigen nicht vorkommt,<br />
wird es nicht weiter behandelt. Das non-formale Lernen bezeichnet das Lernen außerhalb e<strong>in</strong>er<br />
Bildungse<strong>in</strong>richtung. Es ist zwar strukturiert und verfolgt e<strong>in</strong>en systematischen und zielgerichteten<br />
Lernprozess, wird aber nicht zertifi ziert. Die dritte Form, das <strong>in</strong>formelle Lernen, bezeichnet<br />
das Lernen im Alltag, welches vor allem bei den über 80-Jährigen von Bedeutung ist. Diese Form<br />
des Lernens fi ndet im Familienkreis oder <strong>in</strong> der Freizeit statt. Es kann e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong> Ziel verfolgen,<br />
andererseits aber nebenbei ohne e<strong>in</strong>e gewisse Absicht erfolgen (Statistik Austria 2004).<br />
Non-formales Lernen bezeichnet nun jenes Lernen außerhalb des regulären Schul-/ Hochschulsystems,<br />
welches nicht zertifi ziert ist, aber dennoch systematisch stattfi ndet. Die folgende Grafi k<br />
zeigt die Beteili gung am non-formalen Lernen nach Alters gruppen. Bis <strong>in</strong> die vierte Lebens dekade<br />
liegt der Beteiligungsgrad bei rund 30%, danach s<strong>in</strong>kt die Teilnahme stark ab. Wir sehen <strong>in</strong> der<br />
Altersgruppe der 60-64-Jährigen e<strong>in</strong>en Anteil von rund 8%, <strong>in</strong> der Gruppe der 70-74-Jährigen<br />
von 3% und bei den über 80-Jährigen 2%. Die Grafi k zeigt darüber h<strong>in</strong>aus ger<strong>in</strong>ge Unterschiede<br />
zwischen älteren Frauen und älteren Männern.
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
20-<br />
24<br />
Abbildung 3: Weiterbildungsteilnahme nach Altersgruppen und Geschlecht<br />
(MZ 2003, n=42.849, <strong>Österreich</strong>)<br />
25-<br />
29<br />
30-<br />
34<br />
35-<br />
39<br />
40-<br />
44<br />
45-<br />
49<br />
50-<br />
54<br />
Quelle: Statistik Austria (2004), eigene Berechnungen<br />
55-<br />
59<br />
ALLTAG IM ALTER<br />
Die Daten des Mikrozensus verweisen auf e<strong>in</strong>en hochsignifi kanten Zusammenhang zwischen<br />
Ausbildungsniveau und Beteiligung am non-formalen Lernen. Je höher der Bildungsabschluss,<br />
desto höher ist die Beteiligung am non-formalen Lernen.<br />
Im Mikrozensus wurde nicht nur nach der f aktischen Beteiligung an non- formalem Lernen<br />
gefragt, sondern auch n ach dem Interes se. Dieses ist weitaus höher als die t atsächliche Beteiligung.<br />
Bei den 60 bis 79-Jährigen gaben 16% an, an Weiterbildung <strong>in</strong>teressiert zu se<strong>in</strong>. Bei<br />
den 80-Jährigen und Älteren fi ndet sich bei 9% e<strong>in</strong> Interesse, an organisierten Lernprozessen<br />
teilzunehmen. Es zeigt sich also e<strong>in</strong>e Lücke zwischen Beteiligung und Interesse. Daraus kann<br />
die Vermutung abgeleitet werden, d ass nicht nur fe hlende Bildungsmotivation die ger<strong>in</strong>ge<br />
Bildungsbeteiligung im (ho hen) Alter bed<strong>in</strong>gen, sondern auch fehlende Angebote. Die über<br />
80-Jährigen <strong>in</strong>teressieren sich <strong>für</strong> Gesundheit, Kunst, Musik und Kultur, sowie Fremdsprachen.<br />
Über 80-Jährige Frauen haben e<strong>in</strong> s ignifi kant häufi geres Interesse an Weiterbildung als die<br />
Männer derselben Altersgruppe.<br />
Doch nicht nur alters- und geschlechtsspezifi sch ergeben sich Unterschiede im Interes se an<br />
Weiterbildung, sondern auch n ach dem Wohnort. Im Burgenland ist der Anteil der Weiterbildungs<strong>in</strong>teressierten<br />
unter den über 80-Jährig en am höchsten. Ähnlich hoch i st der Anteil<br />
<strong>in</strong> Kärnten und der Steiermark. Am ger<strong>in</strong>gsten ist das Weiterbildungs <strong>in</strong>teresse <strong>in</strong> Salzburg und<br />
Wien. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass die faktische Bildungsbeteiligung <strong>in</strong> diesen<br />
beiden Bundesländern höher ist als <strong>in</strong> den anderen.<br />
Neben dem non-formalen Lernen richtet sich das Augenmerk <strong>in</strong> den letzten Jahren verstärkt auf<br />
das sogenannte <strong>in</strong>formelle Lernen. Informelles Lernen me<strong>in</strong>t wenig formalisierte Lernaktivitäten.<br />
Im österreichischen Mikrozensus wurden entsprechende Aktivitäten abgefragt. Gefragt wurde<br />
nach Selbststu dium mithilfe von Fachbüchern, Fachzeitschriften oder Ähnlichem, computerge-<br />
60-<br />
64<br />
65-<br />
69<br />
70-<br />
74<br />
75-<br />
79<br />
80+<br />
Gesamt<br />
Frauen<br />
Männer<br />
145
ALLTAG IM ALTER<br />
stütztem Onl<strong>in</strong>e/Internet-Lernen, Lernen mit Hilfe von Bildungssendungen usw. In der Beantwortung<br />
der Fragen waren Mehrfachangaben möglich.<br />
100<br />
80<br />
60<br />
40<br />
20<br />
0<br />
146<br />
Abbildung 4: Informelles Lernen nach Aktivitätsformen und Altersgruppen<br />
(MZ 2003, n=18.816, <strong>Österreich</strong>)<br />
Bildungssendungen<br />
Selbststudium<br />
Quelle: Statistik Austria (2004), eigene Berechnungen<br />
50-59 60-69 70-79 80+<br />
<strong>Arbeit</strong>skollegen<br />
Besuch von<br />
Vorträgen<br />
Besuch von<br />
Büchereien<br />
Internet-<br />
Lernen<br />
PC-Lernen<br />
Die Grafi k zeigt, dass sich das <strong>in</strong>formelle Lernen primär auf das Sehen von Bildungssendungen<br />
im Fernsehen bezieht. In dieser H<strong>in</strong>sicht ist e<strong>in</strong> leichter Anstieg im Altersgruppenvergleich feststellbar.<br />
Bei allen anderen Aktivitäten s<strong>in</strong>kt der Anteil der Beteiligung <strong>in</strong> höheren Altersgruppen.<br />
Besonders deutlich ist – wie erwartet – der Rückgang des Lernens über und mit <strong>Arbeit</strong>skollegen<br />
im Altersgruppenvergleich.<br />
Wesentlicher Erklärungsansatz <strong>für</strong> die abnehmende Bildungsbeteiligung im höheren Alter<br />
ist der Tatbestand der niedrigen Schulbildungsniveaus der heute Hoch altrigen. Non-formale<br />
bzw. <strong>in</strong>formelle Weiterbildungsbeteiligung weist e<strong>in</strong>en signifi kanten Zusammenhang mit dem<br />
Ausbildungsabschluss auf. Das Bildungs<strong>in</strong>teresse älterer Menschen ist nicht nur von den gegenwärtigen<br />
gesellschaftlichen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen bee<strong>in</strong>fl usst, sondern auch von ihren<br />
vergangenen Schul- und Bildungserfahrungen. Bildung ist <strong>für</strong> große Gruppen älterer Menschen<br />
nicht üblich und <strong>in</strong>teressiert daher nicht.<br />
Die Bildungsbenachteiligung älterer Menschen h<strong>in</strong>sichtlich ihrer Schulbildungsniveaus e<strong>in</strong>erseits<br />
und die ger<strong>in</strong>ge Beteiligung älterer Menschen <strong>in</strong> Lernprozessen andererseits s<strong>in</strong>d Beweggründe<br />
da<strong>für</strong>, weshalb sich im 2002 <strong>in</strong> Madrid beschlossenen Weltaltenplan (Madrid International Plan<br />
of Action on Ag e<strong>in</strong>g) das lebenslange Lernen als e<strong>in</strong> wesentlicher Schwerpunkt fi ndet. In der<br />
Verpfl ichtung 6 der region alen (europäischen) Umsetzungs strategie des Weltaltenplans, der<br />
sich auch <strong>Österreich</strong> angeschlossen hat, geht es um die Förderung des lebenslangen Lernens<br />
und die Angleichung der Bildungssysteme, um den sich ändernden wirtschaftlichen, sozialen<br />
und demografi schen Verhältnissen gerecht zu werden.
ALLTAG IM ALTER<br />
Altersbildung braucht jedenfalls <strong>in</strong> Zukunft mehr Aufmerksamkeit durch die potentiellen Träger<br />
solcher Angebote. Dabei geht es zuerst darum, dass es <strong>in</strong> den E<strong>in</strong>richtungen der Erwachsenenbildung<br />
e<strong>in</strong>e st ärkere Orientierung auf die Hoch altrigen geben sollte. Dazu gehören weiters<br />
Ansätze, die <strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>er aufsuchenden Bildungsarbeit gehen, d.h. die Hoch altrigen zu<br />
Hause ansprechen. In den Seniorenorganisationen und der kommunalen Altenarbeit braucht<br />
es e<strong>in</strong>e Akzentuierung, die stärker <strong>in</strong> Richtung Bildung geht und damit auch akzeptiert, dass<br />
im hohen Alter L ernen möglich i st (Kolland 2006). Um e<strong>in</strong> entsprechendes Bildungsangebot<br />
<strong>für</strong> hochaltrige Menschen zu gewährleisten, braucht es nicht nur die notwendigen fi nanziellen<br />
Mittel, sondern auch e<strong>in</strong>e gezielte Förderung von Angeboten. F<strong>in</strong>anzielle Förderung sollte<br />
zweckgebunden vergeben werden, d.h. spezifi sch <strong>für</strong> Altersbildung.<br />
5.6. Ehrenamtliche Tätigkeiten und Freiwilligenarbeit<br />
Neben physischen Aktivitäten gelten Kontakte zu außerfamiliären Gruppen zu den wichtigsten<br />
Prädiktoren erfolgreichen Alterns (Musick et al. 1999, Willigen 2000). Wenn auch e<strong>in</strong>er so<br />
generalisierenden Aus sage entgegenzuhalten ist, dass Intensität und Qualität sozialer Rollen,<br />
ihre Auswahl und die Häufi gkeit ihrer Ausübung e<strong>in</strong>er ganzen Reihe von Bed<strong>in</strong>gungsfaktoren<br />
unterliegen, ist doch unbestritten, dass sie der Tendenz nach stimmt. Es geht jedoch nicht nur<br />
um Aktivitäten zur Steigerung des subjektiven Wohlbefi ndens, wie dies bei den meisten Freizeitaktivitäten<br />
<strong>in</strong>tendiert ist, sondern um Aktivitäten, die auf die Geme<strong>in</strong>schaft bezogen s<strong>in</strong>d.<br />
Dabei handelt es sich um Kooperationsprozesse und geme<strong>in</strong>schaftliches Handeln (B ackes<br />
2000). Das Verhältnis zwischen Staat (Kommune) und alternder Zivilgesellschaft spielt da e<strong>in</strong>e<br />
wesentliche Rolle. Bürgerschaftliches Engagement ist mehr als nur e<strong>in</strong>e zeitgemäße Form der<br />
Altersaktivität. Sie ist das Kernelement e<strong>in</strong>es völlig neuen Vergesellschaftungs modells, das mit<br />
der Betonung der R essourcen und der Handlu ngspotentiale das mitgeschleppte Leitbild des<br />
verdienten Ruhestands zu ersetzen beg<strong>in</strong>nt und viel umfassender noch wird ersetzen müssen.<br />
Das soziale Tätigse<strong>in</strong> im Alter <strong>in</strong>nerhalb zivilgesellschaftlicher Strukturen ist ambivalent: Zum<br />
e<strong>in</strong>en enthält es Befreiungsmöglichkeiten und Autonomiespielräume zur Entfaltung e<strong>in</strong>er allseitig<br />
entwickelten Persönlichkeit und zur Förderung gesellschaftspolitischer Partizipationsprozesse.<br />
Hier können Chancen eröff net werden, im Rahmen von altersoff en angelegten „Ermöglichungsstrukturen“<br />
<strong>in</strong>tergenerative Formen der aktiven Mitgestaltung von Gesellschaft zu fördern. Zum<br />
andern besteht die Gefahr, dass das zivilgesellschaftliche Engagement der Senioren lediglich<br />
die Mängelverwaltung der öff entlichen Hand kompensieren soll.<br />
Ehrenamtliches Engagement richtet sich bislang vorrangig an die Zielgruppe der „jungen Alten“,<br />
die im Übergang vom Erwerbsleben zum Ruhestand <strong>in</strong> gesellschaftlich nützliche und sie selbst<br />
zufrieden stellende Aufgaben e<strong>in</strong>gebunden werden sollen. Das entscheidende Manko e<strong>in</strong>er solchen<br />
E<strong>in</strong>engung besteht aber dar<strong>in</strong>, dass die reale Umsetzung der Projekte h<strong>in</strong>ter den staatlich<br />
generalisierten Ansprüchen deutlich zurück bleibt. Es werden vielmehr alte Disparitäten verstärkt<br />
und es kommt zu neuen Ausgrenzungen von „Nicht-Aktiven“. In diesem Spannungsfeld stehen<br />
heute zivilgesellschaftliche Ansätze von und <strong>für</strong> Ältere und sie geraten dadurch leicht <strong>in</strong> den Ruf,<br />
Treff punkte der lebenslang privilegierten Älteren zu se<strong>in</strong>. Bürgergesellschaftliches Engagement<br />
147
ALLTAG IM ALTER<br />
eröff net also <strong>in</strong>sbesondere jenen Chancen, die sozial besonders <strong>in</strong>tegrationsfähig s<strong>in</strong>d und sich <strong>in</strong><br />
politischen Ause<strong>in</strong>andersetzungsprozessen besondere Artikulationschancen verschaff en können.<br />
In der öff entlichen Diskussion wird zwischen zwei Formen des Engagements unterschieden, die<br />
teilweise <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Person zusammenfallen. Dem (alten) Ehrenamt, welches sich als öff entlich<br />
und unentgeltlich ausgeübtes Amt <strong>in</strong> Verbänden oder Körperschaften der Selbstverwaltung bezeichnen<br />
lässt (Badelt & Hollerweger 2001) steht die Freiwilligenarbeit (auch „neues“ Ehrenamt)<br />
gegenüber. In der Freiw illigenarbeit ist die <strong>in</strong>dividuelle Entscheidungsfreiheit e<strong>in</strong> t ragendes<br />
Element. In ihr kommt e<strong>in</strong> modernes, schwach <strong>in</strong>stitutionalisiertes, kaum wertgebundenes und<br />
eher milieuunabhängiges Engagement zum Ausdruck. Die Freiw illigenarbeit trägt e<strong>in</strong>en stark<br />
privaten Charakter, ist auf das unmittelbare soziale Milieu beschränkt. Es handelt sich gewissermaßen<br />
um e<strong>in</strong>e Alterskultur der sozial-räumlichen Unmittelbarkeit.<br />
Auf Basis der Studie „Generation 50 Plus“ kann festgestellt werden, dass weniger als e<strong>in</strong> Drittel<br />
der über 50-Jährigen sich zum<strong>in</strong>dest gelegentlich ehrenamtlich engagiert. M<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal<br />
wöchentlich engagieren sich 17% der 50-59-Jährigen Männer und 11% der Frauen <strong>in</strong> dieser Altersgruppe.<br />
Bei den über 80-Jährigen liegt der Anteil der sehr aktiven Ehrenamtlichen unter den<br />
Männern bei 7%, unter den Frauen bei 1%. Die deutlich geschlechtsspezifi schen Unterschiede<br />
haben aber – wie andere Studien zeigen (vgl. Kolland & Oberbauer 2006) – sehr entscheidend<br />
mit der Fragestell ung zu tun, d.h. beziehen sich auf die „klassische“ ehrenamtliche Tätigkeit<br />
und nicht auf wenig formalisierte Freiwilligenarbeit, wie z. B. Hilfe <strong>für</strong> Nachbarn oder Hilfe bei<br />
caritativen Aktionen.<br />
In der Erhebung „Struktur und Volumen der Freiwilligenarbeit <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>“, die 2006 als Zusatzerhebung<br />
zum Mikrozensus von der Statistik Austria stattgefunden hat (Statistik Austria 2007),<br />
wird der Anteil der Freiwilligenarbeit bei den über 80-Jährigen mit 20% angegeben (Frauen: 11%;<br />
Männer: 40%). Der im Vergleich zur Fessel-Studie höhere Anteil von Freiwilligenarbeit ist dadurch<br />
erklärbar, dass bei dieser Befragung sowohl nach formeller Tätigkeit (z.B. Freiwillige Feuerwehr,<br />
Kirchenchor etc.) als auch nach <strong>in</strong>formeller Tätigkeit (z.B. K<strong>in</strong>derbetreuung, Gartenpfl ege <strong>für</strong><br />
Personen außerhalb des eigenen Haushalts) gefragt wurde und sich dieser Proz entsatz auf<br />
Tätigkeiten im letzten Jahr bezieht. Die Erhebung zeigt weiters e<strong>in</strong>en deutlichen Rückgang des<br />
Engage ments ab 70 Jahren (Anteil der Freiwilligenarbeit bei den 50-59-Jährigen: 48%, bei den<br />
60-69-Jährigen: 44%, bei den 70-79-Jährigen: 28%).<br />
148
ALLTAG IM ALTER<br />
Tabelle 7: Häufi gkeit des ehrenamtlichen Engagements nach Altersgruppen und Geschlecht,<br />
<strong>Österreich</strong> 2006, n=1.015 50-Jährige und ältere<br />
Insgesamt 50-59 60-69<br />
70-79 80+<br />
Alle m w m w m w m w m w<br />
Ehrenamtliches Engagement:<br />
zum<strong>in</strong>dest 1x wöchentlich<br />
mehrmals monatlich 11 13 10 17 11 12 14 11 6 7 1<br />
seltener 7 7 7 5 10 10 6 7 10 4 1<br />
nie 11 12 10 15 10 10 13 14 8 7 5<br />
71 68 73 63 69 67 67 67 76 82 93<br />
Quelle: Studie Generation 50 Plus 2006 der Fessel-GfK Marktforschung Ges.m.b.H.; eigene Berechnungen<br />
In e<strong>in</strong>er Studie <strong>für</strong> Wien (Rosenmayr & Kolland 2002) konnte <strong>für</strong> 60-75-Jährige nachgewiesen<br />
werden, dass es e<strong>in</strong>en stark signifi kanten Zusammenhang zwischen ehrenamtlicher Tätigkeit<br />
und Lebenszufriedenheit, subjektivem Gesundheitsempfi nden und optimistischen Zukunftserwartungen<br />
gibt. Dabei wird deutlich, dass die jeweilige Betätigung als solche e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fl uss<br />
hat, jedoch nicht das Ausmaß der Betätigung. Das bedeutet also, dass jene, die optimistisch<br />
<strong>in</strong> die Zukunft sehen, eher aktiv s<strong>in</strong>d, als jene die diese Erwartung nicht teilen. Vergleichsweise<br />
ger<strong>in</strong>g ist der E<strong>in</strong>fl uss ehrenamtlichen Engagements auf soziale Integration, stärker ist <strong>in</strong> dieser<br />
H<strong>in</strong>sicht die „Wirkung“ der Freiwilligenarbeit.<br />
Für die Zukunft wird erwartet, dass die Baby-Boomer Generation e<strong>in</strong> <strong>in</strong>sgesamt stärkeres zivilgesellschaftliches<br />
Engagement aufweisen wird. Die amerikanische Gerontolog<strong>in</strong> Phyllis Moen<br />
(2000) ortet e<strong>in</strong> verstärktes Interesse dieser Gruppe, wobei dieses durch schwächere Ligaturen<br />
gekennzeichnet ist, d.h. es kommt zu e<strong>in</strong>er Art „Drehtür-Engagement“. Das Interesse an e<strong>in</strong>er<br />
Mitgliedschaft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Vere<strong>in</strong>, die Anpa ssung an vorgegebene Formen und Normen nimmt<br />
ab. Es wird abgelöst durch das Interesse an e<strong>in</strong>er zeitlich überschaubaren Aufgabe. Zeitgebundene<br />
Projekte werden langfristigen Verpfl ichtungen vorgezogen. Viele Freiwillige betätigen<br />
sich als „Hopper“, e<strong>in</strong>mal hier und e<strong>in</strong> anderes Mal dort. Andere schließen sich <strong>für</strong> die Dauer<br />
e<strong>in</strong>er Aktion zusammen oder wandern zwischen Gruppen und Projekten, die den Bedürfnissen<br />
der jeweiligen Lebensphase und Lebenslage angepasst s<strong>in</strong>d (vgl. Kolland & Oberbauer 2006).<br />
5.7. Religiosität im hohen Alter<br />
Hochaltrigkeit ist mit e<strong>in</strong>er höheren Vulnerabilität und mit Verlusten und Grenzerfahrungen<br />
konfrontiert. Trotz dieser Verluste fi ndet sich <strong>in</strong> Untersuchungen auch bei Menschen im hohen<br />
Lebensalter e<strong>in</strong> verhältnismäßig gutes subjektives Wohlbefi nden. Vor diesem H<strong>in</strong>tergru nd<br />
stellt sich die Frage nach den Bewältigungsstrategien. Religiosität und Spiritualität zählen zu<br />
Ressourcen <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e erfolgreiche Bewältigung von Belastungen.<br />
149
ALLTAG IM ALTER<br />
Welchen Religionsgeme<strong>in</strong>schaften gehören nun die älteren <strong>Österreich</strong>er/<strong>in</strong>nen an und welche<br />
Aussagen können zur Religiosität getroff en werden? Die Daten der Volkszählung 2001, die <strong>in</strong> der<br />
nachstehenden Tabelle dargestellt s<strong>in</strong>d, zeigen, dass die meisten <strong>Österreich</strong>er/<strong>in</strong>nen (73,6%)<br />
römischkatholisch s<strong>in</strong>d. 4,7% der <strong>Österreich</strong>er/<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d evangelisch, 4,2% gehören dem<br />
islamischen Glauben an, 12% zählt zur Gruppe „ohne Bekenntnis“.<br />
Quelle: Statistik Austria (2002)<br />
150<br />
Alter<br />
Gesamt 8.032.926<br />
bis 14 J. 1.353.482<br />
15-24 J. 956.734<br />
25-39 J. 1.912.184<br />
40-49 J. 1.150.990<br />
50-59 J. 966.800<br />
60-69 J. 783.653<br />
70-79 J. 617.461<br />
80-89 J. 247.408<br />
ab 90 J. 44.214<br />
Tabelle 8: <strong>Österreich</strong>ische Wohnbevölkerung nach Altersgruppen und<br />
Religionszugehörigkeit<br />
Gesamt Röm. –Kath. Evang.<br />
Bevölkerung nach Alter und Religion<br />
sonstige christl.<br />
Gem.<br />
Die <strong>Hochaltrige</strong>n unterscheiden sich h<strong>in</strong>sichtlich der Religionszugehörigkeit zwar wenig vom<br />
Durchschnitt der Bevölkerung, jedoch deutlich von der Altersgruppe der 40-59-Jährigen. Damit<br />
lässt sich e<strong>in</strong> nicht-l<strong>in</strong>earer Zusammenhang zwischen Religionszugehörigkeit und Alter feststellen.<br />
Anhand der Daten des International Social Survey Programme 2002 konnte ermittelt werden,<br />
dass die Häufi gkeit des Kirchgangs <strong>in</strong> eng em Zusammenhang mit dem Alter steht. Während<br />
die Mehrheit der jungen Befragten und der im mittleren Alter angaben, seltener als e<strong>in</strong>mal im<br />
Jahr den Gottesdienst zu besuchen, antwortete der Großteil der über 60-Jährigen, e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der<br />
Woche oder auch öfter den Got tesdienst zu besuchen. Von den 60 bis 69-Jährigen geht mehr<br />
als e<strong>in</strong> Viertel m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal pro Woche <strong>in</strong> den Gottesdienst, bei den 7 0 bis 79-Jährigen<br />
Islam<br />
sonstige nichtchristl.<br />
Gem.<br />
o. B. Unbek.<br />
5.915.421 376.150 250.552 338.988 27.890 963.263 160.662<br />
73,60% 4,70% 3,10% 4,20% 0,30% 12,00% 2,00%<br />
1.058.280 56.931 48.505 100.602 5.178 64.285 19.701<br />
78,20% 4,20% 3,30% 7,40% 0,40% 4,70% 1,50%<br />
751.678 39.901 31.404 58.053 3.316 55.985 16.397<br />
78,60% 4,20% 3,30% 6,10% 0,30% 5,90% 1,70%<br />
1.357.007 81.550 67.071 102.311 8.800 247.328 48.117<br />
71,00% 4,30% 3,50% 5,40% 0,50% 12,90% 2,50%<br />
805.740 51.358 42.842 43.920 5.096 173.550 28.484<br />
70,00% 4,50% 3,70% 3,80% 0,40% 15,10% 2,50%<br />
654.144 51.474 32.893 24.174 2.725 178.429 22.961<br />
67,70% 5,30% 3,40% 2,50% 0,30% 18,50% 2,40%<br />
586.325 40.690 15.686 7.749 1.182 119.745 12.276<br />
74,80% 5,20% 2,00% 1,00% 0,20% 15,30% 1,60%<br />
473.219 34.961 8.856 1.833 963 90.252 7.377<br />
76,60% 5,70% 1,40% 0,30% 0,20% 14,60% 1,20%<br />
193.705 16.457 2.791 289 502 29.637 4.027<br />
78,30% 6,70% 1,10% 0,10% 0,20% 12,00% 1,60%<br />
35.323 2.828 504 57 128 4.052 1.322<br />
79,90% 6,40% 1,10% 0,10% 0,30% 9,20% 3,00%
ALLTAG IM ALTER<br />
s<strong>in</strong>d es 32% und bei den über 80-Jährigen 22%. Frauen gehen häufi ger <strong>in</strong> die Kirche als Männer.<br />
Am stärksten ist der geschlechterspezifi sche Unterschied bei den 70 bis 79-Jährigen: Von den<br />
Frauen <strong>in</strong> diesem Alter besuchen 50% e<strong>in</strong>m al pro Woche den Gottesdienst, bei den Männern<br />
ist der Anteil 28%. Bei den über 80-Jährig en verr<strong>in</strong>gert sich diese Diff erenz, es s<strong>in</strong>d 27% der<br />
Frauen, die jede Woche den Gottesdienst besuchen, und 20% der Männer. <strong>Hochaltrige</strong> <strong>in</strong> ländlichen<br />
Gebieten oder <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>eren Städten besuchen häufi ger den Gottesdienst als Personen <strong>in</strong><br />
städtischer Umgebung.<br />
Zu den religiösen E<strong>in</strong>stellungen von <strong>Hochaltrige</strong>n kann die Umfrage „Generation 50 Plus“ des<br />
Fessel-GfK Instituts <strong>für</strong> Marktforschung aus dem Jahre 2003 herangezogen werden. Gefragt wurde<br />
<strong>in</strong> dieser Studie: „Würden Sie sich als religiösen Menschen bezeichnen?“ Diese Frage bejahten<br />
59% der 50-69-Jährigen, 67% der 70-79-Jährigen und 72% der 80-Jährigen und Älteren. Auf die<br />
Frage: „Glauben Sie, dass es e<strong>in</strong> Leben nach dem Tod gibt?“, sagten rund 40% der 50-79-Jährigen,<br />
dass dies sehr stark/stark zutreff e, bei den 80-Jährigen und Älteren lag der Prozentsatz der<br />
Zustimmung bei 55%. Die Daten zeigen also kohortenspezifi sche Unterschiede <strong>in</strong> den religiösen<br />
E<strong>in</strong>stellungen. Daraus kann aber nicht e<strong>in</strong>e lebensaltersspezifi sche Zunahme der Religiosität<br />
abgeleitet werden. Dazu bräuchte es e<strong>in</strong>e Längsschnittuntersuchung.<br />
Belegt wird durch e<strong>in</strong>e Reihe von Studien, dass Religiosität e<strong>in</strong> wichtiger Faktor bei der Bewältigung<br />
von kritischen Lebensereignissen (Verlusten, Krankheit) darstellt (vgl. Idler 2006). Albani<br />
et al. (2004) kommen <strong>in</strong> ihr er Studie <strong>für</strong> Deutschland zu dem Ergebni s, dass es wohl e<strong>in</strong>en<br />
schwachen Zusammenhang zwischen Religiosität und ger<strong>in</strong>gen Körperbeschwerden im hohen<br />
Alter gibt, aber nicht bei den 60-70-Jährigen. Sie kommen zu dem Schluss, dass das Selbstwertgefühl<br />
bei jenen Personen höher ausgeprägt ist, die religiösen Äußerungen <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gem Maße<br />
zustimmen. Allerd<strong>in</strong>gs stellen sie auch fes t, dass <strong>in</strong> der Operational isierung von Religiosität<br />
zu wenig zwischen verschiedenen Ausdrucksformen unterschieden wird. Sie vermuten – und<br />
dies müsste untersucht werden –, d ass lediglich die konventionellen Formen der Religiosität<br />
(Gottesdienstbesuch, Vorstellungen über das Weiterleben nach dem Tod) ke<strong>in</strong> unterstützendes<br />
Potential aufweisen, während bei e<strong>in</strong>er Religiosität als überzeugter <strong>in</strong>nerer Haltung e<strong>in</strong>e protektive<br />
Wirkung gegeben se<strong>in</strong> dürfte.<br />
5.8. Ausblick und Perspektiven<br />
Sichtbar wird <strong>in</strong> den Freiz eitaktivitäten hochaltriger Menschen e<strong>in</strong>e Orientieru ng auf den eigenen<br />
Haushalt. Diese Orientierung ist teilweise durch e<strong>in</strong>e Veränderung <strong>in</strong>dividueller Bedürfnisse<br />
und teilweise durch e<strong>in</strong>en Mangel an Möglichkeiten zur Aktivitätsgestaltung außer Haus<br />
verursacht. Der gesellschaftliche Rückzug im höheren Alter wird zwar <strong>in</strong> den Aktivitätsprofi len<br />
deutlich sichtbar, jedoch stehen dah<strong>in</strong>ter nicht nur e<strong>in</strong>e veränderte Bedürfnislage, sondern<br />
auch kohortenbed<strong>in</strong>gte E<strong>in</strong>fl üsse wie z. B. e<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>geres Schulbildungsniveau oder fehlende<br />
Gelegenheiten/Angebote <strong>für</strong> Betätigung. Berücksichtigt werden müsste bei den Angeboten <strong>für</strong><br />
<strong>Hochaltrige</strong>, dass die über 80-Jährigen wenig er über private PKWs verfügen, mehr auf Angebote<br />
Wert legen, die mit unmittelbarer Kommunikation verknüpft s<strong>in</strong>d und nicht den Zugang<br />
151
ALLTAG IM ALTER<br />
zum Internet voraussetzen. E<strong>in</strong>e schwedische Kohortenvergleichs studie belegt, dass zwischen<br />
85-Jährigen, die 1904 und 1914 geboren worden s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong> signifi kanter Unterschied <strong>in</strong> den außerhäuslichen<br />
Freizeitaktivitäten zu verzeichnen ist (Pitkala et al. 2001). Daz u kommen zum<br />
Teil fehlende Voraussetzungen, um entsprechende Angebote erreichen zu können. Dies gilt <strong>in</strong><br />
städtischen Räumen vor dem H<strong>in</strong>tergrund des steigenden Anteils älterer Menschen, die an den<br />
Stadträndern leben.<br />
E<strong>in</strong>en Kern der Diskussion über das Leben im Alter bildet seit jeher die Suche nach s<strong>in</strong>nvollen<br />
Tätigkeitsmustern. Die Kritik an der Vorstellung vom Auf- und Ausbau "s <strong>in</strong>nvoller Freizeitbeschäftigungen"<br />
im Alter (vgl. dazu bereits Tartler 1961) geht davon aus, dass die soziale Positionierung<br />
des e<strong>in</strong>zelnen, se<strong>in</strong>e Macht, vom Sozialprestige ab hängt, das er besitzt. Um e<strong>in</strong> hohes<br />
Sozialprestige zu erreichen, muss der e<strong>in</strong>zelne den eigenen gesellschaftlichen Funktionswert<br />
e<strong>in</strong>sichtig machen. Hier setzt nun die Kritik an den meisten gut geme<strong>in</strong>ten Freizeitprogrammen<br />
e<strong>in</strong>. Die zweckfreie Liebhaberei, d.h. das Hobby, das e<strong>in</strong>en zentralen Stellenwert <strong>in</strong> der Ak -<br />
tivitätsforschung hat, und mehr noch die Zerstreuung und Unterhaltung <strong>in</strong> jeder Form seien<br />
"immer nur auf den e<strong>in</strong>zelnen bezogen, der sich beschäftigt oder der beschäftigt wird, niemals<br />
aber auf die Gesellschaft" (Tartler 1961: 149). Aktivitäten <strong>in</strong> dieser Form haben e<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>gen<br />
gesellschaftlichen Funktionscharakter. Wird allerd<strong>in</strong>gs der gesellschaftliche Funktionscharakter<br />
von Freizeitaktivitäten vor dem H<strong>in</strong>ter grund der K onsumrolle älterer Menschen g esehen<br />
(Estes 1979), dann bekommen diese e<strong>in</strong>en anderen Stellenwert. Wie sehr dem Konsum e<strong>in</strong>e<br />
bedeutende Rolle <strong>in</strong> der Vergesell schaftung der Älteren zukommt, lässt sich daran ablesen,<br />
dass im 5. Deutschen Altenbericht (2005) die Seniorenwirtschaft nicht nur als e<strong>in</strong> Element zur<br />
Steigerung der Lebensqualität gesehen wird, sondern auch als Impulsgeber <strong>für</strong> wirtschaftliches<br />
Wachstum und Beschäftigung.<br />
Was kann aus diesen Forschungs ergeb nissen <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e präventive Altenarbeit abgeleitet werden?<br />
Bislang setzten gut geme<strong>in</strong>te Aktivierungsprogramme bei <strong>in</strong>dividueller Kompetenzerhaltung<br />
und Kompetenzförderung an. Heute ist die Wirksamkeit solcher Interventionsansätze zum<strong>in</strong>dest<br />
umstritten (Baltes 1987). Es bestehen Zweifel, dass mehr Aktivität zu stärkerer sozialer Interaktion<br />
führt und zu mehr Unabhängigkeit führt.<br />
Freizeitgestaltung ist e<strong>in</strong> wichtiger Faktor <strong>für</strong> die Lebensqualität im Alter. Allerd<strong>in</strong>gs können zu<br />
starke Erwartungen an die Freizeitaktivitäten auch zur Belastung werden und trotz e<strong>in</strong>es hohen<br />
Aktivitätsniveaus S<strong>in</strong>nleere gegeben se<strong>in</strong> (vgl. Kolland 1996). So kann sich durch Überforderung<br />
die <strong>für</strong> die Lebensqualit ät ansonsten hilfreiche Funktion s<strong>in</strong>nstiftender Freizeitaktivitäten <strong>in</strong>s<br />
Gegenteil verkehren, wie dies neuere Studien zu Altenwohnsiedlungen (Retirement Communities)<br />
und Seniorendörfern (Retirement Villages) zeigen (Bernard et al. 2007).<br />
Abgesehen von dem grundlegenden Problem fehlender Daten über die Lebenssituation hochaltriger<br />
Menschen, weisen die bisher (<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>) vorliegenden Untersuchungen zum Alltag<br />
älterer Menschen mehrere Defi zite <strong>in</strong> methodischer H<strong>in</strong>sicht auf, und zwar e<strong>in</strong>mal dah<strong>in</strong>gehend,<br />
dass zumeist von E<strong>in</strong>zelaktivitäten ausgegangen wird, wodurch die K omplexität des Alltags-<br />
152
ALLTAG IM ALTER<br />
geschehens nicht er fasst werden k ann. Neuere Studien gehen <strong>in</strong> die Richt ung, Aktivitäts<strong>in</strong>ventare<br />
bzw. Repertoires von Aktivitäten zu untersuchen (Nilsson et al. 2006). Weiters gilt <strong>für</strong><br />
Freizeituntersuchungen, was auch fü r Untersuchungen zu anderen Lebensbereichen zutriff t,<br />
dass bei der Stichprobenauswahl zumeist nur Personen mit e<strong>in</strong>em ausreichenden kognitiven<br />
Status e<strong>in</strong>bezogen werden. Das am häufi gsten e<strong>in</strong>gesetzte Instrument der Datenerhebung, die<br />
Befragung, ist nicht anwendbar bei k ognitiv e<strong>in</strong>geschränkten Personen. E<strong>in</strong> dritter methodischer<br />
Mangel besteht dar<strong>in</strong>, dass die vorliegenden Daten – zum<strong>in</strong>dest <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> – lediglich<br />
e<strong>in</strong>en Querschnitt abbilden. Es fehlen Längsschnittdaten. Diese wären vor allem deshalb<br />
notwendig, um herausfi nden zu können, ob sich das Aktivitätsspektrum verändert, d.h. je älter,<br />
desto ger<strong>in</strong>ger s<strong>in</strong>d Ausmaß, Varianz und Intensität der Aktivitäten. Off en bleibt etwa, <strong>in</strong>wieweit<br />
<strong>Hochaltrige</strong> durch den Umzug <strong>in</strong> e<strong>in</strong> ( Pfl ege-)Heim ihren Aktivitätsspielraum weiter e<strong>in</strong>engen<br />
oder auch erweitern.<br />
153
ALLTAG IM ALTER<br />
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158
6. SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
RUPERT KISSER<br />
6.1. Unfälle alter Menschen<br />
SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
Es gibt so viele „Sicherheiten“ wie es Risiken gibt: Krieg, Krim<strong>in</strong>alität, <strong>Arbeit</strong>slosigkeit, Vermögensverlust,<br />
Krankheit usw. Sicherheit ist das (weitgehende) Fehlen e<strong>in</strong>es bestimmten Risikos.<br />
In vorliegendem Beitrag geht es um das Risiko von Unfällen, d.h. genaugenommen um das von<br />
Gesundheitsschäden durch Unfälle (unbeabsichtigte Verletzungen). Der vorliegende Beitrag<br />
untersucht das Unfallgeschehen im hohen Alter, Ursachen und Möglichkeiten der Prävention.<br />
6.1.1. Grenzen der Risiko-Kompensation<br />
Im Laufe des Alterungsprozesses kommt es zu markanten Veränderungen des Unfallrisikos. Die mit<br />
zunehmendem Alter langsam nachlassenden Fähigkeiten können im mittleren Lebensalter durch<br />
Erfahrung und Vorsicht noch gut <strong>in</strong> Schach gehalten werden. Mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben<br />
s<strong>in</strong>kt das Unfallrisiko auf e<strong>in</strong>en Tiefststand bei der Gruppe 65-69-Jährigen (Abbildung 1).<br />
300<br />
250<br />
200<br />
150<br />
100<br />
50<br />
0<br />
Abbildung 1: Unfallrisiko nach Alter und Sett<strong>in</strong>g (Verletzte je 1000 Personen der<br />
gleichen Altersgruppe)<br />
Heim, Freizeit Sport Verkehr <strong>Arbeit</strong>, Schule<br />
Quelle: Kuratorium <strong>für</strong> Verkehrssicherheit, 2007a<br />
159
SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
Irgendwann kann aber der Abbau nicht mehr kompensiert werden, auch nicht durch Verzicht<br />
auf riskante Tätigkeiten wie Autofahren, <strong>Arbeit</strong> mit Masch<strong>in</strong>en und Sportausübung. Vor allem<br />
häusliche Tätigkeiten lassen sich nicht vermeiden. Die Gebrechlichkeit nimmt zu, und Schaden<br />
m<strong>in</strong>dernde Gegenbewegungen gel<strong>in</strong>gen bei nachlassenden S<strong>in</strong>nesleistungen, abnehmendem<br />
Reaktionstempo und verr<strong>in</strong>gerter Muskelkraft immer schlechter.<br />
Während junge Menschen Unfälle im Straßenverkehr, am <strong>Arbeit</strong>splatz, bei privaten Werken oder<br />
beim Sport erleiden, stehen bei alten Menschen Unfälle im privaten Bereich im Vordergrund. Tätigkeiten,<br />
die <strong>für</strong> junge Menschen harmlos s<strong>in</strong>d, wie Hausarbeit, Körperpfl ege, oder die schlichte<br />
Fortbewegung auf zwei Be<strong>in</strong>en werden gefährlich. Etwa ab 75 Jahren steigt das Verletzungsrisiko<br />
bei diesen Tätigkeiten deutlich an, und übertriff t etwa ab 90 Jahren das Gesamtunfallrisiko der<br />
„kühnen“ Jugendlichen bei allen ihren Tätigkeiten. <strong>Hochaltrige</strong> s<strong>in</strong>d neben Jug endlichen die<br />
durch Unfälle am stärksten gefährdete Altersgruppe.<br />
6.1.2. Frauen und Männer ungleich betroff en<br />
Über alle Altergruppen h<strong>in</strong>weg s<strong>in</strong>d Männer wesentlich stärker von Unfällen betroff en als Frauen.<br />
Rund doppelt so viele Männer wie Frauen sterben durch Unfälle. Da diese Relation bereits ab<br />
dem Vorschulalter besteht und <strong>für</strong> die meisten Tätigkeiten gilt, wird häufi g e<strong>in</strong>e geschlechtstypische<br />
Risikobereitschaft angenommen. Im Alter sche<strong>in</strong>t dieser E<strong>in</strong>fl uss abzunehmen. Etwa<br />
ab 60 Jahren übertriff t das Verletzungsrisiko von Frauen das der Männer (siehe Abbildung 2).<br />
160<br />
Abbildung 2: Unfallrisiko nach Geschlecht (Verletzte je 1000 Personen der gleichen<br />
Altersgruppe)<br />
Quelle: Kuratorium <strong>für</strong> Verkehrssicherheit, 2007a<br />
Männer Frauen
SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
Im Jahr 2005 starben 837 Frauen durch Unfälle, aber nur 812 Männer (Statistik Austria 2007c).<br />
Vor allem zwei Ursachen kommen da<strong>für</strong> <strong>in</strong> Frage. Zum e<strong>in</strong>en leiden wesentlich mehr bet agte<br />
Frauen als Männer an Osteoporose, wodurch bei e<strong>in</strong>em Sturz Frakturen (mit folgenden Komplikationen)<br />
häufi ger s<strong>in</strong>d. Zum anderen ist zu vermuten, dass Frauen auf Grund ihrer traditionellen<br />
Geschlechterrolle auch im Alter im Haushalt aktiver s<strong>in</strong>d als Männer.<br />
6.1.3. Erhebliche Gesundheitsbelastung durch Unfälle<br />
Unfallverletzungen haben e<strong>in</strong>en bedeutenden Anteil an der Gesundheitsbelastung der Betagten.<br />
Der Anteil der Unfälle an den Sterbefällen <strong>Hochaltrige</strong>r (ab 80 Jahren) bet rägt zwar nur 2,3%,<br />
der an den Spitalfällen aber 10 ,8% und an den Spitalsbehandlungstagen 12,3% (T abelle 1).<br />
Leider s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Angaben verfügbar, wie viele der Hochbetagten nach e<strong>in</strong>em Unfall dauernde<br />
E<strong>in</strong>schränkungen der Selbständigkeit erleiden und wie gravierend diese E<strong>in</strong>schränkungen s<strong>in</strong>d<br />
(etwa Verlust der Fähigkeit zu selbständiger Lebensführung)<br />
Tabelle 1: Anteile der Unfälle an allen Gesundheitsschäden im Alter 80+<br />
Unfälle Krankheiten (5) Summe % Unfälle<br />
Verletzte (1) 55.400 - - -<br />
Spitalsfälle (2) 34.803 287.620 322.423 10,8<br />
Spitalstage (2) 449.941 3.207.573 3.657.514 12,3<br />
Tote (3) 874 37.443 38.317 2,3<br />
Verletzte (4) 55.400 - - -<br />
Quellen und Anmerkungen:<br />
(1) Kuratorium <strong>für</strong> Verkehrssicherheit, 2007a, b, HV, 2007<br />
(2) Statistik Austria, 2007a, (<strong>in</strong>kl. unbekannte Noxen)<br />
(3) Eigene Berechnung auf Basis von Kolb & Bauer, 1999: Behandlungskosten der stationären und ambulanten Pfl ege auf<br />
Basis der Spitalstage.<br />
(4) Statistik Austria, 2007b<br />
(5) “Krankheiten“ <strong>in</strong>kl. absichtliche Verletzungen<br />
6.1.4. Teure Folgen<br />
Mit dem Alter werden die Folgen von Unfällen immer schwerer. Das durchschnittliche Risiko,<br />
durch e<strong>in</strong>en Unfall e<strong>in</strong>e Verletzung zu erleiden, ist bei jüngeren und älteren Menschen (mit 10,4<br />
bzw. 9,5%) fast gleich. Die Unterschiede liegen <strong>in</strong> der Beh andlungsdauer und der Prognose.<br />
Die Heilung dauert länger, bzw. ist e<strong>in</strong>e vollständige Heilung <strong>in</strong> vielen Fällen überhaupt nicht<br />
möglich. Während e<strong>in</strong> jüngerer Mensch durchschnittlich 6,1 Tage bis zur Entlassung aus dem<br />
Spital benötigt, s<strong>in</strong>d es beim älteren Menschen 11,8 Tage. Das Risiko e<strong>in</strong>es Seniors, nach e<strong>in</strong>em<br />
Unfall dauerhafte Beh<strong>in</strong>derungen zu erleiden (<strong>in</strong>valide oder pfl egebedürftig zu werden) oder<br />
gar zu sterben, ist wesentlich erhöht (Tabelle 2).<br />
161
SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
162<br />
Tabelle 2: Verletzungsfolgen nach Unfällen bei jüngeren und alten Menschen<br />
< 60 % < 60 60-79 % 60-79 80+ % 80+ Alle<br />
Bevölkerung (1) 6.340.190 79 1.401.114 17 291.622 4 8.032.926<br />
Verletzte (2) 658.700 80 108.400 13 55.400 7 822.500<br />
Spitalsfälle (3) 171.566 64 63.396 24 34.803 13 269.765<br />
Spitalstage (3) 1.020.293 47 691.185 32 449.941 21 2.161.419<br />
Spitalskosten Mio. € (4) 669 47 453 32 295 21 1.417<br />
Tote (5) 970 38 676 27 874 35 2.520<br />
Quellen:<br />
(1) Statistik Austria, 2007d<br />
(2) Kuratorium <strong>für</strong> Verkehrssicherheit, 2007a, 2007b, HV, 2007<br />
(3) Statistik Austria, 2007a (<strong>in</strong>kl. unbekannte exogene Noxen)<br />
(4) Eigene Berechnung auf Basis von Kolb & Bauer, 1999: Behandlungskosten der stationären und ambulanten Pfl ege auf<br />
Basis der Spitalstage.<br />
(5) Statistik Austria, 2007b<br />
Alle<strong>in</strong> anhand der Verteilung der Spitalstage auf die Altersgruppen ist anzunehmen, dass rund<br />
55.400 Unfallverletzungen der Hoch betagten Behandlungskosten von etwa € 2 95 Millionen<br />
verursachen. Obwohl Hochbetagte nur e<strong>in</strong>en Bevölkerungsanteil von 4% haben, verursachen<br />
ihre Unfälle 21% der Spitalsbehandlungskosten und 35% der Toten. Über die <strong>in</strong>direkten Folgekosten<br />
(etwa <strong>für</strong> Pfl ege dauerhaft beh<strong>in</strong>dert gebliebener alter Menschen) ist nichts bekannt.<br />
Funktionse<strong>in</strong>schränkungen durch ungeeignete Wohnungen oder ungeeignetes Wohnumfeld führen<br />
noch zu weiteren Kosten, <strong>in</strong>dem alte Menschen mehr fremde Hilfe <strong>in</strong> An spruch nehmen, als<br />
unbed<strong>in</strong>gt nötig wäre bzw. weil sie überhaupt gezwungen s<strong>in</strong>d, sich vorzeitig <strong>in</strong> <strong>in</strong>stitutioneller<br />
Pfl ege zu begeben. Auch die Höhe dieser Kosten ist nicht bekannt.<br />
6.1.5. Wachsendes Problem<br />
Durch die demografi sche Entwicklung steigt die Zahl der Seniorenunfälle und die entsprechenden<br />
Gesundheits- und Sozialkosten. Zusätzlich erhöht der mediz <strong>in</strong>ische Fortschritt zwar die<br />
Heilungs aussichten, aber auch die durchschnittlichen Fallkosten.<br />
In den meisten Lebenszusammenhängen und Altersgruppen s<strong>in</strong>d Unfälle seit vielen Jahren<br />
rückläufi g, nicht aber bei alten Menschen. Markant ist die Entwicklung bei den tödlichen Unfällen.<br />
In den Jahren 1997 – 2006 gab es (laut Statistik Austria 2007b) bei <strong>Arbeit</strong>sunfällen e<strong>in</strong>en<br />
Rückgang von 238 auf 189 (-21%), bei den Verkehrsunfällen von 1.105 auf 730 (-34%), bei den<br />
K<strong>in</strong>derunfällen (bis 14 Jahre) g ar e<strong>in</strong>en von 88% auf 44% (-50%). In densel ben zehn Jahren<br />
stieg aber die Zahl der getöteten <strong>Hochaltrige</strong>n von 689 auf 874 (+27%; siehe Abbildung 3). E<strong>in</strong>e<br />
l<strong>in</strong>eare Weiterentwicklung des Trends der letzten fünf Jahre würde zu e<strong>in</strong>er Verdoppelung der<br />
Zahl der getöteten alten Menschen <strong>in</strong>nerhalb der nächsten 15-20 Jahre führen. Dieser Anstieg
SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
ist nicht nur auf die Zunahme der <strong>Hochaltrige</strong>n von 297.252 auf 361.100 begründet, denn auch<br />
das Tötungsrisiko (bezogen auf 100.000 Menschen dieser Altersgruppe) ist von 232 auf 242<br />
gestiegen.<br />
Quelle: Statistik Austria, 2007c<br />
Abbildung 3: Tödliche Unfälle nach Altersgruppen 1997 – 2006<br />
Auf jeden Getöteten k ommt e<strong>in</strong>e nicht näher bekannte Zahl von Unfallopfern, die n ach der<br />
Akutbehandlung Bedarf an Rehabilitations leistungen oder dauerhaften Pfl egeleistungen haben.<br />
Zur Prognose der Bedar fsentwicklung im G esundheits- und Sozialwesen wären verlässliche<br />
Erhebungen über die länger dauernden Unfallfolgen im Alter, genauere Analysen der zu Grunde<br />
liegenden Faktoren, e<strong>in</strong>schließlich der Entwicklungen der mediz<strong>in</strong>ischen Behandlung und der<br />
Rehabilitation notwendig. Solche Analysen des Unfallgeschehens s<strong>in</strong>d derzeit nicht verfügbar.<br />
6.2. Risikofaktoren und Unfallursachen<br />
6.2.1. Dom<strong>in</strong>ierende Rolle von Stürzen<br />
Grundsätzlich s<strong>in</strong>d alte Menschen von Unfällen aller Art betroff en: Schnittverletzun gen, Verbrühungen,<br />
Vergiftungen, Feuer und Rauch, Unf älle durch Transportmittel usw. Die mei sten<br />
präventiven Strategien (z. B. Verkehrssicherheit, Brandschutz, und Produktsicherheit) dienen<br />
nicht nur e<strong>in</strong>er Altersgruppe, sondern allen Menschen. Im hohen Alter steht aber e<strong>in</strong>e Unfallart<br />
163
SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
im Vordergrund: 84% aller Heim- und Freizeitunfälle s<strong>in</strong>d Stürze (siehe Tabelle 3). 55% der Stürze<br />
ereignen sich bei der schlichten Fortbewegung auf zwei Be<strong>in</strong>en. Grundsätzlich dienen Maßnahmen<br />
der Sturzprävention allen Altersgruppen, s<strong>in</strong>d aber <strong>für</strong> die Gruppe der Hochbetagten von<br />
besonderer Bedeutung. Es ist daher gerechtfertigt, die Diskussion der Unfälle <strong>Hochaltrige</strong>r auf<br />
die Verhütung von Stürzen zu konzentrieren.<br />
164<br />
Tabelle 3: Unfallarten und Unfalltätigkeiten bei jüngeren und bei älteren Menschen, ohne<br />
Verkehrsunfälle und <strong>Arbeit</strong>sunfälle<br />
Tätigkeit zum Zeitpunkt des Unfalls % < 60. % 60-79 % 80+ Gesamt<br />
Hausarbeit 14 15 12 14<br />
Gartenarbeit 2 6 1 3<br />
Heimwerken 9 8 1 8<br />
Spiel/ Freizeit 29 8 5 22<br />
Grundbedürfnisse 6 5 15 7<br />
Gehen/ Laufen 34 51 55 40<br />
Sonstige Tätigkeit 6 7 12 7<br />
Gesamt<br />
Unfallart<br />
100 100 100 100<br />
Sturz auf gleicher Ebene 26 52 62 36<br />
Sturz auf/von Treppen/Stufen 11 13 12 11<br />
Sturz aus der Höhe 13 9 10 12<br />
Zusammenstoß/Kontakt mit Gegenstand /Person 14 5 5 11<br />
E<strong>in</strong>klemmen, Quetschung, Schnittwunde 23 13 4 18<br />
Fremdkörper 1 0 0 1<br />
Thermische E<strong>in</strong>flüsse 3 1 1 2<br />
Überstrapazierung 9 8 7 9<br />
Gesamt 100 100 100 100<br />
Absolut < 60 J. 60-79 J. 80+ J. Gesamt<br />
269.200 83.100 52.700 404.900<br />
Quelle: Kuratorium <strong>für</strong> Verkehrssicherheit, 2007a<br />
6.2.2. Mittelbare und unmittelbare Umstände<br />
Das Entstehen e<strong>in</strong>es Unfalls bzw. e<strong>in</strong>er bestimmten Unfallverletzung ist meistens multikausal.<br />
Unmittelbar bestimmend <strong>für</strong> e<strong>in</strong> Risiko s<strong>in</strong>d Eigenschaften der physischen Umgebung, etwa der<br />
beteiligten Produkte, der Baulichkeiten, der Beleuchtung und der Schutze<strong>in</strong>richtungen. Zusätzlich<br />
spielen Eigenschaften der beteiligten Personen e<strong>in</strong>e Rolle, ihre aktuelle Wahrnehmung und<br />
ihr Handeln, ihren dauerhaften physischen und psychischen Möglichkeiten und allfällige vorübergehende<br />
E<strong>in</strong>schränkungen (z. B. durch Alkohol, Müdigkeit). E<strong>in</strong>en mittelbaren – deswegen<br />
aber ke<strong>in</strong>eswegs ger<strong>in</strong>gen – E<strong>in</strong>fl uss haben soziokulturelle oder ökonomische Bed<strong>in</strong>gungen,<br />
relevante Gesetze bzw. die Effi zienz ihres Vollzugs (z. B. B auordnung, Schadenersatzrecht),<br />
sonstige explizite und implizite Normen (etwa <strong>für</strong> Dienstleistungen von Gesundheits- oder
SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
Wohlfahrtse<strong>in</strong>richtungen), oder andere komplexe Eigenschaften jener Systeme, <strong>in</strong> denen Unfälle<br />
stattfi nden (siehe z. B. Christoff el & Gallagher 1999).<br />
Oft werden e<strong>in</strong>zelne Risikofaktoren als „Unfallursachen“ festgemacht, selten aber die wichtigsten<br />
Bed<strong>in</strong>gungen geme<strong>in</strong>sam und gemäß ihres Beitrags zum Gesamtrisiko dargestellt. Letztlich<br />
bleibt bei allen Analysen e<strong>in</strong> mehr oder weniger großes unerklärtes Restrisiko übrig, welches<br />
als „Zufall“ bezeichnet wird. Allzu häufi g beschränkt sich die Unfallforschung auf retrospektive<br />
deskriptive Untersuchungen der unmittelbaren Unfallumstände, wobei manchmal auch tautologische<br />
Aussagen wie „habe nicht aufgepasst“ oder „habe die Kontrolle verloren“ als Ursache<br />
ausgegeben werden. Für die Entwicklung wirksamer präventiver Maßnahmen ist wichtig, ke<strong>in</strong>e<br />
bedeutsamen Risikofaktoren zu übersehen, an denen möglicherweise angesetzt werden kann.<br />
6.2.3. Risikofaktoren der Person<br />
E<strong>in</strong>en vergleichsweise komplexen Untersuchungsansatz wählten Furian & Rehberg (2000). Durch<br />
Befragung von Menschen ab 60 wurden Umstände wie körperlicher Zustand, seelisches Wohlbefi<br />
nden, sozialer Status, und Eigenschaften der Wohnung erhoben. Anschließend wurden Senior/<br />
<strong>in</strong>nen mit und ohne Unfall mit e<strong>in</strong>ander verglichen, und solcher Art Risikofaktoren identifi ziert.<br />
Genau genommen s<strong>in</strong>d Risikofaktoren Korrelate, aber ke<strong>in</strong>e Ursachen. Erst bei Nachweis e<strong>in</strong>er<br />
direkten Wirkungskette würden sie zu Ursachen. Zumeist stehen zur Beurteilung der Wirkung<br />
nur plausible Überlegungen zur Verfügung. Die <strong>Arbeit</strong> von Furian & Rehberg (2000) ist nicht nur<br />
h<strong>in</strong>sichtlich der Methodik (case control study) <strong>in</strong>teressant, sondern bez ieht sich auf Senior/<br />
<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> g anz <strong>Österreich</strong>, u mfasst wichtige Risikofaktoren und ist noch ausreichend akt uell.<br />
Dabei wurden drei Studien zusammengefasst, <strong>in</strong> denen mit persönlichen Interviews der gleiche<br />
Fragenkatalog abgearbeitet wurde (Zufallsstichprobe von 803 Wiener Senior/<strong>in</strong>nen, Zufallsstichprobe<br />
von 1.018 bäuerlichen Senior/<strong>in</strong>nen, Quota-Stichprobe von 1.055 Senior/<strong>in</strong>nen aus<br />
anderen Bundesländern ohne Bauern). Die Stichprobe wurde nach Alter, Geschlecht, Bildung,<br />
Wohnort usw. segmentiert und an Hand von Daten der Volkszählung 1991 bzw. Fortschreibung<br />
1995 gewichtet, wo raus sich e<strong>in</strong>e rechnerische Gesamtstichprobe von 1.471 Personen ergibt.<br />
Die Ergebnisse können als repräsentativ angesehen werden. Die wichtigsten Ergebnisse seien<br />
daher hier zusammengefasst.<br />
Aus jeweils e<strong>in</strong>em Set von Fragen wurden Skalen <strong>für</strong> das Mobilitätsniveau der alten Men schen<br />
(z. B. „Habe Schwierigkeiten beim Aufstehen aus e<strong>in</strong>em Stuhl“, „Treppen steigen“, „mit dem<br />
Auto fahren“), <strong>für</strong> die Kompetenz des selbstständigen Wohnens (z. B. „Habe Schwierigkeiten<br />
beim E<strong>in</strong>kaufen gehen“, „Glühbirne auswechseln“), <strong>für</strong> die körperliche Aktivität (z. B. „Mache<br />
regelmäßig Spaziergänge“, „Gartenarbeit“, „Radfahren“), <strong>für</strong> körperliche Beschwerden (z. B.<br />
„Leide regelmäßig an Müdigk eit“, „Gelenkschmerzen“, „Bluthochdruck“), u nd <strong>für</strong> den Medikamentenkonsum<br />
(z. B. „Nehme regelmäßig Medikamente gegen Schlafschwierigkeiten“,<br />
„Herzbeschwerden“, „Kopfschmerzen“) gebildet. Die Gruppe der Unfallopfer (Personen mit<br />
e<strong>in</strong>em Unfall <strong>in</strong>nerhalb der letzten 12 Monate vor der Befragung) wies beim Mobilitätsniveau,<br />
beim Ausmaß körperlicher Aktivität signifi kant niedrigere, und bei der Skala der körperlichen<br />
165
SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
Beschwerden signifi kant höhere Werte auf. Beim Medikamentenkonsum waren die Ergebnisse<br />
une<strong>in</strong>heitlich. Medikamente reduzieren Beschwerden und senken so das Sturzrisiko, können<br />
es andererseits aber über Nebenwirkungen auch erhöhen (z. B. Schlafmittel).<br />
Ähnlich wurde verfahren, um seelisches Wohlbefi nden (z. B. „Ich b<strong>in</strong> oft traurig“, „Ich b<strong>in</strong> zufrieden<br />
mit me<strong>in</strong>em Leben“, „Ich möchte noch dazulernen“), E<strong>in</strong>samkeit (z. B. „Ich lebe ale<strong>in</strong>“, „Ich<br />
habe regelmäßig Kontakt mit Freunden oder Verwandten“, „Freunde oder Verwandte kommen<br />
gern zu mir, wenn sie Hilfe brauchen“) und das Niveau ge sellschaftlicher Aktivität (z. B. „Ich<br />
gehe regelmäßig <strong>in</strong>s Theater“, „Ich unternehme regelmäßig Reisen“, „Ich arbeite regelmäßig<br />
<strong>in</strong> Kirchen oder politischen Parteien mit“) zu messen. Schlechteres seelisches Wohlbefi nden<br />
und erhöhte E<strong>in</strong>samkeit korrelierten signifi kant mit dem Unfallrisiko. Für das Niveau der gesellschaftlichen<br />
Aktivität wurde ke<strong>in</strong> Zusammenhang nachgewiesen.<br />
Erhoben wurden auch Indikatoren des sozialen Status (höchste abgeschlossene Schulbildung,<br />
Art der früheren Berufst ätigkeit, Haushaltse<strong>in</strong>kommen) und daraus e<strong>in</strong> Index <strong>für</strong> die soz iale<br />
Schicht gebildet. Auch mit Haushaltse<strong>in</strong>kommen und Schicht<strong>in</strong>dex zeigte sich e<strong>in</strong> signifi kanter<br />
Zusammenhang: Personen die e<strong>in</strong>e Unfallverletzung erlitten hatten, hatten e<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>geres<br />
E<strong>in</strong>kommen und gehörten eher e<strong>in</strong>er niedrigeren sozialen Schicht an.<br />
Auch <strong>für</strong> die Aus stattung des Haushaltes wurde e<strong>in</strong> Zusammenhang mit dem Unfallrisiko<br />
nachgewiesen: Personen mit Unfallverletzungen im letzten Jahr wohnten <strong>in</strong> älteren, kle<strong>in</strong>eren<br />
Wohnungen, mit Ausstattungsmängel, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Mietverhältnis.<br />
6.2.4. Situative Mängel<br />
E<strong>in</strong>ige konkrete Sicherheitsmängel <strong>in</strong> Seniorenwohnungen wurden von Furian (2004) erhoben.<br />
Demnach gab es z. B. bei 35% der B adewannen <strong>in</strong> Seniorenhaus halten (Menschen über 60<br />
Jahren) ke<strong>in</strong>en Haltegriff , oder waren 33% der Teppiche ohne rutschsichere Unterlage. E<strong>in</strong>e aktuelle,<br />
umfassende und repräsentative Bestandsaufnahme von Gefahrenquellen <strong>in</strong> Haus halten<br />
<strong>Hochaltrige</strong>r <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>, etwa zur Abschätzung des präventiven Potentials und des nötigen<br />
Sanierungs aufwandes liegt nicht vor.<br />
Folgende Mängel <strong>in</strong> den Wohnungen stehen off ensichtlich im Zusammenhang mit Unfallrisiken<br />
(ohne Vollständigkeit und ohne Reihung nach Wichtigkeit):<br />
166<br />
» Stolperfallen und Fangstellen aller Art, z. B. Türschwellen, defekte Böden, Tep pichfalten,<br />
Kabel<br />
» Rutschgefahren aller Art, z. B. Teppiche ohne Rutschsicherung, nicht rutschhemmend<br />
ausgeführte Badewanne und Duschtasse<br />
» Wohnung ohne Badezimmer oder WC (Substandard-Wohnung)
SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
» Fehlende oder ungeeignete Halte griff e <strong>in</strong> Nassräumen, Badewanne statt Dusche, zu<br />
enge Dusche, Dusche mit hoher E<strong>in</strong>stiegsstufe, Dusche ohne Sitz<br />
» Zu tiefer WC-Sitz, ungeeignet montierter WC-Papierhalter, fehlende Haltegriff e<br />
» Mangelhafte Beleuchtung von <strong>Arbeit</strong>sfl ächen und Gehwegen, ke<strong>in</strong>e blendfreie Nachtbeleuchtung<br />
des Wegs zum WC<br />
» Ungeeignete Möbel, zu tiefe Betten und Stühle, zu enge Gehwege, ke<strong>in</strong>e Sitzgelegenheit<br />
im Vorraum<br />
» Fehlende Hilfsmittel wie Stufenhocker, moderne Haushaltsleiter, Vorhanglift<br />
» Unergonomische Küchene<strong>in</strong>richtung, D<strong>in</strong>ge des täglichen Bedarfs nicht <strong>in</strong> unmittelbarer<br />
Greifweite<br />
» Unordnung; D<strong>in</strong>ge auf dem Boden gelagert<br />
» defekte Geräte und Installationen<br />
In Hauszugängen und Stiegenhäusern lassen sich weiter fi nden:<br />
» Ke<strong>in</strong> barrierefreier Zugang zum Haus und zum Lift (auch bei Neubauten)<br />
» Handlauf bei Stiegen nur auf e<strong>in</strong>er Seite<br />
» E<strong>in</strong>zelne Stufen ohne jeden Handlauf<br />
» Defekte, stark ausgetretene oder rutschige Stufen<br />
» Ungeeignete Handläufe (zu kurz, zu dünn um gut umfasst zu werden)<br />
» Mangelhafte Beleuchtung des Stie genhauses (zu kurz geschaltetes M<strong>in</strong>utenlicht)<br />
» Nicht markierte Anfangs- und Endstufen oder e<strong>in</strong>zelne Stufen<br />
» Schwer gängige Haustore<br />
» Verstellte Gehwege (z. B. durch Papierconta<strong>in</strong>er)<br />
» Unbeleuchtete Hauszugänge<br />
Wege im öff entlichen Bereich nehmen eben falls selten auf die speziellen Bedürfnisse von alten,<br />
gebrechlichen Menschen Rücksicht:<br />
» Nicht asphaltierte oder holprig gepfl asterte Gehwege<br />
» Ke<strong>in</strong> geschlossenes Gehwegenetz<br />
» Ke<strong>in</strong>e vorgezogenen Kaps bei Kreuzungen<br />
» Gehsteige oder Kaps im Kreuzungsbereich nicht abgesenkt<br />
» Hohe Randste<strong>in</strong>e, zu starke Absenkungen bei Garagene<strong>in</strong>fahrten<br />
» Ke<strong>in</strong>e Niederfl urfahrzeuge im öff entlichen Verkehr (z. B. Eisenbahn)<br />
» Ke<strong>in</strong>e vorgezogenen und erhöhten Kaps bei Haltestellen<br />
167
SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
All diese H<strong>in</strong>derni sse können als strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber gebrechlichen,<br />
vorübergehend oder dauerhaft beh<strong>in</strong>derten Menschen gesehen werden.<br />
6.2.5. Soziokulturelles und politisches Umfeld<br />
Bei der Be trachtung der Entwicklung der Unfallzahlen <strong>in</strong> den letzten Jahren f ällt auf, dass <strong>in</strong><br />
jenen Bereichen Erfolge erzielt wurden, <strong>in</strong> denen es umfassende Präventions maßnahmen gab<br />
und gibt: Für die Sicherheit am <strong>Arbeit</strong>splatz etwa sorgen das <strong>Arbeit</strong>nehmer/<strong>in</strong>nenschutz-Gesetz<br />
und die fü r den Vollzug zuständigen <strong>Arbeit</strong>s-Inspek torate, Allgeme<strong>in</strong>e Unfallversicherungsanstalt<br />
und Sozialversicherungsanstalt der Bauern mit ihren Präventivdiensten, und die großen<br />
Interessen-Vertretungen der Unselbssttändigen. Der Sicherheit im Straßenverkehr dienen z. B.<br />
die Straßenverkehrs-Ordnung und andere Gesetze wie <strong>für</strong> Führersche<strong>in</strong>-Erteilung, Kraftfahrzeuge<br />
und Straßenbau, die Polizei als zuständige Behörde, politische Programme wie das Verkehrssicherheits-Programm<br />
(BMVIT 2003), Fach<strong>in</strong>stitutionen wie das Kuratorium <strong>für</strong> Verkehrssicherheit<br />
und die Automobil-Clubs als e<strong>in</strong>fl ussreiche Interessen-Vertretungen. Für die Sicherheit der K<strong>in</strong>der<br />
arbeiten etwa das Produktsicherheits-Gesetz und die <strong>für</strong> dessen Vollzug zuständigen Behörden,<br />
Normierungs <strong>in</strong>stitute und Fachorganisationen wie Kuratorium <strong>für</strong> Verkehrssicherheit, Vere<strong>in</strong> <strong>für</strong><br />
Konsumenten<strong>in</strong>formation oder „Große Schützen Kle<strong>in</strong>e“.<br />
Für die Sicherheit alter Menschen fehlen vergleichbar wirksame Bemühungen. Die Ursachen <strong>für</strong><br />
diese Lücke s<strong>in</strong>d nicht untersucht, e<strong>in</strong> Zusammenhang mit der e<strong>in</strong>geschränkten Wertschätzung<br />
des Alters <strong>in</strong> u nserer Gesellschaft k ann aber vermutet werden. In der Di skussion über steigende<br />
Kosten von Gesundheitsleistungen und Pensionen ersche<strong>in</strong>en alte Menschen vor allem<br />
als Kostenfaktor, und Seniorenorganisationen verfügen über vergleichsweise beschränkten<br />
politischen E<strong>in</strong>fl uss.<br />
Seit den 90er Jahren wird die P roblematik der Seniorenunfälle <strong>in</strong>tensiv diskutiert (z. B. Rogmans<br />
& Il l<strong>in</strong>g 1995, Stadt Wien & Institut Sicher Leben 1996, Institut Sicher Leben 2000,<br />
BMSK <strong>Österreich</strong>ischer Seniorenrat & Institut Sicher Leben 2003). 1996-2000 wurde <strong>in</strong> Wien<br />
e<strong>in</strong> mehrjähriges Demonstrationsprogramm („Initiative Sicher Gehen über 60“) durchgeführt,<br />
wobei <strong>in</strong> k urzer Zeit e<strong>in</strong> – al lerd<strong>in</strong>gs nur vorübergehender Erfolg – erreicht wurde (Buresch<br />
2000). Dabei wu rden u. a. Stakeholder-Konferenzen durchgeführt, Informationsmaterial<br />
entwickelt und verteilt, e<strong>in</strong> Vortragsprogramm <strong>für</strong> Senior/<strong>in</strong>nen und Wohlfahrtorganisationen<br />
durchgeführt, Information über Medien transportiert, öff entliche Veranstaltungen gemacht. In<br />
relativ kurzer Zeit wurden die Möglichkeiten der Sturzprävention <strong>in</strong>s Bewuss tse<strong>in</strong> der breiten<br />
Öff entlichkeit und der Fachöff entlichkeit gerückt. E<strong>in</strong> Vergleich relevanter Gesundheits<strong>in</strong>di-<br />
168<br />
» Zu kurze Grünphasen bei geregelten Übergängen<br />
» Mangelhafte Räumung bei Schnee und Eis<br />
» Arztpraxen, Apotheken, Geschäftslokale nur über Stufen erreichbar
SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
katoren (Spitals fälle und Spitalstage von Senior/<strong>in</strong>nen nach Freizeitunfällen im Allgeme<strong>in</strong>en<br />
und Schenkelhalsbrüche im Besonderen) zwischen Wien und restlichem <strong>Österreich</strong> zeigt <strong>für</strong><br />
die Jahre 1995 – 1998 e<strong>in</strong>e deutlich günstigere Entwicklung <strong>in</strong> Wien als im übrigen <strong>Österreich</strong>.<br />
Nach Beendigung der Kampagne glichen sich die Wiener Werte aber bald wieder (2000) dem<br />
Bundesdurchschnitt an.<br />
In den letzten Jahren setzten e<strong>in</strong>ige Institutionen Maßnahmen zur Information (etwa mit Broschüren,<br />
Checklisten, Videos, Schulungsunterlagen), und startete das Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> soziale<br />
Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz 2003 e<strong>in</strong>en „Aktionsplan Seniorensicherheit“.<br />
Insgesamt blieben die Bemühungen um e<strong>in</strong>e verstärkte Prävention der Seniorenunfälle<br />
aber fragmentarisch und ohne nachhaltigen Erfolg. So ist z. B. Unfallverhütung nicht <strong>in</strong> allen<br />
Bundesländern <strong>in</strong> den Ausbi ldungen der e<strong>in</strong>schl ägigen Berufe verankert, fehlen Reparaturdienste<br />
<strong>für</strong> die Wohnungen Hochbetagter, ist die Zusammenarbeit zwischen Akutspitälern<br />
und häuslicher Betreuung Hochbetagter nach Sturzverletzungen verbesserungswürdig, ist die<br />
<strong>in</strong>dividuelle Diagnose des Sturzrisikos und ihre Behandlung nicht Rout<strong>in</strong>e. Wie ausgeführt,<br />
war das Risiko <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en <strong>Hochaltrige</strong>n an e<strong>in</strong>em Unfall zu sterben im Jahr 2006 sogar höher als<br />
1997. Gesetzliche Zuständigkeiten haben Bundesm<strong>in</strong>isterien, Landesregierungen, Geme<strong>in</strong>den<br />
und Krankenkassen, wobei laut Bundesverfassung die Hauptverantwortung bei Ländern und<br />
Geme<strong>in</strong>den liegt (Zuständigkeiten <strong>für</strong> Gesundheit, Wohlfahrt, Familienpolitik, Bauwesen, Sport).<br />
International s<strong>in</strong>d umfangreiche Erfahrungen zur Sturzprävention <strong>für</strong> alte Menschen verfügbar<br />
(Ende 2007 etwa 1,9 Mio. Treff er bei Google <strong>für</strong> „fall“ + „prevention“ + „elderly“) und <strong>in</strong>ternationale<br />
Netzwerke erleichtern den Erfahrungsaustausch (z. B. www.profane.eu.org, www.stopfalls.org,<br />
www.eunese.org, www.eurosafe.eu.com). In e<strong>in</strong>igen Staaten wurden bereits Pro gramme implementiert.<br />
In aktuellen gesundheitspolitischen Dokumenten der Weltgesundheitsorganisation<br />
(WHO 2005), der Europäischen Union (Europäische Kommission 2006, Rat der Europäischen<br />
Union 2007) und des Bundesm<strong>in</strong>isteriums <strong>für</strong> Gesundheit und Frauen (BMGF 2006) wird ähnlich<br />
lautend empfohlen, umfassende Programmen zur Prävention von Unfällen und Verletzungen zu<br />
entwickeln und Stürze von Senior/<strong>in</strong>nen als Schwerpunkt zu behandeln.<br />
6.3. Möglichkeiten der Prävention<br />
Unfälle verdienen Augenmerk der Gesu ndheits- und Sozialpolitik, weil hier die C hancen der<br />
Prävention groß s<strong>in</strong>d, und Prävention auch Kostenersparnis verspricht. Werden e<strong>in</strong> Unfall, und<br />
damit der ansch ließende Behandlungskomplex bzw. der Pfl egeaufwand im F alle bleibender<br />
Schäden vermieden, entfallen nicht nur das die damit verbundenen Leid, sondern auch die<br />
Kosten. Bei degenerativen Erkrankungen, deren Auftreten h<strong>in</strong>aus geschoben, aber nicht grundsätzlich<br />
verh<strong>in</strong>dert werden kann, ist diese Aussicht ger<strong>in</strong>ger. E<strong>in</strong>en ausgezeichneten Überblick<br />
über die Möglichkeiten der Prävention bieten Todd & Skelton (2004).<br />
169
SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
6.3.1. Wohnungsberatung und Wohnungssanierung<br />
Die meisten alten Menschen wünschen sich, so lange wie möglich <strong>in</strong> der gewohnten Umgebung<br />
zu bleiben und die Kompetenz des selbstständigen Wohnens so lange wie möglich zu bewahren<br />
(Havel & Sammer 2001, BMSG 2000). Körperliche Limitationen <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit Um gebungsmängeln<br />
machen oft selbständige Lebensvollzüge unmöglich, erzw<strong>in</strong>gen damit e<strong>in</strong> vorzeitiges<br />
Verlassen der eig enen Woh nung oder führen zu Unfällen. Manche E<strong>in</strong>schr änkungen und Unfallgefahren<br />
könnten mit e<strong>in</strong>fachen Handgriff en beseitig t werden, aber bei Alters schwäche,<br />
Krankheit, gewohnheitsbed<strong>in</strong>gter Sparsamkeit oder Armut, u nd Abneigung gegen Veränderungen<br />
fehlt meist die Kr aft dazu. Oft verlangen defekte Elekt ro<strong>in</strong>stallationen, unbrauchbare<br />
Waschgelegenheiten oder Heizungen nach aufwändigeren Sanierungen.<br />
Erforderliche Sicherungsmaßnahmen müssen bei Hochbetagten <strong>in</strong> der Regel von Angehörigen<br />
oder von Mitarbeitern/<strong>in</strong>nen von Wohlfahrtsorganisationen <strong>in</strong>itiiert und mit Zustimmung (d.h. im<br />
Auftrag) des alten Menschen durchgeführt werden. Es geht daher weniger um die Bereitstellung<br />
von Informationen über Unfallgefahren und Abhilfen als um die Organisation und F<strong>in</strong>anzierung<br />
entsprechender Dienstleistungen.<br />
Von Tomek et al. (2006) wurde das Modell e<strong>in</strong>er auf e<strong>in</strong> Bundesland bezogenen Beratungsstelle <strong>für</strong><br />
Wohnungssicherheit vorgeschlagen, die <strong>für</strong> alle relevanten Gruppen (Wohlfahrtsorganisationen,<br />
Spitäler, Ärzte, Gewerbebetriebe, Senior/<strong>in</strong>nen und ihre Angehörigen) die nötige Information<br />
und Hilfestellung geben soll. Die Beratung alter Klienten/<strong>in</strong>nen sol l primär von Mitarbeitern/<br />
<strong>in</strong>nen von Sozialdiensten erfolgen. Das notwendige Know-How soll <strong>in</strong> der gesetzlich festgelegten<br />
Ausbildung und Weiterbildung vermittelt werden. Die zuständige Verwaltungsstelle des Landes<br />
könnten Verträge mit e<strong>in</strong>igen größeren Handwerksbetrieben schließen, damit alle notwendigen<br />
Sanierungsarbeiten aus e<strong>in</strong>er Hand Flächen deckend erbracht werden können. Deren Tätigkeit<br />
sollte besonderen Aufl agen zur Qualitätssicherung unterliegen, unter anderem müssen die Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen<br />
<strong>für</strong> den Umgang mit Hochbetagten geeignet und geschult se<strong>in</strong>. Ergänzend wären<br />
Programme zur fi nanziellen Förderung von Maßnahmen <strong>für</strong> Bedürftige vorzusehen.<br />
Ähnliche Modelle haben sich im Ausland als durchaus auch kostenwirksam erwiesen (etwa<br />
<strong>in</strong>dem der notwendige Pfl egeaufwand reduziert werden konnte (z. B. Braubach 2003).<br />
6.3.2. Sturzprävention <strong>in</strong> Anstalten<br />
E<strong>in</strong> spezifi sches Problem ist die Sturzgefahr <strong>in</strong> Krankenhäusern, Pfl egeheimen und Senioren-<br />
Wohnhäusern. Patient/<strong>in</strong>nen bzw. Klient/<strong>in</strong>nen solcher E<strong>in</strong>richtungen tragen auf Grund ihres<br />
üblicherweise schlechten Gesundheitszustandes e<strong>in</strong> besonders hohes Sturzrisiko. Systematische<br />
Programme zur Sturzprävention (z. B. bauliche Maßnahmen, Überwachung, optimale Gehhilfen)<br />
s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> erst als Modellversuche bekannt.<br />
170
SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
Für Hochrisiko-Gruppen (etwa Personen mit hochgradiger Osteoporose, Demenz, oder aus<br />
sonstigen mediz<strong>in</strong>ischen Gründen erhöhtem Sturzrisiko) stehen heute Hüftprotektoren zur Verfügung.<br />
Diese zumeist <strong>in</strong> der Unterbekleidung e<strong>in</strong>genähten oder direkt auf die Hüften geklebten<br />
Kappen erwiesen sich als wirksamer Schutz gegen Schenkelhalsbrüche. In <strong>Österreich</strong> sche<strong>in</strong>en<br />
Hüftprotektoren bisher erst selten Verwendung fi nden.<br />
Krankenanstalten haben grundsätzlich die Möglichkeit, auch über ihren unmittelbaren Verantwortungsbereich<br />
h<strong>in</strong>aus zu wirken. Wenn bei Patien/<strong>in</strong>nen erhöhtes Sturzrisiko festgestellt wird<br />
(an Hand gezielter Anamnese und relevanter Diagnosen), wäre wünschenswert, diesen alten<br />
Menschen nicht ohne weit ere Hilfestellung wieder <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e gefährdende Wohnumgebung zu<br />
entlassen. Notwendige Schnittstellen und Kooperationen zwischen Krankenanstalten, Angehörigen<br />
und Sozialdiensten s<strong>in</strong>d teilweise entwickelt. Es sche<strong>in</strong>t lohnend zu untersuchen,<br />
<strong>in</strong>wieweit diese ausgebaut und verbessert werden können.<br />
6.3.3. Bedarfsgerechtes Bauen<br />
Bei Neubau-Vorhaben wird bis heute wenig auf die Bedürfnisse alter Menschen Rücksicht genommen.<br />
Bauordnungen und Wohnbauförderung s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht verbesserungsfähig<br />
(BMSG 2001, Kapitel Alter und Wohnen). Unbefriedigend er sche<strong>in</strong>t, dass auch heute noch immer<br />
viele Neubauten errichtet werden, die weder barrierefrei (im S<strong>in</strong>ne der EN Ö-NORM B1600)<br />
ausgeführt s<strong>in</strong>d noch mit vernünftigem Aufwand den Bedürfnissen e<strong>in</strong>es beh<strong>in</strong>derten oder<br />
pfl egebedürftigen alten Menschen angepasst werden können (etwa i. S. von Marx 1994). Viele<br />
Stiegenhäuser <strong>in</strong> E<strong>in</strong>familienhäusern eignen sich beispielsweise nicht <strong>für</strong> den nachträglichen<br />
E<strong>in</strong>bau e<strong>in</strong>es Treppenlifts, viele Badezimmer können nicht beh<strong>in</strong>dertengerecht umgebaut werden.<br />
Geeignete Anpassungen der Förderbed<strong>in</strong>gungen können hier steuernd w irken. E<strong>in</strong>zelne<br />
Bundesländer haben ihre Richtl<strong>in</strong>ien bereits entsprechend geändert und bieten Förderwerbern,<br />
aber auch Gewerbetreibenden notwendige Information und Beratung.<br />
Auch bei Wohnhausanlagen kann off ensichtlich noch mehr auf die Bedürfnisse der verschiedenen<br />
Generationen Rücksicht genommen werden. Um die starre Trennung zwischen eigenverantwortlichem<br />
Wohnen, betreutem Wohnen oder Wohnen <strong>in</strong> Anstalten aufzuweichen, um den<br />
Zwang zur Übersiedlung gebrechlich gewordener Menschen <strong>in</strong> Senioren-Wohnhäusern oder<br />
Pfl egee<strong>in</strong>richtungen zu verr<strong>in</strong>gern, und um e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>facheres Zusammenleben der Generationen<br />
zu unterstützen, wurden <strong>in</strong> den letzten Jahren viele verschiedene Ansätze (Stichwort „Design<br />
For All“) vorgeschlagen (siehe z. B. BMSG 2000).<br />
6.3.4. Barrierearme öff entliche Räume<br />
Wesentliche Verbesserungen wurden <strong>in</strong> den vergangenen Jahrzehnten unter dem Ziel der „Barrierefreiheit“<br />
erreicht, wobei die besonderen Bedü rfnisse körperlich beh<strong>in</strong>der ter Menschen<br />
(<strong>in</strong>sbesondere von Rollstuhlfahrer/<strong>in</strong>nen) im Vordergrund standen. Die meisten dabei erzielten<br />
Verbesserungen (barrierefreie Zugänge zu öff entlichen E<strong>in</strong>richtungen, Verkehrsmitteln usw.)<br />
171
SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
erleichtern auch gebrechlichen oder gehbeh<strong>in</strong>derten alten Menschen das Leben und reduzieren<br />
ihr Sturzrisiko.<br />
Dennoch ist die hohe Bedeutung der sicheren Gestaltung öff entlicher Wege <strong>für</strong> die Vermeidung<br />
von Stürzen alter Menschen noch nicht ausreichend bewusst. Z. B. kann <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> nicht<br />
angegeben werden, w ie viele alte Menschen auf öff entlichen Straßen durch Stürze zu Tode<br />
kommen. Die Verkehrsunfall-Statistik des BMI erfasst tödliche Stürze <strong>in</strong> der Regel nur dann,<br />
wenn e<strong>in</strong> Kfz beteiligt ist, und <strong>in</strong> der Sterbestatistik fehlen Angaben zum Ort des Sturzes. Die<br />
Verletzungsursachen-Erhebung (früher: Freizeitunfall-Statistik) des KfV bezieht sich auf Spitalsfälle<br />
und damit auf nicht tödliche Unfälle. Wenn man annimmt, dass der Anteil der öff entlichen<br />
Wege an den tödlichen Unf ällen der gleiche i st wie bei den nicht tödlichen Unf ällen, muss<br />
jährlich mit bis zu 200 alten Menschen (ab 60 Jahren) gerechnet werden, die auf öff entlichen<br />
Wegen tödlich zu Sturz kommen.<br />
Umfassende Programme zur barrierearmen (bzw. idealer Weise barrierefreien) Gestaltung von<br />
Fußwegen unter besonderer Berück sichtigung der Bedü rfnisse des Alters s<strong>in</strong>d derzeit nicht<br />
bekannt. Obwohl die Situation <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> im <strong>in</strong>ternationalen Vergleich wahrsche<strong>in</strong>lich nicht<br />
schlecht ist, ist Verbesserungspotential gegeben, etwa wenn man an die vielfach fehlenden<br />
Gehsteige im ländlichen Raum, das vielfach holprige Pfl aster vorhandener Gehsteige oder die<br />
zahlreichen nur über Treppen erreichbaren Geschäfte und Arztpraxen denkt. Geeignete Modelle<br />
zur Förderung des konsequenten Ausbaus seniorengerechter Wegwege durch Geme<strong>in</strong>den und<br />
Länder s<strong>in</strong>d zu entwickeln.<br />
6.3.5. Bewegung und Kräftigung<br />
Der Zusammenhang von körperlicher Schwäche und erhöhtem Unfallrisiko sche<strong>in</strong>t erwiesen.<br />
Von den heute über 60 Jährigen betreiben dennoch nur etwa 20 % regelmäßig sportliche Bewegung,<br />
wobei Wandern, Schwimmen und Radfahren zu den h äufi gsten Tätigkeiten zählen<br />
(Kolland 2000, Elmadfa et al. 2001).<br />
Die Ursachen da<strong>für</strong> liegen zum e<strong>in</strong>en im mangelhaften Bewusstse<strong>in</strong> <strong>für</strong> die hohen gesundheitliche<br />
Bedeutung der Bewegung (<strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit fehlender Gewohnheit aus jüngeren Jahren)<br />
und <strong>in</strong> Gebrechen und Erkrankungen zum anderen. Allerd<strong>in</strong>gs sche<strong>in</strong>en die vorhandenen Angebote<br />
<strong>für</strong> alte Menschen aber nicht besonders attraktiv zu se<strong>in</strong>. Sportvere<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>d (von wenigen<br />
Ausnahmen abgesehen) weitgehend auf junge Menschen und Wettkampf ausgerichtet. Auch<br />
die Sportförderung fördert primär diese Ausrichtung der Vere<strong>in</strong>e und Verbände. Private Fitness-<br />
E<strong>in</strong>richtungen stellen erst zögerlich auf die neuen Kundengruppen der Senior/<strong>in</strong>nen ab.<br />
Grundsätzlich gibt es bereits e<strong>in</strong>e Vielfalt von Angeboten: Seniorenturnen bei Sportvere<strong>in</strong>en,<br />
Seniorenverbänden, kommerziellen Fitness-Studios, Geme<strong>in</strong>den oder Versicherungen; ferner<br />
eher mediz<strong>in</strong>isch orientierte Leistungen der Rehabilitation und Festigung der Gesundheit (Phy-<br />
172
SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
sio- und Ergotherapeut/<strong>in</strong>nen). E<strong>in</strong>e noch bessere Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Senior/<br />
<strong>in</strong>nen, e<strong>in</strong>e systematische Förderung durch öff entliche und private Hände und e<strong>in</strong>e verstärkte<br />
Bewerbung der Angebote wären Erfolg versprechend und wünschenswert.<br />
6.3.6. Prävention <strong>in</strong> der Geriatrie<br />
E<strong>in</strong>en wesentlichen Beit rag <strong>in</strong> der k ünftigen Sturzprävention könnten mediz<strong>in</strong>ische Dienstleistungen<br />
leisten (z. B. Böhmer 2003, Pils 2003). Furian & Rehberg (2000) haben gezeigt, dass<br />
auf jeden Sturzunfall mit Verletzungsfolge mehrere Stürze ohne Verletzungen kommen. Die<br />
gezielte Untersuchung des Sturzrisikos alter Menschen, die Diagnose e<strong>in</strong>es allenfalls erhöhten<br />
und damit behandlungswürdigen Sturzrisikos sowie die „V erordnung“ e<strong>in</strong>er pr äventiven Behandlung<br />
kann e<strong>in</strong> Arzt/e<strong>in</strong>e Ärzt<strong>in</strong> vornehmen – durch e<strong>in</strong>e Zusammenschau von Ergebnissen<br />
der Anamnese bisheriger Stürze (mit und ohne Verletzungsfolgen), relevanten mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Befunden (z. B. betreff end Balance, Visus, Knochenfestigkeit, Hypotonie, mentalen Status, e<strong>in</strong>genommene<br />
Medikamente) und von Befunden über die Lebensumgebung des/der Patienten/<strong>in</strong><br />
(Sturzgefahren <strong>in</strong> Wohnung und Wohnumgebung). Da die meisten alten Menschen ohnedies <strong>in</strong><br />
regelmäßiger ärztlicher Behandlung stehen, könnten auf diese Weise viele Betroff ene erreicht<br />
werden. Ärztliche Ratschläge haben auch e<strong>in</strong>e gute C hance auf Befolgung. Erste Model le <strong>in</strong><br />
diese Richtung wurden da u nd dort bereits erarbeitet, zum Teil evaluiert, aber off ensichtlich<br />
noch nicht fl ächendeckend implementiert (vergleiche auch Bundesärztekammer 2001).<br />
Ausgehend von e<strong>in</strong>em derartigen <strong>in</strong>dividuellen Befund lassen sich auch nicht mediz<strong>in</strong>ische<br />
„Behandlungen“ ableiten und <strong>in</strong>itiieren: Beratung des alten Menschen und se<strong>in</strong>er Angehörigen,<br />
Veranlassung e<strong>in</strong>er Wohnungsverbesserung, Sicherstellung der gezielten Betreuung <strong>in</strong> der gewohnten<br />
Umgebung, Überweisung zu Maßnahmen zur Festigung von Körperkraft, Beweglichkeit<br />
und Balance (Seniorensport bzw. Physio- oder Ergotherapie), „Verordnung“ von Hüftprotektoren<br />
usw.<br />
E<strong>in</strong>e weitere wesentliche Strategie zur Prävention von Sturzverletzungen ist die Prävention der<br />
Osteoporose, welche freilich schon <strong>in</strong> früheren Lebensjahren ansetzen muss.<br />
6.4. Schlussfolgerungen und Empfehlungen<br />
Verletzungen durch Unfälle im hohen Alter s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> erheblicher Kostenfaktor im Gesundheits- und<br />
Sozialsystem. Im Vorder grund stehen Sturzunfälle. Hochbetagte haben e<strong>in</strong> wesentlich höheres<br />
Risiko bei e<strong>in</strong>em Sturz verletzt zu werden als junge Menschen oder „junge Alte“. Unfallprävention<br />
<strong>für</strong> alte Menschen bedeutet vor allem die systematische Verr<strong>in</strong>gerung von Sturzrisiken. Stürze im<br />
Alter s<strong>in</strong>d nicht nur das Resultat von Krankheiten, sondern zu e<strong>in</strong>em großen Teil zwangsläufi ge<br />
Folge des Vorhandense<strong>in</strong>s diverser Sturzauslöser und Risikofaktoren, die weitgehend beseitigt<br />
werden könnten.<br />
173
SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
Informationsdefi zite bestehen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
Es s<strong>in</strong>d nicht allzu viele Strategien, die guten Erfolg versprechen: Die Beseitigung von Sturzgefahren<br />
<strong>in</strong> den Wohnungen und <strong>in</strong> der Wohnumgebung und im öff entlichen Raum, der Verzicht<br />
auf weitere Neubauten mit e<strong>in</strong>gebauten Sturzgefahren, die konsequente Beseitigung von Barrieren<br />
im öff entlichen Raum, Sturzprävention <strong>in</strong> Anstaltshaushalten z. B. auch unter vermehrter<br />
Verwendung von Hüftprotektoren <strong>für</strong> Hochrisikogruppen, die Verbesserung des Angebotes <strong>für</strong><br />
Bewegung und Kräftigung im Alter, Diagnose der <strong>in</strong>dividuellen Sturzgefährdung <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung<br />
mit <strong>in</strong>dividuellen Behand lungs- bzw. Präventivprogrammen, sowie Prävention der Osteoporose.<br />
Schwieriger ist die politi sche Organisation solcher komplexen Interventionen, weil nicht nur<br />
e<strong>in</strong> politischer Sektor zuständig ist. Vielmehr ist e<strong>in</strong> Zusammenwirken verschiedener Bereiche<br />
wie Wohlfahrt, Familienpolitik, Gesundheitsverwaltung, Sozialversicherung, Bauwesen, Sport<br />
und Konsumentenschutz – und das <strong>in</strong> Bund, Ländern und Geme<strong>in</strong>den – erforderlich. Die angespannte<br />
fi nanzielle Situation im Gesundheits- und Sozialwesen wäre e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>e vernünftige<br />
Motivation, <strong>in</strong> Maßn ahmen zur Kostenreduktion zu <strong>in</strong>vestieren, andererseits aber e<strong>in</strong> re ales<br />
Hemmnis, weil andere F<strong>in</strong>anzierungsbedürfnisse dr<strong>in</strong>gender ersche<strong>in</strong>en.<br />
174<br />
» Quantifi zierung der Folgekosten von Unfällen im Alter <strong>in</strong>sbesondere auch unter<br />
Berücksichtigung von Rehabilitationsleistungen und dauerhaften Pfl egeleistungen,<br />
gegliedert nach den Trägern der Folgekosten. Dies soll zu e<strong>in</strong>em rout<strong>in</strong>emäßig anwendbaren<br />
Rechenwerk führen, welches <strong>in</strong> den jährlichen Berichten über das Verletzungsgeschehen<br />
<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> verwendet werden kann. Auf der Basis e<strong>in</strong>er solchen<br />
Rechnung s<strong>in</strong>d Prognosen der künftigen Kostenentwickl ung oder Kosten-Nutzenrechnungen<br />
zu Präventionsmaßnahmen möglich.<br />
» Entwicklung von <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Erklärungsmodellen des Sturzrisikos alter Menschen,<br />
welche die wesentlichen Risikofaktoren (der Umgebung, der Person, des<br />
gesellschaftlich-politischen Umfelds) umfassen. Bestands aufnahme der konkret wirksamen<br />
und durch Prävention grundsätzlich bee<strong>in</strong>fl ussbaren Risikofaktoren (Sturzgefahren<br />
und fehlende Sicherheitse<strong>in</strong>richtungen <strong>in</strong> Privat- und Anstaltshaushalten,<br />
<strong>in</strong> der Wohnumgebung, Osteoporose, Muskelkraft und Beweglichkeit usw.). Gesucht<br />
s<strong>in</strong>d praktisch quantifi zierbare und aussagekräftige Indikatoren <strong>für</strong> das Sturzrisiko,<br />
an Hand derer Fortschritte oder Rückschritte ablesbar s<strong>in</strong>d.<br />
» Erprobung und Evaluierung komplexer, <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärer und Ressort übergreifender<br />
Maßnahmen der Sturzprävention, die etwa <strong>in</strong> der Komb<strong>in</strong>ation von technischen,<br />
mediz<strong>in</strong>ischen, sozialen Ansätzen bestehen (z. B. <strong>in</strong> Krankenhäusern, Geme<strong>in</strong>den).<br />
Solche Interventionen sche<strong>in</strong>en vielversprechend, aber e<strong>in</strong>e allfällige Implementierung<br />
braucht Kenntnis der Erfolgsbed<strong>in</strong>gungen und der zu erwartenden Ergebnisse.
SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
» Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
» Ausarbeitung e<strong>in</strong>es realistischen Aktionsplanes zur Erhöhung der Sicherheit alter<br />
und hochaltriger Mens chen (folgend der von WHO und EU empfohlenen umfassenden<br />
Aktionspläne zur Verletzungsverhütung), wobei die Führung wohl beim Bundesm<strong>in</strong>isterium<br />
<strong>für</strong> <strong>Soziales</strong> und Konsumen tenschutz oder dem Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong><br />
Gesundheit, Familie und Jugend liegen müsste. Schaff ung e<strong>in</strong>es funktionierenden<br />
Mechanismus zur Zusammenarbeit der verschiedenen zuständigen Verwaltungsstellen<br />
und Stakeholder auf Bundes- und Länderebene.<br />
» Nom<strong>in</strong>ierung und Beauftragung e<strong>in</strong>er leistungsfähigen Agentur <strong>für</strong> Unfallprävention<br />
als Zentrum e<strong>in</strong>es österreichischen Netzwerkes und Knotenpunkt zum europäischen<br />
Netzwerk <strong>für</strong> Sicherheit im Alter. Diese Stelle soll alle Akteure mit notwendiger Information<br />
(Daten, Information über bewährte Praktiken, Handlungsmo dellen, Leis tungen<br />
verschiedener Anbieter) versorgen und e<strong>in</strong>e Struktur zum Informations austausch und<br />
zur Zusammenarbeit (Gesprächs- und Entscheidungsforen) bereitstellen.<br />
» Hauptziel des Aktionsplans wäre die Nutzung vorhandener Ressourcen, <strong>in</strong>dem bestehende<br />
E<strong>in</strong>richtungen das Thema auf die Tagesordnung ihres eigenen Tätigkeits- und<br />
Verantwortungsbereichs setzen: Verwaltungsstellen <strong>in</strong> Bund, Ländern und Geme<strong>in</strong>den,<br />
Fonds Gesundes <strong>Österreich</strong>, Sozialversicherungsträger, Krankenhausbetreiber,<br />
Seniorenorganisationen, Wohlfahrtsorganisationen, Sportverbände, Universitäten<br />
usw. Als übergreifende Maßnahmen ist <strong>in</strong>sbesondere an die E<strong>in</strong>richtung von Repara<br />
turdiensten <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit Wohlfahrtsorganisationen, an Sturzpräventionsprogramme<br />
<strong>in</strong> Anstaltshaushalten, an Ausbildungs- und Schulung sprogramme<br />
<strong>für</strong> e<strong>in</strong>schlägige Berufs gruppen, an Programme zur Bewegungsförderung im hohen<br />
Alter, an <strong>in</strong>dividuelle Diagnose und Therapie des Sturzrisikos als ärztliche Leistung zu<br />
denken.<br />
175
SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
LITERATUR<br />
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Stuttgart und Zürich: Karl Krämer Verlag.<br />
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<strong>Österreich</strong>ischer Seniorenrat und Institut Sicher Leben (jetzt Kuratorium <strong>für</strong> Verkehrssicherheit).<br />
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177
SICHERHEIT IM HOHEN ALTER<br />
Rogmans, Wim & Ill<strong>in</strong>g, Beatrix (1995): Promotion of safety for older people at home. Proceed<strong>in</strong>gs<br />
of a European conference held <strong>in</strong> Stavanger on May 14 – 16, 1995. Amsterdam: Consumer<br />
Safety Institute.<br />
Stadt Wien & Institut Sicher Leben (Hg) (1996): Schach dem Seniorenunfall. Startveranstaltung<br />
<strong>für</strong> die Wiener Initiative „Sicher Gehen über 60“ am 7. Dezember 1995. Tagungsbericht. Wien:<br />
Stadt Wien & Institut Sicher Leben (jetzt Kuratorium <strong>für</strong> Verkehrssicherheit).<br />
Statistik Austria (2007a): Spitalsdiagnosenstatistik 2005. Wien: Statistik Austria.<br />
Statistik Austria (2007b): Todesursachen statistik 2006. Wien: Statistik Austria.<br />
Statistik Austria (2007c): Todesursachen statistik 1997 - 2006. Wien. Statistik Austria.<br />
Statistik Austria (2007d): Volkszählung 2001. Datenbank ISIS (Integriertes Statis tisches Informationssystem).<br />
<br />
(Stand: 25.10.2007).<br />
Todd, Chris & Skelton, Dawn (2004). What are the ma<strong>in</strong> risk factors for falls among older people<br />
and what are the most eff ective <strong>in</strong>terventions to prevent those falls. Copenhagen: WHO Regional<br />
Offi ce for Europe.<br />
Tomek, Kar<strong>in</strong>, Furian, Gerald & Kisser, Rupert (2006): Bericht über die Initiative „Wien-Sicher“<br />
2003-2005. Projektbericht. Wien: Kuratorium <strong>für</strong> Verkehrssicherheit.<br />
WHO Regional Committee for Europe (2005): Prevention of <strong>in</strong>juries <strong>in</strong> the WHO European region<br />
(Resolution EUR/RC 55/R6). Copenhagen: WHO Regional Offi ce for Europe.<br />
178
7. MOBILITÄT IM ALTER<br />
BARBARA REITERER<br />
7.1. E<strong>in</strong>leitung<br />
7.1.1. Vorbemerkungen zur Mobilität im Alter<br />
MOBILITÄT IM ALTER<br />
Mobilität (hier: außerhäusliche Mobilität) ist e<strong>in</strong>e wesentliche Grundvoraussetzung <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e<br />
zufriedenstellende Lebensgestaltung im Alter. Wer mobil ist, ist imstande, alltägliche Verrichtungen<br />
autonom durchzuführen, das soziale Netz aufrechtzuerhalten, berufl iche, ehrenamtliche<br />
oder Freizeitaktivitäten auszuführen und durch Bewegung die eigene Gesundheit positiv zu<br />
bee<strong>in</strong>fl ussen. E<strong>in</strong>e Verschlechterung von Mobilität kann folgenschwere Konsequenzen zeitigen,<br />
bis h<strong>in</strong> zu Vere<strong>in</strong>samung, Depression, Krankheit.<br />
Auf gesellschaftlicher Ebene besteht nicht zuletzt aufgrund des demographischen Wandels<br />
vermehrtes Interesse daran, dass Personen so lange wie möglich an e<strong>in</strong>er autonomen Lebensführung<br />
festhalten können, ohne Hilfe zu benötigen, wobei der K ostenfaktor e<strong>in</strong>en wichtigen<br />
Grund <strong>für</strong> die rez ente H<strong>in</strong>wendung zu diesem Thema darstellt. Auf europäischer Ebene zeigt<br />
sich diese Entw icklung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er verstärkten Erforschung von unterschiedlichen Aspekten der<br />
Mobilität älterer Menschen. Diese bezieht sich im Allgeme<strong>in</strong>en zwar nicht ausdrücklich auf die<br />
Situation der hochbetagten Bevölkerung, allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d relevante Erkenntnisse durch die <strong>in</strong> der<br />
Analyse üblichen Diff erenzierungen nach unterschiedlichen Altersgruppen sehr wohl enthalten.<br />
Unter dem Begriff Mobilität wird im herkömmlichen S<strong>in</strong>n physische Bewegung im Raum verstanden,<br />
wobei der g esamte Bedeutungsumfang e<strong>in</strong> viel breiterer ist. Mobilität kann sich ebenso<br />
auf Beweglichkeit des Geistes beziehen, was <strong>in</strong> engem Zusammenhang mit physischer Mobilität<br />
steht, möglicherweise als e<strong>in</strong>e ihrer Voraussetzungen gelten kann.<br />
Im vorliegenden Kontext ist wichtig festzuhalten, dass Mobilität die Möglichkeit und die Fähigkeit<br />
e<strong>in</strong>es Menschen Raum zu überw<strong>in</strong>den bedeutet. Ob sie im Moment realisiert wird, ist <strong>für</strong> diese<br />
Defi nition unerheblich. In diesem S<strong>in</strong>ne gilt Mobilität als Charakteristikum e<strong>in</strong>es Individuums,<br />
das <strong>in</strong> engem Zusammenhang mit Bedürfnissen und Zielen steht, die wiederum bei tatsächlich<br />
durchgeführter Bewegung mit der physischen und sozialen Umwelt <strong>in</strong> Konfl ikt geraten können.<br />
Ob nun Bewegung im Rau m realisiert wird oder nicht, hängt allerd<strong>in</strong>gs nicht alle<strong>in</strong> von den<br />
physischen Bed<strong>in</strong>gungen und/oder der psychologischen Orientierung der älteren Personen<br />
selbst ab, sondern m an geht von e<strong>in</strong>er rez iproken Beziehung zwischen Mensch u nd Umwelt<br />
aus (Lawton 1990). Wird e<strong>in</strong>e Person älter und treten damit e<strong>in</strong>hergehend physische und sensorische<br />
Kompetenze<strong>in</strong>bußen zutage, gew<strong>in</strong>nen Charakteristika der Umwelt an Bedeutung <strong>für</strong><br />
die Planung und Durchführung alltäglicher Aktivitäten. Genauso umgekehrt: ist die Umgebung<br />
altersgerecht gestaltet, s<strong>in</strong>d verm<strong>in</strong>derte Fähigkeiten nicht mehr so sehr ausschlaggebend. Dieser<br />
179
MOBILITÄT IM ALTER<br />
Zusammenhang macht deutlich, dass die Verantwortung <strong>für</strong> Mobilität e<strong>in</strong>erseits im Individuum<br />
selbst, andererseits <strong>in</strong> der Gesellschaft und diversen äußeren Bed<strong>in</strong>gungen verankert ist. Die<br />
Bedeutsamkeit von Umweltgestaltung und Verkehrs<strong>in</strong>frastruktur <strong>für</strong> Verhalten im Straßenverkehr<br />
– sei es beim Autof ahren, bei der Verwendung öff entlicher Verkehrsmittel, etc. – i st <strong>in</strong><br />
der Verkehrsforschung auch weith<strong>in</strong> anerkannt (v. Mollenkopf & Flaschenträger 2001, Draeger<br />
& Klöckner 2001). Es ist darüber h<strong>in</strong>aus zu erwarten, dass sich aufgrund der technologischen<br />
Entwicklungen neuartige Mensch-Umwelt-Beziehungen ergeben werden (Wahl 2002).<br />
Diese e<strong>in</strong>leitenden Bemerkungen sollen deutlich machen, dass es sich bei der Thematik Mobilität<br />
im hohen Alter um e<strong>in</strong> vielschichtiges und komplexes Themengebiet handelt, was <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er<br />
Phase der Beschäftigung damit – sei es theoretisch, sei es bei der Entwicklung und Umsetzung<br />
konkreter Maßnahmen – vergessen werden sollte.<br />
7.1.2. Stand der Mobilitätsforschung <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
Auch <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> gilt, dass die Situation der <strong>Hochaltrige</strong>n implizit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er weiter gefassten<br />
Mobilitätsforschung enthalten ist, d ass aber bis dato ke<strong>in</strong>e detaillierten Studien vorhanden<br />
s<strong>in</strong>d, die sich exklusiv mit den speziellen Problemlagen dieses Bevölkerungsteils beschäftigen.<br />
Über außerhäusliche Mobilität älterer Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> stehen Forschung s arbeiten unterschiedlichen<br />
Charakters zur Verfügung, die sich auch vor mannigfaltigem <strong>in</strong>stitutionellem H<strong>in</strong>tergrund<br />
darstellen (von M<strong>in</strong>isterien über private Institutionen und Vere<strong>in</strong>e bis h<strong>in</strong> zu Universitäten).<br />
Auch <strong>in</strong>haltlich zeigt sich e<strong>in</strong>e bemerkenswerte Bandbreite, hier anhand e<strong>in</strong>iger Beispiele illustriert:<br />
Es fi nden sich etwa theoretische Analysen (z. B. Amann 1987) und methodisch-methodologische<br />
Beiträge aus dem sozialgerontologischen Bereich (Reiterer & Amann 2006), <strong>Arbeit</strong>en aus dem<br />
Bereich der Verkehrssicherheit (Furian & Rehberg 2000, Chaloupka et al. 1993), Studien zur Mobilität<br />
und Verkehrsmittelverwendung (z. B. K re<strong>in</strong>er & Klemenjak 1999, Kre<strong>in</strong>er & Weber 2000,<br />
Simma & Rauh 1999), Verkehrsverhaltenserhebungen (Herry & Snizek 1993), Evaluationen von<br />
Initiativen (Goethals 2000), Prognosen zur Mobilitätsentwicklung (Pr<strong>in</strong>z 1995), kle<strong>in</strong>ere partizipative<br />
Projekte wie etwa „Alt.Macht.Neu“ (Dor<strong>in</strong>ger et al. 2004), und auch Beteiligung an großen,<br />
<strong>in</strong>ternationalen Forschungsprojekten wie SIZE (Amann et al. 2006).<br />
7.1.3. Datenmaterial<br />
Abgesehen von e<strong>in</strong>schlägiger aktueller Literatur stammen die Daten, auf die h auptsächlich<br />
zurückgegriff en wird, aus e<strong>in</strong>er Erhebu ng im Rahmen de s EU-Projektes SIZE (Life Quality of<br />
Senior Citizens <strong>in</strong> Relation to Mobility Conditions, Nr. QLK6-CT-2002-02399 1 ; durchgeführt <strong>in</strong><br />
1 SIZE (QLK6-CT-2002-02399) wurde fi nanziert von der Europäischen Kommission im Rahmen des Fünften Rahmenpro-<br />
180<br />
grammes, RTD-Programm „Quality of Life and Management of Liv<strong>in</strong>g Resources“, siehe auch www.size-project.at.
MOBILITÄT IM ALTER<br />
8 europäischen Ländern) aus dem Jahr 2004. Die methodische Vorgehensweise im Ges amtprojekt<br />
bestand aus Literatursuche und Feststellung des Forschungsstandes <strong>in</strong> Europa, gefolgt<br />
von qualitativen Leitfaden<strong>in</strong>terviews und Fokusgruppen<strong>in</strong>terviews, auf deren Ergebnisse der<br />
Fragebogen <strong>für</strong> die quantitativen Studien aufgebaut wurde. Sowohl die qualitativen als auch<br />
die quantitativen Erhebungen wurden parallel mit Senioren e<strong>in</strong>erseits und Experten (aus Politik,<br />
Verwaltung, Inter essenvertretungen, Verkehrsplanung etc.) andererseits durchgeführt, um e<strong>in</strong>en<br />
E<strong>in</strong>druck davon zu be kommen, <strong>in</strong>wieweit die Sichtweise der Betroff enen (Senior/<strong>in</strong>nen) und der<br />
Entscheidungsträger (Expert/<strong>in</strong>nen) übere<strong>in</strong>stimmen. Als letztes bedeutendes methodisches<br />
Element ist e<strong>in</strong> heuristischer Ansatz <strong>in</strong> Form von Workshops zu nennen, die refl exiv, korrigierend<br />
und Perspektiven erweiternd unter verstärkter Mite<strong>in</strong>beziehung von projektexternen Experten<br />
und Senioren wirken sollten. E<strong>in</strong>e weitere Besonderheit des Pro jektes bestand dar<strong>in</strong>, da ss<br />
Seniorenorganisationen als Projektpartner <strong>in</strong>volviert waren und aus ihrer Sicht den gesamten<br />
Forschungsprozess begleiteten.<br />
In den ersten beiden Unterkapiteln wird vor allem auf die quantitative Studie und hier wiederum<br />
auf die österreichischen Daten Bezug genommen, wobei auch auf die ge samteuropäische Situation<br />
als Illustration bzw. Referenzrahmen h<strong>in</strong>gewiesen wird. Als wesentlich ist festzuhalten,<br />
dass die Daten aus der zitierten Studie die subjektive Sichtweise der Senioren und Senior/<strong>in</strong>nen<br />
repräsentieren – wie sie ihren Mobilitäts alltag erleben, welche Schwierigkeiten sie zu meistern<br />
haben und welche Lösungsansätze sie sich wünschen.<br />
Aufgrund forschungsökonomischer Ge gebenheiten musste auf e<strong>in</strong>e Zufallsstich probe verzichtet<br />
werden, daher fi el die Entscheidung auf e<strong>in</strong>e Quotenauswahl unter Berücksichtigung<br />
der folgenden drei Dimensionen: Alter (65-74, 75-84, 85+), Wohnregion (urban, suburban und<br />
ländlich) und Geschlecht (männlich, weiblich), der Datensatz umfasst die Resultate von n=450<br />
Personen 2 . Aufgrund der vorliegenden Alterskategorisierung ist es möglich, zwei Gruppen zu<br />
kontrastieren (die 65-74-Jährigen e<strong>in</strong>erseits und 75 Jahre und älter andererseits), wodurch die<br />
Lage der Hochbetagten deutlich hervorgehoben wird. Da die Erfahrungen mit europäischen<br />
Daten auf e<strong>in</strong>e deutliche Trennung der beiden Gruppen h<strong>in</strong>weisen, werden die 75-79-Jährigen<br />
hier zur <strong>Hochaltrige</strong>ngruppe gezählt.<br />
Vor allem <strong>für</strong> mobilitätse<strong>in</strong>geschränkte hochbetagte Personen erlangen Fahrtendienste besondere<br />
Bedeutung. Dieses Thema wurde allerd<strong>in</strong>gs nicht durch das EU-Projekt SIZE abgedeckt.<br />
Daher versteht sich Ab schnitt 7.5 (Verwendung von Fahrtendiensten) als Exkurs und kurze Bestandsaufnahme<br />
über die diesbezügliche Situation <strong>in</strong> Wien.<br />
2 Im Folgenden handelt es sich um e<strong>in</strong>e Deskription des durch e<strong>in</strong>e Quotenauswahl gewonnenen Samples, das seriöser-<br />
weise nicht als repräsentativ verstanden werden kann, daher wird auf „die Befragten“ Bezug genommen.<br />
181
MOBILITÄT IM ALTER<br />
7.2. Verwendung öff entlicher Verkehrsmittel<br />
7.2.1. Allgeme<strong>in</strong>es zur Verkehrsmittelverwendung<br />
Es ist ke<strong>in</strong>e neue Erkenntnis <strong>in</strong> der Mobilitätsforschung, dass mit zunehmendem Alter alternative<br />
Fortbewegungsmöglichkeiten zum eigenen PKW an Bedeutung gew<strong>in</strong>nen (Sammer & Röschl 1999).<br />
Viele ältere Menschen geben das Autofahren aus gesundheitlichen Gründen auf, aufgrund von<br />
Überforderung im immer komplexer und schneller werdenden Verkehrsgeschehen, aus fi nanziellen<br />
Gründen, manche, weil sie es müssen, und es gibt e<strong>in</strong>e Gruppe (vor allem Frauen), die<br />
nie e<strong>in</strong>en Führersche<strong>in</strong> besessen haben bzw. über ke<strong>in</strong>e Fahrpraxis verfügen und im Alter nicht<br />
mehr mit dem Autofahren beg<strong>in</strong>nen wol len. Somit be<strong>in</strong>haltet die Gru ppe der Senioren e<strong>in</strong>en<br />
sehr hohen Anteil von Personen, deren Mobilitätsversorgung nicht mittels PKW erfolgen kann,<br />
was sie <strong>in</strong> der derzeitigen Verkehrssituation, die sehr stark auf motorisierten Individualverkehr<br />
konzentriert ist, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e spezielle Position versetzt.<br />
Die folgende Tabelle zeigt, getrennt nach drei Altersgruppen, die h auptsächliche Fortbewegungsart<br />
3 der Senior/<strong>in</strong>nen.<br />
182<br />
Tabelle 1: Verwendung von Verkehrsmitteln nach Altersklassen (n=450)<br />
Altersgruppen<br />
Fortbewegungsmittel<br />
65-74 75-84 85+ Gesamt<br />
absolut <strong>in</strong> % absolut <strong>in</strong> % absolut <strong>in</strong> % absolut <strong>in</strong> %<br />
Fahre nicht 51 6,3 27 17,2 10 18,9 52 11,6<br />
Fahre als Passagier 25 10,4 23 14,6 19 35,8 67 14,9<br />
Benutze öffentliche Verkehrsmittel 53 22,1 50 31,8 14 26,4 117 26,0<br />
Fahre eigenes Auto 147 61,3 57 36,3 10 18,9 214 47,6<br />
Gesamt 276 100,0 157 100,0 53 100,0 450 100,0<br />
Quelle: SIZE 2004, eigene Berechnungen<br />
Es zeigt sich, dass das eig ene Auto <strong>für</strong> über 60% der jüngsten Altersgruppe das wichtigste<br />
Fortbewegungsmittel ist, bei den 75-84-Jährigen ist zwar nach wie vor das eigene Fahrzeug das<br />
wichtigste Fortbewegungs mittel, allerd<strong>in</strong>gs ist diese Gruppe im Vergleich zur jüngeren Altersgruppe<br />
nur mehr etwas mehr als halb so groß: etwas mehr als e<strong>in</strong> Drittel fährt e<strong>in</strong> eigenes Auto.<br />
Die höchste Altersgruppe, Personen im Alter von 85 Jahren und älter, unterscheidet sich von<br />
den vorher besprochenen: Lediglich e<strong>in</strong> knappes Fünftel fährt entweder e<strong>in</strong> eigenes Auto oder<br />
überhaupt nicht. Etwas mehr als e<strong>in</strong> Drittel gab an, als Passagier zu fahren und ca. e<strong>in</strong> Viertel<br />
benutzt hauptsächlich öff entliche Verkehrsmittel.<br />
3 In Voruntersuchungen stellte sich heraus, dass Verkehrsmittel wie Fahrräder, Mopeds etc. lediglich bei e<strong>in</strong>em sehrklei-<br />
nen Personenkreis Verwendung fi nden; sie wurden daher nicht <strong>in</strong> die quantitative Studie aufgenommen.
MOBILITÄT IM ALTER<br />
E<strong>in</strong>e ähnliche Tendenz zeigen auch andere Forschungsergebnisse. Kre<strong>in</strong>er & Weber (2000: 7f)<br />
etwa stellten fest, dass bei Senior/<strong>in</strong>nen der Anteil von Be nutzern öff entlicher Verkehrsmittel<br />
<strong>in</strong> den oberen Altersklassen deutlich über demjenig en von jüngeren Gruppen lieg t, mit der<br />
PKW-Benutzung verhält es sich genau umgekehrt. Ebenso ist e<strong>in</strong>e deutliche Diff erenz zwischen<br />
Männern und Frauen zu konstatieren (Männer benutzen weniger öff entliche Verkehrsmittel, fahren<br />
mehr mit dem eigenen PKW) und e<strong>in</strong>e dritte Diff erenzierungsachse ist zwischen Stadt und<br />
Land zu fi nden: Auf dem Land i st die Versorgung mit öff entlichen Verkehrsmitteln schlechter<br />
als <strong>in</strong> den Städten, PKW- und Führersche<strong>in</strong>besitz h<strong>in</strong>gegen höher.<br />
Fast drei Viertel der Personen, die angaben, hauptsächlich als Passagier zu fahren, s<strong>in</strong>d Frauen,<br />
was auf die unterschiedliche Rollenverteilung zurückzuführen ist, die sich <strong>in</strong> der Gesamtbevölkerung<br />
zwar <strong>in</strong>sgesamt langsam zu lockern sche<strong>in</strong>t, jedoch <strong>in</strong> den höheren Altersgruppen sehr<br />
präsent ist.<br />
Allgeme<strong>in</strong> fällt auf, dass den geschlechtstypischen Aspekten von Mobilität im Alter noch sehr<br />
wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde (vgl. etwa Reiterer & Am ann 2006), obwoh l immer<br />
wieder auf ihre Existenz h<strong>in</strong>gewiesen wird; auch die vorliegenden Daten machen diese Tatsache<br />
klar: Betrachtet man die Gruppe der 75-Jährigen und älteren, fahren die Hälfte der Männer unter<br />
ihnen ihr eigenes Auto, jedoch nur ca. e<strong>in</strong> Fünftel der Frauen. Anders die Situation bei der Verwendung<br />
von öff entlichen Verkehrsmitteln, <strong>für</strong> etwas mehr als e<strong>in</strong> Drittel der Frauen s <strong>in</strong>d sie<br />
das wichtigste Fortbewegungsmittel, woh<strong>in</strong>gegen nur ca. e<strong>in</strong> Fünftel der Männer dies angibt.<br />
7.2.2. Öff entliche Verkehrsmittel<br />
Bestimmte physische und sensorische Kompetenze<strong>in</strong>bußen, die mit hohem Alter e<strong>in</strong>hergehen<br />
können (etwa verm<strong>in</strong>derte Sehleistung, Abnahme der Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit),<br />
s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Anlass da<strong>für</strong>, dass die Benutzung des eigenen PKW aufgegeben wird und e<strong>in</strong> Umstieg<br />
auf öff entliche Verkehrsmittel erfolgt. Diese Gruppe erlebt den Wechsel der Fortbewegungs art<br />
eher problematisch; Personen, die vorher schon Benutzer von öff entlichen Verkehrsmittel waren,<br />
kommen auch im hohen Alter tendenz iell besser damit zurecht (Zakowska & Monterde i Bor t<br />
2003: 40 f). Für die Gruppe der „Neue<strong>in</strong>steiger“ jedoch bedeutet die zunehmende Automatisierung<br />
(etwa Fahrkartenauto maten) e<strong>in</strong>e zusätzliche Verschärfung der Situation und er schwert das<br />
Zurechtfi nden <strong>in</strong> der neuen, ungewohnten Umgebung; das Fehlen von persönlichen Ansprechpartnern<br />
wird als negativ erlebt.<br />
Damit Personen <strong>in</strong> hohem Alter e<strong>in</strong>e (zufrieden stellende) Benutzung von öff entlichen Verkehrsmitteln<br />
ermöglicht wird, müssen diese gut erreichbar, <strong>in</strong> der Benutzbarkeit auf die Bedürfnisse<br />
von älteren Menschen abgestimmt und auch sicher zu verwenden se<strong>in</strong> (die Passagiere sollten<br />
sicher se<strong>in</strong> u nd sich auch so füh len). E<strong>in</strong>e altersg erechte Gestaltung kommt auch anderen<br />
Personengruppen zugute. So wurde etwa das E<strong>in</strong>steigen im R ollstuhl oder fü r Personen mit<br />
K<strong>in</strong>derwagen durch den vermehrten E<strong>in</strong>satz von Niederfl urwägen bedeutend erleichtert, ebenso<br />
verhält es sich mit dem Zugang zu U-Bahnstationen durch den E<strong>in</strong>bau von Liften. Beleuchtung<br />
183
MOBILITÄT IM ALTER<br />
und gut e<strong>in</strong>sehbare Gestaltung von Stationen wirkt positiv auf das Sicherheitsgefühl, nicht nur<br />
von älteren Menschen, sondern auch von Frauen, <strong>für</strong> die die Angst, Opfer krim<strong>in</strong>eler Übergriff e<br />
zu werden, e<strong>in</strong>en wesentlichen E<strong>in</strong>fl ussfaktor <strong>in</strong> der Gestaltung ihrer Mobilität darstellt (Simma<br />
1996: 12). D ass durch e<strong>in</strong>e altersgerechte E<strong>in</strong>richtung der Verkehrs<strong>in</strong>frastruktur auch weitere<br />
Gruppen bedient werden können, spricht da<strong>für</strong>, dass <strong>in</strong> der Planung und Maßnahmenumsetzung<br />
die Perspektivenvielfalt so weit wie möglich gesteckt werden sollte.<br />
7.2.3. E<strong>in</strong>schätzung verschiedener Aspekte öff entlichen Verkehrs<br />
Tabelle 2 vermittelt auf den ersten Blick e<strong>in</strong>e t endenziell positive E<strong>in</strong>stellung der befr agten<br />
Personen im Alter von 75 oder mehr Jahren zu öff entlichen Verkehrsmitteln <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>. Bei<br />
genauerer Betrachtung stellt sich allerd<strong>in</strong>gs heraus, dass die Situation <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en beträchtlichen<br />
Teil der Respondenten problematisch ist.<br />
184<br />
Tabelle 2: E<strong>in</strong>schätzung von Aspekten des öff entlichen Verkehrs (n=210, 75-Jährige und<br />
älter, Angaben <strong>in</strong> %)<br />
Denken Sie, dass ältere Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>…<br />
Ne<strong>in</strong>/Niemals Manchmal Meistens Ja/Immer Gesamt<br />
… seniorengerecht gestaltete Verkehrsmittel nutzen können?<br />
12,9 28,1 41,6 17,4 100,0<br />
… bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben <strong>in</strong> den Genuss von Seniorenermäßigungen kommen?<br />
1,1 7,5 23,0 68,4 100,0<br />
… komfortable und gut überdachte Haltestellen f<strong>in</strong>den?<br />
4,6 25,6 39,5 30,3 100,0<br />
… darauf vertrauen können, dass ihnen jemand e<strong>in</strong>en Sitz <strong>in</strong> Bus oder Straßenbahn anbietet?<br />
18,7 32,4 28,6 20,3 100,0<br />
Quelle: SIZE 2004, eigene Berechnungen<br />
Die erste Frage betriff t e<strong>in</strong>en technisch-baulichen Aspekt, nämlich die Thematik der seniorengerechten<br />
Gestaltung von Verkehrs mitteln (Vorhandense<strong>in</strong> von Haltegriff en, Niederfl urfahrzeugen<br />
etc.). In Anbetracht der Zustimmung zu den Kategorien „meistens“ und „ja/immer“ von <strong>in</strong>sgesamt<br />
59% lässt sich mittlerweile e<strong>in</strong> recht positives Bild der seniorengerechten Ausgestaltung<br />
von öff entlichen Verkehrsmitteln <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> konstatieren. Der Vergleich mit den europäischen<br />
Ergebnissen bestätigt diese Vermutung: lediglich 37,2% gaben hier an, meistens oder immer<br />
<strong>in</strong> den Genus s von seniorengerechten Verkehrsmitteln zu kommen (Amann et al. 2006: 6 1).<br />
Dennoch, auch wenn s ich die österr eichische Situa tion im Vergleich mit der eu ropäischen<br />
vorteilhafter darstellt, s<strong>in</strong>d off ensichtlich bei weit em noch nicht alle <strong>in</strong> zufrieden stellendem<br />
Ausmaß versorgt.
MOBILITÄT IM ALTER<br />
Die fi nanzielle Situation ist e<strong>in</strong>e der Grundvor aussetzungen <strong>für</strong> Mobilität, <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne<br />
bedeutet <strong>in</strong> vielen Fällen das Vorhandense<strong>in</strong> oder Nichtvorhandense<strong>in</strong> von Ermäßigungen im<br />
Bereich des öff entlichen Verkehrs erleichterten bzw. erschwerten Zugang oder <strong>in</strong> Extremfällen<br />
sogar den Ausschluss fi nanziell schlecht gestellter Gruppen. Die österreichischen öff entlichen<br />
Verkehrsbetriebe bieten im R egefall derartige Ermäßigungen (bis zu 50% des regulären Preises)<br />
an, was von den befragten Per sonen auch zur Kenntnis genommen wurde: mehr als 90%<br />
stellten die pr<strong>in</strong>zipielle Verfügbarkeit fest. Diesem positiven Attest steht wieder die europäische<br />
Situation gegenüber; hier beläuft sich der Anteil derjenigen, die positiv antworteten, auf etwas<br />
mehr als 60%.<br />
Als angenehm gestaltet (Sitzgelegenheiten, Schutz vor Regen, Schnee, W<strong>in</strong>d) empfundene Haltestellen<br />
bilden e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>frastrukturellen Aspekt, der <strong>für</strong> das Wohlbefi nden von Senior/<strong>in</strong>nen bei<br />
der Verwendung öff entlicher Verkehrsmittel von Bedeutung ist bzw. s<strong>in</strong>d Sitzplätze <strong>für</strong> physisch<br />
nicht robuste Personen <strong>in</strong> diesem Zusammenhang e<strong>in</strong>e Grundvoraussetzung. Auch hier überwiegt<br />
e<strong>in</strong>e positive Bewertung (etwa 70% bejahen das pr<strong>in</strong>zipielle Vorhanden se<strong>in</strong> von komfortablen<br />
Haltestellen), was sich <strong>in</strong> diesen Fällen <strong>für</strong> die Verwendung von öff entlichen Ver kehrsmitteln<br />
förderlich auswirken dürfte.<br />
Als letzte Perspektive e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>schätzung öff entlichen Verkehrs wurde e<strong>in</strong> sozialer<br />
Aspekt herangezogen, nämlich die Fr age, ob ält ere Personen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> dar auf vertrauen<br />
könnten, <strong>in</strong> öff entlichen Verkehrsmitteln e<strong>in</strong>en Sitzplatz angeboten zu bekommen. Im Vergleich<br />
zu den vorherigen Aspekten verlief die Bewertung weniger positiv, was e<strong>in</strong>en Indikator <strong>für</strong> e<strong>in</strong> von<br />
hochaltrigen Personen als problematisch wahrgenommenes gesellschaftliches Klima darstellt.<br />
Betrachtet man die gesamteuropäische Lage, fällt <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> im Vergleich zu an deren Ländern<br />
e<strong>in</strong>e positive Bewertung der baulich-technischen Gestaltung öff entlicher Verkehrsmittel und der<br />
dazugehörigen Infrastruktur auf, h<strong>in</strong>gegen e<strong>in</strong>e recht pessimistische E<strong>in</strong>schätzung des sozialen<br />
Klimas, (Amann et al. 2006: 136f).<br />
7.2.4. Barrieren bei der Verwendung öff entlicher Verkehrsmittel<br />
Welche Probleme hochbetagte Personen bei der Verwendung öff entlicher Verkehrs mittel bewältigen<br />
müssen bzw. als wie gravierend sie diese e<strong>in</strong>stufen, wird im Folgenden aufgezeigt.<br />
Dass hochaltrige Personen unvor teilhafte Bed<strong>in</strong>gungen als viel stärker e<strong>in</strong>schränkend erleben<br />
als etwa die Gruppe der 65-74-Jährigen, tritt sehr deutlich zutage. Ebenso zeigt sich sehr<br />
nachdrücklich, dass sich 8 5-Jährige und ält ere Personen von der Gesamtgruppe wesentlich<br />
unterscheiden, was w iederum bestätig t, dass „die Senior/<strong>in</strong>nen“ ke<strong>in</strong>esfalls als homogene<br />
Gesamtgruppe gelten können, sondern e<strong>in</strong>e diff erenzierte Sichtweise gewählt werden mus s,<br />
um der Realität auch nur annähernd gerecht werden zu können.<br />
185
MOBILITÄT IM ALTER<br />
Tabelle 3: Barrieren bei der Verwendung öff entlicher Verkehrsmittel (n=450, 65-Jährige und<br />
älter, Angaben <strong>in</strong> %, Antwortkategorien „eher schon“ und „ja“)<br />
Stellen folgende Situationen oder Gegebenheiten e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>derungsgrund <strong>für</strong><br />
Ihre Mobilität dar?<br />
Quelle: SIZE 2004, eigene Berechnungen<br />
Durch die Streckenführung und Frequenz der Verkehrsmittel fühlen sich etwas weniger als die<br />
Hälfte der 85-Jährigen und älteren <strong>in</strong> ihrer Mobilität geh<strong>in</strong>dert, während dies nur <strong>für</strong> etwas mehr<br />
als e<strong>in</strong> Viertel der 75-84-Jährigen bzw. <strong>für</strong> knapp e<strong>in</strong> Drittel der 65-74-Jährigen der Fall ist. Pr<strong>in</strong>zipiell<br />
ist umsteigen bei älteren Personen unpopulär, lieber werden längere Fahrzeiten <strong>in</strong> Kauf<br />
genommen (Zakowska & Monterde i Bort 2003: 42f); dies gilt <strong>in</strong>sbesondere <strong>für</strong> Fahrten mit der<br />
Eisenbahn, bei der e<strong>in</strong>erseits noch kaum Niederfl urfahrzeuge im E<strong>in</strong>satz s<strong>in</strong>d und andererseits<br />
eher Gepäck zu befördern ist. Wenn im Nahverkehr umsteigen nötig ist, kann durch koord<strong>in</strong>ierte<br />
Fahrpläne der betroff enen L<strong>in</strong>ien und damit verr<strong>in</strong>gerten Wartezeiten Abhilfe geschaff en werden.<br />
Überfüllte Fahrzeuge stellen <strong>für</strong> mehr als die Hälfte der Angehörigen der höchsten Altersgruppe<br />
e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>derungsgrund <strong>für</strong> Mobilität dar, im Gegensatz zu jeweils zirka e<strong>in</strong>em Fünftel der<br />
jüngeren Gruppen. Diese Problematik zählt somit zu den größten Schwierigkeiten, mit denen<br />
Hochbetagte bei der Verwendung öff entlicher Verkehrsmittel <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> konfrontiert werden.<br />
Zuwenig Zeit zum E<strong>in</strong>steigen und Verlassen der Fahrzeuge wird ebenfalls von Personen im Alter<br />
von 85 Jahren oder mehr eher als H<strong>in</strong>dernis angesehen als von den Jüngeren. Stress beim E<strong>in</strong>-<br />
und Aussteigen wird etwa durch Unsicherheit beim Gehen oder durch Angst vor Stürzen noch<br />
verstärkt. Im Zusammenhang damit steht das Ergebnis e<strong>in</strong>er anderen österreichischen Studie,<br />
<strong>in</strong> der 25% der befragten Senior/<strong>in</strong>nen angaben, dass das Abfahren des Fahrzeugs, bevor sie<br />
Platz genommen haben, e<strong>in</strong> Problem darstellt. (Kre<strong>in</strong>er & Weber 2000: 9f) Beide Problemfelder<br />
s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> unaufmerksamem bzw. rücksichtslosem Verhalten der Fahrer begründet und könnten<br />
mit ger<strong>in</strong>gem Aufwand beseitigt werden.<br />
Dass ke<strong>in</strong> Personal vorhanden wäre, das bei Fragen oder Problemen konsultiert werden kann,<br />
wird ebenfalls <strong>in</strong> ansteigender Tendenz mit zunehmendem Alter bemängelt. Bemerkenswerter-<br />
186<br />
65-74-Jährige 75-84-Jährige 85-Jährige und älter Gesamt<br />
Streckenführung und wie oft die Verkehrsmittel fahren<br />
30,8 27,1 46,5 31,3<br />
Überfüllte Fahrzeuge<br />
19,6 22,4 51,1 24,2<br />
Zu wenig Zeit zum E<strong>in</strong>steigen und Verlassen der Fahrzeuge<br />
20,1 27,1 41,3 25,0<br />
Ke<strong>in</strong> Personal, das man fragen kann<br />
24,3 30,5 40,9 28,3<br />
Zu kle<strong>in</strong>e Schrift<br />
54,9 69,8 66,0 61,2
MOBILITÄT IM ALTER<br />
weise stellte sich dieses Problem vor allem <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> als dr<strong>in</strong>glich heraus, <strong>in</strong> allen anderen<br />
beteiligten Ländern wu rde es von den Befragten so selten genannt, d ass es nicht e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong><br />
die quantitative Studie aufgenommen wurde. Ca. e<strong>in</strong> Viertel der untersten, etwas weniger als<br />
e<strong>in</strong> Drittel der mittleren und ca. 40% der obersten Altersklasse <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> betonen dies als<br />
H<strong>in</strong>derungsgrund <strong>für</strong> Mobilität. Technischer Fortschritt hilft, allerlei Probleme zu lösen, jedoch<br />
kann er niemals den sozialen Faktor ersetzen. Lösungsansätze sollten zu ihrer Optimierung e<strong>in</strong>e<br />
s<strong>in</strong>nvolle Verb<strong>in</strong>dung dieser beiden Sphären be<strong>in</strong>halten.<br />
Zu kle<strong>in</strong>e Schrift bei Fahrplänen oder Informationstafeln auf Bahnhöfen stellt große Teile aller<br />
Altersgruppen vor Schwierigkeiten. Die Umstel lung von Anzeigetafeln <strong>für</strong> Ankunfts- und Abfahrtszeiten<br />
der Züge auf Bahnhöfen auf kle<strong>in</strong>ere Computermonitore führte zu e<strong>in</strong>er zusätzlichen<br />
Verschärfung dieses Problems.<br />
7.3. Barrieren im öff entlichen Raum<br />
Zu Fuß gehen stellt <strong>für</strong> ältere Menschen die wichtigste und auch e<strong>in</strong>e sehr beliebte Fortbewegungsart<br />
dar (Kre<strong>in</strong>er & Klemenjak 1999). Auch wenn etwa öff entliche Verkehrsmittel verwendet<br />
werden, muss der Weg zur Haltestelle <strong>in</strong> der Regel zu Fuß zurückgelegt werden. Ebenfalls wichtig<br />
ist das Gehen als Freizeitbeschäftigung – Spazierengehen, Wandern, e<strong>in</strong>en Stadtbummel machen<br />
zählen zu den bevorzugten Freizeitaktivitäten, die auch der Gesundheitserhaltung dienen.<br />
Aufgrund des hohen Stellenwerts dieser Mobilitätsvariante wird klar, dass e<strong>in</strong>e möglichst barrierefreie<br />
Ge staltung des öff entlichen Raumes grundlegend <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e zufrieden stellende Mobilität<br />
älterer Menschen ist, aber natürlich auch allen anderen zugute kommt.<br />
H<strong>in</strong>dernisse <strong>für</strong> realisierte Mobilität <strong>in</strong> Bezug auf den öff entlichen Raum werden im Folgen den<br />
<strong>in</strong> drei Gruppen e<strong>in</strong>geteilt: physische, psychologische und soziale Barrieren.<br />
7.3.1. Physische Barrieren<br />
Ist die Umgebung altersgerecht gestaltet, haben E<strong>in</strong>bußen der motorischen bzw. allgeme<strong>in</strong>en<br />
physischen Leistungsfähigkeit weniger negativen E<strong>in</strong>fl uss auf Mobilität, als wenn dies nicht<br />
der Fall wäre (Lawton 1990). Die folgende Tabelle gibt Auskunft darüber, wie sehr ausgewählte<br />
Gegebenheiten im öff entlichen Raum von den befr agten Personen, gestaff elt nach Altersgruppen,<br />
als Mobilitätsbarrieren empfunden werden. Pr<strong>in</strong>zipiell geht es hier um die Gestaltung<br />
bzw. Ausstattung des Raumes e<strong>in</strong>erseits, und um aufgesetzte (und somit ohne große bauliche<br />
Adaptionen vermeidbare) H<strong>in</strong>dernisse darauf andererseits.<br />
Mehr als e<strong>in</strong> Drittel aller Respondenten fühlt sich durch Fahrzeuge auf Gehwegen (wie Fahrräder,<br />
Skateboards, Rollerskates) <strong>in</strong> ihrer Mobilit ät e<strong>in</strong>geschränkt, betrachtet man nur die höchste<br />
Altersgruppe steigt dieser Anteil sogar auf 50%. Dass zu wenige öff entliche Toiletten vorhanden<br />
s<strong>in</strong>d, ist von großer Bedeutung <strong>für</strong> alle Altersgruppen (jeweils über 40% Zustimmung). Das<br />
Überqueren e<strong>in</strong>es Kreisverkehrs <strong>in</strong> der Stadt bzw. dass es zu wenige Ampeln gäbe, wird von<br />
187
MOBILITÄT IM ALTER<br />
jeweils ca. e<strong>in</strong>em Viertel der Gesamtgruppe als H<strong>in</strong>derungsgrund <strong>für</strong> ihre Mobilität angegeben,<br />
bei der Problematik der Kreisverkehrs-Überquerung fi ndet sich das stärkste Problembewusstse<strong>in</strong><br />
<strong>in</strong> der höchsten Altersgru ppe. Freilaufende Tiere, vor allem Hunde, und Rampen an u nd<br />
auf Gehsteigen nehmen ebenfalls rund e<strong>in</strong> Drittel der 85-Jährigen und älteren als Barriere wahr.<br />
Besonders bemerkenswert ist im gesamteuropäischen Zusammenhang, dass be<strong>in</strong>ahe die Hälfte<br />
der befragten Personen ab 65 das Fehlen von öff entlichen Toiletten als E<strong>in</strong>schränkung ihrer<br />
Mobilität erleben, was <strong>in</strong> dieser Deutlichkeit bisher nicht zutage getreten ist und jedenfalls von<br />
planerischer Seite entsprechend e<strong>in</strong>bezogen werden sollte.<br />
Tabelle 4: Physische Barrieren im öff entlichen Raum (n=450, 65-Jährige und älter, Angaben<br />
<strong>in</strong> %, Antwortkategorien „eher schon“ und „ja“)<br />
Stellen folgende Situationen oder Gegebenheiten e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>derungs grund <strong>für</strong><br />
Ihre Mobilität dar?<br />
Quelle: SIZE 2004, eigene Berechnungen<br />
7.3.2. Psychologische Barrieren<br />
Nicht nur objektive Bed<strong>in</strong>gungen s<strong>in</strong>d <strong>für</strong> den Zugang zu und den Komfort von außerhäuslicher<br />
Mobilität bestimmend, sondern auch subjektive Beweggründe. Unbestritten ist, dass Ängste<br />
e<strong>in</strong>en schwerwiegenden E<strong>in</strong>fl uss auf das Handeln und Verhalten von Menschen im hohen Alter<br />
haben, speziell im Zusammenhang mit Mobilität. Im Wesentlichen führen Gefühle von Angst zu<br />
Unsicherheit, die wiederum älteren Menschen sowohl als psychologische als auch als körperliche<br />
Barriere gegenübertreten kann. Beide bee<strong>in</strong>fl ussen die Entscheidungen über Aktivitäten und<br />
außerhäusliche Mobilität e<strong>in</strong>er Person <strong>in</strong> der Form, dass etwa bei Vorliegen solcher H<strong>in</strong>dernisse<br />
auf Mobilität verzichtet wird. E<strong>in</strong> Beispiel <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e körperliche Barriere als Auswirkung von Angst<br />
oder Ängstlichkeit ist etwa das Auftreten von Schw<strong>in</strong>delgefühlen oder Benommenheit, was von<br />
älteren Menschen als körperliche Krankheit wahrgenommen wird (Amann et al. 2006: 53f).<br />
188<br />
65-74-Jährige 75-84-Jährige 85-Jährige und älter Gesamt<br />
Fahrzeuge auf Gehwegen (z. B. Fahrrad, Skateboard, Rollerskates)<br />
31,8 32,5 50,0 34,1<br />
Das Überqueren e<strong>in</strong>es Kreisverkehrs <strong>in</strong> der Stadt<br />
18,6 28,3 42,5 24,3<br />
Rampen an und auf Gehsteigen (z. B. <strong>für</strong> Rollstuhlfahrer oder Garagenzufahrten)<br />
12,8 19,0 36,7 17,7<br />
Freilaufende Tiere (Hunde)<br />
21,7 21,8 30,7 22,8<br />
Zu wenig Ampeln (<strong>in</strong>sbesondere bei gefährlichen Straßenabschnitten)<br />
24,0 29,1 22,2 25,6<br />
Zu wenig öffentliche Toiletten<br />
41,5 44,8 46,7 43,2
MOBILITÄT IM ALTER<br />
Aus e<strong>in</strong>er Außenperspektive s<strong>in</strong>d diese Ängste oft schwer greifbar, weil sie e<strong>in</strong>erseits auf tatsächlichen<br />
Erfahrungen der Betroff enen oder Fakten beruhen, andererseits aber auch auf Annahmen<br />
über diese Erfahrungen bzw. Tatsachen. Beides be stimmt die Realität älterer Menschen.<br />
Somit ist festzuhalten, dass das emotionale Befi nden e<strong>in</strong>e wesentliche Rolle <strong>in</strong> der Erklärung<br />
der Mobilität oder der Aufgabe von Mobilität älterer Personen spielt. Deshalb wird sich im Folgenden<br />
die Analyse auf den Themenkomplex Ängste, wie er im Projekt SIZE als e<strong>in</strong>fl ussreicher<br />
Mobilitätsfaktor erhoben wurde, konzentrieren.<br />
Tabelle 5: Ängste beim Aufenthalt im öff entlichen Raum (n=450, 65-Jährige und älter,<br />
Angaben <strong>in</strong> %, Antwortkategorien „oft“ und „immer“)<br />
Wie oft verspürten Sie schon folgende Gefühle/Stimmungen?<br />
65-74-Jährige 75-84-Jährige 85-Jährige und älter Gesamt<br />
Angst vor Benommenheit auf e<strong>in</strong>er überfüllten Straße/ an e<strong>in</strong>em überfüllten Platz<br />
24,4 14,8 31,4 13,3<br />
Angst vor Sturz und Verletzung<br />
16,7 32,5 47,2 25,8<br />
Angst völlig verwirrt zu se<strong>in</strong> (z. B. sich zu verlaufen und nicht mehr gefunden zu werden)<br />
2,5 5,1 21,2 5,6<br />
Angst, Opfer von Überfällen oder Diebstahl zu werden<br />
15,0 19,9 22,6 17,6<br />
Angst davor, auch auf Fußwegen angefahren zu werden<br />
11,4 13,5 20,0 13,1<br />
Angst, von anderen gestoßen oder geschubst zu werden<br />
5,5 9,0 19,6 8,3<br />
Quelle: SIZE 2004, eigene Berechnungen<br />
Die ersten drei Items behandeln Ängste, die s ich auf <strong>in</strong>dividuelle Defi zite beziehen (Benommenheit,<br />
Sturz und Verletzung, Verwirrtheit), während die letzten drei auf Ängste vor negativem<br />
Verhalten anderer abzielen. In allen Fällen zeigt sich, dass <strong>in</strong> der höchsten Altersgruppe der<br />
größte Anteil von Personen zu fi nden ist, die von den an gesprochenen Ängsten betroff en s<strong>in</strong>d.<br />
Die mittlere Gruppe zeigt unterschiedliche Tendenzen, sie ist <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n als e<strong>in</strong>e Mischgruppe<br />
zu sehen, während sich die unterste Alterskategorie sehr deutlich von der obersten absetzt.<br />
Grob formuliert zeigt sich somit e<strong>in</strong>e tendenzielle Zunahme von angstbezogenen Emotionen mit<br />
ansteigendem Alter, die <strong>in</strong> weiterer Folge e<strong>in</strong>e Abnahme von Mobilität zur Folge haben kann.<br />
Bei den befr agten Personen im Alter von 85 Jahren und mehr i st die größte vorherrschende<br />
Angst diejenige vor Sturz und Verletzung, diese ist auch die am meisten genannte bei den<br />
75-84-Jährigen. Auch <strong>in</strong> der europaweiten Studie war Angst vor Sturz und Verletzung Spitzenreiter.<br />
E<strong>in</strong>erseits gaben dies sowohl e<strong>in</strong> Fünftel aller Be fragten an (<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>: e<strong>in</strong> Viertel),<br />
andererseits ergab auch e<strong>in</strong> Mittelwertvergleich, dass Sturz und Verletzung das größte Angstpotential<br />
<strong>in</strong>nehaben (Amann et al. 2006: 55ff ).<br />
189
MOBILITÄT IM ALTER<br />
Ältere Menschen haben e<strong>in</strong> besonders hohes Unfallrisiko, wenn sie als Fußgänger unterwegs<br />
s<strong>in</strong>d (Allenbach 2000, Bächli-Bietry 1993). Abgesehen davon steigt mit zunehmendem Alter<br />
auch die Schwere der Verletzungen bzw. das Todesrisiko (Hubacher 1998), und darüber h<strong>in</strong>aus<br />
verläuft der Heilungsprozess bei Personen hohen Alters langsamer als bei jüngeren Menschen,<br />
d.h. wenn e<strong>in</strong> Unfall passiert, was ohneh<strong>in</strong> im hohen Alter wahrsche<strong>in</strong>licher ist, s<strong>in</strong>d auch die<br />
Konsequenzen schwerwiegender. Es wird somit deutlich, dass die Vermeidung von Stürzen e<strong>in</strong><br />
wesentlicher Ansatzpunkt zur Mobilitätsverbesserung und Gesundheitserhaltung hochaltriger<br />
Personen se<strong>in</strong> muss. Dieser Erkenntnis wird durch spezielle Forschungs arbeiten bereits Rechnung<br />
getragen, etwa durch das europäische Projekt PROFANE (Prevention of Falls Network Europe).<br />
7.3.3. Soziale Barrieren<br />
Das soziale Klima ist ebenfalls e<strong>in</strong> ausschlaggebender Faktor <strong>für</strong> das Mobilitätsverhalten älterer<br />
Menschen. Im Falle des Vorhandense<strong>in</strong>s von E<strong>in</strong>bußen im Bereich physischer oder sensorischer<br />
Fähigkeiten ist die Bereitschaft, die eigene Wohnstätte zu verlassen eher dann vorhanden,<br />
wenn die soziale Umgebung als hilfsbereit erlebt bzw. e<strong>in</strong>geschätzt wird. Auch hier gilt: E<strong>in</strong>e<br />
aufmerksame und unterstützende Umwelt kann <strong>für</strong> Kompetenze<strong>in</strong>bußen im Alter kompensatorische<br />
Wirkung haben.<br />
Der obere Teil dieser Tabelle gibt wider, wie die Qualität der sozialen Umgebung im öff entlichen<br />
Raum empfunden wird. Der untere Teil liefert H<strong>in</strong>weise, wie sehr die angeführten sozialen Faktoren<br />
tatsächlich als mobilitätshemmend erlebt werden.<br />
Interessanterweise bewerten Jüngere tendenziell die Qualität ihrer sozialen Umge bung etwas<br />
schlechter als die älteren Gruppen, die Unterschiede s<strong>in</strong>d jedoch relativ kle<strong>in</strong> und nicht sonderlich<br />
aussagekräftig. Allgeme<strong>in</strong> ist festzuhalten, dass von den befrag ten Personen ab 65<br />
die Hälfte angab, sich niemals oder nur manchmal aufgrund der Anwesen heit von Polizisten<br />
draußen sicher fühlen zu können. Die Forderung nach mehr Polizeipräsenz, um das subjektive<br />
Sicherheitsgefühl zu erhöhen, i st nicht neu u nd wird durch dieses Ergebnis wieder bestärkt.<br />
Etwas weniger als zwei Drittel fi nden, dass ältere Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> nicht leicht Gesellschaft<br />
fi nden, die mit ihnen unterwegs ist, und etwa drei Viertel konstatierten, dass sie kaum<br />
darauf vertrauen können, dass Geschw<strong>in</strong>digkeitsbegrenzungen <strong>in</strong> Wohngegenden e<strong>in</strong>gehalten<br />
werden. In al len drei F ällen ist die neg ative E<strong>in</strong>schätzung außeror dentlich hoch, wobei da s<br />
größte Problempotential wieder im Verhalten von Autofahrern gesehen wird.<br />
Ob als negativ empfundene soziale Aspekte tatsächlich als konkret mobilitätse<strong>in</strong>schränkend<br />
erlebt werden, wu rde durch vier weitere Items erhoben. Auch hier h at der Spitzenreiter mit<br />
Autofahrer/<strong>in</strong>nen zu tun: Etwas weniger als die Hälfte der Befragen sagte, dass rücksichtslose<br />
Autofahrer/<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>derungsgrund <strong>für</strong> ihre Mobilität darstellen, wobei hier die höchste<br />
Altersgruppe den größten Anteil stellt. Auch die Angst, bei Dunkelheit länger unterwegs zu se<strong>in</strong>,<br />
wird von den ältesten Respondenten am heftigsten als mobilitätshemmend empfunden. Die<br />
gleiche Tendenz lässt sich bei der Frage erkennen, ob e<strong>in</strong>e negative E<strong>in</strong>stellung der Gesellschaft<br />
190
MOBILITÄT IM ALTER<br />
als H<strong>in</strong>dernis angesehen wird. Geht es um das konkrete Umfeld, liegen die Anteile <strong>in</strong> allen Gruppen<br />
niedriger: Zwischen 15% (unterste Alters gruppe) und 30% (85-Jährige und älter) empfi nden<br />
mangelnde Verlässlichkeit anderer Menschen <strong>in</strong> der Umgebung als H<strong>in</strong>dernis <strong>für</strong> ihre Mobilität.<br />
Tabelle 6: Ängste beim Aufenthalt im öff entlichen Raum (n=450, 65-Jährige und älter,<br />
Angaben <strong>in</strong> %)<br />
Denken Sie, dass ältere Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>…<br />
65-74-Jährige 75-84-Jährige 85-Jährige und älter Gesamt<br />
… leicht Gesellschaft f<strong>in</strong>den, die mit ihnen unterwegs ist (jemand, mit dem man sich unterhalten kann)?<br />
Antwort: „niemals“ oder „manchmal“<br />
62,8 62,0 59,7 62,1<br />
… sich draußen wegen der Anwesenheit von Polizisten stets sicher fühlen können?<br />
Antwort: „niemals“ oder „manchmal“<br />
54,6 49,0 40 50,9<br />
… darauf vertrauen können, dass Geschw<strong>in</strong>digkeitsbegrenzungen <strong>in</strong> Wohngegenden e<strong>in</strong>gehalten<br />
werden? Antwort: „niemals“ oder „manchmal“<br />
77,0 72,9 70,6 74,8<br />
Stellen folgende Situationen oder Gegebenheiten e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>derungsgrund <strong>für</strong> Ihre Mobilität dar?<br />
65-74-Jährige 75-84-Jährige 85-Jährige und älter Gesamt<br />
Mangelnde Verlässlichkeit anderer Menschen <strong>in</strong> der Umgebung (Familie, Nachbarn, Menschen auf der<br />
Straße) Antwort: „eher schon“ oder „ja“<br />
14,9 22,3 30,8 19,4<br />
Rücksichtslose Autofahrer (Raserei, Aggressivität und schlechtes Benehmen der Autofahrer)<br />
Antwort: „eher schon“ oder „ja“<br />
41,6 47,4 51,9 44,9<br />
Negative E<strong>in</strong>stellung der Gesellschaft gegenüber den Älteren<br />
Antwort: „eher schon“ oder „ja“<br />
33,9 39,7 46,2 37,4<br />
Angst, bei Dunkelheit länger unterwegs zu se<strong>in</strong><br />
Antwort: „eher schon“ oder „ja“<br />
29,3 38,2 60,4 35,7<br />
Quelle: SIZE 2004, eigene Berechnungen<br />
Beim Vergleich dieser beiden Themenkategorien fällt auf, dass jüngere Personen sich <strong>in</strong> der<br />
Bewertung sozialen Klimas im öff entlichen Raum tendenziell etwas negativer äußern als die<br />
älteren. Wird der Fokus allerd<strong>in</strong>gs auf die konkrete Wirkung desselben auf das eigene Mobilitätsverhalten<br />
gelegt, ändert sich dieses Bild: In allen angesprochenen Situationen fühlen sich<br />
<strong>Hochaltrige</strong> viel eher <strong>in</strong> ihrer Mobilität e<strong>in</strong>geschränkt oder gehemmt als Angehörige niedrigerer<br />
Altersgruppen.<br />
7.4. Lösungsansätze<br />
Die folgende Tabelle zeigt Maßnahmen und Möglichkeiten zum Erhalt und zur Ver besserung der<br />
Mobilitätsbed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit aus der Sicht von Senior/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong><br />
191
MOBILITÄT IM ALTER<br />
Europa. Damit soll aufgezeigt werden, welche Lösungsansätze die betroff enen Personen selbst<br />
als viel versprechend ansehen und somit <strong>in</strong> weiterer Folge von ihnen eher unterstützt und angenommen<br />
werden. E<strong>in</strong> wesentlic her Punkt, der <strong>in</strong> der Pr axis zunehmend Beachtung fi ndet,<br />
betriff t die Mite<strong>in</strong>beziehung der Zielgruppen <strong>in</strong> die Pl anung: Sie sollte nicht <strong>für</strong> Senior/<strong>in</strong>nen<br />
stattfi nden, sondern mit ihnen.<br />
Tabelle 7: Internationale Rangliste der Dr<strong>in</strong>glichkeit von Maßnahmen <strong>für</strong> die Verbesserung<br />
der Nutzungsbed<strong>in</strong>gungen von öff entlichen Verkehrsmitteln und der Bed<strong>in</strong>gungen im<br />
öff entlichen Raum<br />
Was denken Sie: Welche Maßnahmen und Möglichkeiten der Verbesserung s<strong>in</strong>d Ihnen <strong>in</strong> welchem<br />
Maß wichtig? (n = 3.309, <strong>in</strong> Prozent, Kategorien „eher wichtig“ und „sehr wichtig“)<br />
Quelle: Mart<strong>in</strong>cigh 2006: 39<br />
Analog zu den am gravierendsten empfundenen Mobilitätsh<strong>in</strong>dernissen präsentieren sich auch<br />
die am meisten gewünschten Lösungen: Vor allem plädieren ältere Personen <strong>in</strong> Europa <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e<br />
bessere Durchsetzung von Geschw<strong>in</strong>digkeitsbeschränkungen zur Senkung der Unfallgefahr <strong>für</strong><br />
Fußgänger. Bemerkenswert an dieser Rangli ste ist die Mi schung von Dimensionen, auf welche<br />
die Lösungsmöglichkeiten abzielen. Betrachtet man etwa die oberste Gru ppe von Items,<br />
denen jeweils über 70% der Befragten zugestimmt haben, geht es etwa um Verbesserung der<br />
Infrastruktur, um altersgerechte technische Ausstattung von Fahrzeugen, um Inter ventionen<br />
bei verhaltensbezogenen Problemen <strong>in</strong> der soz ialen Umwelt und <strong>in</strong> Zusammenhang damit<br />
um Reduktion von Angstpotential <strong>für</strong> betagte Personen. Aber auch die L ösungsansätze und<br />
-möglichkeiten <strong>für</strong> e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>z iges Problem können vielgestaltig se<strong>in</strong>, w ie sich am Bei spiel der<br />
192<br />
Rang Maßnahmen %<br />
1<br />
Bessere Durchsetzung von Geschw<strong>in</strong>digkeitsbeschränkungen zur Senkung der<br />
Unfallgefahr <strong>für</strong> FußgängerInnen<br />
82,1<br />
2<br />
Verbesserung des Zustandes von Fußwegen (Beseitigung von H<strong>in</strong>dernissen,<br />
Stolperfallen)<br />
3<br />
E<strong>in</strong> erhöhtes Sicherheitsgefühl bei älteren Menschen schaffen; z. B. durch mehr<br />
Polizeipräsenz und auch Sicherheitskameras auf öffentlichen Plätzen und Wegen<br />
76,2<br />
4 Mehr Niederflurfahrzeuge zum leichteren E<strong>in</strong>stieg 75,2<br />
5<br />
Anpassung öffentlicher Gebäude und der privaten Wohnungen an die Bedürfnisse<br />
Älterer<br />
73,3<br />
6<br />
Verbilligte Tarife im öffentlichen Verkehr und bei Taxis <strong>für</strong> SeniorInnen oder<br />
E<strong>in</strong>führung von Gratis-Fahrten bei öffentlichen Verkehrsmitteln (<strong>für</strong> SeniorInnen)<br />
7<br />
Gesellschaftliche Kampagnen zur Verbesserung des Verständnisses und der<br />
Hilfsbereitschaft <strong>für</strong> ältere Menschen<br />
68,8<br />
8 Verlängerung der Ampel-Grünphasen <strong>für</strong> FußgängerInnen 67,4<br />
9 Mehr Sitz- und Rastgelegenheiten im öffentlichen Raum 65,3<br />
10<br />
Verbesserung der Haltestellen der öffentlichen Verkehrsmittel (besser zugänglich,<br />
komfortabel und altersgerecht)<br />
64,9<br />
11<br />
E<strong>in</strong>führung von speziellen Signalanlagen an Kreuzungen (Tonsignale, Lichtsignale,<br />
etc.)<br />
76,3<br />
72,8<br />
62,4
MOBILITÄT IM ALTER<br />
Durchsetzung von Geschw<strong>in</strong>digkeits beschränkungen illustrieren lässt: Neben Sanktionen <strong>für</strong><br />
Geschw<strong>in</strong>digkeitsübertretung <strong>in</strong> Form von Geldstrafen können etwa bauliche H<strong>in</strong>dernisse wie<br />
Schwellen, kle<strong>in</strong>e Kreisverkehre oder Verkehrs<strong>in</strong>seln die Geschw <strong>in</strong>digkeit drosseln; Anzeigetafeln<br />
führen den Autofahrer/<strong>in</strong>nen und dem Umfeld das tatsächlich gefahrene Tempo vor Augen,<br />
vermehrte Polizeipräsenz auf den Straßen fördert die Diszipl<strong>in</strong> der PKW-Fahrer/<strong>in</strong>nen, und<br />
Verkehrssicherheitskampagnen sollen bewusstse<strong>in</strong>sbildend wirken. Faktoren, die die Mobilität<br />
bee<strong>in</strong>fl ussen s<strong>in</strong>d komplex und haben wechselseitige Auswirkungen, e<strong>in</strong> anschauliches Modell<br />
dazu wird vorgestellt <strong>in</strong> Risser und Ha<strong>in</strong>dl 2006.<br />
7.5. Verwendung von Fahrtendiensten<br />
Für Personen mit schwerwiegenden körperlichen E<strong>in</strong>schränkungen, <strong>für</strong> die sowohl das Selbstfahren<br />
von PKWs als auch die Verwendung öff entlicher Verkehrsmittel nicht möglich ist, bietet<br />
die E<strong>in</strong>richtung der Fahrtendienste e<strong>in</strong>e Chance <strong>für</strong> außerhäusliche Mobilität. Somit können<br />
auch im hohen Alter und bei Vorhandense<strong>in</strong> körperlicher E<strong>in</strong>schränkungen Freizeitaktivitäten<br />
und soziale Kontakte aufrechterhalten werden.<br />
In Wien gilt grundsätzlich die Unterscheidu ng zwischen den so g enannten Gesundheitsfahrtendiensten<br />
der Krankenkassen und den Freizeitfahrtendiensten. Erstere, landläufi g bekannt<br />
unter dem Begriff Krankentransporte, dienen der Beförderung von Personen von ihrer Wohnung<br />
zum Arzt oder zu mediz<strong>in</strong>ischen Behandlungen und s<strong>in</strong>d über die j eweiligen Krankenkassen<br />
zu beantragen bzw. abzurechnen, wobei pr<strong>in</strong>zipiell e<strong>in</strong> Selbstbehalt (derzeit EUR 4,60) zu entrichten<br />
ist, allerd<strong>in</strong>gs gibt es hiervon Ausnahmen (etwa <strong>für</strong> rezeptgebührenbefreite Personen).<br />
Freizeitfahrtendienste stehen <strong>in</strong> Wien denjenigen zur Verfügung, die als schwerst gehbeh<strong>in</strong>dert<br />
e<strong>in</strong>zustufen s<strong>in</strong>d, und bereits e<strong>in</strong>e Leistung nach dem Wiener Beh<strong>in</strong>dertengesetz beziehen. Diese<br />
Beförderungsart ist somit unabhängig vom Alter, wird aber aufgrund der vermehrten körperlichen<br />
E<strong>in</strong>schränkungen, die mit hohem Alter e<strong>in</strong>hergehen, zum größten Teil von hochbetagten<br />
Personen <strong>in</strong> Anspruch g enommen, wie die folg ende Tabelle zeigt. Von allen 9.391 P ersonen,<br />
die im Jahr 2005 auf Leistungen der Freizeitfahrtendienste zu rückgegriff en haben, s<strong>in</strong>d mehr<br />
als e<strong>in</strong> Drittel über 85 Jahre alt, fast e<strong>in</strong> weiteres Drittel zwischen 76 und 85. Die Tatsache, dass<br />
somit zwei Drittel der Benutzer/<strong>in</strong>nen von freizeitbezogenen Fahrtendiensten älter als 75 Jahre<br />
s<strong>in</strong>d, zeigt die Wichtigkeit dieser E<strong>in</strong>richtung <strong>für</strong> die hochaltrigen Bevölkerungsteile. Bedenkt<br />
man weiters, dass die Richtl<strong>in</strong>ien <strong>für</strong> die Zulassung zu dieser Beförderungsvariante sehr streng<br />
s<strong>in</strong>d (siehe unten) stellt sich aufgrund des off ensichtlichen Erfolgs <strong>in</strong> Wien die Frage, ob e<strong>in</strong>e<br />
Ausweitung von Fahrtendienst angeboten <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e fl ächendeckende Mobilitätsversorgung von<br />
hochbetagten Menschen nicht angedacht werden sollte.<br />
193
MOBILITÄT IM ALTER<br />
Tabelle 8: Benutzer/<strong>in</strong>nen von Freizeit fahrten diensten <strong>in</strong> Wien 2005 nach Alters gruppen <strong>in</strong><br />
Prozent, n=9.391<br />
Quelle: Daten zur Verfügung gestellt vom Fonds <strong>Soziales</strong> Wien, eigene Berechnungen<br />
Wie der Name bereits deutlich macht, besteht das Ziel der Freizeitfahrtendienste <strong>in</strong> der Aufrechterhaltung<br />
von Freizeitaktivitäten und sozialen Kontakten. Der pr<strong>in</strong>zipielle Anspruch wird<br />
über die Antragstellung beim Fonds <strong>Soziales</strong> Wien festgestellt. Bei e<strong>in</strong>er positiven Beurteilung<br />
– derzeit gibt es <strong>in</strong> Wien nahezu 20.000 Berechtigte – erfolgt die Abwicklung über telefonische<br />
Bestellung der Fahrten bei Vertragsfi rmen, es ist e<strong>in</strong> Selbstbehalt von EUR 1,60 (In haber des<br />
Sozialpass A EUR 0,80) zu entrichten. Obwohl laut Bestimmungen die Verwendung des Freizeitfahrtendienstes<br />
<strong>für</strong> Arztfahrten nicht gestattet ist, gibt es H<strong>in</strong>weise darauf, dass dies sehr<br />
wohl passiert; allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> noch unbekannter Häufi gkeit. Gehörlose Senior/<strong>in</strong>nen stehen oft<br />
vor dem Problem, dass die Bestellung der Fahrtendienste, die außer telefonisch auch per Fax<br />
durchgeführt werden können, nicht funktioniert und sie nicht abgeholt werden (WITAF 2003: 10).<br />
Im ländlichen Raum beschränken sich die Angebote hauptsächlich auf Ballungsräume und deren<br />
Umgebung. Hier ist besonderer Handlungsbedarf gegeben, allerd<strong>in</strong>gs stellen die hohen Kosten<br />
<strong>für</strong> die betroff enen Gebietskörperschaften große Probleme dar (Ka<strong>in</strong>dl 2004: 183), sodass es<br />
noch zu ke<strong>in</strong>er befriedigenden, fl ächendeckenden Umsetzung gekommen ist.<br />
7.6. Fazit<br />
Im Zuge des demographischen Wandels wird e<strong>in</strong>erseits der Anteil der <strong>Hochaltrige</strong>n an der Gesamtbevölkerung<br />
ansteigen, andererseits wird sich <strong>in</strong> weiterer Folge auch die Beteiligung dieser<br />
Population am Verkehrsgeschehen erhöhen.<br />
Informationen über die Mobilitätssituation hochaltriger Menschen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diversen Forschungsarbeiten<br />
zum Thema Mobilität von Senior/<strong>in</strong>nen aufgrund e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> der Analyse üblichen Diff erenzierung<br />
nach Altersgruppen enthalten. Für den europäischen Raum steht e<strong>in</strong> beachtliches<br />
Reservoir an Daten und Berichten zur Verfügung, auch <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>schlägige <strong>Arbeit</strong>en<br />
vorhanden. Allerd<strong>in</strong>gs gibt es nach derzeitigem Stand des Wissens ke<strong>in</strong>e österreichische Studie,<br />
die sich dezidiert mit der Mobilitätssituation <strong>Hochaltrige</strong>r beschäftigt, welche sich – so legen<br />
es die momentan zur Verfügung stehenden Daten nahe – von den anderen Altersgruppen durch<br />
verschärfte Problemlagen und -wahrnehmungen unterscheidet. In diesem Zusammenhang ist<br />
194<br />
Alter Absolut Prozent<br />
bis 40 726,0 7,7<br />
41-60 968,0 10,3<br />
61-75 1409,0 15,0<br />
76-85 2985,0 31,8<br />
über 85 3303,0 35,2<br />
Summe 9391,0 100,0
MOBILITÄT IM ALTER<br />
auch besonderes Augenmerk auf die Situation der hochaltrigen Frauen h<strong>in</strong>zuweisen, die noch<br />
unzureichend erforscht ist.<br />
Hochbetagte Personen fahren weniger mit dem Auto, benutzen eher öff entliche Verkehrsmittel<br />
und s<strong>in</strong>d viel zu Fuß unterwegs. Barrieren sowohl bei der Verwendung öff entlicher Verkehrsmittel,<br />
als auch beim Aufenthalt im öff entlichen Raum bereiten ihnen eher Schwierigkeiten als<br />
jüngeren Personengruppen, wobei sich dieser Unterschied im Vergleich etwa mit 65-74-Jährigen<br />
ganz deutlich herausstreichen lässt.<br />
Probleme, die sich vor allem durch physische und sensorische Kompetenze<strong>in</strong>bußen ergeben,<br />
können <strong>in</strong> vielen Fällen durch bauliche Maßnahmen kompensiert werden, was weith<strong>in</strong> bekannt<br />
ist. Neuere Forschungsergebnisse belegen jedoch e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich, dass der soziale Faktor ebenso<br />
wichtig ist. Niederfl urbusse und -straßenbahnen etwa erleichtern das E<strong>in</strong>- und Aussteigen; wenn<br />
allerd<strong>in</strong>gs der F ahrer die Türen zu früh sc hließt, sodass langsamere Personen e<strong>in</strong>geklemmt<br />
werden, ruckartig abfährt, bevor die Passagiere sich setzen können, und hochbetagte Personen<br />
sich nicht darauf verlassen können, dass ihnen von anderen Fahrgästen e<strong>in</strong> Sitzplatz angeboten<br />
wird, bleibt die Gesamtsituation trotz der sehr positiven technischen Neuerungen kritisch.<br />
Maßnahmen zur Verbesserung der Mobilität hochaltriger Personen sollten nicht die Komplexität<br />
der jeweiligen Situation und somit die physischen, psychischen und sozialen Interdependenzen<br />
vergessen. Darüber h<strong>in</strong>aus ist es ratsam, die betroff enen Personengruppen <strong>in</strong> Entscheidungsprozesse<br />
mit e<strong>in</strong>zubeziehen. Solche Modelle wurden teilweise bereits etwa <strong>in</strong> Form von Seniorenbeiräten<br />
realisiert und s<strong>in</strong>d weiter ausbaufähig.<br />
Fahrtendienste s<strong>in</strong>d gerade <strong>für</strong> die Gruppe der hochaltrigen Personen e<strong>in</strong>e äußerst s<strong>in</strong>nvolle<br />
Alternative zu PKW und öff entlichen Verkehrsmitteln, die, sofern vorhanden, auch sehr g ern<br />
genutzt werden. F alls die damit verbundenen organisatorischen und vor allem fi nanziellen<br />
Probleme gelöst werden können, würden Fahrtendienste bei fl ächendeckendem Angebot e<strong>in</strong>en<br />
wesentlichen Beitrag zur Mobilitätserhaltung im hohen Alter bieten können.<br />
195
MOBILITÄT IM ALTER<br />
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198
8. LEBENSQUALITÄT UND LEBENSZUFRIEDENHEIT<br />
ANTON AMANN<br />
LEBENSQUALITÄT UND LEBENSZUFRIEDENHEIT<br />
Darum ist das Leben e<strong>in</strong> unabsehbares Feld, wenn mans von vorne ansieht, und es ist kaum<br />
zwei Spannen lang, wenn man am Ende zurückschaut<br />
(A. Stifter, Der Hagestolz)<br />
8.1. Problemstellung<br />
E<strong>in</strong>e Gesellschaft des langen Lebens birgt e<strong>in</strong>e abstrakte Selbstverständlichkeit, deren praktische<br />
Qualität bislang undurchschaut ist: Immer mehr Menschen h aben e<strong>in</strong>e immer größere<br />
Chance, immer älter zu werden, doch welche tatsächlichen Möglichkeiten und Grenzen, welche<br />
ganz neuen Erfahrungen dies eröff net, und unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen Zufriedenheit und<br />
Wohlbefi nden (oder andere Verarbeitungs- und Zustandsweisen) bzw. deren Geg enteil sich<br />
äußern, gehört noch kaum zum gesicherten Wissensbestand. A. Stifters Wort stammt aus e<strong>in</strong>er<br />
Zeit, <strong>in</strong> de r früh g estorben wurde und das Alter, vor allem das hohe, vielleicht weniger e<strong>in</strong>es<br />
<strong>in</strong>dividuellen Planes und ke<strong>in</strong>esfalls politischer Gestaltung bedurfte. Heute wird niemand mehr<br />
mit sechzig Jahren als e<strong>in</strong> Greis angesehen, es s<strong>in</strong>d aber auch die Vorstellungen, wann jemand<br />
alt sei, eher variabel geworden. Der Deutsche Alters survey zeigt e<strong>in</strong>en rel ativ konsensuellen<br />
Beg<strong>in</strong>n bei 70 bis 75 Jahren, andererseits gibt es Umfragen, denen zufolge Menschen <strong>für</strong> sich<br />
selbst die Grenze bereits um das 55. Lebensjahr ansetzen (Amann 2004: 18). Nichts zeigt unsere<br />
Unsicherheiten über dieses hohe Alter deutlicher als die widersprüchlichen Bilder, die mit<br />
diesem Lebensabschnitt verbunden werden und zwischen Extremen variieren. Das hohe Alter<br />
biete, so heißt es, e<strong>in</strong>erseits Zeit <strong>für</strong> die schönen D<strong>in</strong>ge des Lebens und es sei andererseits e<strong>in</strong>e<br />
Belastung <strong>für</strong> die Familie, die Gesellschaft und die Betroff enen selbst. In solchen Bildern stehen<br />
konkrete Situationen und Menschen vor Augen, die entweder geistig und körperlich rüstig und<br />
beweglich ihren Wünschen folgen, oder bee<strong>in</strong>trächtigt durch Krankheit und Gebrechen an Bett<br />
und helfende Menschen gefesselt s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong> großer Teil der Altersbilder kreist um diese beiden<br />
Pole entweder positiv oder negativ bewerteter Konstellationen, sodass <strong>in</strong>sgesamt, und gerade<br />
<strong>für</strong> das hohe Alter, viel Ambivalenz mitschw<strong>in</strong>gt.<br />
Es ist nicht nur die Lebenserwartung gestiegen, auch die Lebensqualität der <strong>Hochaltrige</strong>n hat<br />
sich wesentlich verbessert. Zugleich muss aber gesehen werden, dass es spezielle Risikogruppen<br />
und Risikosituationen gibt, die mit diesem generellen Urteil e<strong>in</strong>er verbesserten Lage nicht<br />
übere<strong>in</strong>stimmen. Der zahlenmäßige Zuwachs an sehr alten Menschen und die notorisch rekapitulierte<br />
Nachricht von e<strong>in</strong>em Gesundheitszustand unter ihnen, der noch nie so gut gewesen sei<br />
wie heute, hat e<strong>in</strong>e Vorstellungswelt des hohen und schönen Alters geschaff en, nicht zuletzt wohl<br />
auch deshalb, weil Pharma- und Kosmetik<strong>in</strong>dustrie zu e<strong>in</strong>em Kreuzzug gegen das Älterwerden<br />
angetreten s<strong>in</strong>d. Die h äufi g überzogenen Interpretationen, die im Zusammenhang mit „antiag<strong>in</strong>g“<br />
und „active- ag<strong>in</strong>g“ auftreten, verweisen genau auf dieses Problem. Die Tatsache, dass<br />
immer mehr Menschen neunzig und hundert Jahre alt werden, beg<strong>in</strong>nt aber auch die Grenzen<br />
199
LEBENSQUALITÄT UND LEBENSZUFRIEDENHEIT<br />
dieser Entwicklung sichtbar zu machen. Jüngere Erkenntnisse zeigen unmissverständlich, dass<br />
die Ältesten der Alten auch <strong>in</strong> Zukunft e<strong>in</strong> Mehr an Bürden auf sich nehmen werden müssen.<br />
E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>facher Vergleich lässt dies bereits off enbar werden, jener zwischen dem „Dritten“ und dem<br />
„Vierten“ Alter, wobei ersteres bei ca. 60 Jahren beg<strong>in</strong>nt, während das letztere dort angesetzt wird,<br />
wo die Hälfte oder zwei Drittel e<strong>in</strong>er Geburtskohorte nicht mehr leben – <strong>in</strong> den Industrieländern<br />
also bei rund achtzig oder fünfundachtzig Jahren. 1 Die erwähnten gesundheitlichen Fortschritte<br />
gelten vor allem <strong>für</strong> das Dritte Alter. Das Vierte aber eröff net unbarmherzig den Blick auf<br />
die biologische Term<strong>in</strong>ierung des Lebens. Nur sche<strong>in</strong>bar widerspricht diese Überlegung der<br />
nackten Statistik. E<strong>in</strong> Mensch, der heute achtzig Jahre alt ist, hat nahezu weitere acht Jahre zu<br />
erwarten, e<strong>in</strong>e l<strong>in</strong>eare Fortschreibung solcher Relationen lässt ja immerh<strong>in</strong> vermuten, dass von<br />
den heute Geborenen fast die Hälfte e<strong>in</strong>hundert Jahre alt werden wird. Doch dem gegenwartsverhafteten<br />
Blick solcher Schätzungen entschw<strong>in</strong>det die Unsicherheit, die damit verbunden<br />
ist. Sicher: Demografi sche Prognosen haben e<strong>in</strong>en relativ hohen Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitsgrad ihrer<br />
Richtigkeit, doch die ök onomischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen kennen wir nur<br />
<strong>in</strong> höchst unpräzisen Richtungen und Qualitäten. Das sollte vor allem zu denken geben, denn<br />
die Straße e<strong>in</strong>er immer weiter steigenden Lebenserwartung, vor allem e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> Gesundheit, ist<br />
ke<strong>in</strong>eswegs schnurgerade ausgelegt.<br />
In jüngerer Zeit wird gerne vom E<strong>in</strong>fl uss der genetischen Ausstattung auf die Lebensspanne des<br />
Menschen gesprochen. Das Ausmaß der <strong>in</strong> den letzten siebzig Jahren gestiegenen Lebenserwartung<br />
lässt sich jedoch nicht auf e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> dieser kurzen Zeit denkbare Veränderung des Genoms<br />
zurückführen, sie ist vornehmlich den verbesserten Lebensbed<strong>in</strong>gungen, der objektiven Lebensqualität,<br />
und den verbesserten Diagnose- und Therapiemöglichkeiten der Mediz<strong>in</strong> zu verdanken.<br />
Die Entwicklung der objektiven Lebensbed<strong>in</strong>gungen <strong>für</strong> die nächsten Jahrzehnte lässt sich aber<br />
nicht prognostizieren. Damit stellt sich das hohe Alter als „Massenersche<strong>in</strong>ung“ <strong>in</strong> historischer<br />
Perspektive als e<strong>in</strong>malig dar: Bi sher ist es <strong>in</strong> dieser Weise nicht aufgetreten und über se<strong>in</strong>e<br />
soziale, kulturelle und ökonomische Zukunft lässt sich nicht allzu viel mit Sicherheit sagen. Zu<br />
denken muss j edenfalls geben, dass die durc hschnittliche Lebenserwartung <strong>in</strong> Abhängigkeit<br />
von sozio-demografi schen und soziokulturellen Merkmalen stark variiert. So haben z. B. Frauen<br />
mit akademischem Abschluss die tendenz iell höchste Lebenserwartung, Männer mit Pfl ichtschulabschluss<br />
und ohne abgeschlossen Lehre die niedrigste. Mit gewissen E<strong>in</strong>schränkungen<br />
lässt sich heut e sagen, dass die „Variable“, also der E<strong>in</strong>fl ussfaktor „Bildung“ als wichtigste<br />
Determ<strong>in</strong>ante ersche<strong>in</strong>t.<br />
1 Die Grenzziehungen <strong>in</strong>nerhalb der Gruppe der über 55- oder über 60-Jährigen schwankt <strong>in</strong> der Literatur allerd<strong>in</strong>gs erheb-<br />
200<br />
lich. Auch das Dritte und Vierte Alter s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutig und allgeme<strong>in</strong> verwendeten Klassifi kationen. „Hochaltrigkeit“<br />
wird <strong>in</strong> diesem Text um das 80. bzw. 85. Lebensjahr angesetzt, und zwar abhängig von den <strong>in</strong> der Sozialstatistik jeweils<br />
gewählten „Grenzen“ – und selbst hier ist die Lage nicht e<strong>in</strong>deutig, da <strong>in</strong> der Literatur sich Diff erenzierungen <strong>in</strong>nerhalb<br />
der Gruppe der <strong>Hochaltrige</strong>n abzuzeichnen beg<strong>in</strong>nen.
8.2. Kontexte der Lebensqualität und Lebenszufriedenheit<br />
LEBENSQUALITÄT UND LEBENSZUFRIEDENHEIT<br />
Wiewohl Lebensqualität <strong>in</strong> der Sozialforschung <strong>in</strong> verschiedenen erfolgreichen Konzeptualisierungen<br />
vorliegt, ist ihre Adaptierung und empirische Untersuchung <strong>für</strong> die <strong>Hochaltrige</strong>n weniger<br />
weit gediehen. Für <strong>Österreich</strong> gibt es bis heute ke<strong>in</strong>e bundesweite, methodisch korrekte und<br />
empirisch gehaltvolle Studie zur Hochaltrigkeit, die repräsentative Schlüsse über Lebenssituation<br />
und Lebensqualität zulässt. 2 In e<strong>in</strong>er solchen Analyse wären besonders die Kontexte von<br />
Risiken und Potenzialen materieller, sozialer, gesundheitlicher und kultureller Art e<strong>in</strong>zubeziehen.<br />
Gesundheitliche und materielle, z. T. auch soziale Risiken, aber auch Po tenziale, lassen<br />
sich zwar teilweise aus Daten der Sozialstatistik ableiten, ergänzende empirische Befunde,<br />
vor allem zu Potenzialefragen, wären aber nötig. Pr<strong>in</strong>zipiell wäre das Konzept der Potenziale<br />
näher zu betrachten, um es aus se<strong>in</strong>em gegenwärtig teilweise stark psychologisch gefärbten<br />
Zuschnitt herauszulösen und als sozial dimensioniert zu erfassen. 3 Auf dem H<strong>in</strong>tergrund österreichischer<br />
und deutscher Forschungen gibt es zu diesem Thema <strong>in</strong>zwischen erste aktuelle<br />
Diff erenzierungen und auch empiri sche Ergebnisse (Amann 2006, Bu ndesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong><br />
Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2006).<br />
8.2.1. Lebensqualität und Potenziale<br />
Die Bedeutung e<strong>in</strong>er hohen Lebensqualität <strong>für</strong> die Zukunft angesichts e<strong>in</strong>er weiter steigenden<br />
Lebenserwartung wird vielfach betont (z. B. Barofsky 2001). Doch was heißt Lebensqualität oder<br />
wor<strong>in</strong> besteht e<strong>in</strong> gutes Leben im hohen Alter? In po<strong>in</strong>tierter Form könnte fast gesagt werden: Je<br />
höher das Lebensalter untersuchter Bevölkerungsgruppen, desto unklarer s<strong>in</strong>d die Vorstellungen<br />
darüber, wie beschaff en deren Lebensqualität sei und wodurch diese bestimmt werde. Da, wie<br />
erwähnt, <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> ke<strong>in</strong>e empirische Forschungstradition zur Lebensqualität im hohen Alter<br />
existiert, ist es s<strong>in</strong>nvoll, hier zuerst e<strong>in</strong>ige pr<strong>in</strong>zipielle Fragen zur Lebensqualität zu diskutieren<br />
und damit e<strong>in</strong>en groben begriffl ichen Rahmen zu schaff en, <strong>in</strong>nerhalb dessen später e<strong>in</strong>ig e<br />
wichtige empirische E<strong>in</strong>zelergebnisse aus verschiedenen Studien <strong>in</strong>terpretiert werden können.<br />
2 Aufgrund des eklatanten Mangels an empirischen Daten zur Lebenslage und Lebensqualität <strong>Hochaltrige</strong>r <strong>in</strong> Öster-<br />
reich wird <strong>in</strong> diesem Beitrag sehr häufi g die Formulierung hypothetischer Zusammenhänge gewählt. Das bedeutet im<br />
Kern, dass mit der objektiven und subjektiven Lebensqualität zusammenhängende Phänomene vor dem H<strong>in</strong>tergrund<br />
empirisch bereits bekannter Ergebnisse aus dem Ausland (vor allem Deutschland) refl ektiert werden. Damit können<br />
e<strong>in</strong>erseits empirisch wahrsche<strong>in</strong>liche Zusammenhänge auch <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> postuliert werden, andererseits lassen sich<br />
solche Hypothesen <strong>in</strong> etwaigen künftigen Studien <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> direkt überprüfen. Referenzgrundlagen s<strong>in</strong>d vor allem<br />
die Publikationen: Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Familie, Senioren, Frauen und Gesundheit (2002) sowie K. U. Mayer und P. B.<br />
Baltes (1996).<br />
3 E<strong>in</strong>e Pilotstudie zu diesem Thema wurde vom Autor unlängst vorgelegt. (Amann & Felder 2005<br />
201
LEBENSQUALITÄT UND LEBENSZUFRIEDENHEIT<br />
Die folgenden Überlegu ngen haben e<strong>in</strong>en etwas stärkeren konzeptuellen und methodologischen<br />
Charakter, s<strong>in</strong>d aber <strong>für</strong> e<strong>in</strong> angemessenes Verständnis von Lebensqualität und <strong>für</strong> die<br />
E<strong>in</strong>ordnung von Forschungsergebnissen wohl unerlässlich.<br />
Lebensqualität angemessen abzubilden erfordert, <strong>in</strong> methodisch und theoretisch begründeter<br />
Weise e<strong>in</strong> empirisch abgesichertes Erklärungsmodell zu entwickeln. 4 Wie bei jeder Forschungsfrage,<br />
mit der sich die Wissenschaft dauerhaft beschäftigt, gibt es auch hier verschiedene Ansätze,<br />
denen unterschiedliche Annahmen zugrunde liegen (Diener 1996). Diese Situation macht<br />
es dann meist schwierig, Ergebnisse erfolgreich zu vergleichen. Manche der aus verschiedenen<br />
Wissenschaften stammenden Ansätze s<strong>in</strong>d aus e<strong>in</strong>er sozialgerontologischen Perspektive allerd<strong>in</strong>gs<br />
auch mit Vorbehalt zu betrachten, da empirisch nachgewiesen wurde, dass z. B. Persönlichkeitseigenschaften<br />
kaum geeignet s<strong>in</strong>d, die Schwankungen <strong>in</strong>dividuellen Wohlbefi ndens,<br />
das se<strong>in</strong>erseits zur Lebens qualität gehört, über die Zeit h<strong>in</strong>weg oder den nachweisbaren E<strong>in</strong>fl uss<br />
von Umwelte<strong>in</strong>fl üssen auf das subjektive Wohlbefi nden zu erklären (Diener 2000). Andererseits<br />
s<strong>in</strong>d aber solche eher psychologisch ausgerichteten Untersuchungen doch auch als wichtige<br />
Ergänzung zu soziologischen anzusehen, da damit die konzeptuellen Rahmen grundsätzlich<br />
erweitert werden können. Der „Erfolg“ dieser konzeptuellen Anstrengungen erweist sich aber<br />
letzten Endes immer an den empirischen Ergebnissen.<br />
Ebenso vom <strong>in</strong>ternationalen Forschungsstand ausgehend können „objektive Lebensqualität“ und<br />
„subjektive Lebensqualität“ unterschieden und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em „<strong>in</strong>tegrativen Ansatz“ zusammengeführt<br />
werden, der hier favorisiert wird. Kennzeichen dieses Ansatzes ist e<strong>in</strong> Input -/Output-Modell<br />
(<strong>in</strong>put s<strong>in</strong>d die obj ektiven Determ<strong>in</strong>anten, output ist das subjektive Wohlbefi nden), bei dem<br />
allerd<strong>in</strong>gs davon ausg egangen wird, dass <strong>in</strong>tervenierende/vermittelnde Größen d as Ausmaß<br />
der Wirkung objektiver Determ<strong>in</strong>anten systematisch bee<strong>in</strong>fl ussen, weshalb e<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong> den<br />
seltensten Fällen e<strong>in</strong> direkter Zusammenhang zwischen externen Bed<strong>in</strong>gungen und subjektiver<br />
Lebensqualität nachgewiesen werden k ann und anderer seits rekursive Wirkungen bestehen.<br />
So bee<strong>in</strong>fl usst die subjektive Bewertung der eigenen Gesundheit das subjektive Wohlbefi nden<br />
<strong>in</strong> weit stärkerem Maße als die objektiv diagnostizierte Gesundheit, subjektiv positiv beurteilte<br />
Gesundheit und positiv beurteilte soziale Kontakte korrelieren ihrerseits wieder klar mit allgeme<strong>in</strong>er<br />
Lebenszufriedenheit.<br />
4 Lebensqualität wird hier aus methodischen Überlegungen vor allem als „abhängige Variable“ betrachtet, wiewohl na-<br />
202<br />
türlich festgehalten werden muss, dass es <strong>in</strong>zwischen zunehmend empirische Literatur gibt, die sich mit den „Folgen“<br />
von Lebensqualität befasst, diese also als Determ<strong>in</strong>ante betrachtet, wie dies <strong>in</strong> Analysen der Wirkung der Lebenszufriedenheit<br />
auf die Lebenserwartung oder <strong>in</strong> Untersuchungen der Eff ekte gesellschaftlicher Partizipation bzw. des<br />
„feel<strong>in</strong>gs of usefulness for others“ auf Morbidität und Mortalität der Fall ist.
LEBENSQUALITÄT UND LEBENSZUFRIEDENHEIT<br />
Die Perspektive der Betrachtung, die hier im Zentrum steht, ist von der Vorstellung geleitet, dass<br />
<strong>in</strong>dividuelle Wohlfahrt und Lebensqualität als Konstellation von objektiven Lebensbed<strong>in</strong>gungen<br />
u n d subjektivem Wohlbefi nden defi niert werden müssen.<br />
Dieses Verständnis entspricht <strong>in</strong> großen Teilen z. B. der deutschen empirischen Wohlfahrtsforschung<br />
– <strong>in</strong>sbesondere auch dem Wohlfahrtssurvey als e<strong>in</strong>em da<strong>für</strong> zentralen Erhebungsprogramm<br />
der empirischen Sozialforschung. Die Unterscheidung zwischen objektiven Lagebed<strong>in</strong>gungen<br />
und subjektivem Wohlbefi nden als den beiden Grundkomponenten der Lebensqualität hat sich<br />
bisher als ausgesprochen fruchtbar erwiesen. Das Zusammenfallen von guten L ebensbed<strong>in</strong>gungen<br />
und positivem Wohlbefi nden ist die erstrebenswerteste Komb<strong>in</strong>ation und wird <strong>in</strong> der<br />
englischsprachigen Forschungstradition als „Well-Be<strong>in</strong>g“ bezeichnet. „Deprivation“ ist jene<br />
Kon stellation, <strong>in</strong> der schlechte Lebensbed<strong>in</strong>gungen mit negativem Wohlbefi nden e<strong>in</strong>hergehen.<br />
„Dissonanz“ bezeichnet die <strong>in</strong>konsistente – auch als „Unzufriedenheitsdilemma“ benannte –<br />
Komb<strong>in</strong>ation von guten Lebensbed<strong>in</strong>gungen und Unzufriedenheit, und „Adaptation“ ist die –<br />
auch „Zufriedenheitsparadox“ genannte – Verb<strong>in</strong>dung von schlechten Lebensbed<strong>in</strong>gungen und<br />
Zufriedenheit. Der letztgenannte Fall stellt e<strong>in</strong>es der <strong>in</strong>teressantesten methodischen Probleme<br />
<strong>in</strong> der sozialgerontologischen Lebensqualitätsforschung dar (Zapf 1984).<br />
Das Wohlfahrts- bzw. Lebensqualitätsniveau e<strong>in</strong>er Gesellschaft ist, ceterus paribus, desto höher,<br />
je größer der Anteil der Bevölkerung ist, der sich <strong>in</strong> der Kategorie Well-Be<strong>in</strong>g befi ndet. In anderen<br />
Worten: Das gesamte Konzept bezieht sich auf die L ebensverhältnisse der B evölkerung. Von<br />
e<strong>in</strong>em methodisch und theoretisch zeitgemäßen Standpunkt aus kann es dabei nicht e<strong>in</strong>fach<br />
um die Beobachtung von Strukturen und deren Wandel, also die äußere Ausgestaltung von Lebensbed<strong>in</strong>gungen<br />
alle<strong>in</strong> gehen. Letztlich bleibt entscheidend, wie die Veränderungen von der<br />
Bevölkerung wahrgenommen und ob sie als Verbesserungen bewertet werden. Damit ist auch e<strong>in</strong><br />
spezifi scher Begriff von „Wohlfahrt“ vorausgesetzt: Sie äußert sich <strong>in</strong> guten Lebensbed<strong>in</strong>gungen,<br />
die mit e<strong>in</strong>em positiven subjektiven Wohlbefi nden e<strong>in</strong>hergehen. Neben den allgeme<strong>in</strong>en<br />
und generellen E<strong>in</strong>schätzungen des Wohlbefi ndens – z. B. „Z ufriedenheit mit dem L eben im<br />
Allgeme<strong>in</strong>en“ – müssen aber auch bereichsspezifi sche E<strong>in</strong>schätzungen berücksichtigt werden<br />
wie etwa zur sozialen Lage, zu soz ialen Beziehungen, Ge sundheit, Wohnbed<strong>in</strong>gungen etc. In<br />
vielen Fällen stellen sich allgeme<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schätzungen als hochgradig positiv heraus, doch erst<br />
bereichsspezifi sche E<strong>in</strong>schätzungen ergeben e<strong>in</strong> Bild darüber, welche Bereiche das allgeme<strong>in</strong>e<br />
Urteil am stärksten bee<strong>in</strong>fl ussen. In der Sozialgerontologie steht denn auch g egenwärtig die<br />
Auff assung im Zentrum, dass die Lebensqualität bis <strong>in</strong>s hohe Al ter durch große und teilweise<br />
sogar steigende <strong>in</strong>ter<strong>in</strong>dividuelle Unterschiede gekennzeichnet ist (Filipp 2001; Staud<strong>in</strong>ger 2000).<br />
In der sozialgerontologischen Forschung ist es mittlerweile e<strong>in</strong>e selbstverständliche Tatsache,<br />
dass die <strong>in</strong>nere Diff erenzierung der Gruppe der über 60-Jährigen stärker ist als jene zwischen<br />
den jüngeren Erwachsenen und den Alten, was <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> den hohen Altersgruppen an<br />
den verschiedensten Lebensbed<strong>in</strong>gungen, vom Ge sundheitszustand bis zu den sozialen Netzwerken,<br />
deutlich zum Ausdruck kommt (vgl. z. B. Backes & Clemens 2000).<br />
203
LEBENSQUALITÄT UND LEBENSZUFRIEDENHEIT<br />
8.2.2. Soziale Lagen <strong>Hochaltrige</strong>r und subjektive Lebensqualität<br />
8.2.2.1. MATERIELLE BEDINGUNGEN UND GESUNDHEIT<br />
Die Lebenslage und Lebensqualität im hohen Alter bestimmen sich vorrangig über die ökonomischen<br />
Bed<strong>in</strong>gungen, über Gesundheit, Mobilität, Handlungsfähigkeit, soziale Netze und die<br />
<strong>in</strong>frastrukturelle Umwelt. Aber auch lebens zyklische Veränderungen <strong>in</strong> den L ebensstilen und<br />
Lebensweisen und die damit verbundenen Wertorientierungen und Prioritätensetzungen s<strong>in</strong>d<br />
von Bedeutung. Biografi sche Rücker<strong>in</strong>nerungen machen es deutlich:<br />
„Nun b<strong>in</strong> ich neunzig Jahre alt! Manchmal denke ich gar nicht dran (…) Wieviel schwerer war das<br />
Leben damals, als ich zur Welt kam. (…) Zum ersten Mal fühlte ich mich alt, als mir durch e<strong>in</strong>e<br />
Glaswand me<strong>in</strong> Enkelsohn gezeigt wurde. So, jetzt bist du Großmutter! (…) Neulich kommt me<strong>in</strong><br />
Enkelsohn mit se<strong>in</strong>em Söhnchen (vier Jahre alt) zu mir. Dieser begrüßt mich: ‚Du bist me<strong>in</strong>e Ur-<br />
Omi!’ E<strong>in</strong> bisserl möchte ich noch leben. (…) Eigentlich merken wir gar nicht so genau, wie wir<br />
älter werden.“ (Langreiter & Schulz-Ulm 1999: 166-167) Empirisch äußern sich diese vielfältigen<br />
Veränderungen <strong>in</strong> der <strong>in</strong>dividuell e<strong>in</strong>geschätzten Wichtigkeit verschiedener Lebensbereiche <strong>für</strong><br />
die eigene Lebensqualität (Noll & Schöb 2001).<br />
Die Höhe und Struktur des E<strong>in</strong>kommens älterer nicht (mehr) er werbstätiger Men schen hängen<br />
von e<strong>in</strong>er Reihe von Faktoren ab, die durch die verfügbaren Daten nur partiell darstellbar<br />
s<strong>in</strong>d. Zu ihnen zählen Art und Dauer der vorausgehenden Erwerbstätigkeit, Sparfähigkeit und<br />
Sparbereitschaft im erwachsenen Lebensverlauf, rechtliche Transferregelungen, Steuern und<br />
Abgaben etc. Charakteristisch ist jedenfalls die Heterogenität der ökonomischen Lagen unter<br />
den Älteren mit e<strong>in</strong>er tendenz iellen Schlechterstellung bestimmter Gruppen unter den sehr<br />
Alten, <strong>in</strong>sbesondere der Fr auen unter ihnen (Bu ndesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Soziale Sicherheit und<br />
Generationen 2002).<br />
Zum<strong>in</strong>dest bis <strong>in</strong> die jüngste Zeit ließen <strong>in</strong>ternationale empirische Daten (z. B. der Europäischen<br />
Kommission) den vorsichtigen Schluss zu, dass die Armutsgefährdungsrate unter den Älteren<br />
über dem Bevölkerungsdurchschnitt liegt und dass die alle<strong>in</strong> stehenden Pensionist<strong>in</strong>nen<br />
unter den Hoch altrigen e<strong>in</strong>e Ri sikogruppe da rstellen. Gegenwärtig sche<strong>in</strong>en österreichische<br />
Berechnungen dies nun nicht mehr zu bestätigen. Es ist also sicher nicht die schlechtere Wahl,<br />
<strong>in</strong>ternational vielleicht schwächere Nachweise zugunsten gegenwärtiger österreichischer Ergebnisse<br />
zu vernachlässigen.<br />
In der Forschung zur Lage der <strong>Hochaltrige</strong>n spielt u. a. der Faktor „Konsumausgaben“ e<strong>in</strong>e bedeutende<br />
Rolle, weil an ihnen sichtbar wird, dass sie vergleichsweise hohe Ausgaben tätigen,<br />
die durch spezifi sche Bedarfslagen verursacht s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>e charakteristische Bedeutung haben<br />
dabei die fi nanziellen Auswirkungen der Pfl egebedürftigkeit und der Verwitwung als biografi -<br />
sche Ereignisse, weil die <strong>Hochaltrige</strong>n diesen Risiken <strong>in</strong> besonderem Maße ausgesetzt s<strong>in</strong>d. Im<br />
„Vierten Bericht zur Lage der älteren Generation“ (Deutschland) weisen die entsprechenden<br />
204
LEBENSQUALITÄT UND LEBENSZUFRIEDENHEIT<br />
Statistiken sowohl <strong>in</strong> den alten wie <strong>in</strong> den neuen Bundesländern <strong>für</strong> die über 85-Jährigen das<br />
jeweils ger<strong>in</strong>gste Ausmaß an ausgabefähigem E<strong>in</strong>kommen und die ger<strong>in</strong>gste Konsumquote aus<br />
(Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Familie, Senioren, Frauen und Gesundheit 2002: 93). Doch gerade im<br />
<strong>in</strong>ternationalen Vergleich, wo Vieles unklar ist, bereitet die Platzierung österreichischer Befunde<br />
Schwierigkeiten. Es mag daher s<strong>in</strong>nvoll se<strong>in</strong>, Problemstellungen hypothetisch als Forschungsfragen<br />
aufzufassen und unter ihnen e<strong>in</strong>ige Punkte zu nennen.<br />
Wenn es zutreff en sollte, dass der fi nanzielle Handlungsspielraum <strong>Hochaltrige</strong>r ger<strong>in</strong>ger ist<br />
als jener anderer älterer Menschen, wobei natürlich Pensionse<strong>in</strong>künfte, Immobilienvermögen,<br />
Sparguthaben und private Unterstützungen zu berücksichtigen wären, so würde es wohl auch<br />
stimmen, dass sie aufgrund spezifi scher Bedarfslagen höhere E<strong>in</strong>kommensanteile <strong>für</strong> Grundausgaben<br />
aufzuwenden hätten. Sicher ist die fi nanzielle Lage <strong>Hochaltrige</strong>r <strong>in</strong>sgesamt nicht besorgniserregend,<br />
es gibt jedoch starke soziale Unterschiede und e<strong>in</strong>zelne Gruppen unter ihnen<br />
mit sehr ger<strong>in</strong>gen fi nanziellen Ressourcen und der Gefahr ökonomischer Deprivation. Jedenfalls,<br />
und das ist e<strong>in</strong> bemerkenswerter Befund, steigt die E<strong>in</strong>kommenszufriedenheit bei älteren Gruppen<br />
an, unabhängig vom tatsächlichen E<strong>in</strong>kommen (zeitliche Dimension). Alte und hochaltrige<br />
Menschen s<strong>in</strong>d auch im Durchschnitt zufriedener mit ihrem E<strong>in</strong>kommen und mit ihrem erreichten<br />
Lebensstandard als jüngere Altersgruppen (gruppenkomparative Dimension). Dieses Muster verführt<br />
allerd<strong>in</strong>gs leicht dazu, die objektiven fi nanziellen Bedarfe <strong>Hochaltrige</strong>r, gerade aufgrund der<br />
„unrealistisch“ hohen Zufriedenheit, zu unterschätzen. Vermutlich ist das hohe Zufriedenheitsmaß<br />
auf die wahrgenommene E<strong>in</strong>kommensstabilität oder E<strong>in</strong>kommenssicherheit zurückzuführen, die<br />
durch Pensionen und Renten (auch jeweils mit Blick <strong>in</strong> die Zukunft) gewährleistet sche<strong>in</strong>t. E<strong>in</strong>e<br />
wesentliche Rolle spielt <strong>für</strong> die <strong>Hochaltrige</strong>n die – zum<strong>in</strong>dest subjektiv empfundene – Legitimität<br />
des Rechts anspruchs aufgrund der erbrachten Leistungen; wird diese Legitimität des Alterse<strong>in</strong>kommens<br />
<strong>in</strong> Frage gestellt, bee<strong>in</strong>trächtigt dies ebenfalls die E<strong>in</strong>kommenszufriedenheit und das<br />
subjektive Wohlbefi nden.<br />
E<strong>in</strong> außerordentlich langes Leben bedeutet nicht automatisch Krankheit, Abhängigkeit und<br />
Isolation, es enthält auch die C hance weiterh<strong>in</strong> erhaltener Selbständigkeit, generationenübergreifender<br />
Kontakte und der Nutzung verbliebener Fähigkeiten. Diese Tatsache steht <strong>in</strong><br />
Verb<strong>in</strong>dung mit der e<strong>in</strong>gangs erwähnten Beziehung zwischen Risiken und Potenzialen. Zu<br />
den Risiken zählen, ausdeutbar an hand empirisch immer w ieder bestätigter Befunde, e<strong>in</strong>e<br />
ger<strong>in</strong>gere Kapazität der Informationsverarbeitung, e<strong>in</strong>e deutliche Zunahme zerebrovaskulärer<br />
Erkrankungen und Demenzen, der Multimorbidität und chronischer Erkrankungen, aber auch<br />
erhöhter Pfl egebedarf, verr<strong>in</strong>gerte Möglichkeiten, soziale Beziehungen aufzubauen und zu<br />
unterhalten sowie zunehmende Armutsgefährdung – <strong>in</strong>sbesondere u nter alle<strong>in</strong>stehenden<br />
alten Frauen (Pohlmann 2001: 47ff ). Zu den Potenzialen gehören die immer weiter <strong>in</strong> e<strong>in</strong> l anges<br />
Leben zurückreichenden Er fahungen, der Wandel des Zeiterlebens, e<strong>in</strong>e Neu-Defi nition<br />
des Selbst, soziale Neuorientierungen, die Wiederentdeckung der Jugend und die potenzielle<br />
Interessantheit oder Attraktivität <strong>für</strong> Jüngere. Diesen mehr als psychisch-geistig und spirituell<br />
e<strong>in</strong>zuordnenden Di mensionen s<strong>in</strong>d ausgesprochene körperliche und geistige Rüstigkeit, gute<br />
objektive Lagebed<strong>in</strong>gungen und Lebensengagement gegenüberzustellen. Jedenfalls gilt aus<br />
205
LEBENSQUALITÄT UND LEBENSZUFRIEDENHEIT<br />
der Sicht der L ebensqualität: Mit zunehmendem hohem Alter t ritt der Gesu ndheitsstatus als<br />
objektive Lage bed<strong>in</strong>gung im Vergleich zu anderen Faktoren verstärkt <strong>in</strong> der Vordergrund.<br />
Auch hier mag es wieder s<strong>in</strong>nvoll se<strong>in</strong>, Problemstellungen hypothetisch als Forschungsfragen<br />
aufzufassen und unter ihnen e<strong>in</strong>ige Punkte zu nennen. So zeigte z. B. die so genannte Berl<strong>in</strong>er<br />
Alterstudie (Mayer & Baltes 1996) e<strong>in</strong>ige <strong>in</strong> ihrer Reichweite regional begrenzte, aber <strong>in</strong>teressante<br />
Ergebnisse, die es auch <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> zu erforschen gälte. 5 Auch <strong>in</strong> u nserem Land könnte es<br />
zutreff en, dass e<strong>in</strong>e Lebensqualitätstudie zu zeigen vermöchte, dass die Mehrheit der Älteren mit<br />
dem Leben <strong>in</strong> der Vergangenheit und <strong>in</strong> der Gegenwart zufrieden ist und relativ sorgenfrei <strong>in</strong> die<br />
Zukunft blickt. Da solche allgeme<strong>in</strong>en Befunde aber mit Vorsicht zu betrachten s<strong>in</strong>d, wäre auch<br />
der Frage nachzugehen, ob im fortgeschrittenen Alter e<strong>in</strong>ige Aspekte nicht doch e<strong>in</strong>e deutlich<br />
negative Veränderung zeigen wie z. B. das gruppenspezifi sche subjektive Wohlbefi nden und<br />
<strong>in</strong>sbesondere die emotionale Befi ndlichkeit. Wesentliche Determ<strong>in</strong>anten im hohen Alter wären<br />
dann wahrsche<strong>in</strong>lich psychische und physiologische Grundbefi ndlichkeiten (nicht zuletzt der<br />
allgeme<strong>in</strong>e Gesundheitszustand) und die Leistungsfähigkeit sowie die <strong>für</strong> diese Lebensphase<br />
charakteristischen Veränderungen der Lebenssituation wie zunehmende Morbidität, Verlust von<br />
Verwandten und Freunden und Umzug <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Pfl egee<strong>in</strong>richtung. Mit älteren Forschungsbefunden<br />
würde sich deck en, dass es altersspezifi sche Muster der E<strong>in</strong>sch ätzung gibt: Als weniger<br />
wichtig <strong>für</strong> die subjektive Lebensqualität könnten sich, im Vergleich zu jüngeren Altersgruppen,<br />
<strong>Arbeit</strong>, berufl icher Erfolg, politischer E<strong>in</strong>fl uss, Liebe, Umweltschutz, Freizeit, E<strong>in</strong>kommen und<br />
Familie herausstellen. Ziemlich sicher sche<strong>in</strong>t zu se<strong>in</strong>, d ass bei den Hochbetagten folgende<br />
Faktoren e<strong>in</strong>en sehr viel höheren Stellenwert erlangen: Gesundheit, Glaube und Sicherheit (<strong>in</strong>kl.<br />
Schutz vor Krim<strong>in</strong>alität). Gesundheit nimmt wahrsche<strong>in</strong>lich <strong>in</strong> dem Maße an Bedeutung <strong>für</strong> die<br />
Lebensqualität und das Wohlbefi nden zu, <strong>in</strong> dem sie mit zunehmendem Alter prekär ersche<strong>in</strong>t<br />
oder tatsächlich bee<strong>in</strong>trächtigt ist. Jedenfalls wäre anzunehmen, dass <strong>für</strong> die Lebensqualität<br />
der Hochbetagten körperliche und geistige Gesundheit, soziale Netze, materielle Lage und Ausstattung<br />
der Wohnung, Möglichkeiten der Mobilität sowie mediz<strong>in</strong>ische und soziale Betreuung<br />
natürlich von Bedeutung s<strong>in</strong>d, doch: Im hohen Alter gibt es e<strong>in</strong> verändertes „Koord<strong>in</strong>atensystem“;<br />
während z. B. Mobilität sich im jungen und mittleren Lebensalter eher auf die Benützung von<br />
Verkehrsmitteln, vorzugsweise des eigenen Autos bezieht, wird Mobilität im hohen Alter immer<br />
mehr zu e<strong>in</strong>em Bestandteil der grundlegenden Alltagskompetenz im S<strong>in</strong>ne von sich Bewegen,<br />
Gehen und Treppensteigen (Amann & Reiterer 2006).<br />
5 Die Berl<strong>in</strong>er Altersstudie ist allerd<strong>in</strong>gs <strong>für</strong> Deutschland nicht repräsentativ und weist <strong>in</strong> den Dimensionen E<strong>in</strong>kommen<br />
206<br />
und Vermögen e<strong>in</strong>en Mittelschicht-Bias auf. Weshalb sie hier trotzdem herangezogen wird, hat se<strong>in</strong>e Begründung dar<strong>in</strong>,<br />
dass es <strong>für</strong> die Formulierung hypothetischer Zusammenhänge eben nicht nur auf Repräsentativität ankommt, sondern<br />
auch auf die Charakteristik der untersuchten Zusammenhänge zwischen mehreren verschiedenen Faktoren.
LEBENSQUALITÄT UND LEBENSZUFRIEDENHEIT<br />
Auch folgende Zusammenhänge gälte es <strong>in</strong> Öst erreich zu untersuchen: Ob die schon öfters<br />
bestätigte hohe Stabilität der subjektiven Lebensqualität bis <strong>in</strong>s hohe Alter damit zusammen<br />
hängt, dass ältere Menschen über Ressou rcen verfügen, die dem subjektiven Wohlbefi nden<br />
h<strong>in</strong>derliche Belastungswirkungen mildern können; dazu könnten jedenfalls e<strong>in</strong> hohes Selbstwertgefühl,<br />
Verfügbarkeit sozialer Stützsysteme und Bewältigungsstile als Mechanismus zur<br />
Wahrung von Wohlbefi nden („Akkommodation“) zählen. Solche Mechanismen haben jedoch<br />
auch Grenzen: E<strong>in</strong>e als schlecht wahrgenommene Gesundheit im hohen Alter g eht e<strong>in</strong>deutig<br />
mit e<strong>in</strong>em g em<strong>in</strong>derten Wohlbefi nden e<strong>in</strong>her, die „P uff ermechanismen“ sche<strong>in</strong>en <strong>in</strong> diesem<br />
Fall schwächer zu werden<br />
8.2.2.2. DER SONDERFALL DEMENZIELLER ERKRANKUNGEN<br />
Zunehmend wird deutlich, dass es <strong>in</strong> der Beurteilung der Lebensqualität von Hochbetagten e<strong>in</strong>e<br />
Dimension gibt, <strong>für</strong> deren Erforschung <strong>in</strong> der Sozialgerontologie nur wenig Erfahrung besteht:<br />
geistig-psychische Veränderungen. Aus gegenwärtiger Sicht der Forschung über Lebensqualität<br />
im hohen Alter wird immer deutlicher sichtbar , dass zugrunde gelegte Konzepte ohne die<br />
Dimension psychisch-geistiger Veränderungen nicht mehr auskommen können wer-den. E<strong>in</strong>e<br />
spezielle Form, Demenzerkrankungen, ist nach <strong>in</strong>ternationalen Untersuchungen und Gesundheitsstatistiken<br />
zahlenmäßig im Steigen begriff en und sowohl betreuende Angehörige wie das<br />
Pfl egepersonal werden du rch diese Entw icklung vor e<strong>in</strong>e neue u nd große Her ausforderung<br />
gestellt (Lang et al. 2006). Der Problemkreis der Demenzerkrankungen 6 stellt sich als e<strong>in</strong> Syndrom<br />
dar, das vor allem im späteren Leben auftaucht. Zu ihm gehören Störungen im geistigen,<br />
emotionalen und psychomotorischen Bereich. Im Allgeme<strong>in</strong>en verläuft das demenzielle Syndrom<br />
im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er C hronifi zierung und progressiv, wobei es zu Bee<strong>in</strong>trächtigungen höherer<br />
Funktionen der Gehirnr<strong>in</strong>de kommt. Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auff assung, Rechnen,<br />
Lernen, Sprache und Urteilsvermögen werden <strong>in</strong> Mitleidenschaft gezogen. Die Bee<strong>in</strong>trächti gung<br />
kognitiver Funktionen geht mei st Hand <strong>in</strong> Hand mit e<strong>in</strong>er Verschlechterung der emotionalen<br />
Kontrolle und e<strong>in</strong>er Veränderung des Sozialverhaltens und der Motivation. Im Verhalten werden<br />
e<strong>in</strong>e sichtbare Abnahme <strong>in</strong>tellektueller Leistungsfähigkeit und e<strong>in</strong>e Abnahme der persönlichen<br />
Aktivitäten deutlich.<br />
Noch immer verschließen viele die Augen vor dieser Entwicklung. Und doch bedeutet sie e<strong>in</strong><br />
völliges Umdenken <strong>in</strong> der Qualifi zierung des Personals, <strong>in</strong> der Unterst ützung der pfl egenden<br />
Angehörigen, <strong>in</strong> der Pfl egegelde<strong>in</strong>stufung und im generellen Umgang mit den Betroff enen, aber<br />
auch <strong>in</strong> der Prävention. Folgende Punkte werden von fundamentaler Bedeutung se<strong>in</strong>.<br />
6 Es sei hier auf die Standardwerke der American Psychiatric Association (diagnostic and statistical manual of mental<br />
disorders, DSM-III-R) und der Weltgesundheitsorganisation (<strong>in</strong>ternational classifi cation of diseases, ICD-10) verwiesen.<br />
207
LEBENSQUALITÄT UND LEBENSZUFRIEDENHEIT<br />
Im mediz<strong>in</strong>ischen Bereich bedarf es der klareren Bestimmung des kl<strong>in</strong>ischen Er sche<strong>in</strong>ungsbildes<br />
der Demenzerkrankung und ihrer diff erenziellen Symptomatik, e<strong>in</strong>er klaren Diagnostik, e<strong>in</strong>er<br />
genauen Beobach tung des Krankheitsverlaufs und der krankheitsbed<strong>in</strong>gten Verhaltensänderungen,<br />
e<strong>in</strong>er gezielten medikamentöse Therapie und geeigneter pfl egerischer Maßnahmen.<br />
Im psychosozialen und psychologischen Feld braucht es e<strong>in</strong>e eigene Bewertung des Pfl egeaufwands,<br />
des richtigen Umgangs mit den Erkrankten, e<strong>in</strong>e klare Beurteilung und Würdigung der<br />
Rolle und der Belastung der Angehörigen sowie des Betreuungs- und Pfl egepersonals, bei diesem<br />
besonders <strong>in</strong> H<strong>in</strong>sicht auf Qualifi kation, Belastung und Aufgabenteilung im Vergleich zu<br />
Betreuten mit anderen Betreuungsbedürfnissen.<br />
In den anim atorischen Aufgaben braucht es ebenfalls Kenntnisse im spez iellen Umgang mit<br />
Demenzkranken, Entscheidungen über die al le<strong>in</strong>ige oder k ooperative Pfl ege zusammen mit<br />
anderen Betreuten, nichtmedikamentöse Therapieansätze und e<strong>in</strong>e angemessene Gestaltung<br />
der physischen und sozialen Umwelt. Dass bei Demenzkranken die Pfl egequalität zu beurteilen<br />
e<strong>in</strong> schwieriges Unterfangen ist, zumal wenn ihre eigenen Bedürfnisse zentral mit berücksichtigt<br />
werden, wird mittlerweile anerkannt. Wie dies geschehen könnte, ist allerd<strong>in</strong>gs nicht<br />
so e<strong>in</strong>deutig. Gegenwär tig wird davon ausgegangen, dass ih re Bedürfnisse, die sie ja selbst<br />
schwer oder g ar nicht ausdrücken können, über ihre Biogr afi e erschlossen werden müs sen.<br />
Für diese lebensgeschichtliche Erschließung braucht es Gespräche mit Angehörigen, dem<br />
Hausarzt, Bekannten, die Besichtigung der Wohnung etc. Darauf können die entsprechenden<br />
Pfl egemethoden e<strong>in</strong>gesetzt werden, h<strong>in</strong> bis zur Validation. Doch an diesem Punkt stellt sich<br />
ernstlich die Frage: Wie viele s<strong>in</strong>d da<strong>für</strong> ausgebildet und wie viel Zeit steht zur Verfügung – bei<br />
ständiger Personalknappheit?<br />
8.3. Selektivität der Hochaltrigkeit<br />
Hochaltrigkeit ist mediz<strong>in</strong>isch/biologisch und sozial selektiv, <strong>in</strong>sbesondere u nter Gender-<br />
Gesichtspunkten und unter sozi alen Gesichtspunkten der Lebenserwartung. Im hohen Alter<br />
s<strong>in</strong>d ansonsten geläufi ge Sentenzen wie: wer arm ist stirbt früher, diff erenziert zu betrachten.<br />
Kaum e<strong>in</strong> Muster ist derart <strong>in</strong>teressant wie die sozialen Mortalitätsdiff erenzen und die Unterschiede<br />
zwischen e<strong>in</strong>zelnen Ländern. E<strong>in</strong>es muss allerd<strong>in</strong>gs festgehalten werden: Viele der<br />
geäußerten Vermutungen über die Gründe, weshalb Menschen etwa hundert Jahre alt werden,<br />
halten strengen methodischen Anforderungen nicht stand. Die Frage also, weshalb es gerade<br />
bestimmte Personen s<strong>in</strong>d, die so alt werden, ist immer noch weitgehend unbeantwortet.<br />
Nicht alle Hochbetagten beklagen ihr hohes Alter. Die verbreitete Haltung, die Hochbetagten<br />
weiterh<strong>in</strong> als schweigende, versteckte und sich nicht zu Wort meldende M<strong>in</strong>orität anzusehen,<br />
verführt zu falschen Vorstellungen. Es müsste vielmehr die Frage durch umfangreiche empirische<br />
Forschung konsequent beantwortet werden, welche besonderen Eigenheiten diese große<br />
Gruppe aufweist, die von gesamtgesellschaftlichem, aber auch politischem und ökonomischem<br />
Interesse s<strong>in</strong>d.<br />
208
LEBENSQUALITÄT UND LEBENSZUFRIEDENHEIT<br />
Jedenfalls wächst die Gruppe der „<strong>Hochaltrige</strong>n“ (80+) am schnellsten. Heute s<strong>in</strong>d es <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
rund 150.000, im Jahr 2050 werden es 500.000, im Falle stark steigender Lebenserwartung über<br />
600.000 se<strong>in</strong>. Doch, es ist nicht die steigende Lebenserwartung alle<strong>in</strong>. Die überdurchschnittliche<br />
Zunahme wird sich auch aus dem Nachrücken der beiden „Baby-Boom-Generationen“ aus<br />
1939/43 und 1960/64 ergeben. Wo vieles ungenau ist, muss fe<strong>in</strong>er gedacht werden. Älterwerden<br />
ist e<strong>in</strong> Vorgang, <strong>in</strong> dem die Bed<strong>in</strong>gungen des gesamten Lebensverlaufs den Charakter des<br />
Altse<strong>in</strong>s bestimmen. Daz u zählen die K arrieren <strong>in</strong> Bildung und Beruf, die soz ialen Kreise, zu<br />
denen man gehör te, die Positionen <strong>in</strong> den so zialen Klassen, die erworbenen kulturellen Verhaltensweisen<br />
und manches Andere. Im hohen und höchsten Alter treten dann aber Faktoren<br />
<strong>in</strong> den Vordergrund, die e<strong>in</strong>e eigene Charakteristik haben.<br />
Die Selektivität des Älterwerdens lässt sich durch zwei E<strong>in</strong>fl ussmuster erklären (Amann 2004).<br />
Die oben g enannten Bed<strong>in</strong>gungen wirken <strong>in</strong> der Weise e<strong>in</strong>es ersten Gest altungspr<strong>in</strong>zips <strong>für</strong><br />
die Ausformung des Alternsverlaufs. „Erst“ bezieht sich auf ihre zeitlich <strong>in</strong> der Biografi e früher<br />
gegebene Wirksamkeit. Die Logik h<strong>in</strong>ter diesem Gedanken birgt die Vorstellung e<strong>in</strong>er Entwicklungsl<strong>in</strong>ie<br />
des Lebens, auf der spätere K onstellationen durch frühere Ereigni sse bee<strong>in</strong>fl usst<br />
s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>e Tatsache wird aber meist übersehen: Dass es e<strong>in</strong> zweites, nachfolgendes Gestaltungspr<strong>in</strong>zip<br />
gibt, das vor allem mit den e<strong>in</strong>schneidenden und letzten Veränderungen im spätesten<br />
Lebensabschnitt selbst zu tun hat. Zu den empirisch nachgewiesenen Veränderungen zählen<br />
die folgenden. Soziale Isolierung ist bei den <strong>Hochaltrige</strong>n größer als bei den jüngeren Alten; sie<br />
s<strong>in</strong>d weniger stark <strong>in</strong> Verwandtschafts- und Familienbeziehungen e<strong>in</strong>gebettet als die jüngeren<br />
Altersgruppen; je älter Menschen werden, desto emotion al und sozial e<strong>in</strong>samer fühlen sie<br />
sich – bei den <strong>Hochaltrige</strong>n tritt aber deutlich die emotionale E<strong>in</strong>samkeit <strong>in</strong> den Vordergrund;<br />
die externe Handlun gskontrolle (die Über zeugung also, d ass andere e<strong>in</strong>e wesentliche Rolle<br />
bei positiven wie negativen Lebensereignissen spielen) nimmt mit dem hohen Alter signifi kant<br />
zu, <strong>in</strong>sbesondere u nter Bed<strong>in</strong>gungen der Verm<strong>in</strong>derung sensorischer Fähigkeiten (Amann<br />
2004: 129). Dass zu diesem zweiten Gestaltungspr<strong>in</strong>zip auch e<strong>in</strong>e erhöhte Resilienz und die<br />
Wirkungen guter Pfl ege zählen, wurde bereits erwähnt.<br />
Die beiden E<strong>in</strong>fl ussmuster, die hier „Gestaltungspr<strong>in</strong>zipien“ genannt werden, äußern sich daher<br />
<strong>in</strong> zweierlei Weise. Im früheren Leben auftretende Bed<strong>in</strong>gungen bestimmen mit, wie die Menschen<br />
im Alter sich entwickeln – erste Selektivität. Im hohen Alter , so ab dem 80 . bzw. 85. Lebensjahr,<br />
treten Bed<strong>in</strong>gungen h<strong>in</strong>zu, die nun ihrerseits verstärkten E<strong>in</strong>fl uss gew<strong>in</strong>nen – sekundäre<br />
Selektivität –, und die die Bed<strong>in</strong>gungen des ersten E<strong>in</strong>fl ussmusters zu überlagern beg<strong>in</strong>nen.<br />
Zum hohen Alter gehört also das Herausfallen aus familiären und verwandtschaftlichen Sozialbeziehungen.<br />
Zwar ist der Familienstand nur e<strong>in</strong> Kriterium, aus sozialpsychologischen Überlegungen<br />
kommt ihm aber hohe Bedeutung zu. Verwitwet zu werden bedeutet den Verlust e<strong>in</strong>er<br />
häufi g langjährigen emotional hoch besetzten Beziehung, gleichgültig, wie befriedigend oder<br />
konfl iktreich sie verlaufen ist. Diese Menschen s<strong>in</strong>d also e<strong>in</strong>e erhebliche und wichtige Zielgruppe<br />
<strong>für</strong> solche Fragestellungen. Wie sich Verwitwung auf die Struktur des sozialen Netzwerks im<br />
Alter, und <strong>in</strong>sbesondere im hohen Alter auswirkt, ist wenig erforscht. Es ist aber zu vermuten,<br />
209
LEBENSQUALITÄT UND LEBENSZUFRIEDENHEIT<br />
dass dieser Faktor z. B. doch deutlich zur E<strong>in</strong>samkeit beiträgt. Hier ist noch e<strong>in</strong> Gedanke anzumerken,<br />
der ebenfalls mit dem Mangel an Wissen über das hohe Alter zu tun hat. Die Annahme,<br />
dass E<strong>in</strong>samkeit, Verlusterlebnisse und Rückzug im hohen Alter zunähmen, weil dort auch die<br />
Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit negativer Lebens umstände und Lebensereignisse steigt, ist auf den ersten<br />
Blick plausibel. Auch wird dav on ausgegangen, dass diese Umstände meist nicht unerwartet<br />
e<strong>in</strong>treten und Zeit und Gewöhnung die Auswirkungen entschärften, sodass sie weniger belastend<br />
empfunden würden. Das ist e<strong>in</strong> folgenschwerer Irrtum. Daher gilt es, zwischen Primär- und Sekundärselektivität<br />
(Amann 2004) zu unterscheiden. Dazu würden auch empirische Erklärungen<br />
<strong>für</strong> den im höheren Alter vergleichsweise ger<strong>in</strong>gen Zusammen hang zwischen Wohlbefi nden und<br />
ökonomischer Lage zählen.<br />
8.4. Neukonzeption der Lebensqualität im hohen Alter<br />
E<strong>in</strong>e ausgeprägte Charakteristik von Risiken und Potenzialen ebenso wie die außerordentliche<br />
Selektivität des hohen Alters legen es nahe, das Konzept der Lebensqualität und Lebenszufriedenheit<br />
<strong>für</strong> diese späte Lebensphase anders zu fassen, als dies <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>gangs beschriebenen,<br />
auf die allgeme<strong>in</strong>e Bevölkerung gemünzten Modellen üblich ist. Nicht zuletzt sche<strong>in</strong>t dies auch<br />
deshalb angebracht, weil empirische Forschung über Hochaltrigkeit, <strong>in</strong>sbesondere unter Gesichtspunkten<br />
ihrer Selektivität und des Verhältnisses zwischen Risiken und Ressourcen, e<strong>in</strong>en<br />
vergleichsweise ärmlichen Status hat. E<strong>in</strong>e gewisse Konzentration der Forschungs anstrengun gen<br />
der letzten Jahre auf die erwerbstätige Bevölkerung und die mittleren Altersgruppen, <strong>in</strong> der auch<br />
e<strong>in</strong>e Reihe guter Konzepte entwickelt wurden, hat <strong>für</strong> die höheren und höchsten Altersgruppen<br />
e<strong>in</strong> erkennbares Defi zit h<strong>in</strong>terlassen, das erst nach u nd nach ausgefüllt wird. Der wiederholt<br />
erwähnte Mangel an Forschung über die <strong>Hochaltrige</strong>n <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> weist auch darauf h<strong>in</strong>. Der<br />
Schwerpunkt ist, bei Beibehaltung der objektiven Lagebed<strong>in</strong>gungen, <strong>in</strong> der subjektiven Dimension<br />
weniger auf Well-Be<strong>in</strong>g/Wohlbefi nden und Zufriedenheit zu legen als auf andere Konzepte<br />
wie z. B. jenes der Generativität und der Selbstaufmerksamkeit. 7<br />
Generativität ist e<strong>in</strong> Gegenmodell zu Stagnation und Selbstabsorption bzw. Skeptizismus und<br />
wurde vermutlich von E. Erikson (1966) erstmals e<strong>in</strong>gesetzt, wird hier aber mit e<strong>in</strong>er etwas geänderten<br />
Bedeutung versehen. In se<strong>in</strong>er Stadientheorie der Ich-Entwicklung hat sie ihren Platz<br />
<strong>in</strong>nerhalb der drei Stadien des Erwachsenenlebens (Intimität und Distanzierung gegenüber<br />
Selbstbezogenheit; Generativität gegenüber Skeptizismus; Integrität gegenüber Verzweifl ung).<br />
Es muss zugegeben werden, dass bei der gegenwärtigen Datenlage, obwohl das Stadienmodell<br />
<strong>in</strong> Querschnittsanalysen e<strong>in</strong>e gewisse empirische Bestätigung erhielt, das Modell, allerd<strong>in</strong>gs<br />
unter entwicklungspsychologischer Perspektive, auch e<strong>in</strong>e Idealisierung des Alternsprozesses<br />
se<strong>in</strong> könnte. Hier geht es allerd<strong>in</strong>gs um e<strong>in</strong>e konzeptuelle Nutzung <strong>für</strong> Lebensqualität und nicht<br />
um die empirische Bestätigung des Phasenmodells. Im heutigen sozialgerontologischen Ver-<br />
7 Zur näheren Erläuterung der <strong>in</strong> diesem Abschnitt verwendeten Begriffl ichkeit vgl. Amann (2004).<br />
210
LEBENSQUALITÄT UND LEBENSZUFRIEDENHEIT<br />
ständnis bedeutet Generativität die Weitergabe von Erfahrung und Wissen an die Jüngeren, also<br />
e<strong>in</strong>e Vermittlungsaufgabe, wodurch die Älteren e<strong>in</strong>en Beitrag zu gesellschaftlichen Aufgaben<br />
leisten. Generative Menschen s<strong>in</strong>d dadurch charakterisiert, dass sie <strong>für</strong> andere Menschen der<br />
nachkommenden Generation Sorge tragen, sich e<strong>in</strong>er Verantwortung <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />
bewusst s<strong>in</strong>d, und Me<strong>in</strong>ungs- und Normrepräsentanten werden (Ryff & He<strong>in</strong>cke 1983). In diesem<br />
Begriff ist daher die Vorstellung enthalten, dass ältere Menschen <strong>in</strong> ihren sozialen Beziehungen<br />
soziale Weisheit zeigen (Amann 2004), kontaktfähig und Inter aktionen zugewandt s<strong>in</strong>d. Aus<br />
psychologischer Sicht be<strong>in</strong>haltet Generativität im höheren Alter auch Vorgänge der Verlustverarbeitung<br />
(Olbrich 1997: 191).<br />
In Anlehnung an F. R. Lang und M. M. Baltes (1997), aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em soziologischen S<strong>in</strong>n und unter<br />
Bedachtnahme auf Operationalisierungsmöglichkeiten, könnte das Konzept der Generativität<br />
folgendermaßen <strong>in</strong>haltlich ausgefüllt und diff erenziert werden. Ihre Subdimensionen wären:<br />
Die mit anderen Menschen geme<strong>in</strong>same, <strong>in</strong>teraktive Konstruktion von lebensdienlichen Wertvorstellungen,<br />
die Priorisierung von Wahlmöglichkeiten aus dem im Pr<strong>in</strong>zip unüberschaubaren<br />
gesellschaftlichen An gebot, die <strong>in</strong>dividuell verb<strong>in</strong>dliche Entwicklung von (ferneren) Lebenszielen,<br />
und das aktive Leben von Sozialkontakten.<br />
Die Aufrechterhaltung kultureller Identität gegenüber rapidem Wandel als Ausgleichsleistung<br />
zwischen gesellschaftlicher Dynamik und persönlicher Kont<strong>in</strong>uität.<br />
Selbstbescheidung und Selbstverantwortlichkeit im S<strong>in</strong>ne von Verantwortung <strong>für</strong> sich selbst zu<br />
übernehmen, also Selbstaufmerksamkeit.<br />
Selbstaufmerksamkeit bedeutet, e<strong>in</strong> Aug enmerk auf den eig enen Lebenslauf zu haben und<br />
beiläufi ge, nicht zielgerichtete Entwicklungen zu vermeiden – „L ebensführung“ ist e<strong>in</strong> gutes<br />
Wort da<strong>für</strong>. Besonders angesichts e<strong>in</strong>es langen Lebens wird e<strong>in</strong> „Dah<strong>in</strong> leben“ uns<strong>in</strong>nig. Das<br />
hat nichts mit dauernder Selbstkontrolle zu tun, oder mit unkreativer, langweiliger Regelbefolgung.<br />
Die richtig e E<strong>in</strong>schätzung eigener Fähigkeiten und Eigenschaften hat dabei e<strong>in</strong>en<br />
entscheidenden E<strong>in</strong>fl uss. Nachdenken über die eigenen Ziele und Wünsche, die eigenen Möglichkeiten<br />
und Grenzen ist hier wichtig. „Erfolgreiches“ Altern steht <strong>in</strong> engem Zusammenhang<br />
mit gedanklich vorweggenommenen Plänen und Aktivitäten. Diese Antizipation ist e<strong>in</strong>e wichtige<br />
Voraussetzung. Das Alter, und vor allem das hohe Alter, ist auch e<strong>in</strong>e Phase der Verluste und<br />
Gew<strong>in</strong>ne, der Umbrüche und Neubeg<strong>in</strong>ne. Die Bereitschaft, diesen Veränderungen produktiv zu<br />
folgen, ist davon abhängig, wie sehr die jeweilige Person das Gefühl der Eigenkompetenz und<br />
der Selbstwirksamkeit hat, wie viel Aufmerksamkeit dem eigenen Selbst gewidmet wird, wie<br />
die Selbste<strong>in</strong>schätzung im Vergleich zu Bezugsgruppen ausfällt. Für viele ist der Tod oder e<strong>in</strong>e<br />
schwere Krankheit e<strong>in</strong>es geliebten Menschen e<strong>in</strong>e Katastrophe, die kaum zu bewältigen ist. Den<br />
meisten von uns ist die Fähigkeit, solche Schicksalsschläge aus tiefer, religiöser Gläubigkeit<br />
zu akzeptieren, verloren gegangen. Umso mehr s<strong>in</strong>d wir gefordert, uns damit aus E<strong>in</strong>sichten <strong>in</strong><br />
unser eigenes Leben und dessen Veränderbarkeit ause<strong>in</strong>ander zu setzen.<br />
211
LEBENSQUALITÄT UND LEBENSZUFRIEDENHEIT<br />
Wird Generativität und, speziell, Selbstaufmerksamkeit als Ausdruck der subjektiven Lebensqualität<br />
gefasst, im wesentlichen also e<strong>in</strong> K onstrukt, das empirisch über Handlungsvollzüge<br />
und nicht über pos itive oder neg ative emotionale oder k ognitive Befi ndlichkeitsurteile zu<br />
operationalisieren wäre, ließen sich e<strong>in</strong>ige der oben angemerkten Schwächen der Well-Be<strong>in</strong>g/<br />
Wohlbefi ndens- und Zufriedenheitskonzepte, die <strong>in</strong> der Lebensqualitätsforschung bei <strong>Hochaltrige</strong>n<br />
off ensichtlich auftauchen, wahrsche<strong>in</strong>lich umgehen. Zudem lässt sich geltend machen, dass<br />
die beiden ersten Dimension der Generativität <strong>in</strong> der Forschung häufi g angesprochen werden,<br />
sich also empirische Befunde durchaus auffi nden lassen, während die dritte Dimension wenig<br />
präsent ist. Dass diese Dimension wichtig ist, geht alle<strong>in</strong> schon daraus hervor, dass im höheren<br />
Alter Selbstverantwortung deshalb zunehmend e<strong>in</strong>en zentralen Stellenwert bekommt, weil die<br />
Möglichkeiten, <strong>für</strong> andere Verantwortung zu übernehmen, E<strong>in</strong>schränkungen erfahren. Diese Perspektive<br />
sche<strong>in</strong>t sich z. B. <strong>in</strong> der Haltung vieler alter Menschen auszudrücken, lieber ke<strong>in</strong>e Hilfe<br />
und Unterstützung <strong>in</strong> Anspruch zu nehmen als sich von anderen abhängig zu fühlen. An dieser<br />
Stelle ließe sich auch e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung zum Konzept der Produktivität herstellen, <strong>in</strong>sbesondere<br />
zur <strong>in</strong>dividuellen oder Eigenproduktivität, wie sie von Tews (1996) vorgeschlagen wurde.<br />
8.5. Gesellschaftspolitische Fragen<br />
In e<strong>in</strong>em weiteren Verständnis, das gesellschaftspolitisch gedacht ist, gilt es die k ünftigen<br />
Lebensformen der <strong>Hochaltrige</strong>n, die Häufung bestimmter Risiken, Verletzbarkeit und Lebensqualität,<br />
die Bew ältigung be stimmter Risiken (z. B. Verwitwung) und Strategien erfolgreicher<br />
Anpassung an geänderte Bed<strong>in</strong>gungen zu bedenken.<br />
Voraussetzung ist dabei, dass ältere und sehr alte Menschen nicht als Objekte mediz<strong>in</strong>ischer,<br />
pfl egerischer und psychosozialer Programme und Interventionen betrachtet werden, sondern<br />
als Menschen, die selbstbestimmt und selbstverantwortlich ihr Leben führen können, wenn die<br />
Randbed<strong>in</strong>gungen entsprechend gestaltet werden. Diese Perspektive gilt grundsätzlich <strong>für</strong> alle,<br />
auch wenn g esundheitliche und soziale Veränderungen e<strong>in</strong>treten, die E<strong>in</strong>schr änkungen und<br />
Defi zite nach sich ziehen, <strong>in</strong>sbesondere aber <strong>für</strong> jene, die demenzielle Veränderungen aufweisen.<br />
Damit wären Voraussetzungen geschaff en, um das hohe Alter, anders, als dies gegenwärtig<br />
meist geschieht, nicht unter Perspektiven der Krankheit und des Zerfalls sowie der Lasten und<br />
Kosten zu sehen, sondern als <strong>in</strong>tegralen Bestandteil des Lebens, vor allem e<strong>in</strong>es langen Lebens.<br />
Zum<strong>in</strong>dest <strong>für</strong> die Öff entlichkeit, und hier <strong>in</strong>sbesondere die politische und mediale, gilt diese<br />
Forderung ganz besonders, wenn Themen der sehr Alten zur Sprache kommen. Selbst melden<br />
sie sich nicht zu Wort, <strong>in</strong> den F oren des demokratischen Ge schehens haben sie kaum e<strong>in</strong>e<br />
Stimme, andere berichten über sie: die Wissenschaft, die Zeitungen, die Todesanzeigen. Die<br />
Hochbetagten s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e schweigende und unsichtbare, allerd<strong>in</strong>gs rapid wachsende M<strong>in</strong>derheit<br />
<strong>in</strong> unserer Gesellschaft. Unter den über 60-Jährigen stellen sie jene Gruppe, über die weith<strong>in</strong> am<br />
wenigsten bekannt ist und über die, als notwendige Folge des Nichtwissens, auch am meisten<br />
falsche Vorstellungen verbreitet s<strong>in</strong>d. Unter g esellschaftspolitischer Perspektive äußert sich<br />
diese mangelhafte Kenntnis <strong>in</strong> unzureichenden Programmen und e<strong>in</strong>er Vernachlässigung der<br />
212
LEBENSQUALITÄT UND LEBENSZUFRIEDENHEIT<br />
speziellen Situation <strong>Hochaltrige</strong>r im Rahmen der Pfl egevorsorge und der g esellschaftlichen<br />
Angebote und Stützungen<br />
An diesem Punkt der Überlegungen taucht natürlich die Frage danach auf, was Politik denn eigentlich<br />
bewirken solle und könne. Nun entsteht nicht selten der E<strong>in</strong>druck, dass Menschen von<br />
der Politik erwarten, dass sie die Solidarität zwischen den Generationen oder die Integration<br />
der Älteren herstelle. Es wäre aber e<strong>in</strong> grobes Missverständnis, würde jemand von der Politik<br />
erwarten, dass sie <strong>in</strong> der Lage wäre, bei den Menschen solidarische Haltungen und E<strong>in</strong>stellungen<br />
hervorzubr<strong>in</strong>gen und entsprechende Handlungsweisen zu erzw<strong>in</strong>gen. Politik kann sich vorrangig<br />
nur auf äußere Rahmenbed<strong>in</strong>gungen beziehen. Um Perspektiven e<strong>in</strong>er künftigen Generationenpolitik<br />
zu entwickeln bedarf es an al lererster Stelle e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>er re alistischen E<strong>in</strong>schätzung<br />
dessen, was Politik se<strong>in</strong> kann und was ihre Aufgabe wäre.<br />
Politik ist die Gest altung gesellschaftlicher Verhältnisse mit demokratischen Mitteln, worauf<br />
e<strong>in</strong>e so verstandene Politik zielt, s<strong>in</strong>d die Rahmenbed<strong>in</strong>gungen der soz ialen Existenz von<br />
Menschen. Die Mittel, derer sie sich bedient, s<strong>in</strong>d jene, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em demokratischen Geme<strong>in</strong>wesen<br />
vorgesehen s<strong>in</strong>d. Generationenpolitik wäre <strong>in</strong> diesem Verständnis dann Gestaltung der<br />
Lebensverhältnisse älter werdender u nd sehr alt gewordener Menschen u nter deren akti ver<br />
Mitbeteiligung (die passive Mitbeteiligung haben wir jetzt vor uns, <strong>in</strong>dem die Entscheidungen,<br />
die andere getroff en haben, zur Kenntnis genommen werden).<br />
Das erfolgreichste Mittel aus dem Arsenal demokratischer Praktiken ist der Dialog. Dialog i st<br />
etymologisch das Gespräch zwischen zweien. Dialog ist politisch das Gespräch zwischen vielen<br />
als Gleichberechtigten. E<strong>in</strong> Dialog über das Altern und das hohe Alter wäre e<strong>in</strong> Gespräch zwischen<br />
den vielen Betroff enen und Verantwortlichen als Gleichberechtigten. Im Dialog werden<br />
die Bed<strong>in</strong>gungen <strong>für</strong> die künftige Entwicklung erkannt und anerkannt.<br />
213
LEBENSQUALITÄT UND LEBENSZUFRIEDENHEIT<br />
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215
LEBENSQUALITÄT UND LEBENSZUFRIEDENHEIT<br />
216
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
9. GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT<br />
IM HÖHEREN ALTER<br />
GERHARD MAJCE<br />
9.1. E<strong>in</strong>leitung<br />
Im Herbst 1998 wurden im Auftrag des Bundesm<strong>in</strong>isteriums <strong>für</strong> <strong>Soziales</strong> und Konsumentenschutz<br />
anhand e<strong>in</strong>er <strong>für</strong> die <strong>in</strong> Privathaushalten lebende über 18-Jährige österreichische Bevölkerung<br />
repräsentativen Stichprobe (1.000 Befragte) die E<strong>in</strong> stellungen und Verhaltensweisen im<br />
Wechselverhältnis zwischen den Generationen bzw. Altersgruppen e<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong> den Familien,<br />
andererseits auf gesamtgesellschaftlicher Ebene erhoben. Der zentrale Befund der Studie<br />
lautet, dass die Familie, <strong>in</strong>sbesondere die <strong>in</strong>tergenerationellen Beziehungen der Kernfamilie,<br />
nach wie vor e<strong>in</strong> äußerst tragfähiges, solidarisches System der Sicherung gegen Notlagen und<br />
Situationen des Hilfe- und Unterstützungsbedarfs darstellten. Trat Unterstützungsbedürftigkeit<br />
auf – das war immerh<strong>in</strong> bei vier Fünfteln der erwachsenen Bevölkerung <strong>in</strong> den davor liegenden<br />
zwei Jahren der Fall –, so blieb praktisch niemand ohne ausreichende Hilfe seitens der Familie.<br />
E<strong>in</strong> solcher Hilfebedarf war bei den Jüngeren zum Teil erheblich häufi ger auf als bei den Älteren<br />
aufgetreten. Allerd<strong>in</strong>gs erlaubte die da<strong>für</strong> zu ger<strong>in</strong>ge Stichprobengröße und daher die zu kle<strong>in</strong>e<br />
Fallzahl der Hochbetagten ke<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvollen Schlüsse auf deren besondere Situation, wenngleich<br />
Anzeichen darauf schließen ließen, dass sie <strong>in</strong> mancher H<strong>in</strong>sicht anders zu beurteilen wären.<br />
Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene deutete s ich zwar Konfl iktpotenzial an, Fe<strong>in</strong>dseligkeit im<br />
Verhältnis zwischen den Generationen war <strong>in</strong>de s nicht auszumachen. Der älteren Generation<br />
wurde nur wenig Beteiligung an <strong>in</strong>tergenerationellen Konfl ikten zugeschrieben. Sie wurde als<br />
e<strong>in</strong>e tendenziell nach wie vor benachteiligte Gruppe wahrgenommen. Nichtsdestoweniger vertrat<br />
man parallel dazu die Me<strong>in</strong>ung, dass die Alten <strong>in</strong> Konkurrenz mit anderen benachteiligten<br />
Gruppen, z. B. F amilien mit Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>dern, <strong>in</strong> Zukunft eher E<strong>in</strong>schränkungen <strong>in</strong> K auf würden<br />
nehmen müssen. Intergenerationelle Konfl ikte zeichneten sich dort als wahrsche<strong>in</strong>licher ab,<br />
wo Alt und Jung e<strong>in</strong>ander als Fremde begegnen und wo daher die Kli scheevorstellungen und<br />
Vorurteile an die Stelle persönlicher Kenntnis treten: Je urbaner die Wohnlage, desto häufi ger<br />
wurden Generationenkonfl ikte <strong>in</strong> der Öff entlichkeit wahrgenommen. Insgesamt, so die damalige<br />
Schlussfolgerung aus den Untersuchungsergebnissen, schien das gesamtgesellschaftliche Generationenverhältnis<br />
von e<strong>in</strong>er wohlwollenden Ambivalenz geprägt zu se<strong>in</strong>, die unter geeigneten<br />
Umständen auch <strong>in</strong>s Negative kippen könnte. Die Zukunft des Verhältnisses Alt-Jung wurde von<br />
der Mehrheit skeptisch beurteilt.<br />
In den Jahren dan ach verschärfte sich im Zuge der Ause<strong>in</strong> andersetzungen um die P ensionsreform<br />
und die sich abzeichnenden Lücken bei der F<strong>in</strong>anzierbarkeit des Systems der sozialen<br />
Sicherung und des Gesundheitswesens und der dar aus resultierenden Bel astungen der Ton.<br />
Es lag daher nahe, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Nachfolgestudie zu erkunden, ob und wie sehr gegebenenfalls das<br />
Generationenverhältnis bzw. die Generationenbeziehung darunter gelitten hatten, woraus wie-<br />
217
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
derum H<strong>in</strong>weise auf die Zukunft, wenn auch spekulativ, abgeleitet werden könnten. Im Jahre<br />
2005 wurde daher im Auft rag des Bundesm<strong>in</strong>isteriums <strong>für</strong> <strong>Soziales</strong> und Konsumentenschutz<br />
e<strong>in</strong> weiterer Survey über Gener ationensolidarität <strong>in</strong> Öst erreich durchgeführt. Befragt wurden<br />
nunmehr 2.000 Per sonen, die Stichprobe war repräsentativ <strong>für</strong> die <strong>in</strong> Privathaushalten lebende<br />
österreichische Bevölkerung im Alter von 18 und mehr Jahren. Durch diese Stichprobengröße<br />
konnten immerh<strong>in</strong> analysierbare Größenordnungen Hochbetagter (über 8-Jährige) erreicht<br />
werden. Das Untersuchungsdesign war nicht zuletzt aus Kostengründen als Direktbefragung<br />
von Personen <strong>in</strong> Privathaushalten angelegt, was <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Bezug auf die Hochbetagten<br />
zwangsläufi g e<strong>in</strong>e positive Auslese der Respondent/<strong>in</strong>nen bedeutet, denn zum E<strong>in</strong>en wurden<br />
nicht Bewohner/<strong>in</strong>nen von Anstaltshaushalten befragt, zum Anderen nur selbst auskunftsfähige<br />
Personen, was bei den Altersgruppen 80+ wegen der stark ansteigenden Anteile an gebrechlichen,<br />
sensorisch und/oder kognitiv bee<strong>in</strong>trächtigten Personen (siehe Schmid, Böhmer & Frühwald,<br />
Dorner & Rieder <strong>in</strong> diesem Band) zu merklichen Verzerrungen des Gesamtbildes führt (vgl. Kühn<br />
& Porst 1999). Inhaltlich wurde dem Verhältnis zwischen Alt und Jung <strong>in</strong> Bezug auf die beiden<br />
Schwerpunkte (a) Familie und (b) Gesamtgesellschaft nachgegangen.<br />
9.2. Das Generationenverhältnis - gesamtgesellschaftlich<br />
Die Beziehung zwischen den Generationen wird heute vorwiegend kritisch e<strong>in</strong>geschätzt, <strong>in</strong>sbesondere<br />
<strong>in</strong> der "öff entlichen", genauer: veröff entlichten Me<strong>in</strong>ung, also vor allem <strong>in</strong> den Darstellungen<br />
der Massenmedien, wie: Fernsehen und Zeitungen bzw. Zeitschriften. Die wachsenden<br />
F<strong>in</strong>anzierungsprobleme der Pensionen und des Gesundheitswesens aufgrund der Bevölkerungsentwicklung,<br />
aber auch der gesellschaftliche Wertewandel und die zunehmende Diff erenzierung<br />
der Lebensstile und Lebensformen haben die Auff assung ge nährt, dass zwischen Alt und Jung<br />
massive Spannungen bestünden, und <strong>für</strong> die Zukunft erwarten manche Kommentatoren, dass<br />
diese Spannungen zu off enen Konfl ikten führen könnten. Beispiele <strong>für</strong> die da<strong>für</strong> typische Krisenrhetorik<br />
führt der deutsche Sozialpolitik- und Wirtschaftswissenschaftler W<strong>in</strong>fried Schmähl an<br />
(„wie die Alten die Jungen ausplündern“, „Zechpreller zu Lasten unserer K<strong>in</strong>der“) und wendet<br />
richtigerweise e<strong>in</strong>: „Ob derartige Analysen e<strong>in</strong> zutreff endes Bild der Realität zeichnen und welche<br />
Interessen damit möglicherweise verbunden s<strong>in</strong>d, solche Fragen werden öff entlich kaum<br />
gestellt“ (Schmähl 2002: 306; vgl. auch Gunther Tichy, der <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> e<strong>in</strong>e Fülle von Daten<br />
anführt, die belegen, dass sowohl der Vorwurf, die Alten beuteten die Jungen aus, als auch die<br />
Gegenposition, die Jungen vernachlässigten die Alten, nicht der Re alität entsprechen [Tichy<br />
2004: 313 ff und 325 ff ]).<br />
Sozialgerontologische Studien zeichnen e<strong>in</strong> h armonischeres Bild. Wenn man das Verhältnis<br />
zwischen Jung und Alt untersucht, stößt man vielmehr regelmäßig auf e<strong>in</strong>e ambivalente Haltung:<br />
Während das eigene, persönliche Verhältnis zur jeweils anderen Generation als ausgesprochen<br />
positiv empfunden und beschrieben wird, fällt die gesamtgesellschaftlich bezogene<br />
E<strong>in</strong>schätzung des <strong>in</strong>tergenerationellen Klimas eher negativ aus. In e<strong>in</strong>er Studie <strong>in</strong> Deutschland<br />
beurteilten die Befragten "das gegenwärtige Verhältnis zwischen Jung und Alt <strong>in</strong> Deutschland"<br />
mit Schulnoten zwischen 1 u nd 6 u nd kamen damit auf e<strong>in</strong>e sehr m äßige Durchschnittsnote<br />
218
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
von 3,5. Ihr eigenes, persönliches Verhältnis zur jeweils anderen Generation benoteten die Befragten<br />
dagegen im Durchschnitt mit guten 2,2 (Ueltzen höff er 1999: 30).<br />
E<strong>in</strong> ähnliches Muster zeigte die österreichische Untersuchung: 54% der <strong>Österreich</strong>er/<strong>in</strong>nen me<strong>in</strong>ten,<br />
dass es "<strong>in</strong> den Familien" häufi g Konfl ikte zwischen Alt und Jung gebe. Die Hochbetagten<br />
vertraten etwas seltener (45%) diese Auff assung – e<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Alternsforschung wohlbekanntes<br />
Phänomen der gesteigerten Harmonietendenz bei den älteren Generationen – lagen mit ihrer<br />
Projektion aber ebenfalls sehr hoch. Die Bez iehung zu ihren eigenen (erwachsenen) K<strong>in</strong>dern<br />
stuften die Eltern (al ler Alter) auf e<strong>in</strong>er 11-teiligen Skala (von 0 bis 10) im Mittel aber mit 8,5<br />
Punkten ausgesprochen positiv e<strong>in</strong>, wobei es zwischen den Altersgruppen e<strong>in</strong>schließlich der<br />
Hochbetagten ke<strong>in</strong>e Unterschiede gab. Die er wachsenen K<strong>in</strong>der bew erteten umgekehrt ihre<br />
Beziehung zur Mutter mit ebenf alls guten durc hschnittlichen 7,8 Punkten und zum Vater mit<br />
immerh<strong>in</strong> akzeptablen 7,1 Punkten. In nahezu allen Untersuchungen über die Beziehungen<br />
zwischen erwachsenen K<strong>in</strong>dern und Eltern ist dieses Muster festzustellen: Dass die K<strong>in</strong>der mit<br />
ihren E<strong>in</strong>schätzungen im Durchschnitt etwas niedriger rangieren als die Eltern. Erstmals wurde<br />
diese Beobachtung theoretisch von Beng tson und Kuypers mit der "dev elop-mental stake"-<br />
Hypothese zu erklären versucht (Bengtson & Kuypers 1971). Danach variiert das Interesse an bzw.<br />
das Bedürfnis nach familialer Solidarität mit dem Entwicklungsstand, den e<strong>in</strong>e jede Generation<br />
im Durchlaufen ihres Lebenszyklus jeweils erreicht hat. Es geht um ihre "E<strong>in</strong>sätze" (stakes) und<br />
um die "Investi tionen" <strong>in</strong> die <strong>in</strong>tergenerationellen Beziehungen zur Erhaltung ihrer Identit ät.<br />
Weil die <strong>in</strong> die Jahre k ommende Elterngeneration sich des S<strong>in</strong>ns ihrer Existenz vergewissern<br />
will und weil sie nur selten das voll erreicht hat, was sie angestrebt hat, möchte sie ihre Ideale<br />
und die von ihr hochg eschätzten Institutionen <strong>in</strong> der K<strong>in</strong>derg eneration for tgeschrieben und<br />
weitergeführt wissen – als ihr soziales Erbe. Daher tendiere sie dazu, <strong>in</strong>tergenerationelle Differenzen<br />
herunterzuspielen und zu unterschätzen. Die Nachfolgegeneration dagegen hat das<br />
Bedürfnis, ihre eigenen Werte, Ideale und Lebensformen selbst zu schaff en und – gegen die<br />
Eltern sich absetzend – ihre eigene Identität zu erwerben. Ihr "developmental stake" drängt sie<br />
also eher, die <strong>in</strong>tergenerationellen Diff erenzen überpo<strong>in</strong>tiert zu sehen (vgl. auch Giarrusso et<br />
al. 1995, Kohli et al. 2005: 169).<br />
Unterschiede <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>schätzung der Beziehung zu den Eltern bzw. K<strong>in</strong>dern zwischen den Altersgruppen<br />
gibt es nach unseren österreichischen Generationenstudien kaum, jedenfalls s<strong>in</strong>d<br />
sie nicht statistisch signifi kant.<br />
Das gesamtgesellschaftliche Verhältnis von Al t und Jung ist nicht von Altenfe<strong>in</strong>dseligkeit<br />
(„Ageism“) geprägt. Nur 10% aller 18+Jäh rigen <strong>Österreich</strong>er/<strong>in</strong>nen nahmen die Älteren (60+Jährigen)<br />
überhaupt als e<strong>in</strong>e Gruppe wahr, die häufi g <strong>in</strong> familiäre Generationenkonfl ikte <strong>in</strong>volviert<br />
ist. Dagegen fanden 56%, dass die Jugendlichen und jungen Er wachsenen (d.h. die bis 30-Jährigen)<br />
die Hauptbeteiligten an solchen Konfl ikten seien. Der Vergleich dieser Daten mit den<br />
Erhebungsergebnissen sieben Jahre zuvor zeigt <strong>in</strong> Bezug auf die Älteren e<strong>in</strong>e bemerkenswerte<br />
Stabilität, denn auch damals waren 10% der 18+Jährigen, also genau so viele wie <strong>in</strong> der Folgeuntersuchung,<br />
der Me<strong>in</strong>ung gewesen, die 60+Jährigen wären häufi g <strong>in</strong> familiäre Generatio-<br />
219
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
nenkonfl ikte verwickelt. Bei der E<strong>in</strong>schätzung h<strong>in</strong>sichtlich der Jungen fi el der Anteil derer, die<br />
e<strong>in</strong>e häufi ge Beteiligung unterstellten, im 7-Jahres-Zeitraum um 14 Prozentpunkte von 70% im<br />
Jahre 1998 auf 56% im Jahre 2005; e<strong>in</strong>erse its s<strong>in</strong>d damit die Jungen im kollektiven Urteil der<br />
Bevölkerung wesentlich konfl iktanfälliger als die Alten, andererseits deutet die merkliche Abnahme<br />
ihrer Nennungshäufi g keit sogar auf e<strong>in</strong>e Verbesserung des <strong>in</strong>tergenerationellen Klimas<br />
h<strong>in</strong>. Am allerwenigsten sieht man die Hochbetagten als <strong>in</strong> Generationenkonfl ikte Involvierte,<br />
sie wurden sowohl im Familienzusammenhang als auch h<strong>in</strong>sichtlich Konfl ikten im (anonymen)<br />
öff entlichen Raum (auf der Straße, <strong>in</strong> öff entlichen Verkehrsmitteln u.dgl.) am seltensten als<br />
Beteiligte wahrgenommen. E<strong>in</strong>zig die Schüler/Studenten und Student<strong>in</strong>nen gaben <strong>in</strong> deutlich<br />
höherem Ausmaß als alle anderen Gruppen an (nämlich zu 16% gegenüber dem Gesamtbevölkerungsdurchschnitt<br />
von 6%), die über 75-Jährigen wären ihrer Erfahrung nach „am häufi gsten“<br />
von allen Generationen <strong>in</strong> Alt-Jung-Konfl ikte verwickelt.<br />
Aus der Wahrnehmung der Ältesten als der am w enigsten tangierten Generation folgt <strong>in</strong>des<br />
nicht, dass man ihnen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene besonders viel Sympathien entgegenbrächte.<br />
Im Gegenteil: Mit nur 3% der Nennungen rangierten die 75+Jährigen sehr deutlich<br />
h<strong>in</strong>ter allen anderen Altersgru ppen bei der Fr age, <strong>für</strong> welche Altersgru ppe, abgesehen von<br />
der eigenen, man am ehesten Sympathien hege. Am häufi gsten wurde übrigens die „mittlere<br />
Generation“ ( 35-60-Jährige) als die sy mpathischste angeführt ( 31%), dicht gefolgt von den<br />
jungen Erwachsenen (18-35-Jährigen, 27%). Nichtsdestoweniger waren gefühlsmäßige Anteilnahme<br />
und Liebe jene beiden Beziehungsqualitäten, die aus e<strong>in</strong>er Liste von zehn Haltungen<br />
bzw. zwischenmenschlichen Gefühlsqualitäten am seltensten als Defi zite im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Versäumnisses<br />
der jüngeren gegenüber den älteren Generationen e<strong>in</strong>gestuft wurden. Dass es an<br />
gefühlsmäßiger Anteilnahme im Verhalten der Jüngeren gegenüber den Älteren mangle, me<strong>in</strong>ten<br />
nur 11% der 18+Jährig en, fehlende Liebe bemängelten sogar nur 7%. Bemerkenswerterweise<br />
fanden gerade die Ältesten (81 u nd mehr Jahre) am seltensten von allen Altersgruppen, dass<br />
ihnen zu wenig Liebe entgegen gebracht werde (5%). Umgekehrt wurden von den meisten Befragten<br />
mangelndes Verstehen (33%) und fehlender Respekt bzw. fehlende Achtung (37%) als<br />
die größten Defi zite genannt. Damit wiederholte sich e<strong>in</strong> Muster, das der Autor erstmals <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
ebenfalls österreichweiten repräsentativen Erhebung 1992 gefunden hatte (und das auch <strong>in</strong> der<br />
Generationenstudie 1998 bestätigt worden war): Auch damals dom<strong>in</strong>ierten bei den Angaben der<br />
Älteren über Defi zithaltungen ihnen gegenüber ke<strong>in</strong>eswegs jene Kategorien, die immer wieder<br />
als Hauptgründe <strong>für</strong> etwaige Generationenspannungen angenommen werden: Lieb losigkeit<br />
oder e<strong>in</strong> Zuwenig-Kümmern (nur 2% der über 70-Jährigen nannten schon 1992 diesen Punkt),<br />
sondern solche, die e<strong>in</strong>en Mangel an Verständnis, zu wenig Kommunikation oder Besserwisserei<br />
sowie Respektlosigkeit seitens der Jüngeren zum Ausdruck brachten – 25% der über 70-Jährigen<br />
hatten 1992 entsprechende Angaben gemacht (Majce 1993).<br />
Die Hochbetagten führten diese Defi zite <strong>in</strong>teressanterweise deutlich seltener an als die jüngeren<br />
Altersgruppen: Zu wenig verstanden zu werden empfanden 22% der sehr Alten (während dies<br />
gerade die Jüng sten mit 35% off enbar selbstkritisch wesentlich häufi ger als e<strong>in</strong> Versäumnis den<br />
Alten gegenüber angaben), und selbst die Respektlosigkeit wurde von den Ältesten mit 28%<br />
220
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
erheblich seltener genannt als von allen anderen Altersgruppen. Diese konziliantere Haltung<br />
der Alten ist immer wieder zu beobachten, und ebenso typisch ist die sich seitens der jüngeren<br />
Generationen <strong>in</strong> ihrem Verhältnis zu den Älter en andeutende Am bivalenz bzw. Widersprüchlichkeit<br />
der Emotionen und Grundhaltungen.<br />
Gegen e<strong>in</strong> von Konfl ikt bestimmtes Klima spricht auch der Befund, dass gegenseitige und e<strong>in</strong>seitige<br />
Schuldvorwürfe kaum erhoben werden. Drei von vier Erwachsenen sprachen die Überzeugung<br />
aus, wenn es denn e<strong>in</strong>mal zu Konfl ikten und Verständnisschwierigkeiten zwischen den<br />
Generationen käme, dann hätten Ältere und Jüngere gleichermaßen daran Anteil. Nur 2% sahen<br />
die alle<strong>in</strong>ige Schuld bei den Jüngeren, weitere 2% bei den Älteren. Besonders hervorhebenswert<br />
ersche<strong>in</strong>t dabei, dass selbst die Jüngsten (bis 30-Jährigen) nur zu 3% e<strong>in</strong>e alle<strong>in</strong>ige Schuld bei<br />
den Älteren und die Älteren (über 60-Jährigen) nur zu 5% e<strong>in</strong>e alle<strong>in</strong>ige Schuld bei den Jüngsten<br />
sahen; ähnlich die Hochbetagten, von denen nur 4% die Alle<strong>in</strong>schuld den Jüngsten zuschrieben.<br />
E<strong>in</strong>e Präzisierung des Ur teils über das gesellschaftliche Klima im Verhältnis von Alt und Jung<br />
sollte die Frage liefern, ob nach E<strong>in</strong>schätzung der Befragten <strong>in</strong> der Gesellschaft heute eher das<br />
Verb<strong>in</strong>dende, also die Solidarität zwischen den Generationen, oder eher das Trennende, also<br />
Spannungen und Konfl ikte zwischen den Generationen überwiege. Über alle Altersgruppen<br />
h<strong>in</strong>weg war die häufi gste Antwort, nichts überwiege, Verb<strong>in</strong>dendes und Trennendes hielten sich<br />
die Waage (40%). Mit 30% der Nennu ngen folgt das Urteil, es überwiege die Solidarität und<br />
das Verb<strong>in</strong>dende, während nur 26% aller 18+Jährigen die Konfl iktposition vertraten, dass das<br />
Trennende überwiege. Auch dieser Befund widerspricht der <strong>in</strong> den Massenmedien überwiegend<br />
vertretenen Dar stellung e<strong>in</strong>es vorherrschenden schwelenden bis akuten Konfl ikts.<br />
Wieder erwiesen sich die Ältesten (81+) e<strong>in</strong>er seits als die am st ärksten harmonieorientierte<br />
Gruppe: sie sahen zu 34% e<strong>in</strong> Überwiegen des Verb<strong>in</strong>denden (Durchschnitt: 30%) und nur zu<br />
21% e<strong>in</strong>es des Trennenden (Durchschnitt: 26%), andererseits wichen sie vom Gesamt-Durchschnitt<br />
der erwachsenen Bevölkerung weniger ab, als man aufgrund ihrer <strong>in</strong> vielen H<strong>in</strong>sichten<br />
besonderen Charakteristika annehmen hätte können.<br />
Da die sel be Frage auch schon <strong>in</strong> der Gener ationenstudie im Jahr 1 998 gestellt worden w ar,<br />
erlaubt e<strong>in</strong> Vergleich der Ergebnisse beider Befragungen e<strong>in</strong>e datenfundierte Spekulation über<br />
die Entwicklung des Generationenverhältnisses <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zeitraum, <strong>in</strong> dem die Art und Inhalte<br />
der öff entlichen Diskussionen durchaus e<strong>in</strong>e Zunahme des Konfl iktpotenzials nahelegen würden.<br />
Zunächst belegen die zitierten Befunde <strong>für</strong> die Gegenwart, dass von e<strong>in</strong>em überwiegend<br />
fe<strong>in</strong>dseligen Verhältnis zwischen Alt und Jung gewiss nicht die Rede se<strong>in</strong> kann, wenn nur e<strong>in</strong><br />
Viertel der Erwachsenen me<strong>in</strong>te, dass das Trennende überwiege. Überraschend aber dann doch<br />
der zeitliche Vergleich, aus dem her vorgeht, dass im 7 -Jahres-Zeitraum zwischen 1998 und<br />
2005 sogar e<strong>in</strong> merk licher Rückgang der Konfl iktwahrnehmung festzustellen war: Zwar blieb<br />
der Anteil derjenigen, die e<strong>in</strong> Überwiegen des Trennenden feststellen zu können glaubten, mit<br />
weiterh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Viertel konstant, aber jene, die das Verb<strong>in</strong>dende zwischen den Generationen<br />
als vorherrschend empfanden, stieg von 21% auf 30%.<br />
221
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
Erwartungsgemäß war das Urteil der Ju ngen zu diesem Thema kritischer als das der Älteren.<br />
Überwog aus der Sicht der bi s 30-Jährigen bei 2 5% das Verb<strong>in</strong>dende, so w aren es bei den<br />
61-und-Mehrjährigen sogar 37%; <strong>für</strong> diesen überdurchschnittlichen Wert der Älteren s<strong>in</strong>d<br />
allerd<strong>in</strong>gs nicht die Ältesten verantwortlich – diese waren mit e<strong>in</strong>er Nennungshäufi gkeit von<br />
34% weniger überdurchschnittlich harmonieorientiert als die 61-70-Jährigen, die mit 41% alle<br />
anderen Altersgruppen h<strong>in</strong>ter sich ließen.<br />
Das Trennende überwog bei den Jungen etwas häufi ger als das Verb<strong>in</strong>dende, nämlich bei 29%,<br />
während nur 21% der Älteren das Trennende als überwiegend wahrnehmen; alle Altersgruppen<br />
jenseits von 60, also auch die Hochbetagten, wiesen fast identische Anteile auf. Alles <strong>in</strong> allem<br />
ist aber unübersehbar, dass die zentrifugalen Kräfte im Generationenverhältnis sehr deutlich<br />
<strong>in</strong> der M<strong>in</strong>derheit s<strong>in</strong>d. Noch bedeutsamer ersche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> diesem Zusammenhang aber, dass<br />
ke<strong>in</strong> Trend zum Ause<strong>in</strong>anderdriften der Altersgruppen bemerkbar ist, sondern im Gegenteil die<br />
kohäsiven Kräfte sogar zugenommen zu haben sche<strong>in</strong>en: bei den bis 30-Jährigen nahm die<br />
Wahrnehmung e<strong>in</strong>es Überwiegens des Verb<strong>in</strong>denden zwischen 1998 und 2005 von 21% auf<br />
25%, bei den über 60-Jährig en sogar von 28% auf 37% zu. Unterschiede <strong>in</strong> diesen Ansichten<br />
nach dem Geschlecht waren nicht festzustellen.<br />
Weitere Detailanalysen der Entwicklung im 7-Jahres-Zeitraum erlauben das vorläufi ge Urteil, dass<br />
sich e<strong>in</strong>e – durchaus nicht selbstverständliche – Verbesserung des ge samtgesellschaftlichen<br />
Generationenverhältnisses abzuzeichnen sche<strong>in</strong>t. Dieser Prozess geht mit e<strong>in</strong>er Umstrukturierung<br />
der sozialräumlichen Komponenten e<strong>in</strong>her: Während im agrarisch-dörfl ichen Bereich e<strong>in</strong>e<br />
gewisse Zunahme des Konfl iktpotenzials stattfand, wurde diese Tendenz im städtischen, vor<br />
allem im großstädtischen, Bereich zugunsten e<strong>in</strong>er Zunahme <strong>in</strong>tegrativer Tendenzen mehr als<br />
kompensiert. Besonders hervorgehoben zu werden verdient dabei, dass – auf Bundesländerebene<br />
betrachtet – Wien den niedrigsten Anteil an Personen aufwies, die der Me<strong>in</strong>ung waren,<br />
es überwiege im Alt -Jung-Verhältnis das Trennende (21%), während dieser Anteil <strong>in</strong> Tirol mit<br />
41%, gefolgt von Vorarlberg mit 36%, am höchsten war (darüber h<strong>in</strong>aus war jedoch ke<strong>in</strong> West-<br />
Ost-Gefälle bemerkbar). Noch im Jahre 1998 war Wien mit 34% Negativnennungen deutlich vor<br />
allen anderen Bundesländern gelegen, und gerade Tirol und Vorarlberg waren mit gerade 16%<br />
jene Bundesländer gewesen, <strong>für</strong> die diesbez üglich die g er<strong>in</strong>gste Nennungshäufi gkeit zu verzeichnen<br />
gewesen war. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>beziehung der Hochbetagten <strong>in</strong> diese Detailanalysen verbietet<br />
sich wegen zu ger<strong>in</strong>ger Fallzahlen.<br />
E<strong>in</strong>en weiteren H<strong>in</strong>weis auf e<strong>in</strong>en Rückgang der Konfl ikt-Tendenzen lieferte die E<strong>in</strong>schätzung<br />
von Gegensätzen im anonymen öff entlichen Raum. Zwar gilt nach wie vor, dass (Groß-) Städte<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em höheren Maße anony me Begegnungsräume s<strong>in</strong>d als Dörfer, wo die persön liche gegenseitige<br />
Bekanntschaft vorherrscht, so dass im urbanen Gebiet Typisierungen, Klischees und<br />
Vorurteile leichter wirksam und verhaltensrelevant werden. Tatsächlich werden <strong>in</strong>tergenerationelle<br />
Konfl iktsituationen <strong>in</strong> der anony men Öff entlichkeit umso wahrsche<strong>in</strong>licher wahrgenommen,<br />
je höher der Verstädterungsgrad der Lebensumwelt der Befragten ist: 23% der Dorfbewohner,<br />
33% der Bewohner von Kle<strong>in</strong>- u nd Mittelstädten und 35% der Groß städter berichteten, n ach<br />
222
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
ihrer Erfahrung komme es <strong>in</strong> der anony men Öff entlichkeit häufi g zu Jung-Alt-Konfl ikten. Doch<br />
dieses Muster e<strong>in</strong>es urban-rural-Gefälles ist <strong>in</strong> der Zeit seit 1998 erheblich abgefl acht und nunmehr<br />
viel weniger stark ausgeprägt als sieben Jahre zuvor. Ab bildung 1 zeigt diese Tendenz.<br />
Auf e<strong>in</strong>e altersspezifi sche Betrachtung der <strong>Hochaltrige</strong>n muss wegen der <strong>für</strong> die erforderliche<br />
Auf gliederung zu ger<strong>in</strong>gen Fallzahl verzichtet werden, festgehalten kann <strong>für</strong> sie jedenfalls werden,<br />
dass sie noch deutlich seltener solche Generationenkonfl ikte registrieren: im Dorf lebende<br />
75+Jährige zu 10%, <strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>- und Mittelstädten lebende zu 22% und <strong>in</strong> Großstädten lebende zu<br />
25%; sie lagen damit jeweils um rund zehn Prozentpunkte tiefer als der Rest der Bevölkerung.<br />
Abbildung 1:Entwicklung der Wahrnehmung von Generationenkonfl ikten <strong>in</strong> der anonymen<br />
Öff entlichkeit, Vergleich Dorf/Kle<strong>in</strong>- und Mittel stadt/Großstadt<br />
(1998: n=1.000, 2005: n=2000)<br />
50%<br />
40%<br />
30%<br />
20%<br />
10%<br />
0%<br />
Vergleich 1998 - 2005: Wahrnehmung häufiger Alt-<br />
Jung-Konflikte <strong>in</strong> der anonymen Öffentlichkeit.<br />
<strong>Österreich</strong>, 18+jährige<br />
16%<br />
23%<br />
1998 2005<br />
25%<br />
33%<br />
42%<br />
35%<br />
Dorf Kle<strong>in</strong>/Mittelstadt Großstadt<br />
Wenn, wie geschehen, <strong>in</strong> den Massenmedien mit Schlagworten wie „wie die Alten die Jungen<br />
ausplündern“ Stimmung ge macht oder unter Berufung auf mehr oder weniger ausgewiesene<br />
Experten <strong>in</strong> Wochenmagaz<strong>in</strong>en deklariert wird: „Alte ohne Verständnis, Junge ohne Lobby, so der<br />
monotone Klagechor“ (Ste<strong>in</strong>bauer & Pesendorfer 2003: 24), dann wäre es nicht verwunderlich,<br />
wenn der öff entlichen Me<strong>in</strong>ung „die Alten“ als (zu Unrecht) privilegierte Gruppe erschienen.<br />
Das Gegenteil ist der Fall: Nur 6% der erwachsenen Bevölkerung me<strong>in</strong>ten, die Bedürfnisse und<br />
223
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
Interessen älterer Menschen würden <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> „viel“ oder „eher zu viel“ berücksichtigt. 42%<br />
äußerten sogar die Auff as sung, diese Bedürfnisse und Interessen würden „eher“ oder „viel zu<br />
wenig“ berücksichtigt, und die Hälfte vertrat den Standpunkt, sie würden gerade ausreichend<br />
berücksichtigt werden. Und trotz der überwiegenden Tendenz <strong>in</strong> der massenmedialen Aufbereitung<br />
der Thematik, die Älteren als Profi teure der gegenwärtigen Entwicklungen ersche<strong>in</strong>en zu<br />
lassen, hat sich im Verlauf der sieben Jahre zwischen 1998 und 2005 der Anteil derjenigen, die<br />
e<strong>in</strong>e unzureichende Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse der älteren Generation<br />
wahrnehmen zu können me<strong>in</strong>ten, merklich erhöht – von 32% 1998 auf 42% 2005; es stieg zwar<br />
auch e<strong>in</strong> wenig der Anteil derer, die e<strong>in</strong>e übermäßige Berücksichtigung der Älteren feststellen,<br />
aber diese Erhöhung war mit zwei Prozentpunkten (von 4% auf 6%) unbedeutend.<br />
Natürlich s<strong>in</strong>d Junge eher als Alte der Mei nung, die Interessen der Älteren würden zu viel berücksichtigt,<br />
dennoch waren selbst unter den bis 30-Jährigen bloß 8% dieser Auff assung. Bei<br />
den 46-60-Jährigen waren es 5%, und von den über 60-Jährig en befanden nur noch 1%, ihre<br />
Interessen würden <strong>in</strong> unserer Gesellschaft übermäßig zum Zuge kommen (niemand davon war<br />
älter als 75 Jahre). Selbst die bis 30-Jährigen me<strong>in</strong>ten zu 40%, die Bedürfnisse und Interessen<br />
der Älteren kämen zu kurz und lagen damit nur 8 Prozentpunkte niedriger als die über 60-Jährigen.<br />
Die sehr Alten (hier 75+, da 80+ e<strong>in</strong>e zu ger<strong>in</strong>ge Fallzahl geliefert hätte) waren allerd<strong>in</strong>gs<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em deutlich höheren Ausmaß als die jüngeren Bevölkerungsgruppen der Me<strong>in</strong>ung, e<strong>in</strong>e<br />
benachteiligte Gruppe zu se<strong>in</strong>: 56% (verglichen mit 42% aller). D ass dah<strong>in</strong>ter nicht e<strong>in</strong>fach<br />
höhere Klagsamkeit oder Gruppenegoismus steckt, sondern reale Nachteilserfahrungen, belegen<br />
andere Beiträge <strong>in</strong> diesem Band, beispielsweise über die ökonomische Situation (Guger &<br />
Mayrhuber), wenn <strong>in</strong> diff erenzierender Betrachtung zwischen den „jungen Alten“ (60 oder 65<br />
bis 75 oder 80) und den „alten Alten“ bzw. Hochbetagten unterschieden wird.<br />
Wenn auch e<strong>in</strong>e gewisse Diff eren zierung <strong>in</strong> den Ansichten festzustellen ist, so bleibt jedenfalls<br />
das weitaus überwiegende Urteil, dass die ältere Generation eher e<strong>in</strong>e benachteiligte denn e<strong>in</strong>e<br />
privilegierte ist, so dass auch <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht ke<strong>in</strong> Klima <strong>in</strong>tergenerationeller Fe<strong>in</strong>dseligkeit<br />
oder Missgunst aus den Daten herausgelesen werden kann.<br />
Gleichwohl folgt daraus nicht, dass der Blick <strong>in</strong> die Zukunft optimistisch wäre, was das Verhältnis<br />
zwischen Alt und Jung <strong>in</strong> der Gesel lschaft betriff t. E<strong>in</strong>e pos itive Zukunftsperspektive<br />
vertreten nämlich nur 16% der <strong>Österreich</strong>er/<strong>in</strong>nen im H<strong>in</strong>blick auf das Generationenverhältnis.<br />
Sie erwarten, <strong>in</strong> den nächsten zwanzig Jahren werde sich das Verhältnis zwischen den jüngeren<br />
Generationen und den älteren stark oder zum<strong>in</strong>dest „eher“ verbessern. Dem stehen 44% Pessimisten<br />
gegenüber, die me<strong>in</strong>en, dieses Verhältnis werde sich stark oder eher verschlechtern;<br />
36% gehen von e<strong>in</strong>em F ortbestand des Status quo aus. Im Ver gleich zu 1998 war 2005 e<strong>in</strong>e<br />
stärkere Akzentuierung sowohl der pessimistischen, skeptischen, als auch der optimistischen<br />
Zukunftse<strong>in</strong>schätzung festzustellen. Es gab sowohl mehr Skeptiker als auch mehr Optimisten<br />
– zu Lasten der Mittelkategorie derer, die me<strong>in</strong>ten, es werde so bleiben wie heute:<br />
224
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
Abbildung 2: Zukunftserwartungen bezüglich des Generationenverhältnisses, Entwicklung<br />
zwischen 1998 und 2005. <strong>Österreich</strong> (1998: n=1.000, 2005: n=2.000)<br />
50%<br />
40%<br />
30%<br />
20%<br />
10%<br />
0%<br />
Das Verhältnis zwischen Jüngeren und Älteren wird<br />
sich verbessern / verschlechtern, 1998 - 2005<br />
<strong>Österreich</strong>, 18+jährige<br />
12%<br />
16%<br />
1998 2005<br />
45%<br />
36%<br />
38%<br />
44%<br />
verbessern gleich bleiben verschlechtern<br />
Wie schon <strong>in</strong> der Untersuchu ng 1998 waren die Jüngeren im Jahr 2005 <strong>in</strong> ihrer Zukunftse<strong>in</strong>schätzung<br />
des Generationenverhältnisses seltener skeptisch als die älteren Gruppen. Die bis<br />
40-Jährigen waren zu 40% der Ans icht, es werde sich das Verhältnis verschlechtern und 21%<br />
erwarteten sich e<strong>in</strong>e Verbesserung; je älter man war, desto eher w ar man pessimistisch, und<br />
am stärksten machte sich diese Haltung bei den Hoch altrigen bemerkbar, von denen bereits<br />
die Hälfte e<strong>in</strong>e Verschlechterung, aber nur 4% e<strong>in</strong>e Verbesserung erwarteten.<br />
9.3. Die Beziehung zwischen den Generationen <strong>in</strong> den Familien<br />
Um e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck davon zu gew<strong>in</strong>nen, <strong>in</strong> welchem Ausmaß die Familie, die weitere Verwandtschaft<br />
und der Freundeskreis überhaupt als Hilfepotential <strong>in</strong> Frage kommen, wurde <strong>in</strong> der Studie<br />
zunächst erhoben, wie groß u nd wie komplex dieses Netzwerk ist. Dazu wurde anhand e<strong>in</strong>er<br />
detaillierten Liste erfragt, welche Arten (Kategorien) von Verwandten und Freunden die Befrag-<br />
225
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
ten jeweils hatten 1 . Es bestätigte sich, was auch der Mikrozensus vom September 2002 über<br />
„Familienstrukturen und Familienbildung“ (Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> <strong>Soziales</strong> und Konsumentenschutz<br />
2003) schon gezeigt hatte, dass nämlich weniger als 1% überh aupt ke<strong>in</strong>e Verwandten<br />
haben. In der Generationenstudie 2005 war allerd<strong>in</strong>gs auch nach Freund/<strong>in</strong>nen, Bekannten<br />
und Kolleg/<strong>in</strong>nen gefragt worden. Auf Freunde bzw. Freund<strong>in</strong>nen kann man etwas s eltener<br />
zurückgreifen: 10% hatten überhaupt ke<strong>in</strong>e Freund/<strong>in</strong>nen, weitere 6% nu r e<strong>in</strong>en Freund oder<br />
e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong>. Die älteren Menschen und vor allem die Hochbetagten waren <strong>in</strong> dieser K ategorie<br />
stark überrepräsentiert: 15% der 61-80-Jährigen und 23% der über 80-Jäh rigen konnten<br />
ke<strong>in</strong>e Freunde/Freund<strong>in</strong>nen nennen, da s ist zweifellos bereits e<strong>in</strong>e spü rbare E<strong>in</strong>engung des<br />
Solidaritätspotenzials. Auch das Verwandtschaftsnetzwerk der Älteren ist weniger dicht, aber<br />
die Defi zite s<strong>in</strong>d hier wesentlich schwächer ausgeprägt als bei den Freund/<strong>in</strong>nen. Erst bei den<br />
über 80-Jährigen war der Prozentsatz derer, die gar ke<strong>in</strong>e Verwandten hatten, mit 11% merklich<br />
höher als im Durchschnitt aller. Selbst bei der zweitältesten Gruppe der 71-80-Jährigen – sie<br />
hatten den zweithöchsten Anteil an Personen ohne Verwandte – waren es nur 2%, die k e<strong>in</strong>e<br />
Verwandten angeben konnten. Geschlechtsunterschiede waren nicht festzustellen.<br />
Obwohl manche Forscher bereits das Netzwerk selber als Solidaritätsdimension betrachten<br />
(Bengtson & R oberts 1991), sche<strong>in</strong>t es doch s achgemäßer, es nur als Potenzial und nicht<br />
schon als e<strong>in</strong>e Form der Solidarität zu behandeln (Szydlik 2000: 36). Die Er wartungen an die<br />
Solidaritätsbereitschaft des Netzwerks s<strong>in</strong>d außerordentlich hoch, es herrscht quer durch alle<br />
Gruppen und Alter fast une<strong>in</strong>geschränkter Solidaritätsoptimismus. Sowohl <strong>für</strong> kle<strong>in</strong>ere als auch<br />
<strong>für</strong> schwerer wiegende Notfälle („beispielsweise, weil Sie zwei Wochen krank s<strong>in</strong>d, so dass man<br />
vorübergehend die K<strong>in</strong>der zu sich nimmt, oder dass man täglich bei Ihnen vorbeischaut, Sie<br />
mit Essen versorgt und die Wohnung e<strong>in</strong> bisschen <strong>in</strong> Schuss hält“) be<strong>für</strong>chteten jeweils nur 1%<br />
aller Befragten, niemanden zu haben, der helfen würde. Zwischen den Altersgruppen bestanden<br />
dabei praktisch ke<strong>in</strong>e Unterschiede, der Optimismus reichte gleichermaßen von den ganz<br />
Jungen bis zu den <strong>Hochaltrige</strong>n.<br />
Selbst <strong>für</strong> die noch heiklere „größere fi nanzielle Notlage“ g<strong>in</strong>gen nur 5% davon aus, ke<strong>in</strong>e Hilfe<br />
zu erhalten. Die <strong>Hochaltrige</strong>n lagen mit 7% an der Spitze (von den bis 40-Jährigen waren es nur<br />
3%), man wird den höheren Prozentsatz aber m<strong>in</strong>destens ebenso plausibel dem weniger dichten<br />
Netzwerk zurechnen können wie e<strong>in</strong>er ger<strong>in</strong>geren Solidarhaltung der Anderen.<br />
Die Hilfeerwartungen geben zwar Auf schluss über das Solidaritätsklima im Verwandtschafts- und<br />
Freundesnetzwerk bzw. zwischen den Generationen, relevante Aussagen über die Solidarität<br />
zwischen ihnen werden freilich erst möglich, wenn der tatsächlich aufgetretene Hilfebedarf <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em (er<strong>in</strong>nerbaren) Zeitraum erhoben und an der daraufh<strong>in</strong> tatsächlich empfangenen Hilfe<br />
gemessen wird. Zu diesem Zweck wurde <strong>in</strong> beiden Generationenstudien zunächst <strong>für</strong> dreizehn<br />
1 Aus Kostengründen nicht jedoch auch die jeweilige Anzahl.<br />
226
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
alltagstypische Situationen erkundet, <strong>in</strong> welchem Ausmaß jeweils <strong>in</strong> den letz ten zwei Jahren<br />
bei den Befragten Hilfebedarf gegeben gewesen war. Es waren dies die Situationen:<br />
» Bei der Hausarbeit (ohne E<strong>in</strong>kaufen/Kochen, z. B. Putzen, Wäsche waschen,<br />
Abwaschen, Staubsaugen, Fensterputzen)<br />
» Kochen<br />
» E<strong>in</strong>kaufen gehen, Besorgungen <strong>für</strong> die Befragte/den Befragten erledigen<br />
» <strong>Arbeit</strong>en im Haus/<strong>in</strong> der Wohnung, Reparaturen, Hilfe bei schweren <strong>Arbeit</strong>en<br />
(z. B. Tragen, Möbel umstellen und dergleichen mehr)<br />
» Begleiten bei verschiedenen Wegen, H<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen, Abholen<br />
» Unterstützung und Beratung bei Behördenwegen, bei Verhandlungen,<br />
z. B. mit der Bank<br />
» Dem/der Befragten bei der Betreuung von Kranken, Beh<strong>in</strong>derten oder sonstwie<br />
Pfl egebedürftigen helfen<br />
» Unterstützung durch ausführliches Gespräch, zur Verfügung stehen, wenn der/die<br />
Befragte sich e<strong>in</strong>mal aussprechen will oder Kummer hat<br />
» sich vorübergehend, wenn der/die Befragte e<strong>in</strong> paar Tage krank ist, um ihn/sie<br />
kümmern, ihn/sie vorübergehend pfl egen<br />
» Den Befragten/die Befragte auch bei langen Krankheiten oder Pfl egebedürftigkeit<br />
dauerhaft pfl egen<br />
» fi nanzielle bzw. materielle Unterstützung <strong>in</strong> Notfällen, entweder <strong>in</strong> Form von Geld<br />
oder von Geschenken bzw. langfristigen Leihgaben (z. B. Eiskasten, Möbel, Bezahlen<br />
von Schulden, als Bürge gehen)<br />
» fi nanzielle Unterstützung <strong>für</strong> den Befragten/die Befragte unabhängig von Notfällen<br />
» Beaufsichtigung von K<strong>in</strong>dern<br />
Tabelle 1 gibt zu erkennen, dass am meisten Bedarf an persönlichen Aussprachen, wenn man<br />
Kummer oder Probleme hat, bestand. Darauf folgte an zweiter Stelle das Angewiesense<strong>in</strong> auf<br />
<strong>in</strong>strumentelle Unter stützung bei <strong>Arbeit</strong>en im Haus bzw. <strong>in</strong> der Wohnung, und etwa gleich<br />
häufi g trat Hilfebedarf im Gefolge vorübergehender, kürzerer Erkrankungen auf. Zweifellos am<br />
schwerwiegendsten ist der glücklicherweise am seltensten auftretende Hilfebedarf, nämlich der<br />
an Unterstützung bei eigener dauerhafter Pfl ege sowie an Hilfe beim Helfen, d.h., wenn m an<br />
selbst jemanden betreut und dazu Hilfe benötigt.<br />
227
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
Tabelle 1: Wobei haben Sie <strong>in</strong> den letzten zwei Jahren Hilfe benötigt? Vergleich 1998/2005<br />
(<strong>in</strong> %) (18+Jährige, 1999: n=1.000, 2005: n=2.000)<br />
Was die Häufi gkeit des Auftretens dieser Bedarfe betriff t, so hat sich die diesbezügliche Rangordnung<br />
zwischen 1998 und 2005 nicht verändert, auch die Häufi gkeiten selbst s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ander<br />
ähnlich geblieben. Als allgeme<strong>in</strong>e Tendenz ist <strong>in</strong>des erkennbar, dass <strong>in</strong> fünf, <strong>in</strong>sbesondere den<br />
drei häufi gsten, Bereichen der Hilfebedarf etwas zurückgegangen ist.<br />
Wie gerechtfertigt ist der generelle Solidaritätsoptimismus? Aufschluss darüber wurde mit der<br />
Frage gewonnen, ob man, falls <strong>in</strong> den letzten beiden Jahren tatsächlich Hilfebedarf aufgetreten<br />
war, erstens überhaupt Hilfe empfangen hatte und zweitens, als wie ausreichend man diese Hilfe<br />
empfunden hatte. Die Antworten auf den ersten Teil der Frage liefern e<strong>in</strong> äußerst positives Bild.<br />
In ke<strong>in</strong>em Bedarfsbereich überstieg der Anteil derjenigen, die ke<strong>in</strong>e Hilfe erhalten hatten, 0,3%.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs gilt nicht <strong>für</strong> alle Bereiche, dass die geleistete Hilfe auch ausreichend gewesen wäre.<br />
Zwar waren die Anteile derjenigen, die nur unzureichende Hilfe erhalten hatten, <strong>in</strong> den meisten<br />
Bereichen niedrig – mit nur wenig Änderung gegenüber 1998 (vgl. Tabelle 2), so dass man<br />
auch weiterh<strong>in</strong> davon ausgehen kann, dass Familie und Freunde wirksam e<strong>in</strong>spr<strong>in</strong>gen, wenn<br />
Bedarf besteht. In zwei Bereichen allerd<strong>in</strong>gs ergaben sich im Vergleich mit 1998 deutliche Verschlechterungen,<br />
beide Bereiche betreff en die fi nanzielle Sphäre. Während 1998 nicht e<strong>in</strong>mal<br />
1% die erhaltene fi nanzielle Hilfe als unzureichend empfanden, die ihnen <strong>in</strong> Situationen ohne<br />
Notfallcharakter gegeben wurde, wa ren es 2005 immerh<strong>in</strong> gut 5%; noch massiver ist der Anstieg<br />
des Anteils der Personen, die <strong>in</strong> materiellen Notfällen Hilfe gebraucht hätten, aber nicht<br />
ausreichend bekamen, nämlich von knapp 1% auf nicht weniger als 11%. Die Gruppe derer,<br />
die nur unzureichende fi nanzielle Hilfe erhalten haben, unterscheidet sich von jenen, denen<br />
ausreichend geholfen wurde, weder nach Alter oder Geschlecht, noch nach Schulbildung oder<br />
sozialer Schichtzugehörigkeit. Da <strong>in</strong> den anderen Bereichen die Hilfen sich von jenen des Jahres<br />
228<br />
Habe <strong>in</strong> den letzten 2 Jahren Hilfe benötigt bei (Basis alle):<br />
1998<br />
(n=1.000)<br />
2005<br />
(n=2.000)<br />
Für ausführliches Gespräch zur Verfügung stehen, <strong>für</strong> Aussprache bei Kummer und Problemen 51 43<br />
<strong>Arbeit</strong>en <strong>in</strong> Haus/Wohnung, Reparaturen, bei schweren <strong>Arbeit</strong>en, z. B. Tragen 43 37<br />
Vorübergehende Pflege, um mich kümmern, wenn ich e<strong>in</strong> paar Tage krank b<strong>in</strong> 39 35<br />
E<strong>in</strong>kaufen, Besorgungen erledigen 27 27<br />
Hausarbeit (ohne E<strong>in</strong>kaufen, Kochen), z. B. Putzen, Wäsche waschen, Fenster putzen 25 24<br />
Begleiten bei Wegen, H<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen, Abholen 24 25<br />
Kochen 21 20<br />
Beaufsichtigung von K<strong>in</strong>dern 19 22<br />
Unterstützung/Beratung bei Behördenwegen, bei Verhandlungen (z. B. mit Bank) 18 18<br />
F<strong>in</strong>anzielle Unterstützung ohne speziellen Notfall 14 11<br />
F<strong>in</strong>anzielle/materielle Hilfe <strong>in</strong> Notfällen (Geld oder langfristige Leihgaben) 12 8<br />
Dauerhafte Pflege, wenn ich lange krank oder pflegebedürftig b<strong>in</strong> 7 7<br />
Hilfe bei der Betreuung anderer Kranker, Beh<strong>in</strong>derter, sonstwie Pflegebedürftiger 6 8
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
1998 nur wenig unters cheiden, kann wohl davon ausgegang en werden, dass der Rückfall im<br />
fi nanziellen Bereich eher als Ausdruck der Zunahme von Ressourcenknappheit und nicht als<br />
Ausdruck rückläufi ger Solidarität bzw. Hilfebereitschaft <strong>in</strong>terpretiert werden kann. Die Spalte<br />
ganz rechts <strong>in</strong> der Tabelle zeigt auch, dass sich die <strong>Hochaltrige</strong>n – soweit die ger<strong>in</strong>ge Fallzahl<br />
e<strong>in</strong>e „Hoch rechnung“ zuließe – trotz größerer personeller Defi zite (siehe weiter oben) ke<strong>in</strong>eswegs<br />
<strong>in</strong> höherem Maße unzureichend versorgt fühlten als die anderen Alters gruppen.<br />
Tabelle 2: Von jenen, die im jeweiligen Situationstyp Hilfebedarf hatten: Anteile derjenigen,<br />
deren Hilfebedarf nicht (ausreichend) gedeckt wurde. Vergleich 1998/2005<br />
(<strong>in</strong> %) (18+Jährige, 1998: n=1.000, 2000 n=2.000, davon 80+ =72)<br />
Die Hilfe war nicht ausreichend bei Bedarf an:<br />
(Basis: alle mit jeweiligem Hilfebedarf)<br />
1998<br />
alle Alter<br />
2005<br />
alle Alter<br />
Für ausführl. Gespräch zur Verfügung stehen, <strong>für</strong> Aussprache bei Kummer und Problemen 2,3 2,8 0,0<br />
<strong>Arbeit</strong>en <strong>in</strong> Haus/Wohnung, Reparaturen, bei schweren <strong>Arbeit</strong>en, z. B. Tragen 2,0 1,7 2,3<br />
Vorübergehende Pflege, um mich kümmern, wenn ich e<strong>in</strong> paar Tage krank b<strong>in</strong> 1,5 1,1 0,0<br />
E<strong>in</strong>kaufen, Besorgungen erledigen 0,7 0,3 2,0<br />
Hausarbeit (ohne E<strong>in</strong>kaufen, Kochen), z. B. Putzen, Wäsche waschen, Fenster putzen 1,6 4,0 0,0<br />
Begleiten bei Wegen, H<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen, Abholen 0,4 0,6 2,7<br />
Kochen 1,4 1,7 0,0<br />
Beaufsichtigung von K<strong>in</strong>dern 1,6 3,1 -<br />
Unterstützung/Beratung bei Behördenwegen, bei Verhandlungen (z. B. mit Bank) 0,0 2,1 2,8<br />
F<strong>in</strong>anzielle Unterstützung ohne speziellen Notfall 0,7 5,4 0,0<br />
F<strong>in</strong>anzielle/materielle Hilfe <strong>in</strong> Notfällen (Geld oder langfristige Leihgaben) 0,9 10,9 *<br />
Dauerhafte Pflege, wenn ich lange krank oder pflegebedürftig b<strong>in</strong> 1,5 1,6 0,0<br />
Hilfe bei der Betreuung anderer Kranker, Beh<strong>in</strong>derter, sonstwie Pflegebedürftiger 5,3 5,8 0,0<br />
2005<br />
über 80<br />
* <strong>in</strong>sgesamt nur 3 Fälle<br />
Überhaupt ke<strong>in</strong>en Hilfebedar f <strong>in</strong> al len dreizehn vorgegebenen Bereichen g ehabt zu haben<br />
sagten 28% der Befragten. Das bedeutet im Vergleich mit 1998 e<strong>in</strong>en merklichen Anstieg um<br />
8 Prozentpunkte. Weitere 13% waren auf Hilfe durch Dritte <strong>in</strong> nur e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Kategorie angewiesen<br />
gewesen – e<strong>in</strong> etw a gleich großer Proz entsatz wie 1998. Mit 20% ohne Hilfebedar f<br />
und 7% Hilfebedar f <strong>in</strong> nu r e<strong>in</strong>em Bereich lagen die Hoch betagten unter dem Du rchschnitt.<br />
Noch deutlicher zeigt sich der erhöhte Hilfebedarf der sehr Alten beim Vergleich derer, die <strong>in</strong><br />
m<strong>in</strong>destens fünf Bereichen <strong>in</strong> den letzten zwei Jahren Unterstützung und Hilfe benötigt hatten:<br />
Hier standen 26% bei den bis 80-Jährigen 48% bei den 80 und Mehrjährigen gegenüber.<br />
E<strong>in</strong>e diff erenzierende Analyse der Daten zeigt allerd<strong>in</strong>gs: Entgegen der öff entlichen Me<strong>in</strong>ung s<strong>in</strong>d<br />
es aber nicht e<strong>in</strong>fach die älteren Generationen – von den <strong>Hochaltrige</strong>n abgesehen –, die auf die<br />
Hilfe anderer, also durch die Jüngeren, angewiesen s<strong>in</strong>d, sondern umgekehrt primär die jüngeren.<br />
83% der bis 30-Jährigen (nimmt man die bis 40-Jährigen, s<strong>in</strong>d es 79%) hatten <strong>in</strong> den vorausliegenden<br />
zwei Jahren m<strong>in</strong>destens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bereich Hilfe gebraucht, bei den 31-45-Jährigen waren<br />
229
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
73%, den 46-60-Jährigen 63%, den 61-80-Jährigen 67%, und erst bei den 81 und Mehrjährigen war<br />
wieder e<strong>in</strong>en Anstieg zu registrieren, der <strong>in</strong>des mit 81% immer noch knapp unter dem Niveau der<br />
Jungen blieb. M<strong>in</strong>destens <strong>in</strong> fünf Bedarfssituationen hatten immerh<strong>in</strong> 37 % der bi s 30-Jährigen<br />
der Unterstützung durch Dritte bedurft, dieser Prozentsatz sank bis zu den 61-80-Jährigen stetig<br />
auf 25% ab und sprang dann erst bei den über 80-Jährigen auf 48%. E<strong>in</strong>e dem Altersklischee<br />
entsprechende Hilfsbedürftigkeit zeigt sich also erst bei den <strong>Hochaltrige</strong>n, ke<strong>in</strong>eswegs jedoch<br />
bei den „Jung-Alten“. Für die bis 30-Jährigen errechnet sich e<strong>in</strong> Durchschnitt von 3,6 Situationen,<br />
<strong>in</strong> denen sie Hilfe benötigt hatten, <strong>für</strong> die 31-45-Jährigen betrug er 2,8, <strong>für</strong> die 46-60-Jährigen<br />
2,3, <strong>für</strong> die 61-80-Jährigen 2,7; auch hier s<strong>in</strong>d es erst wieder die über 80-Jährigen, die mit<br />
durchschnittlich 4,5 Hilfebedarfs situationen die Jungen überholten.<br />
Somit bleibt folgendes Muster im Zusammenhang mit Hilfebedarf und se<strong>in</strong>er Deckung festzuhalten:<br />
Nur e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit, die alerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> den letzten Jahren angewachsen ist, ist überhaupt<br />
nicht auf Hilfen durch Dritte angewiesen gewesen (2005 auf 28%). Praktisch niemand von jenen,<br />
die <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Form Hilfebedarf gehabt hatten, war gänzlich ohne Hilfe geblieben, und bei<br />
den bei weitem mei sten Betroff enen war diese Hilfe auch ausr eichend. Dar<strong>in</strong> h at sich kaum<br />
e<strong>in</strong>e Änderung <strong>in</strong> den sieben Jahren seit 1998 ergeben. E<strong>in</strong>e deutliche – negative– Ausnahme<br />
stellen jedoch die fi nanziellen Notlagen dar, die zwar e<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong> den letzten Jahren als Hilfebedarfssituationen<br />
zurückgegangen s<strong>in</strong>d, andererseits jedoch, wenn vorhanden, <strong>in</strong> erhöhtem<br />
Ausmaß nach dem Empfi nden der Betroff enen nur unzureichend Unterstützung boten. 2<br />
Tabelle 3 gibt Ausk unft über die Alters struktur des Hilfebed arfs. Es ist zu erkennen, dass die<br />
beiden Altersgruppen am unteren und am oberen Ende des Alterskont<strong>in</strong>uums am häufi gsten<br />
Hilfebedarf hatten, wobei die <strong>Hochaltrige</strong>n noch vor den Jüngsten lagen. Besonders große Abstände<br />
zu den übrigen Altersgruppen wiesen sie <strong>in</strong> den Bereichen Kochen, Hausarbeit, E<strong>in</strong>kaufen,<br />
Begleitung sowie bei Krankheiten auf. Die Jungen, jene Gruppe, die im H<strong>in</strong>blick auf Hilfe- und<br />
Unterstützungsbedürftigkeit gleich h<strong>in</strong>ter den <strong>Hochaltrige</strong>n rangiert, hatten die deutlichsten<br />
Defi zitlagen im fi nanziellen Bereich und natürlich bei der Beaufsichtigung der K<strong>in</strong>der.<br />
Im Vergleich zur Generationenstudie 1998 traten 2005 bei diesem Muster altersspezifi scher<br />
Bedarfsstrukturen die <strong>Hochaltrige</strong>n viel stärker <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung. Das liegt allerd<strong>in</strong>gs daran, dass<br />
die doppelt so große Stichprobe e<strong>in</strong>e Altersdiff erenzierung jenseits des 60. Lebensjahres erlaubte.<br />
Dadurch wird jedenfalls deutlich, dass der Hilfebedarf jenseits des etwa 80. Lebensjahres<br />
massiv ansteigt – und, wie schon dargelegt, auch gedeckt wird. Ansonsten blieben die Befunde<br />
der 1998er Studie aufrecht, dass nämlich – sieht man e<strong>in</strong>mal von den Ältesten ab –, vor allem<br />
2 Relativierend sei allerd<strong>in</strong>gs h<strong>in</strong>zugefügt, dass dieses Problem nichtsdestoweniger nur sehr wenige über 18-Jährige <strong>in</strong><br />
der Gesamtbevölkerung betriff t, nämlich 0,6% bis 0,8%.<br />
230
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
die Jüngeren Hilfebedarf haben, wobei der fi nanzielle Hilfebedarf und die Unterstützung bei der<br />
K<strong>in</strong>derbeaufsichtigung besonders deutlich hervortreten (vgl. auch Attias-Donfut et al. 2005a,<br />
Attias-Donfut et al. 2005b).<br />
Tabelle 3: Hilfebedarf <strong>in</strong> den letzten 2 Jahren, nach Alter (<strong>in</strong> %) (18+Jährige, 2005, n=2.000)<br />
Situation der Hilfe- bzw. Unterstützungsbedürftigkeit<br />
Von der Altersgruppe hatten … % Bedarf<br />
bis 30 31-45 46-60 61-80 über 80<br />
F<strong>in</strong>anzielle Unterstützung ohne speziellen Notfall 31 9 8 3 1<br />
Ausführliches Gespräch, Aussprache bei Kummer und persönlichen Problemen 52 45 43 37 38<br />
F<strong>in</strong>anzieller/materieller Notfall 17 9 6 2 4<br />
Beaufsichtigung der K<strong>in</strong>der 27 46 8 3 1<br />
Unterstützung/Beratung bei Behördenwegen, bei Verhandlungen 28 14 12 20 47<br />
Kochen 25 19 16 20 51<br />
Vorübergehende Pflege, um mich kümmern, wenn ich e<strong>in</strong> paar Tage krank b<strong>in</strong> 44 31 34 36 47<br />
<strong>Arbeit</strong>en im Haus/Wohnung, Reparaturen, bei schweren <strong>Arbeit</strong>en, z. B.<br />
Möbeltragen<br />
42 38 35 36 56<br />
Hausarbeit (ohne E<strong>in</strong>kaufen, Kochen), z. B. Putzen, Wäsche waschen, Fenster<br />
putzen<br />
26 20 21 28 61<br />
Hilfe bei der Betreuung anderer Kranker, Beh<strong>in</strong>derter, sonstwie Pflegebedürftiger 6 8 10 9 11<br />
E<strong>in</strong>kaufen, Besorgungen erledigen 28 22 22 34 67<br />
Begleitung bei Wegen, H<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen, Abholen 33 16 18 35 47<br />
Dauerhafte Pflege, wenn ich lange krank oder pflegebedürftig b<strong>in</strong> 5 6 7 10 21<br />
Bei der Detailanalyse der Hilfen und Helfer/<strong>in</strong>nen erweisen sich e<strong>in</strong>erseits die Eltern, <strong>in</strong>sbesondere<br />
die Mütter, andererseits mit wachsendem Alter derer, denen geholfen wird, die K<strong>in</strong>der, <strong>in</strong>sbesondere<br />
die Töchter, als Haupthilfepersonen. Besonders bemerkenswert ersche<strong>in</strong>t die überragende<br />
Rolle der Mutter beim Aus sprachebedarf der ju ngen Generation, die von zwei Drittel der bi s<br />
30-Jährigen genannt wurde – doppelt so oft wie die Freunde/Peers. Bei den Hochbetagten (81- und<br />
Mehrjährigen) spielen die Söhne und deutlich mehr noch die Töchter und Schwiegertöchter e<strong>in</strong>e<br />
überragende Rolle, sie wurden mit zwei Ausnahmen <strong>in</strong> allen Bereichen von jeweils m<strong>in</strong>destens<br />
80% der Hochbetagten an erster Stelle als Helfer/<strong>in</strong>nen und Unterstützer/<strong>in</strong>nen genannt.<br />
Die persönlichen Kontakte s<strong>in</strong>d reichlich. 57% sehen den Vater, 66% die Mutter, 75% e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>de<br />
m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal pro Woche. Das gilt im Wesentlichen auch <strong>für</strong> die ältere Generation, beispielsweise<br />
sahen zwei Drittel der 60 u nd Mehrjährigen m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal pro Woche wenigstens<br />
e<strong>in</strong>es ihrer K<strong>in</strong>der, bei den über 80-Jährigen war mit 71% sogar e<strong>in</strong> leichter Anstieg gegenüber<br />
den Jung-Alten zu verzeichnen. Das Telefonieren dient nicht als Kompensation <strong>für</strong> seltenere<br />
face-to-face-Kontakte, sondern es korreliert sogar positiv mit den persönlichen Treff en, d.h., je<br />
häufi ger man mite<strong>in</strong>ander telefoniert, desto häufi ger sieht man e<strong>in</strong>ander auch.<br />
231
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
Die Beziehung zur jeweils anderen Generation <strong>in</strong> der Familie wurde, vor allem von den Eltern im<br />
H<strong>in</strong>blick auf ihre erwachsenen K<strong>in</strong>der, sehr positiv e<strong>in</strong>geschätzt – die K<strong>in</strong>der s<strong>in</strong>d bei solchen<br />
Urteilen wie immer etwas zurückhaltender, aber immer noch sehr positiv. Auf e<strong>in</strong>er Skala von<br />
0 („extrem schlecht“) bis 10 („extrem gut“), die die Befragten zur Charakterisierung ihrer Beziehung<br />
zu ihren K<strong>in</strong>dern verwendeten, wurde diese Beziehung über alle Altersgruppen h<strong>in</strong>weg<br />
mit dem sehr positiven Durchschnittswert 8,5 e<strong>in</strong>gestuft – denselben Wert vergaben im Mittel<br />
die Hoch betagten <strong>für</strong> ihre Beziehung zu ihren K<strong>in</strong>dern.<br />
Per Saldo kann man somit die <strong>in</strong>tergenerationellen Beziehungen <strong>in</strong>nerhalb der Fami lien, <strong>in</strong>sbesondere<br />
auch j ene der Hoch betagten, als sehr gut, be lastbar und wechselseitig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
entscheidenden Ausmaß solidarisch stützend kennzeichnen.<br />
9.4. Zukunftsperspektiven<br />
9.4.1. Zukunft der Generationenbeziehungen <strong>in</strong> den Familien<br />
Im Jahr 2006 betrug die Gesamtscheidungsrate <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> 49%, <strong>in</strong> Wien gar 66%. 3 Die Entwicklung<br />
ist rasant: Zehn Jahre davor (1996) lag die gesamtösterreichische Rate bei 38%, 1986<br />
bei 30%, 1976 bei 21% und 1966 bei 15%. Diese Rate ist e<strong>in</strong> besonders augenfälliger Ausdruck<br />
des säkularen Trends zur Pluralisierung und Individualisierung der (Zusammen-) Lebensformen,<br />
d.h. der Verbreitung von Lebens formen neben der traditionellen Familie, von den S<strong>in</strong>gles über<br />
die Alle<strong>in</strong>erziehenden zu den nichtehelichen Lebensgeme<strong>in</strong>schaften, den Patchwork-Familien<br />
und den "Lebens abschnittsgefährtenschaften" (Beck-Gernsheim 1993: 165) bis h<strong>in</strong> zur "Familie<br />
à la carte" (Rosenmayr 1990: 168 ff ; allgeme<strong>in</strong> vgl. Schulz & Hummer 2005). Diese vielfältiger<br />
und komplexer werdenden Familienstrukturen werfen Fragen des <strong>in</strong>tergenerationellen Zusammenhalts<br />
auf – etwa im H<strong>in</strong>blick auf "die Loyalitätskonfl ikte <strong>in</strong> Mehrgenerationenfamilien oder<br />
die Bedeutung der Urgroßeltern <strong>in</strong> der Be wahrung von Familienmythen oder die speziellen<br />
'countertransitions', wenn durch Scheidungen beispielsweise Stiefenkel oder Ex-Schwie gerk<strong>in</strong>der<br />
'hervorgebracht' werden" (Hörl & Kytir 1998: 731).<br />
E<strong>in</strong>e weitere mögliche bzw. vermutete Schwächung des familialen Potenzials hat mit der K<strong>in</strong>derzahl<br />
zu tun. Alle<strong>in</strong> zwischen 1961 und 2006 g<strong>in</strong>g die durchschnittliche K<strong>in</strong>derzahl pro Frau<br />
<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> von 2,78 auf 1,41 zurück. Dieser R ückgang ist <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>e<br />
Folge des drastischen Abs<strong>in</strong>kens des Anteils der Frauen mit drei oder mehr K<strong>in</strong>dern, welcher<br />
bei den 1935 geborenen Frauen noch 42% bet rug und bei den 1964 geborenen sich auf 20%<br />
mehr als halbiert hatte (Sobotka 2005: 247). E<strong>in</strong> Problem, das <strong>in</strong> zahlreichen Ländern Sorgen<br />
bereitet, ist <strong>in</strong> diesem Zu sammenhang der starke Anstieg des Anteils der zeitlebens k<strong>in</strong>derlos<br />
3 Das bedeutet, so groß war 2006 der Anteil der Ehen, „die unter den jeweils beobachteten ehedauerspezifi schen Schei-<br />
232<br />
dungswahrsche<strong>in</strong>lichkeiten früher oder später vor dem Scheidungsrichter enden“ (Statistik Austria 2007a).
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
bleibenden Frauen e<strong>in</strong>es Jahrgangs. Beispielsweise wuchs dieser Anteil <strong>in</strong> Deutsch land <strong>in</strong>nerhalb<br />
von nur 25 Jahren, von der Geburtsgeneration 1940 zur Geburtsgeneration 1965, von<br />
knapp 11% auf 32% an (Birg 2003: 73), im Vere<strong>in</strong>igten Königreich erwartet man 30% k<strong>in</strong>derlose<br />
alte Menschen (Lowenste<strong>in</strong> 2005: 404). E<strong>in</strong>e weitere Steigerung <strong>in</strong> dieser Richtung ist übrigens<br />
durch den starken Zugang der Frauen <strong>in</strong> die gehobenen Bildungsregionen zu erwarten, denn die<br />
Anteile der K<strong>in</strong>derlosen s<strong>in</strong>d um so größer, je höher das Schulbildungsniveau ist. Dazu kommt<br />
e<strong>in</strong> damit verwandter Aspekt <strong>in</strong> Gest alt des immer höheren Alters der Fr auen bei Gebu rt des<br />
ersten K<strong>in</strong>des. Alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> den zwanzig Jahren zwischen 1986 und 2006 stieg es von 24,4 Jahren<br />
auf 27,9 Jahre (St atistik Austria 2005: 148, Statistik Austria 2007b). Dieses <strong>in</strong>ternational seit<br />
den siebziger Jahren beobachtete Ph änomen führt zur „age gapped family“ (George & Gold:<br />
1991), die du rch wachsende Altersunterschiede und deutliche Abgrenzungen zwischen den<br />
Generationen gekennzeichnet ist. Daran knüpft sich die Vermutung, dass diese Diff erenzierung<br />
<strong>für</strong> die Entwicklung aff ektiver B<strong>in</strong>dungen zwischen den Generationen und e<strong>in</strong>es geme<strong>in</strong>samen<br />
Werteverständnisses h<strong>in</strong>derlich se<strong>in</strong> könnte (Lowenste<strong>in</strong> 2005: 404).<br />
Als dritter wesentlicher Trend, der sich schwächend auf die Dichte und Zuverlässigkeit der<br />
Betreuung im familiären Netzwerk auswirken könnte, gilt die wachsende Erwerbstätigkeit der<br />
Frauen und damit deren zunehmende außerfamiliale Orientierung, denn es waren bisher so gut<br />
wie ausschließlich sie, die die Last der Betreuung von K<strong>in</strong>dern, Kranken und Alten trugen, von<br />
den übrigen Dienstleistungen im familiären Umfeld gar nicht zu reden.<br />
Nicht jede dieser Entwicklungen ist mit Gewissheit absehbar. Beispielsweise führt die Diversifi zierung<br />
der Zusammenlebensformen nicht nur, wenn überhaupt, zu Erosions- und Ausdünnungseffekten,<br />
sondern auch zur Vergrößerung der Netzwerke (vgl. Richter 1999: 795). Davon abgesehen<br />
wird man auch die Größenordnu ngen, die diesbez üglich <strong>für</strong> das Jahr 2030 zu erwarten s<strong>in</strong>d,<br />
relativieren müssen. Von den heute 59-75-Jährigen, das s<strong>in</strong>d die Hochbetagten des Jahres 2030,<br />
s<strong>in</strong>d drei Viertel verheiratet oder leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Lebensgeme<strong>in</strong>schaft, und davon wiederum s<strong>in</strong>d<br />
85% erstmals verheiratet; von den rund 8% Geschiedenen oder getrennt Lebenden waren 83%<br />
e<strong>in</strong> Mal verheiratet. Und von allen Personen dieser Altersgruppe haben ganze 4,4% (m<strong>in</strong>destens)<br />
e<strong>in</strong> Stiefk<strong>in</strong>d bzw. haben 95,5% ke<strong>in</strong> Stiefk<strong>in</strong>d. Auch der Blick auf die K<strong>in</strong>dergeneration dieser<br />
Hochbetagten des Jahres 2030 zeigt noch e<strong>in</strong>e starke Prägung durch konventionelle Strukturen:<br />
Von den 32-48-Jährigen des Jahres 2005, also den 5 7-73-Jährigen des Jahres 2030 und somit<br />
des (kernfamilialen) Betreuungspotenzials der Hochbetagten, hatten nicht mehr als 6% e<strong>in</strong>e<br />
Stiefmutter, e<strong>in</strong>en Stiefvater oder beide. Ernsthafte, wie immer beschaff ene, Patchworkfamilien-<br />
E<strong>in</strong>fl üsse wird man somit <strong>für</strong> die sehr Alten der mittleren Zukunft schon wegen des bis dah<strong>in</strong><br />
noch ziemlich ger<strong>in</strong>gen Verbreitungs grades <strong>in</strong> deren Familien nicht erwarten können.<br />
Das <strong>in</strong> den österreichischen Generationen-Untersuchungen gefundene und immerh<strong>in</strong> über e<strong>in</strong>en<br />
7-Jahres-Zeitraum h<strong>in</strong>weg als außerordentlich stabil erwiesene Solidaritätspotenzial und se<strong>in</strong>e<br />
Realisation erlauben auch Optimismus, was die emotionalen Komponenten betriff t. Gerade die<br />
Hochbetagten haben jedenfalls nach eigenem Bekunden <strong>in</strong> besonders hohem Maße von Hilfen<br />
profi tiert, und nichts spricht <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Rückgang, soweit er von den familialen B<strong>in</strong>dungen und<br />
233
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
anerkannten Normen bed<strong>in</strong>gt würde. Hilfe und Unterstützung seitens der Eltern, wie sie etwa<br />
im materiell-fi nanziellen Bereich geleistet wird, wird ke<strong>in</strong>eswegs als bloße Erfüllung e<strong>in</strong>er Elternpfl<br />
icht gesehen. Drei Viertel aller Erwachsenen sprechen sich da<strong>für</strong> aus, dass Eltern „möglichst<br />
viel von dem, was sie bes itzen bzw. an Geld verdienen, eher da <strong>für</strong> verwenden (dürfen), sich<br />
selbst e<strong>in</strong> ang enehmes Lebens zu machen“ statt „möglichst viel davon ihren K<strong>in</strong>dern zu geben“<br />
(19%). Für dieses Zugeständnis treten Jüngere wesentlich häufi ger e<strong>in</strong> als Ältere: 81% der<br />
31-45-Jährigen, aber nur 65% der über 60-Jährigen und mit 52% noch weniger die 80+Jährigen.<br />
Zwischen 1998 und 2005 gab es dabei nur wenig Änderu ng, allerd<strong>in</strong>gs gi lt das nic ht <strong>für</strong> die<br />
mittlere Altersgruppe der 46-60-Jährigen, deren Zustimmung zur ersteren Alternative von 81%<br />
auf 69% zurückg<strong>in</strong>g. Daraus e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>weis auf möglicherweise zunehmendes Spannungspotenzial<br />
erkennen zu wollen, wäre jedoch vorschnell, denn es könnte sich daraus ebenso gut sogar<br />
e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensivierte Unterstützungshaltung gegenüber ihrer K<strong>in</strong>dergeneration wie e<strong>in</strong> häufi gerer<br />
Anspruch an ihre Elterngeneration herauslesen lassen. Die E<strong>in</strong>stellung gegenüber der Familie<br />
ist ebenfalls stabil auf äußerst hohem Niveau positiv, vor allem aber: diese Haltung gilt <strong>für</strong> alle<br />
Altersgruppen gleichermaßen. Im Rahmen des <strong>in</strong>ternationalen „Population Policy Acceptance<br />
Survey II“ im Jahr 2001 stimmten 91% der 20 und Mehrjährigen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> (Stichproben größe<br />
rund 2.000) dem Satz zu, dass es gut wäre, wenn <strong>in</strong> Zukunft dem Familienleben mehr Bedeutung<br />
zugemessen werden würde. Die Häufi gkeit der Bejahung variierte nur zwischen 87% bei<br />
den 20-24-Jährigen und 95% bei den 60+Jährigen (Gisser [Hg] 2003: 83). Im Jahr 1996 war das<br />
Ergebnis bei dieser Fr age fast gleich g ewesen. Die große eu ropäische vergleichende SHARE-<br />
Studie kommt ebenfalls zum Schluss, dass gegenwärtig und <strong>in</strong> näherer Zukunft gilt, dass die<br />
Familie immer noch e<strong>in</strong> „strong provider of <strong>in</strong>stitutional and everyday <strong>in</strong>tegration“ (Kohli et al.<br />
2005: 170) sei. Die multigenerationelle Struktur der Familie sei nach wie vor stabil.<br />
Konsequenzenreich wäre – und wird letztlich auch se<strong>in</strong> – der Strukturwandel der immer ger<strong>in</strong>ger<br />
werdenden Zahl der (erwachsenen) K<strong>in</strong>der, <strong>in</strong>sbesondere die zunehmende K<strong>in</strong>derlosigkeit. Gerade<br />
<strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht s<strong>in</strong>d die im Jahr 2030 Hochbetagten <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> jedoch nicht defi zitär,<br />
im Gegenteil. Sie, die Baby-Boom-Generation der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre,<br />
die e<strong>in</strong>e besonders breite Hochbetagten-Kohorte um das Jahr 2030 bilden werden, h aben wie<br />
kaum e<strong>in</strong>e andere Generation <strong>für</strong> e<strong>in</strong> niedriges Niveau der K<strong>in</strong>derlosigkeit gesorgt. Die Frauen<br />
der Geburtsjahrgänge 1932 bis 1948, das s<strong>in</strong>d die heute 5 9-75-Jährigen und im Jahr 20 30 die<br />
82 und Mehrjährigen, erreichten mit nur 12% endgültig K<strong>in</strong>derlosen e<strong>in</strong>en Niedrigstwer t. Vom<br />
re<strong>in</strong> quantitativen Töchterpotenzial her s<strong>in</strong>d sie besser abgestützt als die Generationen vor und<br />
nach ihnen (die Anteile der K<strong>in</strong>derlosigkeit steigen nach ihnen an: beim Geburtsjahrgang 1955<br />
auf 15%, bei den 1970 Geborenen auf 19% und den 1975 Geborenen, heute 32-Jährigen, 2030<br />
55-Jährigen werden 20% erwartet) (Sobotka 2005: 254). E<strong>in</strong>e europäische Studie, an der neun<br />
Länder (ohne <strong>Österreich</strong>) beteiligt waren („FELCIE“: Future Elderly Liv<strong>in</strong>g Conditions <strong>in</strong> Europe),<br />
errechnet sogar, dass bis 2030 vor allem der Anteil derjenigen Pfl egebedürftigen steigen wird, die<br />
über e<strong>in</strong>e Familie als Betreuungs potenzial verfügen. Das ist angesichts der überproportionalen<br />
Zunahme der Hochbetagten und der ständig wachsenden Lebenserwartung mit dem damit verbundenen<br />
Risiko der Pfl egebedürftigkeit ebenso bedeutsam wie erstaunlich. Für Deutschland wird<br />
prognostiziert, dass „vor allem die Zahl der Frauen <strong>in</strong> denjenigen Personen gruppen am meisten<br />
234
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
steigt, die am wenigsten anfällig <strong>für</strong> <strong>in</strong>stitutionelle Hilfe s<strong>in</strong>d: Im Jahre 2000 h atten 13 Prozent<br />
der Frauen e<strong>in</strong>en Partner und m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, im Jahr 2030 werden dies 28 Prozent se<strong>in</strong>“<br />
(Doblhammer et al. 2006: 3). E<strong>in</strong> ähnlicher Strukturwandel ist <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> zweifellos ebenfalls<br />
gegeben, entsprechende Daten stehen zur Zeit nicht zur Verfügung.<br />
9.4.2. Zukunft des gesamtgesellschaftlichen Generationenverhältnisses<br />
Nicht nur die Bevölkerung, auch Experten erwarten aufgrund des bevorstehenden demographischen<br />
und sozialstrukturellen Wandels e<strong>in</strong>e Zunahme der Spannungen zwischen Alt und Jung<br />
auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Besonders zwei Entwicklungen bewegen sich tatsächlich<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Richtung, die e<strong>in</strong> Anwachsen der Spannungen plausibel ersche<strong>in</strong>en lässt. Es s<strong>in</strong>d dies<br />
e<strong>in</strong>erseits die wachsenden Kosten <strong>für</strong> Pensionen, Gesundheitswesen und Pfl ege, andererseits<br />
die Umstrukturierung der Wählerschaft.<br />
Selbst wenn die Er wartung zutriff t, dass die ältere Generation im historischen Vergleich mit<br />
Gleichaltrigen früherer Jahrz ehnte im mer gesünder wird, muss <strong>in</strong>folge der weit überproportionalen<br />
Zunahme der Hochbetagten mit ihrem jedenfalls auch künftig hohen Pfl egebedürftigkeitsrisiko<br />
mit e<strong>in</strong>er erheblichen Steigerung der Gesundheits- und Pfl egekosten gerechnet<br />
werden, vom wachsenden Aufwand <strong>für</strong> die Pensionen ganz zu schweigen. Immer wieder wird<br />
schon jetzt von bestimmten Lobbys, Medien und Parteien mit H<strong>in</strong>weisen auf e<strong>in</strong>e Kündigung<br />
des „Generationenvertrags“ Stimmung gemacht (s. o.). H<strong>in</strong>ter diesem „Generationenkonfl ikt“<br />
verbergen sich allerd<strong>in</strong>gs vielfach ganz andere Kräfte. So wurde etwa <strong>in</strong> den US A Mitte der<br />
achtziger Jahre e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fl ussreiche Bewegung gegründet, die sich um die gegenüber den Alten<br />
benachteiligten anderen Bevölkerungsgruppen zu kümmern behauptete, um wieder "<strong>in</strong>tergenerationelle<br />
Gerechtigkeit" herzustellen: AGE (Americans for Generational Equity). Zentrale<br />
Botschaft von AGE war, die Alten würden bereits zu mächtig und zu kostspielig werden. Politökonomisch<br />
<strong>in</strong>teressant im H<strong>in</strong>blick auf AGE war allerd<strong>in</strong>gs die Tatsache, dass drei Viertel des<br />
Budgets von Firmen w ie General Dynamics, Rockwell International, TRW, U.S. Steel und ITT<br />
stammten – alles Konzerne, die großes Interesse daran hatten, die politische Diskussion vom<br />
Thema Verteidigungsausgaben und Besteuerung der Konzerne auf Themen wie Social Security<br />
und Alte umzudirigieren (Kaplan 1987). Weitere Unterstützung <strong>für</strong> AGE kam von Banken<br />
und Versicherungsgesellschaften, die <strong>in</strong> Form von vermehrten privaten Pensions vorsorgen<br />
von jeglicher E<strong>in</strong>schränkung der Social Security profi tieren würden (Wisensale 1988: 774).<br />
„Generationenkonfl ikt“ hat also nicht notwendigerweise generationenspezifi sche Ursachen,<br />
nichtsdestoweniger können andere Interessen allfällige Generationenspannungen <strong>für</strong> ihre<br />
Zwecke mobilisieren und anfachen.<br />
Die im November 2007 im Zuge der Pensionsanpassung <strong>für</strong> 2008 aufgefl ammten Diskussionen über<br />
das richtige („gerechte“) Maß an Erhöhung der Pensionen zeigten aber auch, wie leicht Neidgefühle<br />
angefacht werden könnten, die <strong>in</strong> Generationenkonfl ikte umzuschlagen drohen. Wenig sensible<br />
öff entliche Äußerungen von Experten („Man sägt am Gener ationenvertrag“, „Anschlag auf die<br />
jüngere Generation“) s<strong>in</strong>d durchaus geeignet, das Klima zwischen Alt und Jung zu beschädigen.<br />
235
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
Gerade <strong>für</strong> die Gruppe der Hochbetagten könnte die Kostenfrage <strong>in</strong> Zukunft über die P ensionsfrage<br />
h<strong>in</strong>aus Überlegungen und Ause<strong>in</strong>andersetzungen auslösen, deren K onsequenzen<br />
schwerwiegend wären. Die Rationierung von Gesundheitsleistungen ab e<strong>in</strong>em bestimmten<br />
Alter ist <strong>in</strong> m anchen Ländern bereits Realität, diskutiert wird sie überall, immer u nter Bezug<br />
auf Alterskriterien. Wie e<strong>in</strong> übernächster Schritt <strong>in</strong> diese Richtung aussehen könnte, zeigt das<br />
folgende Zitat: „Angesichts des Sachverhalts, dass die letzte Lebensphase immer häufi ger im<br />
Krankenhausbehandlung verbracht wird, wobei die mit E<strong>in</strong>satz der verfügbaren mediz<strong>in</strong>ischen<br />
und technischen Mittel erzielten Verlängerungen der L ebensdauer um Tage oder Wochen oft<br />
von sehr zweifelhafter Lebensqualität s<strong>in</strong>d, drängt sich die <strong>in</strong> Deutsch land noch weitgehend<br />
tabuisierte Frage nach möglichen Sterbehilfen auf, nicht nur unter dem Aspekt möglicher Kostene<strong>in</strong>sparungen,<br />
sondern vor allem auch unter dem Aspekt von palliativmediz<strong>in</strong>ischen Mitteln<br />
und mehr mitmenschlicher Zuwendung“ (Scherl 2003: 101).<br />
In engem Zusammenhang mit e<strong>in</strong>em allfälligen Alt-Jung-Konfl ikt um knappe Res sourcen steht die<br />
Be<strong>für</strong>chtung e<strong>in</strong>er politischen Machtübernahme durch „die Alten“. Die Frage, wie wahrsche<strong>in</strong>lich<br />
es ist, dass „die zukünftige Politik der reichen post<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaften von e<strong>in</strong>em<br />
Verteilungskonfl ikt zwischen pensionierten Alten und erwerbstätigen Jungen geprägt se<strong>in</strong> wird“<br />
(Streeck 2007: 284), welcher vor dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>er politischen Machtergreifung der Älteren<br />
stattfi nden könnte, stellt sich <strong>für</strong> Wolfgang Streeck unter den Bed<strong>in</strong>gungen dreier Entwicklungen:<br />
1. dem massiven Altern der Bevölkerung (Streeck verwendet den unglücklichen Begriff der<br />
„Überalterung“)<br />
2. der Demokratisierung – wobei e<strong>in</strong> <strong>in</strong>sbesondere die Durchsetzung bzw. Ausübung des<br />
allgeme<strong>in</strong>en Wahlrechts me<strong>in</strong>t –, und<br />
3. der E<strong>in</strong>richtung des modernen Wohlfahrtsstaats (Streeck 2007: 282).<br />
Nicht mehr w ie beim k lassischen Generationenkonfl ikt der Moderne die u nterschiedlichen<br />
Lebensstile und Werthaltungen wären nach Streeck die treibende Kraft da<strong>für</strong>, sondern e<strong>in</strong> „politisch-ökonomischer<br />
Konfl ikt zwischen Gruppen mit widerstreitenden E<strong>in</strong>kommens<strong>in</strong>teressen“<br />
(Streeck 2007: 284 f) könnte nunmehr Alt und Jung entzweien. Und <strong>in</strong> diesem Konfl ikt hätten<br />
die Alten aufgrund der demokratischen Wahlmechanismen die besseren Karten, weil sie – <strong>in</strong><br />
wachsender Zahl – mit Hilfe des allgeme<strong>in</strong>en Wahlrechts ihre „Rentiers<strong>in</strong>teressen“ gegen e<strong>in</strong>e<br />
schrumpfende Zahl der noch aktiven Jüngeren durchsetzen könnten (ebenda). Es frage sich, ob<br />
dies tatsächlich bevorstehe.<br />
Überlegungen dieser Art s<strong>in</strong>d nicht neu. Schon Anfang der 1990er Jahre wandte Johann Michael<br />
Gleich dagegen e<strong>in</strong>, dass der Streit um Ressourcen nur e<strong>in</strong>e notwendige, aber ke<strong>in</strong>e h<strong>in</strong>reichende<br />
Bed<strong>in</strong>gung <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en solchen Konfl ikt bildet. Dazu wäre darüber h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>e Art kollektives<br />
Bewusstse<strong>in</strong> der e<strong>in</strong>zelnen Generationen erforderlich, welches aber zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> Europa – im<br />
Gegensatz zu den USA – nicht gegeben wäre (Gleich 1992: 142). So kann aus dem Wahlverhal-<br />
236
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
ten der älteren Men schen, und erst recht aus ihren sonstigen politischen Beteiligungsformen<br />
(bisher) ke<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis auf Tendenzen zu e<strong>in</strong>er organisierten Interessenwahrnehmung gewonnen<br />
werden. Aktive "senior power", die dann zum akuten Generationenkonfl ikt führen könnte, wäre<br />
derzeit nicht auszumachen Gleich 1992: 148).<br />
Für e<strong>in</strong>en Generationenkonfl ikt wäre <strong>in</strong>des e<strong>in</strong>e kämpferisch organisierte Altenmacht gar nicht<br />
notwendig. Die bloße Tatsache e<strong>in</strong>es wachsenden Wählerpotenzials, auf das ke<strong>in</strong>e Partei verzichten<br />
können und wollen wird, macht die Zukunft des Generationenverhältnisses riskanter. Die<br />
60+Jährigen machen heute (2006) 27% der Wahlberechtigten aus, im Jahr 2030 wer-den es 37%<br />
se<strong>in</strong>. Bekanntlich ist bei der älteren Generation die Wahlbeteiligung sehr hoch – <strong>in</strong> diametralem<br />
Gegensatz zur Jugend. Gleichzeitig wird man bedenken müssen, dass die Altengeneration(en)<br />
des Jahres 2030 und danach immer wenig er jenen Altengenerationen gleichen werden, die<br />
heute noch da s Bild vom älteren oder alten Menschen dom<strong>in</strong>ieren: Eher bescheiden, ruhig,<br />
defensiv, konfl iktscheu und eher anspruchslos. Es s<strong>in</strong>d dann die wesentlich höher gebildeten,<br />
gesünderen, rüstigeren, fi tteren Angehörigen des Zeitalters der „68er“ – konfl iktfähig und besser<br />
imstande, sich ihren Interessen dienlich zu verhalten. Eben das werden die politischen Parteien<br />
e<strong>in</strong>kalkulieren. Die Gefahr <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en gesamtgesellschaftlichen Alt-Jung-Konfl ikt liegt daher nicht<br />
im Aufkommen e<strong>in</strong>er mächtigen „Altenpartei“, wie sie gelegentlich beschworen wird, sondern<br />
im wählerstimmenorientierten Verhalten der politischen Parteien. In den USA beispielsweise<br />
gilt bereits jetzt der politische Issue „Rentensystem“ als „third rail of American politics: Touch<br />
it and you’ re dead“ (Streeck 2007: 291 ). 4<br />
Ohne <strong>in</strong> solchen Konfl iktszenarios selber e<strong>in</strong>e dom<strong>in</strong>ierende Rolle zu spielen, wären die Hochbetagten<br />
überwiegend negativ Betroff ene. So zeigen beispielsweise Guger und Mayrhuber <strong>in</strong><br />
ihrem Beitrag zu diesem Band, dass gerade sie durch die Pensionsreform <strong>in</strong> erhöhtem Maße <strong>in</strong><br />
Rückstand geraten, e<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong>folge der niedrigeren Antrittspensionen, andererseits als Folge<br />
der Verr<strong>in</strong>gerung der jährlichen Pensionsanpassung, wodurch ihr Lebensstandard Gefahr laufe,<br />
„nach und nach immer weiter h<strong>in</strong>ter jenen der aktiven Bevölkerung und der 'Neupensionist/<br />
<strong>in</strong>nen’ zurückzufallen.“ (Guger & Mayrhuber). Mit diesem fi nanziellen Zurückbleiben wäre zudem<br />
e<strong>in</strong>e Beschränkung ihrer Möglichkeiten verbunden, der K<strong>in</strong>der- und Enkelgeneration materielle<br />
Zuwendungen – sei es <strong>in</strong> Notlagen und Notfällen, sei es bloß zur Bestätigung und Befestigung<br />
der Beziehung – zu machen (Weber et al. 2005: 38). Selbst ganze Teams von „Zukunftsexperten“<br />
tun sich allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> der auch nur mittelfristigen E<strong>in</strong>schätzung der Zukunft <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht<br />
schwer. So prognostiziert e<strong>in</strong> Wissen schaftler-Team <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> im Jahr 2025 e<strong>in</strong>erseits, dass<br />
die „Omas und Opas“ wegen der absehbar ger<strong>in</strong>geren E<strong>in</strong>kommen „nicht mehr ebenso viel <strong>für</strong> ihre<br />
Enkel zuschießen (werden) wie bisher“ und dass man „die Alten immer mehr als gesellschaftliche<br />
Last empfi nden werde“, gleichzeitig wird aber festgestellt, dass „<strong>für</strong> die nachkommende junge<br />
Generation (…) erst mals <strong>in</strong> der Gesc hichte namhafte Erbschaften anfallen“ werden (V eselsky<br />
4 Die „dritte Schiene“ ist <strong>in</strong> den USA bei den U-Bahnen die stromführende Schiene.<br />
237
GENERATIONENSOLIDARITÄT UND GENERATIONENKONFLIKT IM HÖHEREN ALTER<br />
2006: 122 und 124). Da diese wohl nur von jenen „Opas und Omas“ stammen können, ist schwer<br />
nachzuvollziehen, weshalb die nachfolgenden Generationen sich dieser Form e<strong>in</strong>es Transfers von<br />
Alt zu Jung nicht bewusst se<strong>in</strong> sollten, was mit dem zunehmenden Empfi nden e<strong>in</strong>er Last schwer<br />
vere<strong>in</strong>bar ersche<strong>in</strong>t. Immerh<strong>in</strong>, auch das zeigten unsere Generationen-Untersuchungen, s<strong>in</strong>d<br />
54% der <strong>Österreich</strong>er/<strong>in</strong>nen der Me<strong>in</strong>ung, es spiele das Erben bzw. das H<strong>in</strong>terlassen von Sparbüchern<br />
oder sonstigem Vermögen <strong>für</strong> das Verhältnis zwischen den Generationen e<strong>in</strong>e gewisse<br />
oder sogar e<strong>in</strong>e sehr wichtige Rolle, wobei dieser Prozentsatz mit dem Alter deutlich ansteigt:<br />
bei den bis 40-Jährigen ist es knapp die Hälfte, bei 81+Jährigen bereits 72%. Daher hält es auch<br />
gut die Hälfte aller erwachsenen <strong>Österreich</strong>er/<strong>in</strong>nen (bzw. zwei Drittel aller Hochbetagten) <strong>für</strong><br />
e<strong>in</strong>e gute Idee, wenn ältere Menschen ihren K<strong>in</strong>der zu verstehen geben, dass die Aufteilung des<br />
Erbes danach ausfallen werde, wer ihnen im Alter am meisten geholfen haben wird.<br />
Vor dem H<strong>in</strong>tergrund solcher Befunde ist daher wohl eher der Schlussfolgerung des Allensbacher<br />
Instituts <strong>für</strong> Demoskopie zuzustimmen, dass die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit von Verteilungskonfl<br />
ikten durch die beobachtbaren Zusendungen der Eltern und Großeltern an K<strong>in</strong>der und Enkel<br />
verr<strong>in</strong>gert werde. Durch die <strong>in</strong> den n ächsten Jahrzehnten <strong>in</strong> vielen Familien „noch e<strong>in</strong>mal“ zu<br />
erwartenden beträchtlichen Erbschaften und Vermögensüberschreibungen könnten, so die<br />
Zukunftsperspektive, „viele Jüngere beim Blick auf die eigenen wirtschaftlichen Aussichten<br />
eher zuversichtlich se<strong>in</strong>, selbst wenn sie beim Blick auf die Aussichten ihrer Generation eher<br />
schwarzsehen“ (Forum Familie stark machen 2006: 274). Für Optimismus über 2030 h<strong>in</strong>aus gibt<br />
es derzeit allerd<strong>in</strong>gs kaum Anhaltspunkte.<br />
238
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242
10. HOCHALTRIGE MIGRANT/INNEN<br />
CHRISTOPH REINPRECHT<br />
10.1. E<strong>in</strong>leitung<br />
HOCHALTRIGE MIGRANT/INNEN<br />
Die hochaltrige Bevölkerung ist durch vielfältige, wenngleich unterschiedlich gut identifi zierbare<br />
Spuren der österreichi schen Migrationsgeschichte geprägt. Zerfall der Mon archie und erster<br />
Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise und NS-Herrschaft, politische Neuordnung Europas und Wirtschaftsaufschwung<br />
der Nachkriegszeit mit wachsender <strong>Arbeit</strong>skräftenachfrage – das vergangene<br />
Jahrhundert war e<strong>in</strong> Zeitalter der Migration: von Exilierung und Flucht, aber auch von freiwilliger<br />
Aus- und E<strong>in</strong>wanderung. Die Hochbetagten s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Abbild dieser Geschichte. Demographisch<br />
gesehen umfassen sie Autochthone sowie aus unterschiedlichen europäischen und außereuropäischen<br />
Regionen Zugewanderte; historisch-soziologisch schließen sie auch die Abwesenden<br />
e<strong>in</strong>, wie etwa die vom NS-Regime vertriebenen und ermordeten österreichischen Juden.<br />
Die sozialgerontologische Literatur, die migr ationsbezogene Fragestellungen bislang wenig<br />
berücksichtigt hat, konstatiert seit e<strong>in</strong>iger Zeit e<strong>in</strong>e „fortschreitende kulturelle Ausdiff erenzierung<br />
des Alters und des Alterns“ (Olbermann 1995). Die vermehrte Aufmerksamkeit <strong>für</strong> diesen<br />
Aspekt des Altersstrukturwandels gilt jedoch primär dem Älterwerden der ersten Generation der<br />
<strong>Arbeit</strong>smigration, während andere Migrationen, aber auch spezielle Aspekte des Älterwerdens<br />
im Migrationskontext, und dazu zählt auch das Thema Hochaltrigkeit, kaum wahrgenommen<br />
werden. Wie <strong>in</strong> diesem K apitel dokumentiert wird, gleicht die Sichtung von Materialien zur<br />
Lebenssituation von migrantischen Hochbetagten <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> e<strong>in</strong>e r Lückendetektion. Es<br />
fehlt an e<strong>in</strong>schlägigen Forschungen und zuverlässigen Sozialstatistiken; auch <strong>in</strong>ternational ist<br />
empirisch gesichertes Wissen rar. Der folgende Bericht ist so aufgebaut, dass, im Anschluss an<br />
e<strong>in</strong>e Präzisierung der verwendeten Begriffl ichkeit, zuerst wichtige E<strong>in</strong>sichten und Thesen der<br />
<strong>in</strong>ternationalen For schungsliteratur zusammengefasst und daran anschließend die verfügbaren<br />
empirischen Wissensbestände <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> aufgearbeitet werden. Im A usblick wird der<br />
Forschungs- und Handlungsbedarf umrissen.<br />
10.1.1. Präzisierung der Begriffl ich keit<br />
Im Unterschied zu ihrem veralltäglichten, häufi g emotional aufgeladenen und ideologisierten<br />
Gebrauch beschreiben die Begriff e „Migration“ und „MigrantIn“ <strong>in</strong> den Sozialwissenschaften<br />
das nüchterne Faktum räumlicher Mobilität. Im Zusammenhang mit unserer Thematik ersche<strong>in</strong>en<br />
drei zusätzliche Präzisierungen unerlässlich:<br />
Erstens: Der Ausdruck „hochaltrige Migrant/<strong>in</strong>nen“ komb<strong>in</strong>iert das Merkmal Lebensalter mit<br />
der Erfahrung <strong>in</strong>ternationaler bzw. grenzüberschreitender Wanderung. Der Begriff bezieht sich<br />
somit auf die Gesamtheit der <strong>Hochaltrige</strong>n, die außerhalb <strong>Österreich</strong>s geboren und im Laufe<br />
ihres Lebens nach <strong>Österreich</strong> zugewandert s<strong>in</strong>d. Obwohl häufi g gleichgesetzt, ist der Begriff<br />
243
HOCHALTRIGE MIGRANT/INNEN<br />
Migrant/<strong>in</strong>nen nicht identisch mit „Gastarbeitern“; diese umfassen e<strong>in</strong>e Teilmenge der migrantischen<br />
Bevölkerung.<br />
Zweitens: Soziale Kategorisierungen verleiten vielfach dazu, Ähnlichkeiten nach <strong>in</strong>nen und Differenzen<br />
nach außen überzubewerten. So regt auch der Begriff hochaltrige Migrant/<strong>in</strong>nen dazu<br />
an, Zugewanderte als e<strong>in</strong>e homogene Gruppe zu betrachten, und zwar <strong>in</strong> Relation zur ebenfalls<br />
homogenisierten Kategorie der nicht -migrantischen (Mehrheits-)Bevölkerung. Wie Brubaker<br />
(2002) nachdrücklich gezeigt hat, ist diese Art „Groupismus“ nicht nur e<strong>in</strong> fester Bestandteil<br />
von Alltagstheorien, sondern fl ießt auch <strong>in</strong> sozialwissenschaftliche Ordnungsschemata e<strong>in</strong>. Die<br />
Kategorie der hochaltrigen Migrant/<strong>in</strong>nen bildet jedoch ke<strong>in</strong>e homogene Bevölkerungsgruppe<br />
ab. Neben nationaler Herkunft und kulturell-religiösem H<strong>in</strong>tergrund, Geschlecht und Sozialstatus<br />
stellen <strong>in</strong>sbesondere auch migrationsbezogene Faktoren wie Zeitpunkt, Motiv und Kontext der<br />
Migration, Aufenthaltsdauer und aufenthaltsrechtlicher Status sowie der Grad der strukturellen,<br />
sozialen und kulturellen Integration relevante Diff erenzierungsmerkmale dar.<br />
Drittens: Der Begriff des Migranten stellt auf das Merkmal der Wanderung ab, nicht aber auf<br />
den Bürgerschaftsstatus. Der Ausdruck hochaltrige Migrant/<strong>in</strong>nen umfasst die Ges amtheit<br />
der Hochbetagten mit Migrationserfahrung, unabhängig davon, ob der/die e<strong>in</strong>zelne über e<strong>in</strong>e<br />
ausländische Staatsbürgerschaft verfügt oder die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen<br />
hat, also e<strong>in</strong>gebürgert ist. Im Unterschied dazu orientiert sich die amtliche Statistik<br />
am Staatsbürgerschaftskonzept, sie bezieht sich also nur auf e<strong>in</strong>e spezifi sche Teilmenge der<br />
hochaltrigen Migrant/<strong>in</strong>nen, während E<strong>in</strong>gebürgerte, die naturgemäß der Kategorie der <strong>Österreich</strong>er/<strong>in</strong>nen<br />
zugeordnet werden, aus der Statistik verschw<strong>in</strong>den bzw. unsichtbar gemacht<br />
werden (Re<strong>in</strong>precht 2003). Die mit Migration verbundenen Besonderheiten und Prozesse – etwa<br />
von sozialer Mobilität oder von Benachteiligung aufgrund nationaler Herkunft und ethnischer<br />
Zugehörigkeit – werden freilich durch e<strong>in</strong>en Wechsel der Staatsbürgerschaft nicht automatisch<br />
außer Kraft gesetzt. Für jede diff erenzierte Analyse ist es daher unentbehrlich, e<strong>in</strong>gebürgerte<br />
Zuwanderer mit e<strong>in</strong>zubeziehen.<br />
10.2. Internationale Literatur, Forschungsstand<br />
Die Hochaltrigkeit von migrantischen und ethnischen M<strong>in</strong>derheiten bildet <strong>in</strong> der <strong>in</strong>ternationalen<br />
Fachliteratur bislang eher e<strong>in</strong> Randthema. Die wenigen Forschungen und Publikationen stammen<br />
aus den klassischen E<strong>in</strong>wanderungsländern wie USA, Israel oder Kanada, wobei auch <strong>in</strong><br />
diesen Ländern die Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der Thematik erst spät e<strong>in</strong>setzte. In den USA etwa<br />
widmet sich die Forschung zwar ab den 1970er Jahren vermehrt dem Altern von ethnischen bzw.<br />
rassischen M<strong>in</strong>derheiten, ohne vorerst jedoch generell von e<strong>in</strong>er kulturellen Diversifi zierung des<br />
Alterns zu sprechen, sowie zumeist mit Fokussierung auf das Thema der Pfl ege. Das allgeme<strong>in</strong>e<br />
Phänomen des „brown<strong>in</strong>g of the gray<strong>in</strong>g of America” (Hayes-Bautista et al. 2002) rückte erst<br />
gegen Ende des 20. Jahrhunderts <strong>in</strong> den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Von diesem Perspektivenwandel<br />
ist e<strong>in</strong> Großteil der Forschungsarbeiten geprägt.<br />
244
HOCHALTRIGE MIGRANT/INNEN<br />
Aus der <strong>in</strong>ternationalen Literatur lassen sich fünf Themenbereiche bzw. Thesen herausfi ltern,<br />
die im H<strong>in</strong>blick auf die Analyse der Hochaltrigkeit von Migrant/<strong>in</strong>nen bedeutsam s<strong>in</strong>d und die<br />
im Folgenden kurz skizziert werden sollen: (a) Verdichtung d er Problemlagen und prekäres<br />
Altern; (b) Zentralität des Familien- und Verwandtschaftssystems; (c) ethnischer Rückzug und<br />
Insulation; (d) Gesundheitsressourcen und „healthy migrant eff ect“; (e) spezielle Pfl ege- und<br />
Betreuungsbedürfnisse.<br />
10.2.1. Verdichtung der Problemlagen und prekäres Altern<br />
Seit den klassischen <strong>Arbeit</strong>en von Dowd und Bengtson (1978) werden Alter und Ethnizität als<br />
sich wechselseitig verstärkende Risikofaktoren behandelt. Nach der „double jeopardy“-These<br />
wirkt der M<strong>in</strong>derheitsstatus verstärkend auf die mit dem Alter ohneh<strong>in</strong> verbundenen Risiken.<br />
Für dieses Ine<strong>in</strong>andergreifen und Aufe<strong>in</strong>anderwirken von alterns- und m<strong>in</strong>derheitsbezogenen<br />
Faktoren liegen überzeugende empirische Evidenzen vor (vgl. im Überb lick Markides 1983).<br />
Dieser Ansatz hat sich auch <strong>für</strong> die Analyse migrantischen Alterns als fruchtbar erwiesen. Die<br />
<strong>in</strong> vielen Studien empirisch aufgewiesene Verwundbarkeit <strong>in</strong> den Bereichen materielle Ressourcen<br />
(E<strong>in</strong>kommen und Wohnen), Gesundheit und gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten<br />
lässt sich derart als e<strong>in</strong>e Folge der Randständigkeit am <strong>Arbeit</strong>smarkt und <strong>in</strong> der Gesellschaft<br />
erklären, der vor allem <strong>Arbeit</strong>smigrant/<strong>in</strong>nen überproportional ausgesetzt s<strong>in</strong>d (vgl. <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong><br />
Re<strong>in</strong>precht 2006, <strong>für</strong> Deutschland Öczan & Seifert 2006, <strong>für</strong> Frankreich Attias-Donfut [Hg].<br />
2006). Insbesondere <strong>in</strong> der Ph ase der Hochaltrigkeit bee<strong>in</strong>trächtigt die Erfahrung von Armut,<br />
<strong>in</strong>stitutioneller Benachteiligung und gesellschaftlicher Isolation die Möglichkeit <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e selbst<br />
be stimmte Lebensführung und Problembewältigung (vgl. Angel & Angel 2006).<br />
Migration, Ethnizität und Hochaltrigkeit stehen allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em mechanischen Wechselverhältnis<br />
zue<strong>in</strong>ander, das Zusammentreff en dieser Merkmale setzt nicht zwangsläufi g e<strong>in</strong>en<br />
Deprivationskreislauf <strong>in</strong> Gang. Entscheidend s <strong>in</strong>d vielmehr sozialstrukturelle Platzierung und<br />
Integrationspfade: Erhöhte Vulnerabilität resultiert aus der sozialen Position (z. B. Unterschichtung<br />
im Falle der <strong>Arbeit</strong>smigration), dem bürgerrechtlichen Status, aber auch <strong>in</strong> Abhängigkeit<br />
von Geschlecht sowie von kontextbezogenen Faktoren (z. B. Änderungen <strong>in</strong> der Migrationspolitik,<br />
<strong>in</strong>tegrationspolitische Diskurse). Unter dem Gesichtspunkt der Schicht- und Klassenlage<br />
ist deshalb mitunter von e<strong>in</strong>er „triple jeopardy“, unter E<strong>in</strong>beziehung des gender Aspekts von<br />
e<strong>in</strong>er „quadruple jeopardy“ die Rede (Blakemore & Boneham 1994).<br />
10.2.2. Zentralität des Familien- und Verwandtschaftssystems<br />
Im Migrationskontext werden an den Solidarzusammenhang der Familie zahlreiche überlebensnotwendige<br />
Funktionen herangetragen, etwa sozi ale, funktionale und emotionale Unt erstützungs-<br />
oder Schutzbedürfnisse vor Umweltrisiken und gesellschaftlicher Stigmatisierung. Im<br />
höheren Alter gew<strong>in</strong>nen Familie und Verwandtschaft als „networks of necessity“ (Litw<strong>in</strong> 1997:<br />
45) weiter an Gewicht. Auch migrantische <strong>Hochaltrige</strong> erhalten Hilfe und Unterstützung im Falle<br />
von Alltagsbee<strong>in</strong>trächtigungen, Krankheit oder Pfl ege überwiegend von anderen Familienmit-<br />
245
HOCHALTRIGE MIGRANT/INNEN<br />
gliedern, zumeist Frauen (<strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> zeigt dies z. B. Kremla 2005). In vielen migrantischen<br />
Milieus existiert darüber h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>e von starken Verpfl ichtungsnormen getragene Solidarität<br />
der Generationen, die K<strong>in</strong>der und Jugendliche der nachfolgenden Generationen <strong>in</strong> das familiäre<br />
Stützungs system e<strong>in</strong>b<strong>in</strong>det (vgl. etwa Nauck 2004, Lorenz-Mayer & Grotheer 2000). Zudem<br />
erfüllt die Familie <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf den mit dem Älterwerden verbundenen Anerkennungsverlust<br />
e<strong>in</strong>e kompensatorische Funktion, <strong>in</strong>dem sie im R ahmen der f amiliären <strong>Arbeit</strong>steilung den<br />
Älteren neue Rollen zuweist, welche S<strong>in</strong>n und Wertschätzung vermitteln, etwa <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf<br />
die Übernahme von nützlichen Aufgaben (z. B. En kelk<strong>in</strong>deraufsicht) oder den Transfer von<br />
Werten, Traditionen und Familienwissen. In e<strong>in</strong>er Befragu ng von 130 Jugendlichen der 2. und<br />
3. Generation, die 2004 <strong>in</strong> Wien durchgeführt wurde, gab jeder dritte befragte Jugendliche an,<br />
persönliche Angelegenheiten mit e<strong>in</strong>er älteren familiären Bezugsperson zu besprechen, zwei<br />
Drittel der Befragten br<strong>in</strong>gen dieser Person une<strong>in</strong>geschränkt Respekt entgegen, fast alle s<strong>in</strong>d<br />
davon überzeugt, von den Alten <strong>in</strong> der Familie lernen zu können und identifi zieren sich positiv<br />
mit deren Migrationsbiographie (Re<strong>in</strong>precht & Donat 2004).<br />
Internationale Forschungen berichten darüber, dass Migrant/<strong>in</strong>nen auch im hochbetagten Alter<br />
häufi ger <strong>in</strong> Mehrgenerationenhaus halten leben, wobei die Situation zwischen den migrantischen<br />
Gruppen variiert (vgl. Wilmoth 2001). Diese Lebensform stärkt die Fähigkeit zur Umweltadaptation<br />
und ermöglicht subjektives Wohlbefi nden trotz objektiver Restriktionen (vgl. Dietzel-Papakyriakou<br />
2005, Dietzel-Papakyriakou & Olbermann 1996). Die Kapazität der familiären Ressourcen<br />
sollte allerd<strong>in</strong>gs nicht idealisiert werden. Je prekärer und sozial isolierter die Lebenssituation,<br />
umso größer der Anforderungsdruck an das familiäre und ethnische Bezugssystem, aber auch<br />
die Ängste vor dessen Verletzbarkeit sowie vor Abhängigkeit und E<strong>in</strong>samkeit (vgl. Phillipson<br />
2001). Im höheren Alter büßt zudem auch <strong>in</strong> familial stabil <strong>in</strong>tegrierten Milieus das familiäre<br />
Stützungssystem an Dichte und Tragfähigkeit e<strong>in</strong> (vgl. dazu auch Perry & Johnson 1994).<br />
Hochaltrigkeit ist auch <strong>in</strong> migr antischen Populationen über wiegend weiblich, die Situation<br />
von betagten migrantischen Frauen aber bislang kaum erforscht (zur These der Fem<strong>in</strong>isierung<br />
der Hochaltrigkeit vgl. Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2000; zur<br />
Situation älterer Migr antInnen vgl. Dornhofer 2007, Matthäi 2006, P adgett 1989). Bisherige<br />
Studien weisen auf e<strong>in</strong>en hohen Anteil an Al le<strong>in</strong>stehenden h<strong>in</strong>, die über zerbrechliche Stützungsressourcen<br />
verfügen, <strong>in</strong>sbesondere geschiedene Frauen.<br />
10.2.3. Ethnischer Rückzug und Insulation<br />
Die familienzentrierte Lebensführung ist <strong>für</strong> die Bewältigung des hochbetagten Alters funktional<br />
und refl ektiert auch herkunftskulturell geprägte E<strong>in</strong>stellungen und Präferenzen (vgl. Keith et al.<br />
1994). <strong>Österreich</strong>ische Studien identifi zieren <strong>für</strong> ältere Migrant/<strong>in</strong>nen aus Südosteuropa und<br />
der Türkei e<strong>in</strong>e Zentralität von wir-gruppen-bezogenen, primär auf die Familie gerichteten Altersnormen<br />
(Re<strong>in</strong>precht 2006). Diese Vorstellungen s<strong>in</strong>d im Alltag verankerte, verhaltensrelevante<br />
Ressourcen, auf die auch im hohen Alter etw a <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf die Erzeugung von Gesundheit<br />
und (funktioneller) Selbstständigkeit zurückgegriff en werden kann (vgl. Warnes et al. 2004).<br />
246
HOCHALTRIGE MIGRANT/INNEN<br />
Im späten Leben kann der Rückbezug auf Ethnizität Wohlbefi nden erzeugen und wird deshalb<br />
auch als e<strong>in</strong>e R essource <strong>für</strong> e<strong>in</strong> er folgreiches Altern angesehen (vgl. Brockmann 2002). Der<br />
ethnische Rückzug bedeutet e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>wendung zu vertrauten sozialen Milieus und erleichtert<br />
die Bewältigung der <strong>in</strong>nerlich vielfach fremd g ebliebenen, im hohen Alter verstärkt wieder<br />
als gefährdend erlebten Umweltbed<strong>in</strong>gu ngen <strong>in</strong> der Aufnahmegesellschaft, zugleich können<br />
Identitätsbedürfnisse befriedigt werden. In diesem Zusammenhang ist auch von ethnischer<br />
Abschließung oder „ethnischer Insulation“ die Rede (vgl. Dietzel-Papakyriakou 1993). Dieser<br />
Aus druck ist jedoch <strong>in</strong>sofern irreführend, als es sich zumeist um e<strong>in</strong>en Rückzug <strong>in</strong> die Bez iehungszusammenhänge<br />
von Familie, Verwandtschaft und Nachbarschaft handelt (Valtonen<br />
2002), nicht aber um e<strong>in</strong>e Form ethnischer Vergeme<strong>in</strong>schaftung.<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus ist zu berücksichtigen, dass der ethnische Rückzug sich nicht unabhängig von<br />
den Integrationsbed<strong>in</strong>gungen der Aufnahmegesellschaft vollzieht. Forschungen zu den Alternsvorstellungen<br />
von Migrant/<strong>in</strong>nen zeigen, dass e<strong>in</strong>e stabile soziale Po sition und e<strong>in</strong> subjektiv<br />
positiver Migrationserfolg e<strong>in</strong> zufriedenes Älterwerden auch jenseits des ethnischen Rückzugs<br />
begünstigt (vgl. dazu Torres-Gil & Bikson-Moga 2001, Berdes & Zych 2000, <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> Re<strong>in</strong>precht<br />
2006). Die mit Altern generell verbundene Rekonstruktion des Lebenslaufs provoziert<br />
allerd<strong>in</strong>gs im Migrationskontext immer auch schmerzhafte Gefühle von Heimweh, Verlust und<br />
Nostalgie, was die Neigung zu ethnischem Rückzug fördert (vgl. Dietzel-Papakyriakou 2004).<br />
Erfolgreiches migrantisches Altern korrespondiert jedoch <strong>in</strong>sgesamt weniger mit Ethnizität als<br />
mit dem Vermögen, familiäre Ressourcen zu generieren und die geistig sowie körperlich e<strong>in</strong>geschriebenen<br />
Mobilitätspfade <strong>in</strong> e<strong>in</strong> stimmiges Selbstbild zu <strong>in</strong>tegrieren.<br />
10.2.4. Gesundheitsressourcen und „healthy migrant eff ect“<br />
Nach der so g enannten „healthy migrant These“ stellen migrantische Bevölkerungsgruppen<br />
e<strong>in</strong>e spezifi sche, jedenfalls mit überdurchschnittlichen Gesundheitsressourcen ausgestattete<br />
Auswahl der jeweiligen Herkunftspopulation dar. Selektive Eff ekte wirken sowohl auf <strong>in</strong>dividueller<br />
Ebene (Gesundheitsressourcen bee<strong>in</strong>fl ussen die jeder Wanderungs entscheidung zugrunde<br />
liegende Kosten-Nutzen-Kalkulation), als auch auf systemischer Ebene (Gesundheit bildet e<strong>in</strong><br />
wesentliches Kriterium <strong>für</strong> die Rekrutierung, vor allem der <strong>Arbeit</strong>smigration). Diese Grundausstattung<br />
mit Gesundheitsressourcen wirkt auf Morbiditätsrisiko und Lebenserwartung positiv;<br />
<strong>für</strong> E<strong>in</strong> wanderungspopulationen werden daher , im Vergleich zur autochthonen Bev ölkerung,<br />
teilweise ger<strong>in</strong>gere Morbiditätsraten sowie e<strong>in</strong>e höhere L ebenserwartung nachgewiesen (vgl.<br />
Razum & Rohrmann 2002, Swallen 1997, Sharma et al. 1990).<br />
Die Möglichkeit, Gesundheitsressourcen im Aufnahmeland auf Dauer aufrecht zu erhalten und<br />
zu mobilisieren, ist jedoch <strong>in</strong> hohem Maße von sozio-ökonomischen E<strong>in</strong>fl ussfaktoren abhängig.<br />
Bei migrantischen Guppen <strong>in</strong> niedrigen Statuspositionen schw<strong>in</strong>det der Gesundheitsvorsprung<br />
im Zeitverlauf (Parakulam et al 1992, vgl. dazu auch Lechner & Mielck 1998). Epidemiologische<br />
Studien stützen diese Beobachtung. Es s<strong>in</strong>d vor allem körperlich belastende Erwerbstätigkeit,<br />
chronischer psychosozialer Stress, ungünstige und sozial segregierte Wohnverhältnisse sowie<br />
247
HOCHALTRIGE MIGRANT/INNEN<br />
ungesunde Lebensgewohnheiten, welche das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko von Migrant/<br />
<strong>in</strong>nen im Alter erhöhen (Williams & Coll<strong>in</strong>s 2001, Williams 1996).<br />
In der <strong>in</strong>ternationalen Literatur besteht Übere<strong>in</strong>stimmung, dass nicht das Faktum der Migrationssituation<br />
als solches <strong>für</strong> den Gesundheitsstatus verantwortlich ist, sondern die beschwerliche<br />
und die vorhandenen Ressourcen aufsaugende oder gar zerstörende Lebenssituation <strong>in</strong><br />
der Aufnahmegesellschaft (vgl. Biffl 2003, Weiss 2003, Carmel 2001, Ebrahim 1992). Nur bei<br />
dauerhafter Stabilisierung der sozialen Position kann noch im hohen Alter auf die ursprünglich<br />
reichlich vorhandenen Gesundheitsressourcen zurückgegriff en werden; verfestigte Prekarität<br />
schränkt diese h<strong>in</strong>gegen nachhaltig e<strong>in</strong>. Wie US-amerikanische Studien zeigen, s<strong>in</strong>d es oft die<br />
nachfolgenden Generationen, die <strong>für</strong> die hohen K osten, die mi t Migration verbunden s<strong>in</strong>d,<br />
aufkommen müssen; der Ge sundheitsstatus der zweiten und dritten Generation liegt etwa im<br />
Falle „segmentierter Assimilation“ unter jenem ihrer Eltern (vgl. dazu Portes & Rumbaut 2001).<br />
10.2.5. Spezielle Pfl ege- und Betreuungsbedürfnisse<br />
Der Zugang zu Hilfs- und Stützungsressourcen bildet <strong>für</strong> hochaltrige Migrant/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> spezifi scher<br />
Weise e<strong>in</strong>e Schlüsselfrage der Lebensgestaltung. Vor allem <strong>für</strong> Gruppen mit hoher Vulnerabilität,<br />
etwa ehemalige <strong>Arbeit</strong>smigrant/<strong>in</strong>nen, wird e<strong>in</strong> hoher Unterstützungsbedarf angenommen, der<br />
durch das Solidarsystem von Familie und Verwandtschaft, an das viele <strong>Hochaltrige</strong> auch bei<br />
chronischer Erkrankung und Pfl egebedürftigkeit ihre Hilfserwartungen richten, nicht befriedigt<br />
werden kann. Befragungen von Migrant/<strong>in</strong>nen deuten darauf h<strong>in</strong>, dass, ungeachtet der dom<strong>in</strong>ierenden<br />
Familienpräferenz, <strong>in</strong> Bezug auf die Versorgung mit extramuralen Diensten, teilweise aber<br />
auch <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf den stationären Bereich, durchwegs realistische Bedarfse<strong>in</strong>schätzungen<br />
überwiegen und die Inanspruchnahme entsprechender Dienste im Bedarfsfall gewünscht wird<br />
(Kienzl-Plochberger & Re<strong>in</strong>precht 2005, Kremla 2005, Re<strong>in</strong>precht 1999).<br />
Barrieren im Zugang zu den <strong>in</strong>stitutionellen Diensten und Hilfssystemen existieren auf <strong>in</strong>dividueller,<br />
vor allem aber auch auf systemischer Ebene (Dietz el-Papakyriakou & Ol bermann<br />
2001, Re<strong>in</strong>precht 2006: 201ff ). Zu den wichtigsten Problembereichen zählen, abgesehen von<br />
sozialrechtlichen Barrieren, Sprachdefi zite und Verständigungsschwierigkeiten, welche F ehldiagnosen<br />
und die „Medikamentisierung psychosozialer Probleme von Migranten“ (Schmacke<br />
2002) begünstigen. Weitere wichtige Barrieren s<strong>in</strong>d Ausbildungsdefi zite des Personals <strong>in</strong> E<strong>in</strong>richtungen<br />
der Altenarbeit und Pfl ege, ungenügende Kenntnisse migrantischer Lebensverhältnisse<br />
oder das Fehlen von Information <strong>in</strong> den Zielgruppensprachen. Seitens der Migrant/<strong>in</strong>nen<br />
besteht e<strong>in</strong> erheblicher Informations- und Orientierungsbedarf, um sich im komplexen System<br />
der Altenhilfe zurecht zu fi nden.<br />
Die im Kontext der Hochaltrigkeit zunehmend bedeutsamen Betreuungs- und Pfl egebedürfnisse<br />
s<strong>in</strong>d sowohl durch die Migr ationserfahrung als auch du rch kulturelle Vorstellungen geformt.<br />
Migrationsbiographisch geprägt ist etwa die Zentralität der Familienb<strong>in</strong>dungen, kulturell sozialisiert<br />
s<strong>in</strong>d unter anderem Vorstellungen von Altern, Körper, Krankheit und Tod. Den spezifi schen<br />
248
HOCHALTRIGE MIGRANT/INNEN<br />
Bedürfnisstrukturen hochaltriger Migrant/<strong>in</strong>nen entsprechen etwa Möglichkeiten des erweiterten<br />
Familienbesuchs oder Adaptationen und räumliche Re-Arrangements von Wasch- oder Aufenthaltsräumen.<br />
Gefordert wird vielfach e<strong>in</strong>e Adaptation und Erweiterung von Regelangeboten (die<br />
entsprechenden Stichworte lauten „kultursensible Pfl ege“ und „<strong>in</strong>terkulturelle Öff nung von<br />
sozialen Diensten“), aber auch die Entwicklung von zielgruppenspezifi schen Angeboten. Ziel<br />
ist <strong>in</strong> jedem Fall aber nicht die Ethnisierung von Angebotsstrukturen, sondern der Abbau von<br />
Barrieren <strong>in</strong> Information und Beratung, die E<strong>in</strong>bettung von Angeboten <strong>in</strong> vertraute Umwelten,<br />
die Qualifi zierung von Fachkräften oder die E<strong>in</strong>beziehung von muttersprachlichem und mit lebensweltlich<br />
relevantem H<strong>in</strong>tergrundwissen ausgestattetem Personal <strong>in</strong> den Bereichen Pfl ege<br />
und Betreuung (vgl. etwa WHO 2006, Kienzl-Plochberger & Re<strong>in</strong>precht 2005, B<strong>in</strong>der 2003).<br />
10.3. Migrantische Hochaltrigkeit <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
10.3.1. Methodologische Vorbemerkungen<br />
In <strong>Österreich</strong> beansprucht die Situation von hochaltrigen Migrant/<strong>in</strong>nen bislang de facto ke<strong>in</strong>e<br />
Aufmerksamkeit, obwohl, wie zu zeigen se<strong>in</strong> wird, immerh<strong>in</strong> gut jede/r zehnte über 75-Jährige<br />
über e<strong>in</strong>e Wanderungsbiographie verfügt 1 . E<strong>in</strong> Ausdruck wie „Buntheit des Alters“ bez ieht<br />
sich <strong>in</strong> der öff entlichen Debatte auf die Ausdiff erenzierung von Lebensstilen, nicht aber auf<br />
die Diversität unterschiedlicher nationaler Herkünfte, kultureller Prägungen, sprachlicher und<br />
religiöser Praktiken. Sofern der Zusammenhang von Altern und Migration überhaupt wahrgenommen<br />
wird, liegt der Fokus auf den Angehörigen der <strong>Arbeit</strong>smigration der 1960er und 1970er<br />
Jahre (e<strong>in</strong>schließlich der nachgewanderten Familienangehörigen); andere Immigrationen wie<br />
etwa die im K ontext der hi storisch-politischen Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
nach <strong>Österreich</strong> erfolgten Vertreibungen oder die Flucht hunderttausender Menschen aus den<br />
staatsozialistischen Diktaturen Ost- und Ostmitteleuropas bleiben ausgeklammert.<br />
Es ist wic htig zu sehen, d ass mit dieser Engführung auf die <strong>Arbeit</strong>skräftewanderung aus Ex -<br />
Jugoslawien und der Türkei nur knapp e<strong>in</strong> Fünftel der außerhalb <strong>Österreich</strong>s geborenen und im<br />
Laufe ihres Lebens zugewanderten <strong>Hochaltrige</strong>n erfasst wird (<strong>in</strong>sgesamt stammen 47% der <strong>in</strong><br />
<strong>Österreich</strong> lebenden Migrant/<strong>in</strong>nen aus Ex-Jugoslawien und der Türkei). Der Situation hochaltriger<br />
<strong>Arbeit</strong>smigrantInnen gilt vermehrt Aufmerk samkeit, weil es sich um e<strong>in</strong>e vielfach benachteiligte<br />
Gruppe handelt, deren Verletzbarkeit auch auf die Besonderheiten der <strong>Arbeit</strong>smigration<br />
zurückzuführen ist, wie Anwerbung und Auswahl (auch nach Gesundheitsstatus), Befristung<br />
und Rotation (Prozess von Anwerbung, Rückkehr und Neuanwerbung), Reglementierung des<br />
<strong>Arbeit</strong>smarktzugangs und Mobilitätssperre (ke<strong>in</strong> Zugang zu privilegierten <strong>Arbeit</strong>smärkten etwa<br />
der verstaatlichten Industrie; vgl. dazu Bauböck 1996, Münz & Fassmann 1995). Paradoxa wie<br />
1 Aufgrund der zahlenmäßig noch kle<strong>in</strong>en Population und der vorliegenden Forschungslage wird, im Unterschied zu den<br />
anderen Beiträgen, <strong>für</strong> die folgende Darstellung die untere Altersgrenze mit 75 Jahren festgelegt.<br />
249
HOCHALTRIGE MIGRANT/INNEN<br />
die „E<strong>in</strong>wanderung ohne E<strong>in</strong>wanderungs ent scheidung“ (Boos-Nünn<strong>in</strong>g 1990) oder die Rückkehrorientierung<br />
trotz Niederlassung (Dietzel-Papakyriakou 1993) spiegeln diese Er fahrung der<br />
Gastarbeit, <strong>in</strong> der das Altern als Lebensabschnitt weder von der Aufnahmegesellschaft noch<br />
den betroff enen Individuen vorgesehen war und <strong>in</strong>sofern e<strong>in</strong>e Art „Leerstelle“ (Re<strong>in</strong>precht 2006:<br />
32) darstellt, die das <strong>für</strong> <strong>Arbeit</strong>smigrant/<strong>in</strong>nen ohneh<strong>in</strong> hohe Risiko „ausschließender Armut“<br />
(Paugam 2004) nochmals erhöht.<br />
Die Aufbereitung von demographischen Informationen zur Bevölkerungsgruppe der hochaltrigen<br />
Migrant/<strong>in</strong>nen ist mit grundsätzlichen Problematiken der Bevölkerungsstatistik konfrontiert. In<br />
<strong>Österreich</strong> dom<strong>in</strong>ierte bis zur Volkszählung 2001 das „Ausländerkonzept“, das heißt, es wurde<br />
<strong>in</strong> den Bevölkerungserhebungen nur die aktuelle Staatsbürgerschaft erfasst, wodurch e<strong>in</strong>gebürgerte<br />
Migrant/<strong>in</strong>nen unsichtbar wurden. In der Volkszählung 2001 wurde erstmals auch nach<br />
dem Gebur tsland gefragt, was e<strong>in</strong> etwas diff erenzierteres Bild ermöglicht, <strong>für</strong> längerfristige<br />
Entwicklungsl<strong>in</strong>ien liegen aber weiterh<strong>in</strong> nur staatsbürgerschaftsbezogene Informationen vor.<br />
Aussagen über E<strong>in</strong>wanderungsverläufe sowie zur Dynamik grenzüberschreitender Mobilität von<br />
hochaltrigen Migrant/<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d aufgrund von Problemen <strong>in</strong> der Erfassung und Aktualisierung<br />
von Meldedaten auch <strong>in</strong> anderen Ländern oftmals nur beschränkt möglich (<strong>für</strong> Deutschland vgl.<br />
dazu Haug 2005). Die sozialwissenschaftliche Primärforschung kann dieses Manko nur bed<strong>in</strong>gt<br />
wettmachen, zudem ist sie vielfach durch mangelhafte Repräsentativität, ger<strong>in</strong>ge Fallzahlen,<br />
regionale E<strong>in</strong>grenzung, e<strong>in</strong>e Beschränkung auf Teilpopulationen und das Fehlen von Längsschnittdaten<br />
geprägt. Der folgende Überblick zur Demographie und Lebenssituation hochaltriger<br />
Migrant/<strong>in</strong>nen refl ektiert dieses grundlegende Dilemma: Die Überblicksdarstellung beruht<br />
auf den Daten der Bevölkerungsstatistik ab 1971 und erfasst <strong>für</strong> die jüngste Volkszählung 2001<br />
neben der Staatsbürgerschaft auch das Geburtsland; die <strong>in</strong> weiterer Folge referierten H<strong>in</strong>weise<br />
zur L ebenslage von hochaltrigen Migrant/<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>er empiri schen Studie zur Situation<br />
von älteren Migrant/<strong>in</strong>nen aus Ex-Jugoslawien und der Türkei entnommen, die <strong>in</strong> ausgewählten<br />
Wohngebieten <strong>in</strong> Wien durchgeführt wurde (Re<strong>in</strong>precht & Donat 2005b).<br />
10.3.2. Zahl und Zusammensetzung der hochaltrigen migrantischen Bewölkerung<br />
<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
Zum Zeitpunkt der Volkszählung 2001 lebten 69.876 über 75-Jährige Personen mit nicht-österreichischer<br />
Herkunft <strong>in</strong> Öst erreich, was e<strong>in</strong>em Anteil von 12% an der ge samten <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
ansässigen hochaltrigen Bevölkerung entspricht (vgl. Tabelle 1).<br />
250
HOCHALTRIGE MIGRANT/INNEN<br />
Tabelle 1: <strong>Hochaltrige</strong> nach Staatsbürgerschaft (1971-2001) und Geburtsland (2001)<br />
1971 1981<br />
Jahr<br />
1991 2001<br />
2001<br />
(Geburtsland)<br />
autochthon 348.030 450.908 515728 570.878 511.886<br />
<strong>in</strong> % der autochthonen<br />
Bevölkerung<br />
5% 6% 7% 7,80% 7,30%<br />
migrantisch 5.845 6.125 9.041 10.884 69.876<br />
<strong>in</strong> % der migrantischen<br />
Bevölkerung<br />
3% 2% 1,70% 1,50% 6,50%<br />
Quelle: ISIS, eigene Berechnung<br />
12.633 oder 18% der <strong>Hochaltrige</strong>n migrantischer Herkunft kommen aus den beiden wichtigsten<br />
Herkunftsregionen der <strong>Arbeit</strong>smigration, den Republiken des ehemaligen Jugoslawien und aus<br />
der Türkei. Mit Abstand die wichtigsten Herkunftsländer der <strong>Hochaltrige</strong>n s<strong>in</strong>d Deutschland und<br />
die ehemalige Tschechoslowakei; etwa jede/r zweite <strong>Hochaltrige</strong> ausländischer Herkunft ist im<br />
Gebiet der heutigen Tschechischen bzw. Slowakischen Republik oder <strong>in</strong> Deutschland geboren.<br />
Die Zusammensetzung nach Herkunft refl ektiert e<strong>in</strong>en Teil der österreichi schen E<strong>in</strong>wanderungsgeschichte:<br />
Manche <strong>Hochaltrige</strong> s<strong>in</strong>d noch <strong>in</strong> den Gebieten der ehemaligen Monarchie<br />
geboren, zahlreiche andere unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg, etwa im Zuge der Vertreibungen<br />
von Sudetendeutschen, nach <strong>Österreich</strong> gekommen (vgl. dazu etwa die Analysen zur<br />
Diversität der älteren Bev ölkerung Wiens, Re<strong>in</strong>precht & Donat 2005a). Nach Altersgliederu ng<br />
und Geschlechteranteil gleicht die außerh alb <strong>Österreich</strong>s geborene hochaltrige Bevölkerung<br />
weitgehend der autochthonen Bevölkerung: Der Anteil der <strong>Hochaltrige</strong>n an allen über 60-Jährigen<br />
Personen migrantischer Herkunft beträgt 36% (Autochthone: 34 %), der Frauenanteil liegt<br />
<strong>in</strong> beiden Gruppen bei 69 %.<br />
Aussagen über den Zeitverlauf s<strong>in</strong>d nur nach dem Kriterium der Staatsbürgerschaft möglich. Zum<br />
Zeitpunkt der Volkszählung 2001 lebten 10.884 hochaltrige Personen mit nicht-österreichischer<br />
Staatsbürger schaft <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>. Dies entspricht e<strong>in</strong>em Anteil von bloß 2 % an der g esamten<br />
<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> ans ässigen hochaltrigen Bevölkerung, 16 % der hoch altrigen Ausländer/<strong>in</strong>nen<br />
kommen aus dem ehemaligen Jugoslawien und der Türkei. Über e<strong>in</strong>en Zeitraum von 30 Jahren<br />
betrachtet, hat sich seit 1971 die Zahl der hochaltrigen Ausländer/<strong>in</strong>nen verdoppelt, relativ ist<br />
ihr Anteil an der Gesamtheit aller <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> lebenden Ausländer/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong>folge<br />
der Zuwanderung seit den 1990er Jahren von 3 auf 1,5 % gesunken: So lebten 1971 <strong>in</strong>sgesamt<br />
211.896 ausländische Staatsbürger/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>, 5.845 unter ihnen älter als 75 Jahre. 2001<br />
umfasste die ausländische Bevölkerung 710.908 Personen, unter ihnen 10.884 über 75-Jährige.<br />
Bei der Interpretation dieser Daten ist allerd<strong>in</strong>gs zu berücksichtigen, dass e<strong>in</strong>gebürgerte Personen<br />
nicht enthalten s<strong>in</strong>d, was besonders <strong>in</strong> der Gruppe der Älteren zu e<strong>in</strong>er systematischen<br />
Unterschätzung der Population führt, da <strong>in</strong>sbesondere <strong>für</strong> Ältere mit langer Aufenthaltsdauer<br />
relativ hohe E<strong>in</strong>bürgerungsraten angenommen werden können. So umfasst die Kategorie der<br />
<strong>Hochaltrige</strong>n mit ausländischer Herkunft sechsmal mehr Personen als jene nach ausländischer<br />
251
HOCHALTRIGE MIGRANT/INNEN<br />
Staatsbürgerschaft, unter den <strong>Hochaltrige</strong>n aus Ex-Jugoslawien und der Türkei liegt der Faktor<br />
bei über s ieben; über al le Altersgruppen betrachtet umfasst die K ategorie der Bev ölkerung<br />
ausländischer Herkunft h<strong>in</strong>gegen nur e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halbmal mehr Personen als nach dem Kriteriu m<br />
der Staatsbürgerschaft.<br />
10.3.3. Die Bevölkerungsgruppe der hochaltrigen <strong>Arbeit</strong>smigrant/<strong>in</strong>nen<br />
Die Heterogenität der hochaltrigen Bevölkerung nach Herkunft und Ethnizität lässt allgeme<strong>in</strong>e<br />
Aussagen grundsätzlich als problematisch ersche<strong>in</strong>en. In weiterer F olge soll deshalb auf die<br />
aus sozial- und gesundheitspolitischer Perspektive wichtige Gruppe der hochaltrigen <strong>Arbeit</strong>smigrant/<strong>in</strong>nen<br />
aus Ex-Jugoslawien und der Türkei fokussiert werden (vgl. Tabelle 2).<br />
Tabelle 2: Anteile <strong>Hochaltrige</strong>r an <strong>Arbeit</strong>smigrant/<strong>in</strong>nen aus der Türkei und Ex-Jugoslawien<br />
1971 1981<br />
Jahr<br />
1991 2001<br />
2001<br />
(Geburtsland)<br />
ex-jugoslawisch 93.337 125.890 197.886 322.261 351.256<br />
75+ 170 248 594 1.418 12.222<br />
<strong>in</strong> % der ex-jugosl. Bev. 0,2% 0,2% 0,3% 0,5% 3,4%<br />
türkisch 16.423 59.900 118.579 127.226 125.026<br />
75+ 9 67 227 332 411<br />
<strong>in</strong> % der türkischen Bev. 0,05% 0,1% 0,2% 0,3% 0,3%<br />
Quelle: ISIS, eigene Berechnung<br />
Nach dem Kriterium der Staatsbürgerschaft, also ohne Berücksichtigung von E<strong>in</strong>bürgerungen,<br />
hat sich die Zahl dieser Personen seit 1971 verzehnfacht: Lebten 1971 erst 179 <strong>Hochaltrige</strong> mit<br />
(ex-) jugoslawischer und türkischer Staatsbürgerschaft <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>, waren es 2001 1.750 Personen.<br />
Die Ges amtzahl der jug oslawischen und türkischen Staatsbürger/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
hat sich im sel bem Zeitraum vervierfacht (von 109.760 auf 449.487 Personen), die Zahl der<br />
über 60-Jährigen stieg überproportional von 1.015 auf 22.297 Personen, d.h. um das mehr als<br />
zwanzigfache (der relative Anteil der über 60-Jährigen veränderte sich <strong>in</strong> diesem Zeitraum von<br />
0,9 auf 4,9%; bei den Autochthonen betrug diese Änderung 20 auf 22,4 %).<br />
Für e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>igermaßen realistisches Bild der sozio-demographischen Struktur der hochaltrigen<br />
arbeitsmigrantischen Bevölkerung ist es erforderlich, auf das Kriterium des Herkunftslandes<br />
zurückzugreifen. Zum Zeitpunkt der letzten Volkszählung 2001 lebten <strong>in</strong>sgesamt 12.633 hochaltrige<br />
Per sonen mit Herkunft aus Ex-Jugoslawien und der Türkei <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>, das ist e<strong>in</strong> knappes<br />
Fünftel aller außerhalb von <strong>Österreich</strong> geborenen <strong>Hochaltrige</strong>n. Der Anteil der <strong>Hochaltrige</strong>n liegt<br />
mit 3% deutlich unter dem Wert <strong>für</strong> <strong>Hochaltrige</strong> ausländischer Herkunft <strong>in</strong>sgesamt (6,5%) wie<br />
auch <strong>für</strong> die <strong>in</strong>digene Bevölkerung (7,3%). In diesen Unterschieden spiegelt sich die noch junge<br />
Altersstruktur der ehemaligen <strong>Arbeit</strong>s migrant/<strong>in</strong>nen: Der Anteil der über 60-Jährigen liegt bei<br />
252
HOCHALTRIGE MIGRANT/INNEN<br />
11% im Vergleich zu 21% bei den Autochthonen. Und während 19% der über 60-Jährigen Bevölkerung<br />
mit Herkunft aus Ex-Jugoslawien und Türkei zu den <strong>Hochaltrige</strong>n zählen, s<strong>in</strong>d es unter<br />
den Autochthonen 34%. Unübersehbar ist die Fem<strong>in</strong>isierung der Hochaltrigkeit: Der Anteil der<br />
Frauen an den über 7 5-Jährigen beträgt 67% (Autochthone 69%); zwei Drittel von ihnen s<strong>in</strong>d<br />
verwitwet (<strong>in</strong>sgesamt 51%).<br />
10.3.4. Indizien der Lebenslage hochaltriger <strong>Arbeit</strong>smigrant/<strong>in</strong>nen<br />
Forschungen zur Lebenslage von <strong>Hochaltrige</strong>n migrantischer Herkunft liegen <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> nicht<br />
vor, bisherige Studien zum Thema Altern und Migration tangieren überwiegend die Gruppe der<br />
jüngeren Älteren (Kienzl-Plochberger & Re<strong>in</strong>precht 2005, Re<strong>in</strong>precht 1999) oder behandeln zwar<br />
Fragestellungen, die <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf die Hochaltrigkeit relevant s<strong>in</strong>d (Kremla 2005, B<strong>in</strong>der 2003,<br />
Matuschek et al. 1999), ohne jedoch die Zielgruppe selbst <strong>in</strong> ausreichender Weise erfasst zu<br />
haben. Direkte H<strong>in</strong>weise zur Lebenslage hochaltriger Migrant/<strong>in</strong>nen enthalten die Ergebnisse<br />
e<strong>in</strong>er quantitativen Befragung älterer Migrant/<strong>in</strong>nen, die im Rahmen e<strong>in</strong>es von der Weltgesundheitsorganisation<br />
WHO <strong>in</strong>itiierten Demonstrationsprojektes zur Gesundheitsförderung älterer<br />
Menschen <strong>in</strong> ausgewählten Wiener Stadtgebieten durchgeführt wurde (Re<strong>in</strong>precht & Donat 2005b).<br />
Zwar ist die <strong>in</strong> der Stichprobe enthaltene Zahl an <strong>Hochaltrige</strong>n recht kle<strong>in</strong>, die Gegenüberstellung<br />
mit der Gesamtgruppe der älteren Migrant/<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>erseits und der Vergleichspopulation der<br />
autochthonen <strong>Hochaltrige</strong>n erlaubt jedoch e<strong>in</strong>e gewisse Validierung und Plausibilitätskontrolle.<br />
Es handelt sich um subjektive Bewertungen verschiedener Lebensbereiche, von E<strong>in</strong>kommen und<br />
Wohnen bis h<strong>in</strong> zu Familie und Freizeit. Die bewusst knapp gehaltene Darstellung versteht sich<br />
als e<strong>in</strong>e erste Sammlung von Lebenslagen<strong>in</strong>dizien <strong>für</strong> e<strong>in</strong> noch durchzuführendes Forschungsprogramm<br />
(vgl. Tabelle 3) 2 .<br />
2 Die Befragung wurde 2004/05 <strong>in</strong> drei ausgewählten Wiener Wohnbezirken durchgeführt; <strong>in</strong>sgesamt wurden 335 über<br />
55-Jährige Personen befragt, darunter 140 MigrantInnen aus Ex-Jugoslawien und der Türkei; 17 Migrant/<strong>in</strong>nen waren 75<br />
Jahre oder älter; von ihnen lebten zum Zeitpunkt der Befragung alle bereits länger als 15 Jahre <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>, drei Viertel<br />
sogar länger als 30 Jahre.<br />
253
HOCHALTRIGE MIGRANT/INNEN<br />
254<br />
Tabelle 3:Ausgewählte subjektive Indikato ren der Lebenslage älterer Migrant/<strong>in</strong>nen nach<br />
Herkunftsländern sowie im Vergleich zu e<strong>in</strong>heimischen Senior/<strong>in</strong>nen 1 ) (<strong>in</strong> %)<br />
MigrantInnen<br />
<strong>in</strong>sgesamt<br />
(n = 120)<br />
MigrantInnen<br />
75+<br />
(n = 17)<br />
Quelle: Re<strong>in</strong>precht & Donat 2005b<br />
1) Der Begriff „Migrant/<strong>in</strong>nen“ bezieht sich auf e<strong>in</strong>gebürgerte sowie nichte<strong>in</strong>gebürgerte Personen.<br />
2) 4-stufi ge Skala von 1=„sehr zufrieden“ bis 4=„gar nicht zufrieden“. Prozentangaben bezogen auf 1+2.<br />
3) 4-stufi ge Skala von 1 = „sehr belastet“ bis 4 = „gar nicht belastet“. Die Prozentangaben beziehen sich auf 1+2. Insgesamt<br />
wurden 16 Problembereiche abgefragt, wobei ältere Migrant/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> nahezu allen Bereichen stärkere Belastungen empfi nden<br />
als e<strong>in</strong>heimische Senior/<strong>in</strong>nen.<br />
4) jeweils 4-stufi ge Skalen; die Prozentangaben beziehen sich auf 1+2 (Zustimmung).<br />
10.3.4.1. PREKÄRE MATERIELLE UND GESUNDHEITLICHE RESSOURCEN<br />
e<strong>in</strong>heimische<br />
SeniorInnen<br />
(n = 195)<br />
e<strong>in</strong>heimische<br />
SeniorInnen<br />
75+<br />
(n = 34)<br />
materielle Situation & Wohnen 2)<br />
ausreichendes E<strong>in</strong>kommen 29 30 88 94<br />
Zufriedenheit mit der Wohnung<br />
psychosoziales Belastungsempf<strong>in</strong>den<br />
22 33 87 91<br />
3)<br />
gesundheitliche Probleme 70 80 41 53<br />
Abhängigkeit von anderen 33 80 19 7<br />
Probleme vor dem Älterwerden 34 50 12 6<br />
Angst vor E<strong>in</strong>samkeit 36 100 20 36<br />
depressive Episoden<br />
subjektives Lebensqualität<br />
96 100 81 78<br />
4)<br />
Wohlbef<strong>in</strong>den 44 30 95 94<br />
Glück 49 40 89 85<br />
Lebensfreude (Leben genießen) 90 80 97 91<br />
<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> heimisch<br />
Inanspruchnahme von sozialen Diensten<br />
57 100 - -<br />
Haushaltshilfe 2 0 21 51<br />
Essen auf Rädern 0 0 1 10<br />
Notrufdienst 15 10 4 3<br />
Beratungsstelle 42 20 8 7<br />
zufrieden mit Informationen 83 50 99 100<br />
Auch wenn <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> bi slang ke<strong>in</strong>e validen E<strong>in</strong>kommensdaten <strong>für</strong> Migrant/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> der<br />
nachberufl ichen Lebensphase verfügbar s<strong>in</strong>d, lassen niedrige Erwerbse<strong>in</strong>kommen, kürzere<br />
Versicherungszeiten und überdurchschnittliches <strong>Arbeit</strong>slosigkeitsrisiko auf e<strong>in</strong> erheb liches<br />
Armutsrisiko im hohen Alter schließen. Entsprechend prekär bewer ten hochaltrige Migrant/<br />
<strong>in</strong>nen ihre E<strong>in</strong> kommenssituation: In der „Akti v-<strong>in</strong>s-Alter“-Studie geben nur 5 d er 17 hochbetagten<br />
Migrant/<strong>in</strong>nen an, ausreichend Geld zur Verfügung zu haben, bei der autochthonen<br />
Vergleichsgruppe s<strong>in</strong>d es 31 der 34 Befragten.
HOCHALTRIGE MIGRANT/INNEN<br />
Ähnlich kritisch wird die Wohnsituation bewer tet. Zwei von drei hoch altrigen Migrant/<strong>in</strong>nen<br />
geben an, mit der eigenen Wohnsituation unzufrieden zu se<strong>in</strong>, unter den Autochthonen t riff t<br />
dies nur auf drei der <strong>in</strong>sgesamt 34 Befragten zu. Dieser Lebenslagenaspekt ist umso wichtiger,<br />
als die Wohnung nicht nur den Lebensmittelpunkt, sondern auch e<strong>in</strong>e Ressource im Falle von<br />
Krankheit und Pfl egebedürftigkeit darstellt. Nach allen verfügbaren Forschungen zählen Migrant/<br />
<strong>in</strong>nen zu den am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen am Wohnungsmarkt mit e<strong>in</strong>em<br />
hohen Anteil an befristeten Mietverträgen, Wohnungen der niedrigsten Ausstattungskategorie<br />
und ger<strong>in</strong>ger Nutzfl äche (vgl. Kohlbacher & Reeger 2003). Das migrantische Wohnelend spiegelt<br />
sich auch <strong>in</strong> der Interviewere<strong>in</strong>schätzung wider (die Interviews wurden <strong>in</strong> den Wohnungen der<br />
Befragten durchgeführt): Demnach werden 14 der 17 migrantischen im Vergleich zur Hälfte der<br />
autochthonen Wohnungen als beengt e<strong>in</strong>gestuft; ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige migrantische Wohnung wurde<br />
als altersgerecht bewertet.<br />
H<strong>in</strong>sichtlich der Gesundheitsressourcen fehlt es österreichweit an epidemiologischen Studien,<br />
die kumulativen Eff ekte von körperlich verschleißendem Erwerbsleben, belastenden Wohnverhältnissen<br />
und ungesunden Ernährungsgewohnheiten s<strong>in</strong>d jedoch <strong>in</strong> zahlreichen E<strong>in</strong>zelstudien<br />
zur Situation älterer Migrant/<strong>in</strong>nen dokumentiert worden (vgl. Amesberger et al. 200 3). Die<br />
Ergebnisse der „Aktiv-<strong>in</strong>s-Alter“-Studie fügen sich <strong>in</strong> dieses kritische Bild. 7 von 17 hochaltrigen<br />
Befragten nennen st arke Alltagsbee<strong>in</strong>trächtigungen (Schwierigkeiten beim Stiegen steigen,<br />
Bücken, Anziehen), fünf der Befragten geben an, unter starken körperlichen Beschwerden zu<br />
leiden. Unter den Autochthonen liegt das Ausmaß dieser Beschwerden und Alltagsbee<strong>in</strong>trächtigungen<br />
doch deutlich darunter. Nur ganz wenige hochbetagte Migrant/<strong>in</strong>nen gaben an, mit ihrer<br />
gesundheitlichen Situation zufrieden zu se<strong>in</strong>; unter den Autochthonen äußerte sich immerh<strong>in</strong><br />
jede zweite Befragte zufrieden.<br />
10.3.4.2. WOHLBEFINDEN UND PSYCHOSOZIALES BELASTUNGSEMPFINDEN<br />
Die skizzierte Ressourcenknappheit <strong>in</strong> den Bereichen E<strong>in</strong> kommen, Wohnen und Gesundheit<br />
drückt sich auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em überdurchschnittlichen psychosozialen Be lastungsstress aus. Nach<br />
der „Aktiv-<strong>in</strong>s-Alter“-Studie zeigen sich die hochaltrigen Migrant/<strong>in</strong>nen durch viermal so viele<br />
Faktoren belastet wie die Angehörigen der autochthonen Vergleichsgruppe. Neben Gesundheit<br />
verstärkt <strong>in</strong>sbesondere das Gefühl, von anderen abhängig zu se<strong>in</strong>, den Belastungsdruck. Weitere<br />
Stressoren, die <strong>in</strong> H<strong>in</strong> blick auf die Hoc haltrigkeit von Be deutung s<strong>in</strong>d, beziehen sich auf die<br />
Sorge um das Wohlergehen der K<strong>in</strong>der, die Angst vor E<strong>in</strong>samkeit, die materielle Situation sowie<br />
<strong>in</strong>sgesamt auf das Älterwerden. Tabelle 3 dokumentiert <strong>für</strong> die Gruppe der Migrant/<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>e<br />
zum Teil massive Zunahme der genere ll bestehenden Bee<strong>in</strong>trächtigungen im Alt ernsprozess.<br />
Wie prekär die psychosozialen Ressourcen der hochaltrigen Migrant/<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>zuschätzen s<strong>in</strong>d,<br />
zeigt sich <strong>in</strong>sbesondere h<strong>in</strong>sichtlich der außergewöhnlich ausgeprägten Sorge vor sozialer<br />
Isolation; alle Befragten kennen zudem die Erfahrung depressiver Episoden.<br />
Abseits dieser H<strong>in</strong>weise auf das große Ausmaß an Belastungsstress, weisen die Befragungsergebnisse<br />
auch auf psychische Bewältigungsressourcen h<strong>in</strong>. So bee<strong>in</strong>trächtigen die schwierigen<br />
255
HOCHALTRIGE MIGRANT/INNEN<br />
Lebensumstände zwar die subjektive Lebensqualität (gemessen über allgeme<strong>in</strong>es Wohlbefi nden,<br />
Glück, und Zufriedenheit mit verschiedenen Lebensbereichen), nicht aber Lebenss<strong>in</strong>n<br />
und Lebensfreude. Auch die subjektiven Zugehörigkeitsgefühle zu <strong>Österreich</strong> sche<strong>in</strong>en durch<br />
die niedrige Lebensqualität nicht unmittelbar tangiert. E<strong>in</strong>e emotionale B<strong>in</strong>dung an <strong>Österreich</strong><br />
schließt positive Gefühle zum Herkunftsland nicht aus.<br />
10.3.4.3. FAMILIE UND SOZIALE RESSOURCEN<br />
Die These der familienzentrierten Lebensführung lässt häufi g die Situation von alle<strong>in</strong> lebenden<br />
und sozial nur ungenügend e<strong>in</strong>gebetteten hochaltrigen Migrant/<strong>in</strong>nen übersehen. Die Ergebnisse<br />
der „Aktiv-<strong>in</strong>s-Alter“-Studie deuten <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auf e<strong>in</strong> grundlegendes Spannungsverhältnis:<br />
E<strong>in</strong>erseits hat ausnahmslos <strong>für</strong> alle über 75-Jährigen befragten Migrant/<strong>in</strong>nen der<br />
Lebensbereich der Familie hohe Zentralität, andererseits geben 7 von 17 Befragten an, alle<strong>in</strong>e<br />
zu leben, nur 5 Personen leben e<strong>in</strong>gebettet im größeren Familienverband, was anteilsmäßig<br />
e<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>geren Wert ergibt als <strong>für</strong> die autochthone Gruppe. Entsprechend nüchtern fällt denn<br />
auch die Be wertung der persönlichen Beziehungen aus: Knapp jede zweite hochaltrige Person<br />
mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund zeigt sich unzufrieden, unter den Autochthonen betriff t dies nur e<strong>in</strong>e<br />
kle<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit. Entsprechend ausgeprägt ist die Angst vor Vere<strong>in</strong>samung und sozialer Isolation:<br />
Alle hochaltrigen Migrant/<strong>in</strong>nen, aber nur jede/r dritte Autochthone teilen diese Sorge.<br />
Im späten Leben existiert e<strong>in</strong> hohes S<strong>in</strong>gularisierungsrisiko, das sich allerd<strong>in</strong>gs bereits unter<br />
den jüngeren Alten ankündigt: Unter ihnen gibt jeder vierte Befragte an, alle<strong>in</strong>e zu leben, und<br />
jeder dritte äußert sich <strong>in</strong> Bezug auf se<strong>in</strong>e persönlichen Beziehungen unzufrieden.<br />
10.3.4.4. INANSPRUCHNAHME VON SOZIALEN DIENSTEN UND GESUNDHEITS-<br />
EINRICHTUNGEN<br />
Dem deutlich höheren Ausmaß an berichteten gesundheitlichen Beschwerden steht e<strong>in</strong>e mehr<br />
als bescheidene In anspruchnahme von sozialen Diensten g egenüber. In der Befr agung des<br />
„WHO“-Projekts gibt ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige hochaltrige Person mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund an, bereits<br />
e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en sozialen Dienst <strong>in</strong> Anspruch genommen zu haben. Etwas anders stellt sich die<br />
Situation <strong>in</strong> H<strong>in</strong> blick auf beratende E<strong>in</strong>richtungen, Notrufdienste sowie praktische Ärzte und<br />
Spitalsambulanzen dar.<br />
Wie die Erg ebnisse der Studie zeigen, ist die Inanspruchnahme von sozialen Diensten u nd<br />
Gesundheitse<strong>in</strong>richtungen <strong>in</strong> erheblichem Maße von der Verfügbarkeit der <strong>für</strong> den Umweltzugang<br />
erforderlichen Informationen abhängig. So äußert sich jede/r zweite hochaltrige Migrant/<br />
<strong>in</strong> gänzlich unzufrieden mit den zur Verfügung stehenden Informationen; den autochthonen<br />
Befragten ist diese Problematik <strong>in</strong> dieser zugespitzten Form fremd.<br />
256
10.4. Zusammenfassung und Ausblick<br />
HOCHALTRIGE MIGRANT/INNEN<br />
Demographische Szenarien gehen von e<strong>in</strong>er Zunahme des Anteils der Älteren an der Bevölkerung<br />
ausländischer Herkunft aus. Berechnungen <strong>für</strong> Wien haben ergeben, dass sich im Laufe des<br />
dritten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts der Anteil der Älteren an der zugewanderten Bevölkerung<br />
voraussichtlich an den Wert der autochthonen Bevölkerung annähern wird (vgl. Institut <strong>für</strong><br />
Demographie 2002). Dieser demographische Alterungsprozess betriff t auch die <strong>Hochaltrige</strong>n,<br />
deren Heterogenität weiter zunehmen wird.<br />
Die Ausdiff erenzierung der Hochaltrigkeit nach Herkunft und Ethnizität konfrontiert die etablierten<br />
Systeme der Altenarbeit <strong>in</strong> grundlegender Weise mit neuen Herausforderun gen, sei es <strong>in</strong><br />
der <strong>in</strong>tra- und extramuralen Altenhilfe oder h<strong>in</strong>sichtlich Versorgung und Pfl ege. Die wachsende<br />
Herkunftsdiversität macht neue Maßn ahmen und Strategien <strong>in</strong> den Bereichen Gesu ndheitskommunikation<br />
und kultursensible Pfl ege sowie e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>terkulturelle Öff nung der Altenhilfe<br />
unumgänglich. Spezielle Fragen stellen sich h<strong>in</strong>sichtlich Anspruchsberechtigung (etwa im Falle<br />
der nicht-dokumentierten, illegalen Migration) und neuer L ebensformen (z. B. P endel- bzw.<br />
Transmigration, vgl. Krumme 2004, BAGIV 2002). Mit der Diversifi zierung des Alterns fächert<br />
sich aber auch das gesellschaftlich erzeugte Bild von Hochaltrigkeit auf: Diff erenzierte Vorstellungen<br />
vom Älterwerden und alternative Konzepte der Lebensführung werden stärker sichtbar<br />
und beanspruchen neben dem genormten Bild von Hochaltrigkeit Legitimität.<br />
Lückenhafte, teilweise auch feh lerbehaftete amtliche Statistiken und e<strong>in</strong>e erst ansatzweise<br />
entwickelte sozialwissenschaftliche Forschung bilden zum gegebenen Zeitpunkt die prekären<br />
Grundlagen <strong>für</strong> die ernsth afte Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der L ebens situation älterer Migr ant/<br />
<strong>in</strong>nen im Allgeme<strong>in</strong>en und von migrantischen <strong>Hochaltrige</strong>n im Besonderen. Für <strong>Österreich</strong> fehlt<br />
bislang gesichertes Wissen <strong>für</strong> Maßnahmenentwicklung und sozialpolitische Intervention. E<strong>in</strong>e<br />
der Herausforderungen künftiger Forschungen ist es, der Herkunfts- und Milieudiversifi zierung<br />
der hochaltrigen Migrant/<strong>in</strong>nen gerecht zu werden. E<strong>in</strong> weiterer Anspruch besteht dar<strong>in</strong>, über<br />
die Beschreibung von Lebensverhältnissen h<strong>in</strong>aus die fü r die hoch altrige Lebensführung relevanten<br />
Ressourcen und Handlungspotentiale, wie soziale Netzwerke oder die Bedeut ung<br />
familienbezogener und/ oder ethnischer Handlungsorientierungen, freizulegen. E<strong>in</strong> wichtiges<br />
Forschungsanliegen wird es schließlich auch se<strong>in</strong>, <strong>in</strong> vergleichender und <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärer<br />
Analyse zu e<strong>in</strong>em vertiefenden Verständnis von migrations-, aber auch kulturgeprägten Sichtweisen<br />
und Praktiken der Hochaltrigkeit zu gelangen.<br />
257
HOCHALTRIGE MIGRANT/INNEN<br />
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HOCHALTRIGE MIGRANT/INNEN<br />
264
11. HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
TOM SCHMID<br />
11.1. Begriff sbestimmung und Abgrenzung<br />
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
„Alter und Beh<strong>in</strong>derung“ ist e<strong>in</strong> Thema, das <strong>in</strong> der öff entlichen Wahrnehmung wie <strong>in</strong> der wissenschaftlichen<br />
Debatte kaum oder nur am Rande vorkommt. Das hat mehrere Gründe: Vor allem<br />
gibt es kaum Daten über Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen, <strong>in</strong>sbesondere über ältere Menschen<br />
mit Beh<strong>in</strong>derungen. Überdies ist <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> höheren Altersgruppen die empirische Abgrenzung<br />
zwischen beh<strong>in</strong>derungsbed<strong>in</strong>gtem Pfl egebedarf und krankheitsbed<strong>in</strong>gtem Pfl egebedarf<br />
recht schwer. Typisch <strong>für</strong> höhere Altersgruppen s<strong>in</strong>d Multimorbidität (BMAGS 1999: 116ff ) und<br />
Demenzerkran kungen bzw. Alzheimer (Münz 2003: 21, sowie Böhmer & Frühwald und Dorner &<br />
Rieder <strong>in</strong> diesem Bericht), mit dem damit verbundenen Pfl egebedarf. Beh<strong>in</strong>derungsbed<strong>in</strong>gter<br />
Pfl egebedarf schw<strong>in</strong>det vor allem bei der Gruppe der <strong>Hochaltrige</strong>n aus dem statistischen Focus.<br />
Beh<strong>in</strong>derungen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> höheren Altersgruppen e<strong>in</strong> relativ neues Phänomen, weil erst die Fortschritte<br />
der Mediz<strong>in</strong> es <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten vielen Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen überhaupt<br />
möglich gemacht haben, e<strong>in</strong> höheres Alter erreic hen zu können. Das gilt <strong>für</strong> verschiedenste<br />
körperliche und geistige Beh<strong>in</strong>derungen, von der Querschnittslähmung bis zum Down-Syndrom<br />
(siehe Walker 2006: 33). Schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass es sich bei den während<br />
der nationalsozialistischen Herrschaft getöteten Menschen mit körperlichen und geistigen Beh<strong>in</strong>derungen<br />
um jene Generation handelt, die sich heute im höheren bzw. hohen Alter befi nden<br />
würde (siehe Klee 2004). Das weitgehende Fehlen beh<strong>in</strong>derter Menschen <strong>in</strong> den höheren Altersgruppen<br />
ist <strong>für</strong> die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts daher auch auf die Vernichtungspolitik<br />
der Nationalsozialisten zurück zu führen. Auf der anderen Seite fi nden sich die Ang ehörigen<br />
jener Generation, die im Zweiten Weltkrieg kriegsversehrt worden s<strong>in</strong>d und heute noch leben,<br />
<strong>in</strong> der Kohorte der heute <strong>Hochaltrige</strong>n (siehe Ernst et. al. 1995).<br />
Aus den genannten Gründen ist anzunehmen, dass <strong>Österreich</strong> <strong>in</strong> den kommenden Jahrzehnten<br />
erstmals mit e<strong>in</strong>er erheblichen Zahl hochbetagter Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen konfrontiert<br />
se<strong>in</strong> wird. E<strong>in</strong>e ausführliche Beh andlung dieses Themas er fordert (vor allem auf Grund der<br />
Tatsache, dass es hier nahezu ke<strong>in</strong>e gesicherten empirischen Daten gibt), den Begriff „Beh<strong>in</strong>derung“<br />
klar zu defi nieren, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Abgrenzung zu altersbed<strong>in</strong>gtem Pfl egebedarf, der<br />
se<strong>in</strong>e Grundlage <strong>in</strong> Erkrankungen (Multimorbidität) hat.<br />
Der Beh<strong>in</strong>dertenbegriff hat erst Mitte des 20. Jahrhunderts E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> den allgeme<strong>in</strong>en Sprachgebrauch<br />
gefunden und den bis dah<strong>in</strong> weit verbreiteten Begriff „Krüppel“ abgelöst, e<strong>in</strong> Begriff ,<br />
der vor allem <strong>für</strong> körperbeh<strong>in</strong>derte Menschen und hier vor allem <strong>für</strong> Kriegsversehrte verwendet<br />
wurde und im Gegensatz zum heutigen Sprachverständnis bis <strong>in</strong> das 20. Jahrhundert h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> nicht<br />
als stigmatisierend verstanden wurde. Kriegsbeschädigte und ihre Organisationen verwehrten<br />
sich nach dem ersten Weltkrieg, als „Krüppel“ bezeichnet zu werden. Daher etablierten sich die<br />
265
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
Begriff e „Kriegs<strong>in</strong>valide“ bzw. „Kriegsversehrte“ h<strong>in</strong>sichtlich der Kriegsbeschädigten bereits <strong>in</strong><br />
der 1. Republik und fanden nach 1945 auch E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> entsprechende Gesetze, beispielsweise<br />
<strong>in</strong> das Kriegsopferversorgungsgesetz (siehe etwa Ernst et. al. 1 995: 230ff ). Für Personen, die<br />
von Geburt oder Jugend an beh<strong>in</strong>dert waren, bürgerte sich h<strong>in</strong>gegen nach dem zweiten Weltkrieg<br />
allmählich der Begriff „körperbeh<strong>in</strong>dert“ e<strong>in</strong> und wurde durch weitere Wortschöpfungen<br />
diff erenziert: sehbeh<strong>in</strong>dert, hörbeh<strong>in</strong>dert, sprachbeh<strong>in</strong>dert, lernbeh<strong>in</strong>dert etc.<br />
Diese Bezeichnungen orientieren sich hauptsächlich an e<strong>in</strong>er defi zitorientierten Sichtweise.<br />
„Beh<strong>in</strong>dert“ zu se<strong>in</strong> bedeutet demnach, gewisse Rollen, die nach gesellschaftlichen Zuschreibungen<br />
aufgrund verschiedener Faktoren als „normal“ angesehen werden, nicht (oder nicht<br />
mehr) ausfüllen zu können. Dieses Verständnis von Normalität, das die „Abweichu ng von<br />
Normalität“ des beh<strong>in</strong>derten Menschen ei nschließt, bedeutet im soz ialen Zusammenhang,<br />
dass die Verantwortung <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Veränderung <strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>er (nach sozialen Normen festgelegten)<br />
„Normalität“ beim beh<strong>in</strong>derten Menschen liegt und nicht bei der Gesellschaft (siehe<br />
z. B. Hovorka & Sigot 2000, Schmid 2003).<br />
In verschiedenen nationalen und supranationalen Regelungen und Normierungen wird genauso<br />
auf unterschiedliche Bestimmungen des Begriff s „Beh<strong>in</strong>derung“ zurückgegriff en wie <strong>in</strong> der praktischen<br />
Beh<strong>in</strong>dertenarbeit oder der wissenschaftlichen Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem Phänomen<br />
der Beh<strong>in</strong>derung bzw. der Beh<strong>in</strong>dertenpolitik. Die WHO hat <strong>in</strong> den späten siebziger Jahren des<br />
letzten Jahrhunderts versucht, Klarheit <strong>in</strong> diese Begriff svielfalt zu br<strong>in</strong>gen. Sie unterscheidet (<strong>in</strong><br />
der ICIDH-Klassifi kation, siehe WHO 1980 1 ) die Begriff e „Impairment“ (Schädigung), „Disability“<br />
(Bee<strong>in</strong>trächtigung) und „Handicap“ (Beh<strong>in</strong>derung). Alle drei Begriff e werden dabei <strong>in</strong> Relation<br />
zu (Abweichung von) e<strong>in</strong>er Norm defi niert (siehe Humphreys & Müller 1996: 61) und sollen im<br />
Folgenden kurz erklärt 2 werden:<br />
Impairment (Schädigung) beschreibt e<strong>in</strong>e Störung auf der organischen Ebene (mensch licher<br />
Organismus allgeme<strong>in</strong>): „… any loss or abnormality of psychological, physiological or anatomical<br />
structure or function.“<br />
1 Diese Klassifi kation wurde <strong>in</strong> den Neunzigern durch die ICIDH 2 Klassifi kation erweitert, die die positiven Möglichkei-<br />
266<br />
ten beh<strong>in</strong>derter Menschen zu mehr und vor allem aktiver und selbstbestimmter Teilhabe als Ziel betont (Bio-psycho-<br />
soziales Modell der Funktionsfähigkeit und Beh<strong>in</strong>derung). Die ICIDH-2 komb<strong>in</strong>iert das mediz<strong>in</strong>ische Modell mit e<strong>in</strong>em<br />
sozialen Modell der Beh<strong>in</strong>derung, das den Schwerpunkt auf die Partizipation beh<strong>in</strong>derter Menschen an allen Bereichen<br />
des gesellschaftlichen Lebens legt.<br />
2 Die englischen Zitate stammen aus der ICIDH 2 Klassifi kation der WHO und wurden nach Humphreys & Müller (1996: 61)<br />
zitiert.
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
Handicap (Beh<strong>in</strong>derung) beschreibt e<strong>in</strong>e Störung auf der personalen Ebene, die e<strong>in</strong>e Bedeutung<br />
<strong>für</strong> e<strong>in</strong>en konkreten Menschen hat: „… any restriction or lack … of ability to perform an activity<br />
<strong>in</strong> the manner or with<strong>in</strong> the range considered normal for a human be<strong>in</strong>g.“<br />
Disability (Benachteiligung, Bee<strong>in</strong>trächtigung) defi niert mögliche Konsequenzen von Schädigung<br />
und Beh<strong>in</strong>derung auf der soz ialen Ebene. Daru nter s<strong>in</strong>d Nachteile zu verstehen, durch<br />
welche die Übernahme von sozialen Rollen, die <strong>für</strong> die betreff ende Person aufgrund von Alter,<br />
Geschlecht usw. als angemessen gelten (beispielsweise im Berufsleben oder Teilnahme am<br />
kulturellen Leben): „… a disadvantage … that limits or prevents the fulfi lment of a role that is<br />
normal (depend<strong>in</strong>g on age, sex and social and cultural factors) for that <strong>in</strong>dividual.“<br />
Diese funktionsorientierten Defi nitionen waren seit den ne unziger Jahren u nter beh<strong>in</strong>derten<br />
Menschen und <strong>in</strong> der Integrationswissenschaft zunehmend <strong>in</strong> Frage gestellt worden, „weil dar<strong>in</strong><br />
die Probleme von Beh<strong>in</strong>derung nur als e<strong>in</strong>fache, kausale Folge der Eigenschaften des Individuums<br />
dargestellt werden“ (Humphreys & Müller 1996: 61). E<strong>in</strong> komplexeres Verständnis von „Beh<strong>in</strong>derung“<br />
schließt das Begreifen e<strong>in</strong>er Wechselwirkung von personbezogenen und strukturbezogenen<br />
Faktoren e<strong>in</strong>. Auf Grundlage dieses Verständnisses lässt sich allgeme<strong>in</strong> „Beh<strong>in</strong>derung<br />
defi nieren als e<strong>in</strong>e (durchaus veränderliche) Inkompatibilität zwischen den Möglichkeiten e<strong>in</strong>es<br />
Menschen und den Umweltbed<strong>in</strong>gungen, die E<strong>in</strong>schränkungen bei der Befriedigung wichtiger<br />
Bedürfnisse mit sich br<strong>in</strong>gen. (..) Auch e<strong>in</strong>e quasi ‚primär’ ersche<strong>in</strong>ende Form von Beh<strong>in</strong>derung<br />
wie z. B. e<strong>in</strong>e Gehbeh<strong>in</strong>derung wird erst zu e<strong>in</strong>er Beh<strong>in</strong>derung auf Grund der Inkompatibilität<br />
der Möglichkeiten des betroff enen Menschen mit den Normen der Umwelt, nicht nur mit sozialen<br />
Normen (z. B. L eistungsnormen), sondern auch mit den Normen der d<strong>in</strong>glichen Um welt,<br />
die im Zivilisationsprozess <strong>in</strong> zunehmendem Maße mit der von Menschen geschaff enen und<br />
veränderlichen „künstlichen“ Umwelt identisch ge worden ist.“ (Humphreys & Müller 1996: 62).<br />
Dieser Paradigmenwechsel im Beh<strong>in</strong>dertenbegriff , der sich <strong>in</strong> unterschiedlichen wissenschaftlichen<br />
Diszipl<strong>in</strong>en (z. B. Entwicklung von der „Sonder- und Heilpädagogik“ zu e<strong>in</strong>er „Integrationspädagogik“)<br />
und sozialpolitischen Fortschritten der letzten Jahre (beispielsweise im Bereich<br />
der schulischen Integration beh<strong>in</strong>derter K<strong>in</strong>der oder Jug endlicher oder der Dez entralisierung<br />
im Wohnungsbereich) fi nden lässt, hat e<strong>in</strong>e Veränderung des Normalitätsverständnisses bewirkt:<br />
„Es ist normal, verschieden zu se<strong>in</strong>“ (Humphreys & Müller 1996: 68). Dieser neue Nor -<br />
malitätsbegriff versteht Beh<strong>in</strong>derung nicht (mehr) als Abweichung von e<strong>in</strong>er Norm, die du rch<br />
Hilfsmittel und Unterstützungen möglichst verkle<strong>in</strong>ert (im Idealfall beseitigt) werden soll, sondern<br />
als e<strong>in</strong>en eigenständigen Zustand, der (unter Umständen) gesellschaftlicher und <strong>in</strong>dividueller<br />
Unterstützung bedarf.<br />
Wenn man „Beh<strong>in</strong>derung“ als e<strong>in</strong>e (du rchaus veränderliche) Inkompatibilität zwischen den<br />
Möglichkeiten e<strong>in</strong>es Menschen u nd den Umw eltbed<strong>in</strong>gungen versteht, die E<strong>in</strong>schränkungen<br />
bei der Befriedigu ng wichtiger Bedürfnisse mit sich br<strong>in</strong>gen, kann man <strong>in</strong> Abgrenzung dazu<br />
„Pfl egebedarf“ als die Summe jener Unterstützungen bezeichnen, die zur Aufrechterhaltung<br />
der grundlegenden Lebensfunktionen (Ernährung, Ausscheidung, Körperpfl ege, Pfl ege der<br />
267
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
unmittelbaren Wohnumgebung) nötig s<strong>in</strong>d. Der Begriff „Beh<strong>in</strong>derung“ bezieht sich also auf<br />
den weiteren Zusammenhang aller E<strong>in</strong>schränkungen, denen e<strong>in</strong> Indi viduum auf Grund körperlicher,<br />
psychischer oder sozialer Bee<strong>in</strong>trächtigungen unterworfen ist, während der Begriff<br />
des „Pfl egebedarfes“ die weitgehende Aufrechterhaltung körperlicher, seelischer und sozialer<br />
Grundfähigkeiten im Focus hat. Diese – im E<strong>in</strong>zelfall nie exakt treff bare – begriffl iche Abgrenzung<br />
ist notwendig, um die Unterscheidung zwischen „Pfl egebedarf“ und „Beh<strong>in</strong>derung“ auch<br />
<strong>für</strong> hochbetagte Menschen e<strong>in</strong>igermaßen trennscharf operationalisieren zu können.<br />
11.2. Das Datenproblem<br />
E<strong>in</strong>e exakte und detaillierte Darstellung der Zahl beh<strong>in</strong>derter Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> (und <strong>in</strong><br />
weiterer Folge deren Bedürfnissen) kann aus unterschiedlichen Gründen nur <strong>in</strong> beschränktem<br />
Ausmaß getroff en werden. E<strong>in</strong>erseits erschwert das Fehlen e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>heitlichen Beh<strong>in</strong>dertenbegriff<br />
s auch e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche Herangehensweisen <strong>in</strong> der Datenerhebung, was große Qualitätse<strong>in</strong>schränkungen<br />
bei der empirischen Darstellung be d<strong>in</strong>gt. Nach Schätzungen der WHO gelten<br />
<strong>in</strong> den <strong>in</strong>dustrialisierten Staaten zwischen 10 und 15% der Bevölkerung <strong>in</strong> unterschiedlichem<br />
Ausmaß als beh<strong>in</strong>dert. Für <strong>Österreich</strong> kann damit bei e<strong>in</strong>er Wohnbevölkerung von rund 8,1 Mio<br />
von rund 1 Mio Personen, die im weitesten S<strong>in</strong>ne von e<strong>in</strong>er Beh<strong>in</strong>derung betroff en s<strong>in</strong>d, ausgegangen<br />
werden. Wenn man jedoch „Beh<strong>in</strong>derung“ bereits mit „körperlicher Bee<strong>in</strong>trächtigung“<br />
gleich setzt und somit e<strong>in</strong>en sehr weiten Beh<strong>in</strong>dertenbegriff entwickelt, würde man auf noch<br />
viel größere Werte kommen. Nach dem Mikrozensus 1995 (der vor allem beim Thema „Bee<strong>in</strong>trächtigung“<br />
e<strong>in</strong>e Unterzeichnung darstellt, weil er Personen <strong>in</strong> Anstaltshaushalten, also auch<br />
<strong>in</strong> Pfl egeheimen, nicht erfasst), kommt man auf 1,3393 Mio Personen <strong>in</strong> Privathaushalten, die<br />
unter zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>er körperlichen Bee<strong>in</strong>trächtigung leiden sowie zusätzlich 1,6628 Mio Personen<br />
<strong>in</strong> Privathaushalten, die unter e<strong>in</strong>er chronischen Krankheit leiden. (Nähere empirische<br />
Darstellung weiter u nten). Dieser (relativ weite) „Beh<strong>in</strong>derungsbegriff “ schließt alle länger<br />
andauernden bzw. dauerhaften körperlichen und geistigen Bee<strong>in</strong>trächtigungen e<strong>in</strong>; hier s<strong>in</strong>d<br />
beispielsweise alle Schlechtsichtig keiten, die e<strong>in</strong>er Korrektur (Brille) bedürfen genauso enthalten<br />
wie Schwerhörigkeit oder Beh<strong>in</strong>derungen, die sich aus Stoff wechselkrankheiten ergeben.<br />
Dabei handelt es sich jedoch nur um e<strong>in</strong>e grobe Annäherung, die <strong>in</strong>sbesondere <strong>für</strong> die Abschätzung<br />
der Verteilung des Anteils beh<strong>in</strong>derter Menschen auf die verschiedenen Alterskohorten nicht<br />
geeignet ist, da gerade bei hoch altrigen Menschen anzunehmen ist, d ass e<strong>in</strong> erheblicher Teil<br />
von ihnen <strong>in</strong> Heimen untergebracht ist und somit nicht vom Mikrozensus erfasst wird. Allerd<strong>in</strong>gs<br />
bedeutet diese „weite“ Defi nition von Beh<strong>in</strong>derung, die als E<strong>in</strong>stige <strong>in</strong> den Versuch e<strong>in</strong>er empirischen<br />
Erfassung durchaus geeignet sche<strong>in</strong>t, nicht, dass alle Personen, die hier als „beh<strong>in</strong>dert“<br />
kategorisiert s<strong>in</strong>d, auch reg elmäßiger oder st ändiger Unterstützung bzw. gar Pfl ege bedürfen.<br />
Oft reicht e<strong>in</strong>e technische Hilfe bzw. e<strong>in</strong> Behelf, um die Beh<strong>in</strong>derung weitgehend auszugleichen<br />
(z. B. e<strong>in</strong>e Brille).<br />
Selbst der Unterstützungsbedarf ist abgestuft und unterscheidet sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er breiten Herangehensweise<br />
vom Konzept des Pfl egebedarfes, das (<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>) nur jenen Unterstützungsbedarf<br />
268
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
erfasst und durch notwendige Stunden im Monat quantifi ziert, der <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>stufungsverordnung<br />
des Pfl egegeldes genannt wird. Kytir und Münz (1992: 74f) stellen e<strong>in</strong>e Hierarchie des Unterstützungsbedarfes<br />
<strong>für</strong> über sechzigjährige Personen <strong>in</strong> Privathaushalten dar 3 .<br />
Anziehen, Wohnung<br />
verlassen<br />
Anziehen, Wohnung verlassen, kürzere<br />
Strecken gehen<br />
Anziehen, Wohnung verlassen, kürzere Strecken gehen,<br />
Stiegen steigen<br />
Anziehen, Wohnung verlassen, kürzere Strecken gehen, Stiegen steigen,<br />
E<strong>in</strong>kaufstasche tragen, bücken<br />
Anziehen, Wohnung verlassen, kürzere Strecken gehen, Stiegen steigen, E<strong>in</strong>kaufstasche tragen,<br />
bücken, Kochen, Waschen und Bügeln<br />
Quelle: Kytir & Münz 1992: 75<br />
Die Kästchen stellen jeweils jene Gruppe von Personen dar, die zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e der j eweils<br />
genannten Tätigkeiten nicht ohne fremde Hilfe ausführen können. Deutlich wird auch <strong>in</strong> den<br />
quantitativen Darstellungen durch die Mikrozensus-Erhebungen <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong>, dass nur e<strong>in</strong>e<br />
kle<strong>in</strong>e Gruppe der alten Menschen ausschließlich leichte funktionale Beh<strong>in</strong>derungen, gemessen<br />
an der Zahl von Tätigkeiten, die sie nicht (mehr) ohne fremde Hilfe ausüben können, aufweist<br />
vgl. Kytir & Münz 1992: 74). Deutlich wird aber auch, dass <strong>in</strong> diesem funktionellen Konzept von<br />
Beh<strong>in</strong>derung auch soziale Beh<strong>in</strong>derungen enthalten s<strong>in</strong>d, die etw a dadurch entstehen, dass<br />
(ältere) Männer nie gelernt haben, zu bügeln, Wäsche zu waschen oder zu kochen und daher<br />
deswegen beim Tod ihrer P artner<strong>in</strong> auf fremde Hilfe angewiesen s<strong>in</strong>d. Das hier entwickelte<br />
breite Konzept von funktionalen Bee<strong>in</strong>trächtigungen oder Beh<strong>in</strong>derungen orientiert eben nicht<br />
nur auf körperliche, sondern auch auf soziale Beh<strong>in</strong>derungen, wenn und <strong>in</strong>soweit daraus e<strong>in</strong><br />
Hilfebedarf entsteht. Darauf aufbauend kann dann e<strong>in</strong> engerer Beh<strong>in</strong>derungsbegriff entwickelt<br />
werden, der sich stärker an körperlichen und seelischen Bee<strong>in</strong>trächtigungen orientiert.<br />
11.2.1. Schlechte empirische Fassbarkeit<br />
Der Zustand „Beh<strong>in</strong>derung“ entzieht sich wie teilweise bereits ausgeführt e<strong>in</strong>er empirischen<br />
Erhebung aus verschiedenen Gründen. Die u mfassenden Erhebungen, die den Gesu ndheitszustand<br />
der Bev ölkerung darstellen können (Volkszählung, Mikrozensus), s<strong>in</strong>d nur bed<strong>in</strong>g t<br />
geeignet, „Beh<strong>in</strong>derung“ empirisch zu fassen. Die Volkszählung als „Generalerhebung“ kann<br />
nur sehr allgeme<strong>in</strong>e Parameter erheben, ähnliches gilt, wenn auch nicht so deutlich, fü r den<br />
Mikrozensus. Andere statistische Erfassungen von „Beh<strong>in</strong>derung“ gibt es nicht. Dabei muss aber<br />
beachtet werden, dass dieser Tatbestand zwar <strong>für</strong> soziologische Erhebungen bedauerlich ist,<br />
aber dennoch e<strong>in</strong> Indikator <strong>für</strong> den demokratischen Reife grad e<strong>in</strong>er Bevölkerung darstellt. Denn<br />
3 Auf Grund des Alters der Quelle wurde auf e<strong>in</strong>e Übernahme der quantitativen Dimension verzichtet.<br />
269
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
es bedeutet, dass es <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> ke<strong>in</strong>e amtliche Erfassung von „Beh<strong>in</strong>derung“ und demnach<br />
auch ke<strong>in</strong>e „Kartei physischer und psychischer Be e<strong>in</strong>trächtigungen und Erkrankungen“ (mehr)<br />
gibt. E<strong>in</strong>e umfassende statistische und bürokratische Erfassung physischer, psychischer und<br />
sozialer Bee<strong>in</strong>trächtigungen würde Stigmatisierungen bürokratisch festlegen und möglicher<br />
Diskrim<strong>in</strong>ierung und (bürokratischer) Benachteiligung der hier e<strong>in</strong>g etragenen Personen Tür<br />
und Tor öff nen.<br />
Wenn wir uns daher mit Annäherungen bzw. statistischen Hilfskonstruktionen behelfen müssen,<br />
erschwer t dies die Möglich keit statistisch abgesicherter Aussagen gerade im Bereich<br />
hochaltriger Menschen, wo selbst der Hilfs<strong>in</strong>dikator „Pfl egegeldbezug“ nicht geeignet ist, um<br />
die Dimension „Beh<strong>in</strong>derung“ <strong>in</strong> diesen Alterskohorten darzustellen. Es macht aber deutlich,<br />
wie <strong>in</strong>tegrativ die österreichische Gesellschaft letztendlich mit diesem Problem (zum<strong>in</strong>dest mit<br />
se<strong>in</strong>er quantitativen Betrachtung) umgeht.<br />
Im Mikrozensus wird periodisch (das letzte Mal im Juni 1995) nach „körperlichen Bee<strong>in</strong>trächtigungen“<br />
gefragt. Das br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e quantitative Annäherung, die allerd<strong>in</strong>gs problembehaftet ist.<br />
Erstens erfasst der Mikrozensus, e<strong>in</strong>e vier Mal im Jahr durchgeführte repräsentative Befragung<br />
bei e<strong>in</strong>em Prozent der Wohnbevölkerung <strong>in</strong> privaten Haushalten, die Bewohner/<strong>in</strong>nen von „Anstaltshaushalten“<br />
nicht, also auch die etwa 60.000 Menschen, die <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> <strong>in</strong> Alten- und<br />
Pfl egeheimen leben (siehe Prochazkova & Schmid 2005: 20ff ). Die zweite E<strong>in</strong>schränkung der<br />
Validität dieser Zahlen bezieht sich auf die Art und Weise ihrer Erhebung, denn beim Mikrozensus<br />
werden persönliche E<strong>in</strong>schätzungen abgefragt, nicht aber mediz<strong>in</strong>ische, pfl egerische oder<br />
sozialarbeiterische Befunde. Die „Bee<strong>in</strong>trächtigung“ wird also nur <strong>in</strong> der subjektiven Wahrnehmung<br />
der befragten Personen erhoben.<br />
Schließlich ist bezüglich des Begriff es „Bee<strong>in</strong>trächtigung“ und der Art der Bee<strong>in</strong>trächtigungen zu<br />
beachten, dass hierunter alle Arten von Bee<strong>in</strong>trächtigung fallen, auch jene, die im eigentlichen<br />
S<strong>in</strong>ne noch ke<strong>in</strong>e Beh<strong>in</strong>derung (unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Beh<strong>in</strong>derungsbegriff<br />
e) bedeuten bzw. bewirken. So s<strong>in</strong>d zum Beispiel unter dem Begriff Sehbee<strong>in</strong>trächtigung<br />
ebenso verschiedene Formen der Fehlsichtigkeit be<strong>in</strong>haltet, die im herkömmlichen, alltäglichen<br />
Sprachgebrauch der Gesellschaft nicht als Beh<strong>in</strong>derung bezeichnet werden, die aber dennoch<br />
e<strong>in</strong>e Bee<strong>in</strong>trächtigung im täglichen Leben bedeuten können (Kurzsichtigkeit, Weitsichtigkeit,<br />
Farbenbl<strong>in</strong>dheit,...). Auch Hörbee<strong>in</strong>trächtigungen oder Bee<strong>in</strong>trächtigungen der Mobilität, die hier<br />
erfragt werden, können durchaus breiter wahrgenommen werden, als es e<strong>in</strong>em <strong>für</strong> die Beh<strong>in</strong>derungspolitik<br />
operationalisierbaren Begriff von Beh<strong>in</strong>derung entspricht. Dies macht deutlich, wie<br />
sich die unterschiedlichen Begriff sdefi nitionen auf e<strong>in</strong>e mögliche Erfassung der quantitativen<br />
Betroff enheit auswirken können. Außerdem handelt es sich bei den hier vorliegenden Daten<br />
um zwölf Jahre alte statistische Informationen, seit Juni 1995 wurde das Kriterium „körperliche<br />
Bee<strong>in</strong>trächtigung“ <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Mikrozensus mehr erfasst.<br />
Der Versuch, durch die Darstellung der Zahl der Pfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>e statistische Annäherung<br />
an den Umfang des Problems „Beh<strong>in</strong>derung“ zu erhalten, eignet sich (möglicherweise)<br />
270
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
im Bereich jü ngerer Alterskohorten. Bei hochbetagten Men schen scheidet diese Möglichkeit<br />
als statistische Annäherung an die Dimens ion „Beh<strong>in</strong>derung“ aus, da e<strong>in</strong> Großteil der Pfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen<br />
<strong>in</strong> den hohen Altersk ohorten auf Grund von Multimorbidität und/oder<br />
Demenzerkrankungen pfl egebedürftig ist und nicht auf Grund e<strong>in</strong>er Beh<strong>in</strong>derung.<br />
Noch weniger Zahlen liegen <strong>für</strong> Menschen mit geistigen Beh<strong>in</strong>derungen oder psychischen Erkrankungen<br />
vor. Die Zahl der geistig beh<strong>in</strong>derten <strong>Österreich</strong>er/<strong>in</strong>nen kann <strong>in</strong> Anlehnung an <strong>in</strong>ternationale<br />
Berechnungen mit etwa 0,6% der Bevölkerung bzw. 0,8% e<strong>in</strong>es Geburtsjahrganges<br />
angenommen werden. F ür das Ausmaß von psychosozialen Bee<strong>in</strong>trächtigungen (psychischen<br />
Erkrankungen) kann unter Rückgriff auf Prozentsätze, die auf Grundlage standardisierter Erhebungs<strong>in</strong>strumente<br />
festgelegt wurden, angenommen werden, dass etwa 1% der Bevölkerung jährlich<br />
erstmalig psychisch erkrankt und etwa 2 bis 3% der Bevölkerung an e<strong>in</strong>em bestimmten Stichtag<br />
e<strong>in</strong>e psychische Störung erheblichen Ausmaßes aufweisen, die professioneller Hilfe bedürfen<br />
(siehe Land Oberösterreich 2004: 95). Doch diese Zahlen s<strong>in</strong>d nicht sehr aussagekräftig, da e<strong>in</strong>e<br />
genaue Erhebung der Betroff enheit aufgrund verschiedener E<strong>in</strong>fl üsse (z. B. <strong>in</strong>homogene Gruppe<br />
der Betroff enen, nicht bzw. als körperliche Fehlfunktion diagnostizierte psychische Störungen,<br />
Tabuthema „psychische Beh<strong>in</strong>derung“ bzw. „psychische Bee<strong>in</strong>trächtigung“) nicht er folgen<br />
kann. Diesbezüglich spielt wohl die besondere Stigmatisierung von psychisch bee<strong>in</strong>trächtigten<br />
Personen <strong>in</strong> unserer Gesellschaft e<strong>in</strong>e große Rolle.<br />
Ähnlich wie sich die Zahl der Pfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen nicht <strong>für</strong> die empirische Be schreibung<br />
der Gruppe hochbetagter beh<strong>in</strong>derter Menschen eignet, zeichnet auch die Zahl der bes achwalterten<br />
Personen <strong>in</strong> der Gruppe der hochaltrigen Menschen ke<strong>in</strong> brauchbares Bild über die<br />
Zahl der geistig beh<strong>in</strong>derten Menschen, da hier e<strong>in</strong>e hohe Zahl altersdementer oder an Morbus<br />
Alzheimer erkrankten Personen enthalten ist 4 .<br />
Bei der Beschreibung der Beh<strong>in</strong>derungen <strong>in</strong> der Gruppe der hochbetagten Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
werden wir uns daher auf grobe empirische Schätzungen bzw. Annäherungen und auf qualitative<br />
Beschreibungen e<strong>in</strong>zelner Probleme be schränken müssen.<br />
11.3. Empirische Annäherungen<br />
E<strong>in</strong> Überblick über Menschen mit körperlichen Bee<strong>in</strong>trächtigungen kann e<strong>in</strong>e Annäherung an<br />
die empirische Umgrenzung der Zahl körperbeh<strong>in</strong>derter Menschen im höheren Alter se<strong>in</strong>. Die<br />
hier dargestellten Zahlen stellen wie erwähnt aber (vor allem im Bereich der Höheraltrigen) e<strong>in</strong>e<br />
systematische statistische Unterschätzung dar, da der Mikrozensus nur Personen <strong>in</strong> Privathaushalten,<br />
nicht aber <strong>in</strong> Anstaltshaushalten4 erfasst.<br />
4 Nach Münz s<strong>in</strong>d z. B. 45% der Personen über 94 Jahren an Alzheimer oder Demenz erkrankt (Münz 2004: 21)<br />
271
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
272<br />
Tabelle 1: Körperlich bee<strong>in</strong>trächtigte Personen <strong>in</strong> Privathaushalten - Männer<br />
Auskunftserteilende<br />
Körperlich bee<strong>in</strong>trächtigte Personen<br />
Bevölkerung<br />
Anzahl In % der Bevölkerung<br />
1995 1986 1976 1995 1986 1976 1995 1986 1976<br />
Männer<br />
Gesamt 3449,0 3312,9 3497,3 979,5 722,2 713,4 28,4 21,8 20,4<br />
60 – 69 301,2 261,7 315,0 181,9 141,8 154,7 60,4 54,2 49,1<br />
70 – 79 162,0 177,1 206,1 114,9 125,6 125,5 70,9 65,5 60,9<br />
80+ 70.8 62,2 48,9 57,5 48,1 36,3 81,5 77,3 74,3<br />
Tabelle 2: Körperlich bee<strong>in</strong>trächtigte Personen <strong>in</strong> Privathaushalten - Frauen<br />
Auskunftserteilende<br />
Körperlich bee<strong>in</strong>trächtigte Personen<br />
Bevölkerung Anzahl<br />
In % der Bevölkerung<br />
1995 1986 1976 1995 1986 1976 1995 1986 1976<br />
Frauen<br />
Gesamt 3669,9 3636,6 3832,8 1148,7 854,6 854,7 31,3 23,5 22,3<br />
60 – 69 357,1 397,7 441,4 211,8 184,5 200,0 59,3 46,4 45,3<br />
70 – 79 294,4 314,5 351,7 213,1 195,6 222,3 72,4 62,2 63,2<br />
80+ 169,3 135,0 104,2 146,1 110,3 83,4 86,3 81,7 80,8<br />
Tabelle 3: Körperlich bee<strong>in</strong>trächtigte Personen <strong>in</strong> Privathaushalten - Zusammen<br />
Auskunftserteilende<br />
Körperlich bee<strong>in</strong>trächtigte Personen<br />
Bevölkerung Anzahl<br />
In % der Bevölkerung<br />
1995<br />
Zusammen<br />
1986 1976 1995 1986 1976 1995 1986 1976<br />
Gesamt 7.118,90 6.949,50 7.240,10 2.128,60 1.577,50 1.549,40 29.Sep 22,7 21,4<br />
60 – 69 658,3 659,4 756,4 393,7 326,4 354,8 59,8 49,5 46,9<br />
70 – 79 456,5 491,6 557,8 328,2 311,7 348,1 71,9 63,4 62,4<br />
80+ 240,2 197,2 153,1 203,9 154,8 120,5 84,9 80,3 78,7<br />
Quelle: <strong>Österreich</strong>isches Statistisches Zentralamt 1998: 45ff , eigene Berechnungen<br />
Die Reichweite des Mikrozensus be schränkt sich – durch die Tatsache, dass der Mikrozensus<br />
nur Privathaushalte, nicht aber Anstaltshaushalte erreicht sowie auf Grund von Auskunftsverweigerung<br />
von befragten Personen - auf knapp neun Zehntel der Wohnbevölkerung, wie mit<br />
folgender Tabelle deutlich gemacht werden kann.
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
Tabelle 4: unzureichende Reichweite des Mikrozensus bei hochaltrigen Personen<br />
Auskunftserteilende<br />
Bevölkerung<br />
Wohnbevölkerung<br />
Reichweite des<br />
Mikrozensus<br />
1995 1986 1976 1995 1986 1976 1995 1986 1976<br />
Gesamt 7.118,90 6.949,50 7.240,10 8.047.0 7.566,00 7.520,00 88,5 91,9 95.7<br />
Männer 3.669,90 3.636,60 3.832,80 3.902,00 -- -- 94,1 -- --<br />
Frauen 3.449,00 3.312,90 3.497,30 3.973,00 -- -- 86,8 -- --<br />
Quelle: <strong>Österreich</strong>isches Statistisches Zentralamt 1998: 45ff , Bundeskammer <strong>für</strong> <strong>Arbeit</strong>er und Angestellte 1977, 1989, 1997,<br />
eigene Berechnungen<br />
Bei den über Sechzigjährigen nimmt (1995) die R eichweite w eiter a b und s<strong>in</strong>kt a uf 85,3%<br />
(Bundesarbeitskammer 1997, eigene Berechnungen).<br />
11.4. Körperliche Bee<strong>in</strong>trächtigungen im (hohen) Alter<br />
Selbst diese unbefriedigende Datenlage macht deutlich, dass der Anteil körperlich bee<strong>in</strong>trächtigter<br />
Menschen mit höherem Alter deutlich zunimmt. Betrug 1995 der Anteil körperlich bee<strong>in</strong>trächtigter<br />
Personen an der Gesamtbevölkerung knapp 30%, lag er bereits bei den 60-69-Jährigen bei<br />
rund 60%, stieg im nächsten Altersdezil (70-79-Jährige) bereits auf mehr als 70% und erreichte<br />
bei den über 80-Jährigen bereits knapp 85%. Dabei lag der Anteil der Frauen mit körperlichen<br />
Bee<strong>in</strong>trächtigungen an ihrer Alterskohorte (außer <strong>in</strong> der Altersgruppe der 60- bis 69-Jährigen)<br />
jeweils merklich über dem der Männer.<br />
Deutlich ist auch, dass der Anteil der Lebensjahre mit körperlicher Bee<strong>in</strong>trächtigung im Spiegelbild<br />
der drei Mik rozensuserhebungen 1976, 1986 und 19 95) <strong>in</strong> allen Altersgruppen leicht<br />
angestiegen ist. Das kann auf e<strong>in</strong>e Zunahme körperlicher Bee<strong>in</strong>trächtigungen 5 deuten, aber auch<br />
darauf, dass Mitte der neunziger Jahre e<strong>in</strong> gr ößerer Teil körperlich bee<strong>in</strong>trächtigter Personen<br />
außerhalb e<strong>in</strong>es Heimes gelebt hat als zum Zeitpunkt der früheren Erhebungen.<br />
Die folgende Tabelle macht die Verteilung der körperlichen Bee<strong>in</strong>trächtigungen auf e<strong>in</strong>zelne<br />
Bee<strong>in</strong>trächtigungsarten deutlich. Darg estellt wird der jeweilige Anteil an al len befragten Personen,<br />
Doppelnennungen waren möglich.<br />
5 etwa weil der mediz<strong>in</strong>ische Fortschritt dazu führt, auch schwere Bee<strong>in</strong>trächtigungen länger zu erleben<br />
273
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
274<br />
Tabelle 5: Anteil der bee<strong>in</strong>trächtigten Personen (Männer, Frauen)<br />
Seh- Hörbee<strong>in</strong>trächtigt<br />
Bewegungs-<br />
Chronisch krank<br />
1995 1986 1976 1995 1986 1976 1995 1986 1976 1995 1986 1976<br />
Männer<br />
Gesamt 4,7 3,5 7,3 6,8 5,9 4,9 6,7 6,2 6,4 21,1 15,2 11,3<br />
60 – 69 9,2 6,3 17,3 17,3 17,8 13,8 14,9 19,1 16,2 47,8 38,4 29,3<br />
70 – 79 15,3 12,5 25,0 31,5 29,9 24,7 23,9 21,8 16,4 51,5 47,8 39,9<br />
80+<br />
Frauen<br />
28,2 27,1 35,8 47,6 44,7 38,1 31,9 29,2 27,7 58,6 53,0 48,1<br />
Gesamt 6,7 4,4 9,6 6,1 5,3 4,4 6,7 5,2 4,6 25,5 18,5 15,0<br />
60 – 69 11,0 5,8 18,8 11,1 9,1 8,1 12,4 10,1 9,4 48,6 37,9 32,5<br />
70 – 79 20,7 14,4 29,3 21,2 20,0 17,9 22,4 17,5 16,0 59,3 50,0 46,1<br />
80+ 34,0 29,3 42,1 39,8 40,5 35,4 37,6 31,2 30,5 68,3 61,7 61,3<br />
Tabelle 6: Anteil der bee<strong>in</strong>trächtigten Personen (Gesamt)<br />
Seh- Hör- Bewegungsbee<strong>in</strong>trächtigt<br />
1995<br />
Zusammen<br />
1986 1976 1995 1986 1976 1995 1986 1976 1995 1986 1976<br />
Gesamt 5,7 4,0 8,5 6,4 5,6 4,6 6,7 5,7 5,5 23,4 16,9 13,3<br />
60 – 69 10,2 6,0 18,2 14,0 12,5 10,5 13,5 13,7 12,2 48,2 38,1 31,2<br />
70 – 79 18,8 13,7 27,7 24,8 23,5 20,4 23,0 19,1 16,2 56,5 49,2 43,8<br />
80+ 32,2 28,6 40,1 42,1 41,8 36,3 35,9 30,6 29,6 65,5 59,0 57,1<br />
Quelle: <strong>Österreich</strong>isches Statistisches Zentralamt 1998: 45ff , eigene Berechnungen<br />
Chronisch krank<br />
Deutlich wird, dass die stärkste Bee<strong>in</strong>trächtigung hochaltriger Menschen die Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />
durch chronische Krankheiten ist; 1995 waren davon bereits knapp zwei Drittel der über Achtzigjährigen<br />
betroff en (Frauen mehr als Männer), bei den 60- bis 69-Jährigen waren es knapp<br />
die Hälfte, bei der folg enden zehnjährigen Alterskohorte etwas mehr als die Hälf te (<strong>in</strong> allen<br />
beschriebenen Altersgruppen waren Frauen stärker betroff en als Männer). Der Anteil der chronisch<br />
kranken hochaltrigen Menschen (<strong>in</strong> Privathaushalten) ist im Abstand der drei Mikrozensusbefragungen<br />
etwas gestiegen.<br />
Von Bewegungsbee<strong>in</strong>trächtigungen waren 1995 etwas mehr als e<strong>in</strong> Drittel der über 80-Jährigen<br />
betroff en, gefolgt von Sehbee<strong>in</strong>trächtigungen mit knapp e<strong>in</strong>em Drittel. Von Hörbee<strong>in</strong>trächtigungen<br />
waren <strong>in</strong> die ser Alters gruppe mit etwas ü ber 42% noch mehr Menschen betroff en.<br />
Bei Bewegungs- u nd Sehbee<strong>in</strong>trächtigungen w aren die Frauen etwas stärker betroff en als<br />
die Männer, bei Hörbee<strong>in</strong>trächtigungen h<strong>in</strong>gegen die Männer, was auf die Auswirkungen von<br />
Lärmbelastungen im <strong>Arbeit</strong>sleben deutet . Bewegungs- und Hörbee<strong>in</strong>trächtigungen von über<br />
80-Jährigen (<strong>in</strong> Privathaushalten) s<strong>in</strong>d im Abstand der drei Erhebungen leicht angestiegen, die
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
Sehbee<strong>in</strong>trächtigung war h<strong>in</strong>gegen (<strong>in</strong> allen Altersgruppen) 1976 deutlich höher als bei den<br />
beiden folgenden Befragungen – das kann auf e<strong>in</strong>e Änderung der Befragung <strong>in</strong> dieser Kategorie<br />
h<strong>in</strong>deuten, aber auch auf Fortschritte der Augenmediz<strong>in</strong>, <strong>in</strong>sbesondere bei Staroperationen<br />
(siehe <strong>Österreich</strong>isches Statistisches Zen tralamt 1998: 36).<br />
Abbildung 1: Anteil der jeweils bee<strong>in</strong>trächtigten Personen an der gesamten Alterskohorte<br />
der <strong>in</strong> Privathaushalten lebenden über Achtzigjährigen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Bee<strong>in</strong>trächtigungen der über Achzigjährigen<br />
(Mikrozensus 1995)<br />
Sehen Hören Bewegen chronisch<br />
krank<br />
Quelle: <strong>Österreich</strong>isches Statistisches Zentralamt 1998, Mikrozensus 1995<br />
Männer<br />
Frauen<br />
Zusammen<br />
In den beiden „jüngeren“ Altersgruppen (60- bis 69-Jährige und 70 bis 79-Jährige s<strong>in</strong>d die Unterschiede<br />
zwischen diesen drei Bee<strong>in</strong>trächtigungen (Seh-, Hör- und Bewegungsbee<strong>in</strong>trächtigung)<br />
nicht so groß wie <strong>in</strong> der höchsten Altersgruppe. Auch hier s<strong>in</strong>d Frauen von Seh- und Bewegungsbee<strong>in</strong>trächtigungen<br />
etwas stärker betroff en als Männer, während Hörbee<strong>in</strong>trächtigungen bei<br />
Männern (zum Teil deutlich) stärker auftreten als bei Frauen.<br />
275
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
11.5. Psychische Bee<strong>in</strong>trächtigung und geistige Beh<strong>in</strong>derung im höheren<br />
Alter<br />
Über psychische Bee<strong>in</strong>trächtigungen (psychische Beh<strong>in</strong>derungen, psychische Erkrankungen)<br />
sowie über geistige Beh<strong>in</strong>derungen im Alter lieg en kaum gesicherte Daten vor. Dokumentiert<br />
ist die Verbreitung von Demenz und Morbus Alzheimer, beides Erkrankungen, die im hohen<br />
Alter steigen: Liegt die Inzidenz von Depression und Alzheimer (2001) <strong>in</strong> der Alterskohorte der<br />
70-Jährigen bei 5 Proz ent und bei den 80-Jährig en bei 10 Proz ent e<strong>in</strong>es Jahrganges, so steig t<br />
sie bei den über 89-Jährig en bereits auf 45 Prozent an (Münz 2003: 21). Allerd<strong>in</strong>gs ist es e<strong>in</strong>e<br />
Frage der Ab grenzung, ob diese Bee<strong>in</strong>trächtigungen als „Beh<strong>in</strong>derung“ gewertet werden oder<br />
als „Krankheit“. Gerade hier w ird deutlich, wie sehr diese beiden Lebensformen im höheren<br />
und höchsten Alter <strong>in</strong> E<strong>in</strong>s verschmelzen.<br />
Walker geht davon aus, dass die <strong>in</strong>tellektuellen oder mentalen Beh<strong>in</strong>derungen (mit Ausnahme<br />
der als „Krankheiten“ defi nierten Demenz- und Alzheimer-Leiden) im höheren Alter wenig er<br />
schwer ausgeprägt s<strong>in</strong>d als bei jüngeren Alterskohorten und geht davon aus, dass die größten<br />
prognostizierten Zunahmen bei der älteren Bevölkerung mit <strong>in</strong>tellektuellen oder mentalen Beh<strong>in</strong>derungen<br />
liegen werden. „Hier gibt es … e<strong>in</strong> Paradoxon: alle älteren Menschen mit <strong>in</strong>tellektueller<br />
Beh<strong>in</strong>derung haben derzeit e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>gere mentale Beh<strong>in</strong>derung, e<strong>in</strong>en weniger schweren Grad<br />
und e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>gere E<strong>in</strong>schränkung als jüngere Bevölkerungsgruppen. Das liegt daran, dass <strong>in</strong><br />
früheren Generationen die Menschen (geme<strong>in</strong>t: Menschen mit <strong>in</strong>tellektuellen Beh<strong>in</strong>derungen;<br />
Anm. T.S.) nie älter wurden als etwa 40.“ (Walker 2006: 33f). In den heute hochbetagten Alterskohorten<br />
fehlen daher jene Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen, die auf Grund der damaligen Situation<br />
<strong>in</strong> der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts bereits <strong>in</strong> ihren Dreißigern und Vierzigern<br />
verstorben s<strong>in</strong>d. Natürlich fehlen auch, und daran kann nicht oft genug er<strong>in</strong>nert werden, jene<br />
Menschen, die dem Rassenwahn und den Euthanasieprogrammen der Nationalsozialisten zum<br />
Opfer gefallen s<strong>in</strong>d. Es ist daher zu erwarten, dass <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Jahrzehnten, wenn die Alterskohorten<br />
der heute vierzig oder fünfzig Jahre alten beh<strong>in</strong>derten Menschen, <strong>in</strong> das Hochbetagtenalter<br />
kommen werden, Zahl und Anteil der schwerer <strong>in</strong>tellektuell oder mental beh<strong>in</strong>derten Menschen<br />
deutlich schneller wachsen wird, als alle<strong>in</strong> aus demografi schen Gründen zu erwarten wäre..<br />
11.6. Krankheiten und Bee<strong>in</strong>trächtigungen der Lebensqualität im höheren<br />
Alter<br />
Zusätzlich zu den „klassischen“ Beh<strong>in</strong>derungen s<strong>in</strong>d wesentliche Bee<strong>in</strong>trächti gun gen im höheren<br />
Alter auf Altersdepression, auf Altersdiabetes, auf Morbus Park<strong>in</strong>son und auf Osteoporose<br />
zurück zu führen. Die Zeitspanne, welche – meist im letzten Lebensabschnitt – mit funktionellen<br />
E<strong>in</strong>bussen von körperlichen und geistigen Fähigkeiten verbracht wird, beträgt im Jahr 2001 bei<br />
Männern rund 6,3 Jahre und bei Frauen etwa 8,0 Jahre (Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Gesundheit und<br />
Frauen 2003: 44).<br />
276
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
Die Lebenserwartung bei Geburt betrug im Jahr 2001 bei Männern 7 5,5 Jahre, bei Frauen 81,2<br />
Jahre. Die nach dem QALY-Konzept (vgl. Phillips 2001) berechnete Zahl von Jahren, die frei von<br />
erheblichen körperlichen oder geistigen Bee<strong>in</strong>trächtigungen (das s<strong>in</strong>d solche Beh<strong>in</strong>derungen,<br />
die zu e<strong>in</strong>er dauernden Hilfs- bzw. Pfl egebedürftigkeit führen) erwartet werden können, beträgt<br />
gegenwärtig bei Männern 69,2 und bei Frauen 73,2 Jahre. Im Durchschnitt ist das hohe Alter<br />
von Bee<strong>in</strong>trächtigungen und Beh<strong>in</strong>derungen begleitet.<br />
Dieser Durchschnittswert darf jedoch nicht verleiten, höheres Alter, quasi durch e<strong>in</strong>e Defi zitbrille<br />
betrachtet, nur als Lebens abschnitt des Leidens und der Beh<strong>in</strong>derung zu sehen. Das kann es<br />
se<strong>in</strong>, muss es aber nicht se<strong>in</strong>, es gibt auch e<strong>in</strong>e erhebliche Zahl älterer und hochbetagter Menschen,<br />
die (relativ) frei von Bee<strong>in</strong>trächtigung, Krankheit und Beh<strong>in</strong>derung leben. Wenn <strong>in</strong> der<br />
Personengruppe der über Achtzigjährigen rund achtzig Prozent der <strong>in</strong> Privathaus halten lebenden<br />
Personen im Mikrozensus 1995 körperliche Bee<strong>in</strong>trächtigungen angeben, bedeutet das im Umkehrschluss,<br />
dass rund e<strong>in</strong> Fünftel der Wohnbevölkerung <strong>in</strong> dieser Altersgruppe beschwerdefrei<br />
s<strong>in</strong>d (zu den Zahlen siehe weiter oben). Über Betroff enheit von Bee<strong>in</strong>trächtigung <strong>in</strong> der Altersgruppe<br />
der Hochbetagten zu sprechen, ohne die gesamte Altersgruppe pauschal als körperlich<br />
bee<strong>in</strong>trächtigt zu verstehen, erfordert e<strong>in</strong>en diff erenzierteren und diff erenzierenderen Blick.<br />
Lebensqualität ist jedoch e<strong>in</strong> sehr subjektiver Wert. Sie kann nicht (alle<strong>in</strong>) aus den objektiven<br />
Befunden, die über e<strong>in</strong>en Menschen erhoben werden, ermittelt werden, sondern ist e<strong>in</strong>e Funktion<br />
des Empfi ndens und Wollens, des Grades von „gel<strong>in</strong>gendem Leben“ (siehe z. B. Dirnberger<br />
2005, Schmid 2007), das nur von der betroff enen Person festgestellt und (nicht immer) artikuliert<br />
werden kann. Walker nennt als Ergebnis e<strong>in</strong>es Projektes, das <strong>in</strong> England durchgeführt wurde,<br />
sieben Punkte, die <strong>für</strong> ältere Menschen wichtige Bestandteile ihrer gefühlten Lebensqualität s<strong>in</strong>d:<br />
» „Aktiv und gesund zu bleiben,<br />
» Weiterzulernen,<br />
» Zugängliche lokale Dienstleistungen <strong>in</strong> Anspruch zu nehmen,<br />
» Gute soziale Beziehungen zur Familie, zu Freunden und Nachbarn zu haben,<br />
» Von Freunden und der Geme<strong>in</strong>de geschätzt zu werden und sich zugehörig zu fühlen,<br />
» Wahlmöglichkeiten haben und Risken e<strong>in</strong>gehen zu können,<br />
» Unterschiedliche Menschen wertschätzen.“ (Walker 2006: 35)<br />
Dieser Befund, <strong>für</strong> ältere Menschen <strong>in</strong>sg esamt getroff en, ist wohl <strong>in</strong> noch st ärkerem Maß fü r<br />
die Beachtung gewünschter Lebensqualität zu respektieren, nämlich „Alter und Beh<strong>in</strong>derung“<br />
nicht (nur) als Defi zit zu sehen, sondern auch die (noch verbliebenen) Möglichkeiten des Lebens<br />
größtmöglich nutzen zu können, e<strong>in</strong>gebunden <strong>in</strong> solidarische Netze von Familie, Freund/<strong>in</strong>nen<br />
und Nachbar/<strong>in</strong>nen, aber nicht von ihnen abhängig zu se<strong>in</strong>. Es geht schließlich auch hier um<br />
nichts anderes als um das bestmögliche Leben können von „Intimität auf Abstand“ (Rosenmayr<br />
1990: 166ff ).<br />
277
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
11.7. Beh<strong>in</strong>derung im hohen Alter – qualitative Annäherung<br />
Die spärlichen quantitativen Informationen über hochbetagte Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen<br />
sollen durch e<strong>in</strong>ige qualitative Überlegungen ergänzt werden. Es gibt verschiedene Prägungen<br />
des Phänomens „Beh<strong>in</strong>derung hochbetagter Menschen“. So können ältere Menschen an altersbed<strong>in</strong>gten<br />
Beh<strong>in</strong>derungen leiden, sie können im Alter beh<strong>in</strong>der t werden oder s ie können mit<br />
e<strong>in</strong>er Beh<strong>in</strong>derung alt werden. Auch wenn uns ke<strong>in</strong>e gesicherten statistischen Informationen<br />
zur Verfügung stehen, ist augensche<strong>in</strong>lich, dass sich diese Gruppen wesentlich unterscheiden.<br />
Altersbed<strong>in</strong>gte Beh<strong>in</strong>derungen: Es gibt e<strong>in</strong>e große Zahl von Beh<strong>in</strong>derungen, die <strong>für</strong> höheres<br />
Alter nahezu typisch s<strong>in</strong>d. Dazu gehören die verschiedensten Formen altersbed<strong>in</strong>gter Fehlsichtigkeit<br />
(z. B. die bek annte „Altersweitsicht“, die es mit zu nehmendem Alter immer schwerer<br />
macht, normal gedruckte Texte zu lesen) genauso wie die Altersschwerhörigkeit, die vor allem<br />
bei Menschen anzutreff en ist, die jahre- oder jahrzehntelang unter hohen Schallemissionen<br />
arbeiten mussten, zum Beispiel <strong>in</strong> der <strong>in</strong>dustriellen Produktion. Altersschwerhörigkeit ist nach<br />
wie vor e<strong>in</strong>er der häufi gsten Gründe <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Invaliditätspension bei <strong>Arbeit</strong>ern und <strong>Arbeit</strong>er<strong>in</strong>nen.<br />
Bei den psychischen Erkrankungen bzw. geistigen Beh<strong>in</strong>derungen (gerade im höheren Alter<br />
ist die Grenze zwischen diesen beiden Leidensgruppen sehr unscharf und verschwimmend)<br />
ist vor allem die Alters depression e<strong>in</strong> weit verbreitetes, aber oft nicht (bzw. nicht richtig) diagnostiziertes<br />
Leiden. Depression nimmt mit höherem Alter zu und erreicht bei über 85-Jährigen<br />
(Männer 5,5%, Frauen 13,4%) e<strong>in</strong>en Gipfel (siehe BMAGS 1999: 123f).<br />
Diese Beh<strong>in</strong>derungen verändern das Lebensgefühl und die Lebensweise der davon betroff enen<br />
hoch betagten Menschen wesentlich. Insbesondere <strong>für</strong> Menschen, die sich ihr gesamtes bisheriges<br />
Leben gesund und beschwerdefrei gefühlt haben, ist es e<strong>in</strong> oft nur schwer zu ertra-gendes<br />
Gefühl, zunehmend hilfl oser und unterstützungsbedürftiger zu werden. Allerd<strong>in</strong>gs treten diese<br />
Veränderungen üblicherweise über e<strong>in</strong>en längeren Zeitraum auf, mit entsprechender (mit dem<br />
Alter wachsender) Unterstützung und Information können sie auch bewältigt werden. Viele dieser<br />
so genannten altersbed<strong>in</strong>gten Beh<strong>in</strong>derungen können durch rechtzeitig 6 e<strong>in</strong>setzende Prävention<br />
verh<strong>in</strong>dert oder <strong>in</strong> spätere Jahre verschoben werden. Das gilt vor allem <strong>für</strong> jene Beh<strong>in</strong>derungen, die<br />
durch jahrelang unzureichend behandelten Diabetes e<strong>in</strong>treten (z. B. Be<strong>in</strong>amputation, Bl<strong>in</strong>dheit).<br />
Beh<strong>in</strong>dert werden im Alter: Neben den langsam(er) e<strong>in</strong>tretenden Veränderungen des Gesundheitszustandes<br />
alternder Menschen gibt es aber auch Beh<strong>in</strong>derungen, die durch e<strong>in</strong> plötzliches<br />
Ereignis, <strong>in</strong> der Regel durch e<strong>in</strong>en Unfall, aber möglicherweise auch durch e<strong>in</strong>en Schlaganfall<br />
e<strong>in</strong>treten. Betroff en s<strong>in</strong>d vor allem der Bewegungs- und Stützapparat, wenn etwa durch e<strong>in</strong>en<br />
6 Und „rechtzeitig“ me<strong>in</strong>t <strong>in</strong> diesem Fall durchaus schon die zwanziger oder dreißiger Jahre des Lebens e<strong>in</strong>es Menschen,<br />
278<br />
so sollte beispielsweise erfolgreiche Verhütung e<strong>in</strong>er „Altersschwerhörigkeit“ bereits beim E<strong>in</strong>tritt e<strong>in</strong>es Menschen <strong>in</strong>s<br />
Berufsleben e<strong>in</strong>setzen
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
Schlaganfall e<strong>in</strong>e halbseitige Lähmung e<strong>in</strong>tritt, die im höheren Alter nicht mehr oder nur mehr<br />
unzureichend mobilisiert werden kann. Oft s<strong>in</strong>d auch Knochenbrüche, <strong>in</strong>sbesondere der Bruch<br />
des Oberschenkelhalses, die <strong>in</strong> jüngeren Jahren du rchaus wiederum vollständig zu kurieren<br />
s<strong>in</strong>d, im höheren Alter zwar mediz<strong>in</strong>isch ausheilbar, bewirken aber dennoch u nkorrigierbare<br />
Mobilitätse<strong>in</strong>schränkungen.<br />
Im Gegensatz zu den durch Alterserkrankungen langsam e<strong>in</strong>tretenden (oder sich verschlechternden)<br />
Bee<strong>in</strong>trächti gun gen, wie sie weiter oben beschrieben wurden, treten diese Beh<strong>in</strong>derungen<br />
<strong>in</strong> der Regel plötzlich auf und stellen die betroff ene Person und ihre Angehörige vor<br />
große Herausforderungen, was die Umorganisierung des Lebensalltages und die Bewältigung<br />
neuer Betreuungssituationen betriff t. Hier ist die Bereitstellung e<strong>in</strong>es ausreichenden beratenden<br />
und familienunterstützenden Angebotes unumgänglich. Allerd<strong>in</strong>gs kann auch <strong>in</strong> diesen<br />
Fällen er folgreiche Prävention Belastungen und Leid verh<strong>in</strong>dern. Dabei sol lte vor allem auf<br />
die Sturzprävention großes Augenmerk gelegt werden (entsprechende Gehilfen, Entschärfung<br />
neuralgischer Situationen, Lernen altersbed<strong>in</strong>gt „richtigen“ Gehens, etc.).<br />
Alterung mit Beh<strong>in</strong>derung: Unterschiedlich zu den l angsam oder plötzlich wirkenden Beh<strong>in</strong>derungen<br />
im Alter entwickelt sich das Leben von Menschen, die bereits beh<strong>in</strong>dert altern. Hier<br />
ist es nicht notwendig, sich auf die Beh<strong>in</strong>derung e<strong>in</strong>zustellen, sondern auf das Alter und die<br />
damit verbundenen Bee<strong>in</strong>trächtigungen, die das Leben mit der Beh<strong>in</strong>derung erschweren bzw.<br />
vor neue Herausforderungen stellen.<br />
So können altersbed<strong>in</strong>gte Schwächen der Wahrnehmungss<strong>in</strong>ne s<strong>in</strong>nesbeh<strong>in</strong>derte Menschen<br />
<strong>in</strong> verstärkte Abhängigkeit und/oder Isolation treiben. Beispielsweise zu nennen s <strong>in</strong>d etwa<br />
Probleme, die entstehen (können), wenn e<strong>in</strong>e stark sehbeh<strong>in</strong>derte oder bl<strong>in</strong>de Person, die<br />
unmittelbar auf ihren Hörs<strong>in</strong>n angewiesen ist, nunmehr altersschwerhörig wird oder wenn e<strong>in</strong>e<br />
gehörlose Person, die <strong>für</strong> ihre Kommuni kation auf Gebärdensprache oder Schrift angewiesen<br />
ist, nunmehr altersschlechtsichtig wird. Besondere Probleme, und dies wird mit der Zunahme<br />
der Lebenserwartung auch <strong>für</strong> Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen <strong>in</strong> den kommenden Jahrzehnten<br />
auch quantitativ von erheblicher Bedeutung se<strong>in</strong>, ist das Zusammenfallen e<strong>in</strong>er körperlichen<br />
oder geistigen Beh<strong>in</strong>derung mit Ersche<strong>in</strong>ungen der Altersdemenz bzw. von Morbus Alzheimer.<br />
Dort wo die (ohneh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>g eschränkte) Mobilität besonderer Fertigkeiten bedarf wie etwa das<br />
Gehen mit Krücken oder die Bedienu ng e<strong>in</strong>es elektrischen Rollstuhles, kann e<strong>in</strong>e Demenz -<br />
erkrankung, die diese Fertigkeiten wesentlich bee<strong>in</strong>trächtigt, zu e<strong>in</strong>em erheblichen zusätzlichen<br />
Betreuungsaufwand führen.<br />
Prävention muss sich hier neben der Verh<strong>in</strong>derung oder Verzögerung der entsprechenden Symptome<br />
vor allem auch auf e<strong>in</strong>e rechtzeitige Vorbereitung der alternden beh<strong>in</strong>derten Menschen und<br />
ihres Umfeldes beziehen. Neben Information und mentaler Vorbereitung gehört dazu sowohl die<br />
rechtzeitige Versorgung mit ausreichenden familienunterstützenden Diensten, aber auch e<strong>in</strong>e<br />
rechtzeitige technische Adaptierung des Haushaltes und der zur Verfügung stehenden Hilfsmittel.<br />
279
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
11.8. Wahrsche<strong>in</strong>liche Entwicklungen<br />
Der Anteil beh<strong>in</strong>derter Menschen wird <strong>in</strong> den kommenden Jahren (relativ und absolut) wachsen,<br />
dabei wird vor allem der Anteil schwerst beh<strong>in</strong>derter und hochbetagter beh<strong>in</strong>derter Menschen<br />
zunehmen (vgl. BMAS 1994: 16f). Die Bundesländer gehen <strong>in</strong> ihren Bedarfs- und Entwicklungsplänen<br />
davon aus, dass die Zahl der Menschen mit schweren Beh<strong>in</strong>deru ngen und Mehr fachbeh<strong>in</strong>derungen<br />
zunehmen wird. Insgesamt ist <strong>in</strong> dieser Prognose natürlich die zu erwartende<br />
allgeme<strong>in</strong>e demografi sche Entwicklung zu berücksichtigen (steigende Zahl der älteren und alten<br />
Menschen). Über die demografi sch zu erwartende Zunahme h<strong>in</strong>aus ist e<strong>in</strong> weiteres Wachstum<br />
der Zahl und des Anteils beh<strong>in</strong>derter Menschen <strong>in</strong> höherem Alter zu rechnen, weil der Fortschritt<br />
der Mediz<strong>in</strong> vermutlich dazu führen wird, dass e<strong>in</strong> größerer Anteil beh<strong>in</strong>derter Menschen se<strong>in</strong>e<br />
Beh<strong>in</strong>derung länger wird überleben können. Bei vielen Beh<strong>in</strong>derungen, bei denen noch vor e<strong>in</strong>igen<br />
Jahrzehnten die Lebenserwartung relativ kurz war (beispielsweise Down Syndrom), liegt<br />
die Lebenserwartung heute pr<strong>in</strong>zipiell nicht mehr wesentlich unter der Lebenserwartung nicht<br />
beh<strong>in</strong>derter Menschen. Auch die Tatsache, dass <strong>in</strong> den kommenden Jahrzehnten die Alterskohorten<br />
der nach 1945 geborenen und daher nicht mehr von der Euthanasie der Nazis betroffenen<br />
Men schen <strong>in</strong> das höhere Alter kommen, führt zu e<strong>in</strong>em Anstieg des Anteils beh<strong>in</strong>derter<br />
Menschen (<strong>in</strong>sbesondere von Menschen mit Mehrfachbeh<strong>in</strong>derungen sowie geistigen Beh<strong>in</strong>derungen<br />
und psychischen Bee<strong>in</strong>trächtigungen) <strong>in</strong> den höheren Altersgruppen. Demgegen über<br />
wird <strong>in</strong> den kommenden Jahrzehnten die Gruppe der kriegsbeh<strong>in</strong>derten Menschen auch <strong>in</strong> den<br />
höchsten Altersgruppen ke<strong>in</strong>e Rolle mehr spielen.<br />
Es wird sich jedoch nicht nur der Anteil der Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen <strong>in</strong> der Gru ppe der<br />
hochaltrigen Menschen erhöhen. Aufgrund der Tatsache, dass diese Altersgruppe <strong>in</strong> den kommenden<br />
Jahrzehnten durch besonders stark besetzte Alterskohorten („Babyboom-Generation“)<br />
gebildet werden wird, ist demnächst mit e<strong>in</strong>em deutlichen Anstieg auch der Zahl älterer Menschen<br />
mit (körperlichen und geistigen) Beh<strong>in</strong>derungen zu rechnen. In der über da s Jahr 2010<br />
h<strong>in</strong>ausgehenden Planung ist daher neben dem A usbau der st ationären, teilstationären und<br />
mobilen Betreuungse<strong>in</strong>richtungen <strong>für</strong> Menschen mit „typisch“ altersbed<strong>in</strong>gtem Pfl egebedarf<br />
auch verstärkter Augenmerk auf den Ausbau von (stationären, teilstationären und mobilen)<br />
Betreuungse<strong>in</strong>richtungen <strong>für</strong> hochbetagte beh<strong>in</strong>derte Menschen zu lenken.<br />
Die zunehmende Lebenserwartung auch von Menschen mit schwereren Beh<strong>in</strong>deru ngen wird<br />
vermutlich <strong>in</strong> den k ommenden Jahrzehnten zu e<strong>in</strong>er erheb lichen Zahl von Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen<br />
führen, die zusätzlich unter altersbed<strong>in</strong>gten Bee<strong>in</strong>trächtigungen leiden werden.<br />
Das wird <strong>in</strong> ihrer Dimension neue Formen von Multimorbidität schaff en, etwa den Zusammenfall<br />
e<strong>in</strong>er Querschnittslähmung oder von Down Syndrom mit altersbed<strong>in</strong>gter Demenz bzw. mit<br />
altersbed<strong>in</strong>gter Diabetes und ihren Folgen oder mit altersbed<strong>in</strong>gter Schwerhörigkeit. Aus dieser<br />
„neuen Multimorbidität“ und dem sich ergebenden jeweils spezifi schen Betreuungsmix werden<br />
sich sowohl spezielle Probleme <strong>für</strong> die betroff enen Menschen und ihre familiären Unterstützungssysteme<br />
als auch neue Herausforderungen <strong>für</strong> die Planung, Durchführung und Evaluierung<br />
von familienunterstützenden Maßnahmen ergeben.<br />
280
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
Zusätzlich sollte nicht vergessen werden, dass jene Generationen, die <strong>in</strong> den kommenden Jahrzehnten<br />
<strong>in</strong> die höchsten Altersgruppen kommen werden, heute mit höherem Lebensstandard<br />
als ihre Elterngeneration leben und gewohnt s<strong>in</strong>d, höhere Ansprüche (auch an Unterstützung<br />
und Betreuung) zu formulieren und auch durchzusetzen als frühere Generationen hoch betagter<br />
Menschen. So hat die heute im Haupterwerbsalter stehende Generation beh<strong>in</strong>derter Menschen<br />
vielfältige Formen der Vertretung der eigenen Interessen (Independent Liv<strong>in</strong>g Groups, People First<br />
Movement usw.) entwickelt. Es ist zu erwarten, dass diese Selbsthilfebewegungen <strong>in</strong> Zukunft<br />
auch im hohen Alter zum<strong>in</strong>dest teilweise politikwirksam se<strong>in</strong> werden.<br />
Schließlich ist noch darauf h<strong>in</strong>zuweisen, dass das gegenwärtige Potential er schw<strong>in</strong>glicher <strong>in</strong>formeller<br />
haushaltsunterstützender Dienstleistungen, die durch Männer und Frauen aus Osteuropa<br />
7 erbracht werden (vgl. z. B. Prochazkova & Schmid 2006), <strong>in</strong> den kommenden Jahrzehnten<br />
kaum mehr zur Verfügung stehen werden, e<strong>in</strong>erseits weil die <strong>in</strong> den kommenden Dekaden zu<br />
erwartenden abnehmenden E<strong>in</strong>kommensunterschiede zwischen West- und Osteuropa diese<br />
Tätigkeiten auch <strong>für</strong> osteuropäische Menschen weniger attraktiv machen werden. Mit dem Wegfall<br />
der Übergangsbestimmungen am österreichischen <strong>Arbeit</strong>smarkt (spätestens im Mai 2011)<br />
stehen diesen Personen überdies andere attraktive Beschäftigungen mit kürzerer <strong>Arbeit</strong>szeit<br />
und höherem Verdienst zur Verfügung. Andererseits ist zu bedenken, dass die demografi sche<br />
Entwicklung <strong>in</strong> den Herkunftsländern e<strong>in</strong>e erhebliche Zahl heutiger Unterstützungspersonen<br />
<strong>in</strong> der Unterstützung der eigenen Eltern b<strong>in</strong>den wird. Auch auf den absehbaren Rückgang von<br />
Pfl ege- und Unterstützungskräften aus Mittel- und Osteuropa <strong>in</strong> den kommenden Jahren muss<br />
sich die Politik bereits heute vorbereiten.<br />
11.9. Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen<br />
Der Befund, dass jedenfalls <strong>in</strong> den kommenden Jahren mit e<strong>in</strong>er deutlichen Zunahme der Zahl<br />
hochaltriger Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen zu rechnen ist, dass es aber – im Gegensatz etwa<br />
zur Gesamtheit der pfl egebedürftigen Menschen im hohen Alter – kaum empirisch gesicherte<br />
Befunde und e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ge Zahl qualitativer Studien über die Lebenslagen hochbetagter Menschen<br />
mit Beh<strong>in</strong>derung(en) gibt, lässt die Schlussfolgerung zu, dass hier e<strong>in</strong> erheblicher Forschungsbedarf<br />
besteht. Je abgesicherter das Wissen über diese Personengruppe (und die zu<br />
erwartenden Entwicklungen <strong>in</strong> dem Bereich) ist, desto besser kann wissenschaftlich fundierte<br />
Planung bezüglich unterstützender Maßnahmen <strong>für</strong> diese Personengruppe erfolgen.<br />
Der Schwerpunkt bei Entwicklung von unterstützenden Maßnahmen liegt bei den Bundesländern.<br />
Diese haben <strong>in</strong> den Bedarfs- und Entwicklungsplänen zur Pfl egesicherung (vg. BMAGS<br />
1999a, BMSG 2003) Maßnahmen <strong>für</strong> die ambulante (und stationäre) Betreuung von (älteren)<br />
Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen beschlossen und teilweise bereits umgesetzt. Nach der letzten<br />
7 teilweise am Rande der Illegalität oder illegal<br />
281
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
zusammenschauenden Analyse der Bedar fs- und Entwicklungspläne (BMSG 2003) sche<strong>in</strong>en<br />
die Länder <strong>für</strong> die zu erwartenden Herausforderungen der nächsten Jahre weitgehend gerüstet<br />
zu se<strong>in</strong>. Ob auch die Her ausforderungen der kommenden Jahrzehnte erfolgreich aufgegriff en<br />
werden können, ist noch nicht wirklich abschätzbar. Diese Herausforderungen bestehen me<strong>in</strong>er<br />
E<strong>in</strong>schätzung nach vor allem <strong>in</strong>:<br />
e<strong>in</strong>er Zunahme der Zahl und des Anteils hochbetagter Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen<br />
e<strong>in</strong>er erheblichen Zahl von multimorbiden Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen, also des Zusammenfallens<br />
e<strong>in</strong>er Beh<strong>in</strong>derung mit altersbed<strong>in</strong>gten Leiden<br />
e<strong>in</strong>er Zunahme selbstbewusster älterer Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen, die <strong>in</strong> ihrem Leben gelernt<br />
haben, sich zu Ansprüchen und Erwartungen zu bekennen und diese (zum<strong>in</strong>dest teilweise)<br />
auch durchzusetzen<br />
e<strong>in</strong>er abnehmenden Leistungsfähigkeit raditioneller familiärer und nachbarschaftlicher Unterstützungsnetze<br />
e<strong>in</strong>em spätestens nach 2011 zu erwarteten Wegfall der heute ex istierenden erschw<strong>in</strong>glichen<br />
familienunterstützenden Dienste aus Mittel- und Osteuropa trotz erfolgreicher Legalisierungsmaßnahmen<br />
<strong>in</strong> den letzten Monaten<br />
als <strong>in</strong> den n ächsten Jahrzehnten relativ neues Problem wird das Entstehen e<strong>in</strong>er quantit ativ<br />
relevanten Gruppe hochbetagter beh<strong>in</strong>derter Menschen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund auch hier<br />
neue Handlungs strategien und Handlungsoptionen erfordern.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs im Geg ensatz zu unseren Möglichkeiten, zukünftigen Pfl egebedarf <strong>in</strong> al len Altersgruppen,<br />
daher auch <strong>in</strong> den Alterskohorten der hoch betagten Menschen, relativ genau zu prognostizieren,<br />
entzieht sich die numerische Abschätzung der zukünftigen Entwicklung der Zahl<br />
und des Anteils hoch betagter Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen weitgehend unseren statistischen<br />
Möglichkeiten. Das ist vor allem auf das allgeme<strong>in</strong>e Datenproblem (siehe weiter oben) zurück zu<br />
führen; wenn die gegenwärtige Zahl von Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen und ihre altersmäßige<br />
Schichtung kaum abschätzbar ist, unterliegt auch die zukünftige quantitative Prognostik starken<br />
Restriktionen. Es ist also bestenfalls festzuhalten, dass sich Zahl und Anteil hoch betagter<br />
Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen <strong>in</strong> den kommenden Jahrzehnten wesentlich erhöhen wird, aber<br />
es ist nicht seriös abzuschätzen, um welche Größenordnungen es sich hier handeln wird.<br />
Was bedeutet das <strong>für</strong> die Politik?<br />
Die Versorgung der Kriegsopfer und ihrer H<strong>in</strong>terbliebenen, die Jahrzehnte lang so etwas wie e<strong>in</strong><br />
„Taktgeber“ der österreichi schen Beh<strong>in</strong>dertenpolitik war, wird <strong>in</strong> den n ächsten Jahren aus demografi<br />
schen Gründen auslaufen. Dies schaff t bereits heute im Bundessozialamt Raum <strong>für</strong> die<br />
282
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
Entwicklung neuer Möglich keiten und Spielräume. Exemplarisch da<strong>für</strong> sei die Besch äftigungs<strong>in</strong>itiative<br />
der Bundesregierung (die so genannte „Beh<strong>in</strong>dertenmilliarde“, siehe z. B. Horak et al.<br />
2003) genannt, die zahlreiche neue Fördermöglichkeiten <strong>für</strong> Personen, die bisher systematisch<br />
nicht aus Mitteln des Ausgleichstaxfonds förderbar gewesen s<strong>in</strong>d, entwickelt und unterstützt hat.<br />
E<strong>in</strong>e der drei Zielgruppen dieses Programms s<strong>in</strong>d ältere Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen.<br />
Auch auf die g esetzlichen Sozialversicherungen als Träger von Rehabilitation kommen neue<br />
Verantwortungen zu, wenn die Zahl der hochaltrigen Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen deutlich<br />
anwachsen wird. Das gilt vor allem <strong>für</strong> die gesetzlichen Pensionsversicherungen, aber auch <strong>für</strong><br />
die Unfallversicherungen 8 und ebenso <strong>für</strong> die Krankenversicherungsträger <strong>in</strong> ihrem jeweiligen<br />
Aufgabenbereich als Träger von Rehabilitationsmaßnahmen. Neben der Entw icklung neuer,<br />
altersgruppenspezifi scher Rehabilitationsverfahren, die auf die Verh<strong>in</strong>derung oder Milderung<br />
von Schäden, die durch das Zusammenfallen von Beh<strong>in</strong>derungen mit altersbed<strong>in</strong>gten Leiden<br />
(z. B. Demenz oder Altersdiabetes) entstehen, sollte verstärktes Augenmerk auf Angebote geme<strong>in</strong>samer<br />
Rehabilitation der beh<strong>in</strong>derten Person mit den sie betreuenden Angehörigen gelegt<br />
werden. Somit kann auch gesundheitliche Langzeitschädigung, die betreuende und pfl egende<br />
Angehörige unter Umständen erleiden, h<strong>in</strong>tan gehalten werden. So weit es erfolgreicher Prävention<br />
altersbed<strong>in</strong>gter Multimorbidität und damit die Verh<strong>in</strong>derung oder Verzögerung e<strong>in</strong>es<br />
höheren Pfl ege(geld)bedarfes hochaltriger beh<strong>in</strong>derter Menschen dienlich ist, sollten daher<br />
auch die traditionellen Rehabilitationse<strong>in</strong>richtungen der gesetzlichen Sozialversicherungen<br />
stärker <strong>für</strong> diese Zielgruppe geöff net werden.<br />
Für die <strong>Arbeit</strong>smarktpolitik kann die zu erwartende Zunahme der Zahl hochbetagter Menschen<br />
mit Beh<strong>in</strong>derungen die Möglichkeit bieten, neue <strong>Arbeit</strong>smöglichkeiten <strong>in</strong> diesem Bereich und<br />
zwar auf unterschiedlichen erforderlichen Qualifi kationsstufen, zu schaff en. Insbesondere die<br />
quantitativ immer relevanter werdende Gruppe hoch betagter beh<strong>in</strong>derter Menschen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund<br />
kann e<strong>in</strong> neues Berufsfeld pfl egender und unterstützender Berufe <strong>für</strong> Menschen<br />
mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund aus der zweiten und dritten Generation begründen (helfen),<br />
weil davon auszugehen ist, dass e<strong>in</strong> erheblicher Teil der betroff enen Menschen Unterstützung<br />
eher von Personen mit dem gleichen kulturellen und ethnischen H<strong>in</strong>tergrund erhalten möchte.<br />
Die Genderdimension ist hier zu beachten, <strong>in</strong>sbesondere was den Unterstützungsbedarf hochbetagter<br />
moslemischer Frauen betriff t.<br />
Für den zielgruppenspezifi schen Ausbau st ationärer, teilstationärer und ambulanter Pfl ege-<br />
und Betreuungsstrukturen s<strong>in</strong>d pr<strong>in</strong>zipiell die Bundesländer zuständig. Wie <strong>in</strong> vergleichbaren<br />
Themengebieten (Pfl egesicherung, Sozialberufebetreuungsgesetz) ist auch bei der Entwicklung<br />
bedarfsgerechter Angebote <strong>für</strong> hoch betagte Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same<br />
8 Für Beh<strong>in</strong>derungen, die im Zuge e<strong>in</strong>es <strong>Arbeit</strong>sunfalls oder e<strong>in</strong>es gleichermaßen geschützten Ereignisses entstanden<br />
s<strong>in</strong>d<br />
283
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
Verpfl ichtung der Länder u nd des Bundes („15a-Vere<strong>in</strong>barung“) wünschenswert, um auch <strong>in</strong><br />
diesem Bereich e<strong>in</strong>en fl ächendeckenden Ausbau der Versorgung <strong>in</strong> bundesweit relativ e<strong>in</strong>heitlicher<br />
Qualität zu schaff en und zu garantieren.<br />
Möglicherweise wäre es <strong>für</strong> die Absicherung entsprechender Leistungen gerade <strong>für</strong> diese Zielgruppe<br />
<strong>in</strong>teressant, die F<strong>in</strong>anzierung der Angebote nach dem Vorbild anderer Länder (z. B. Italiens)<br />
e<strong>in</strong>heitlich – und zwar auf lokaler Ebene – zu regeln, um zu gewährleisten, dass Gelder,<br />
die durch e<strong>in</strong>e Reduzierung der stationären Betreuung frei werden, <strong>für</strong> die mobile Betreuung der<br />
selben Personengruppe (Person) verwenden zu können. Das könnte die tatsächliche Umsetzung<br />
des Pr<strong>in</strong>zips „mobil vor stationär“ wesentlich unterstützen.<br />
All diese und wahrsche<strong>in</strong>lich noch viele weitere Maßnahmen s<strong>in</strong>d notwendig, um die Herausforderungen<br />
bewältigen zu können, die sich aus der demografi schen Entwicklung, aus der Tatsache,<br />
dass immer mehr Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen auch hohes Alter erreichen werden und<br />
weil (auch) ältere Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen und ihre Angehörigen höhere Erwartungen an<br />
die Gesellschaft, <strong>in</strong> der sie leben, stellen werden als ihre Elterngeneration, ergeben. Dennoch<br />
sollte nicht vergessen werden, dass weder „Alter“ noch „Altern mit Beh<strong>in</strong>derung“ als soziales<br />
oder gar mediz<strong>in</strong>isches Defi zit zu sehen ist. Auch (hochbetagte) Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen<br />
müssen <strong>in</strong> der ganzen Komplexität ihrer Realität, mit allen ihren Problemen und Freuden, mit<br />
ihren Ängsten und Hoff nungen, mit dem was sie an Unterstützungen benötigen, aber auch mit<br />
dem, was sie an Unterstützungen geben können und wollen, gesehen werden. Nur wenn und wo<br />
es gel<strong>in</strong>gt, diesen Defi zitblick abzulegen, wird es möglich se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>en Beitrag zu selbst bestimmtem<br />
und selbstbestimmbarem Leben zu leisten, der weder durch mangelnde und mangelhafte<br />
Hilfe noch durch Überbetreuung und Bevormundung gekennzeichnet ist.<br />
Letztendlich ist – u nter Berücksichtigung aller damit verbundenen Probleme und Restriktionen<br />
– der Forschungstätigkeit zum Thema „<strong>Hochaltrige</strong> Menschen und Beh<strong>in</strong>derung“ vermehrt<br />
Aufmerksamkeit zu schenken. Erst wenn es genau(ere) Vorstellungen über die t atsächliche<br />
und zu erwartende quantitative und qualitative Dimension des Problems gibt, k önnen auch<br />
unter Bed<strong>in</strong>gungen „knapper Kassen“ die notwendigen Mittel (Ressourcen) so verteilt werden,<br />
dass sie den größtmöglichen Nutz en stiften. E<strong>in</strong> erster , sensibilisierender Schritt wird se<strong>in</strong>,<br />
das Problembegriff spaar „hochbetagt“ und „beh<strong>in</strong>dert“ verstärkt <strong>in</strong> das Licht der öff entlichen<br />
Wahrnehmung und daher auch der Wahrnehmung der Politik, der Verwaltung und der betroff enen<br />
Berufe zu br<strong>in</strong>gen.<br />
284
LITERATUR<br />
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
Bundeskammer <strong>für</strong> <strong>Arbeit</strong>er und Angestellte (mehrere Jahrgänge): Wirtschafts- und Sozialstatistisches<br />
Taschenbuch. Wien.<br />
Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> <strong>Arbeit</strong> und <strong>Soziales</strong> (1994): Seniorenbericht. Wien<br />
BMAGS – Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> <strong>Arbeit</strong>, Gesundheit und <strong>Soziales</strong> (1999): Älter werden <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>.<br />
Wien: Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> <strong>Arbeit</strong>, Gesundheit und <strong>Soziales</strong>.<br />
BMAGS – Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> <strong>Arbeit</strong>, Gesundheit und <strong>Soziales</strong> (1999a): Dienste und E<strong>in</strong>richtungen<br />
<strong>für</strong> pfl egebedürftige Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>. Übersicht über die Bedarfs- und Entwicklungspläne<br />
der Länder. Wien: Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> <strong>Arbeit</strong>, Gesundheit und <strong>Soziales</strong>.<br />
BMSG – Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> soziale Sicherheit und Generationen (2000): Ältere Menschen –<br />
neue Perspektiven. Seniorenbericht 2000: Zur Lebenssituation älterer Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>.<br />
Wien: Bundes m<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> soziale Sicherheit und Generationen.<br />
BMSG – Bu ndesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz<br />
(2003): Bericht der Bundesregierung über die Lage der beh<strong>in</strong>derten Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>.<br />
Wien: Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz.<br />
BMGF – Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Gesundheit und Frauen (2004): Gesundheitsbericht 2003. Wien:<br />
Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> Gesundheit und Frauen.<br />
Dirnberger, Barbara (2005): Motivation gel<strong>in</strong>genden Lebens. Die Vorstellung zu e<strong>in</strong>em gelungenen<br />
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287
HOCHBETAGTE MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN<br />
288
12. EINSAMKEIT UND ISOLATION<br />
JOSEF HÖRL<br />
12.1. Konzeptuelle Grundlagen<br />
EINSAMKEIT UND ISOLATION<br />
E<strong>in</strong>samkeit (oder Vere<strong>in</strong>samung) ist e<strong>in</strong> k omplex zusammengesetzter psychosozialer Tatbestand,<br />
welcher une<strong>in</strong>heitlich defi niert wird. Grundsätzlich muss zwischen E<strong>in</strong>samkeit, Isolation<br />
und Desolation unterschieden werden (Townsend 1963). Während E<strong>in</strong>samkeit e<strong>in</strong> subjektives<br />
Erlebnis ist, wird unter Isolation e<strong>in</strong>e objektiv niedrige Anzahl von Sozialkontakten verstanden;<br />
Desolation ist e<strong>in</strong>e Sonderform der Isolation und bezieht sich auf die mit zunehmendem Alter<br />
gehäuft auftretenden Personenverluste.<br />
In der wissenschaftlichen Literatur besteht <strong>in</strong>soweit Übere<strong>in</strong>stimmung, dass es sich bei E<strong>in</strong>samkeit<br />
um die leidvolle Erfahrung e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>neren Zustands handelt, die konkreten Äußerungsformen werden<br />
jedoch recht vielfältig beschrieben. So wird E<strong>in</strong>samkeit als gekennzeichnet gesehen durch das<br />
andauernde Empfi nden von sozialer Leere, Verlassenheit und e<strong>in</strong>em Mangel an als befriedigend<br />
empfundenen zwischenmenschlichen Beziehungen (P<strong>in</strong>quart 2003, Tesch-Römer 2000); nach<br />
Goldfarb (1965) geht E<strong>in</strong>samkeit mit e<strong>in</strong>em Gefühl der Langeweile und e<strong>in</strong>er irritierten, unsicherunzufriedenen<br />
Verfassung e<strong>in</strong>her; Smith & Baltes (1996: 221) belegen das Vorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es<br />
Eigenschaftsclusters „krank, depressiv, ängstlich, e<strong>in</strong>sam“; Hughes et al. (2004: 657) nennen „...<br />
anxiety, anger, fear of negative evaluation, shyness, dysphoria ...“ 1 als typische Begleitphänomene.<br />
Zu diff erenzieren ist zwischen emotionalen und sozialen Aspekten von E<strong>in</strong>samkeit (Weiss<br />
1982). Ist man jemandem <strong>in</strong> wahrer Freundschaft oder <strong>in</strong>niger Liebespartnerschaft verbunden,<br />
so vermittelt diese Beziehung e<strong>in</strong>e nicht so leicht zu gefährdende Empfi ndung von Schutz und<br />
Sicherheit; wenn m an vom Gefühl beherrscht wird, e<strong>in</strong>er solch tiefen Vertrauensbeziehung<br />
zu entbehren, entsteht emotionale E<strong>in</strong>samkeit. Auf der anderen Seite erfährt man durch die<br />
Mitgliedschaft <strong>in</strong> sozialen Netzw erken, dass und wie g eme<strong>in</strong>same Anliegen u nd Interessen<br />
artikuliert und zusammen mit anderen ausgeführt werden können; typischerweise wird diese<br />
Erfahrung durch die Teilhabe an Aktivitäten von kle<strong>in</strong>en Gruppen vermittelt, beispielsweise<br />
des Familienverbands oder des Freundeskreises. Die Kle<strong>in</strong>gruppe gibt dem/der e<strong>in</strong>zelnen das<br />
Gefühl des Dazugehörens, aus dem Nicht-E<strong>in</strong>gebundense<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong> solches Netzwerk erwachsen<br />
demgemäß soziale E<strong>in</strong>samkeitsgefühle.<br />
1 Der Vergleich von Konzepten und die Bewertung von empirischen Ergebnissen zu „E<strong>in</strong>samkeit“ aus verschiedenen<br />
Kulturräumen werden erschwert durch die Tatsache divergierender Wortbedeutungen. Wie Hofstätter (1976: 73-79) am<br />
Beispiel des Englischen (bzw. Amerikanischen) und des Deutschen darlegt, werden die entsprechenden Begriff e zwar<br />
<strong>in</strong> beiden Sprachen grundsätzlich mit negativen Attributen assoziiert, doch s<strong>in</strong>d im Sprachgebrauch der Amerikaner bei<br />
„lonesomeness“ die Konnotationen mit „Angst“ und „Erfolglosigkeit“ stärker ausgeprägt.<br />
289
EINSAMKEIT UND ISOLATION<br />
Sowohl der emotion alen als auch der soz ialen Bedürfniserfüllung wohnt e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Erlebnisqualität<br />
<strong>in</strong>ne, wobei erstere <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung steht mit e<strong>in</strong>er st arken persönlichen B<strong>in</strong>dung,<br />
während im zweiten Fall eher das Innehaben e<strong>in</strong>er als bedeutsam erachteten sozialen Rolle<br />
angesprochen wird.<br />
Die Unterstreichung der Subjektivität des E<strong>in</strong>samkeitserlebens macht gleichzeitig off enbar,<br />
dass die Messung von bloßen Kontakthäufi gkeiten nicht ausreicht. Manch e<strong>in</strong>e/r füh lt sich<br />
e<strong>in</strong>sam, wiewohl er oder sie – nach Ausmaß und Art der objektiv festgestellten Sozialkontakte<br />
gemessen – ke<strong>in</strong>eswegs isoliert ist; es gibt eben auch Kontakte, die e<strong>in</strong>en gleichgültig lassen<br />
oder die man sogar als belastend empfi ndet. Andere Menschen wiederum, die verhältnismäßig<br />
wenige zwischenmenschliche Kontakte haben und nach außen h<strong>in</strong> isoliert ersche<strong>in</strong>en mögen,<br />
fühlen sich ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>sam. E<strong>in</strong>e Grunderkenntnis der E<strong>in</strong>samkeitsforschung besteht dar<strong>in</strong>,<br />
dass die Qualität von Beziehungen wichtiger ist als deren Quantität.<br />
Aus dem bisher Gesagten wird ersichtlich, dass das Auftreten von E<strong>in</strong>samkeitsgefühlen <strong>in</strong> erster<br />
L<strong>in</strong>ie als e<strong>in</strong>e Funktion der Erwartungen h<strong>in</strong>sichtlich Zahl und Qualität der Sozialkontakte und<br />
weniger als e<strong>in</strong>e Funktion der tatsächlich realisierten Kontakte zu sehen ist. Mehrere Autor/<br />
<strong>in</strong>nen (z. B. Dykstra et al. 2005: 726, Sermat 1978: 274) erheben die unerwünschte Diskrepanz<br />
oder Inkongruenz zwischen angestrebtem und erreichtem Niveau von sozialen Kontakten zum<br />
Kriterium schlechth<strong>in</strong>, um das Vorhandense<strong>in</strong> von E<strong>in</strong>samkeit empirisch festzustellen.<br />
12.1.1. E<strong>in</strong>samkeit und Isolation bei alten Menschen<br />
Die allgeme<strong>in</strong>en Überlegungen zur E<strong>in</strong>sam keit müssen <strong>für</strong> alte und hochaltrige Men schen allerd<strong>in</strong>gs<br />
modifi ziert und präzisiert werden. Denn die späte Lebensphase ist ungleich stärker als jede<br />
frühere durch das E<strong>in</strong>treten von Personenverlusten gekennzeichnet. Daraus folgt, dass sich die<br />
objektiven Kontaktmöglichkeiten und normalerweise auch die faktisch ablaufenden Kontakte<br />
dramatisch verr<strong>in</strong>gern. Soziale Isolation im S<strong>in</strong>ne von Desolation wird durch die <strong>für</strong> das höhere<br />
Alter typischen und unabwendbaren Lebensereignisse des Wegsterbens des Ehepartners, von<br />
Geschwistern und anderen Angehörigen, von Freunden und Nachbarn (bisweilen auch von Nachkommen)<br />
nahezu schicksalhaft herbeigeführt. Nach durchwegs geteilter Auff assung ist das am<br />
schwersten wiegende Verlusterlebnis die Verwitwung (Berardo & Berardo 2003); sie bedeutet<br />
das Ende e<strong>in</strong>er meist langjährigen und emotional hoch besetzten Beziehung. Selbstverständlich<br />
verlaufen die Verluste nach dem Geschlecht unterschiedlich, <strong>in</strong>sbesondere verwitwen Frauen<br />
weitaus häufi ger als Männer.<br />
Den signifi kanten Verlusterfahrungen im hohen Alter steht <strong>in</strong> der Regel ke<strong>in</strong>e volle Kompensation<br />
durch neu zustande kommende Kontakte gegenüber, wenngleich solche selbstverständlich<br />
nicht ausgeschlossen s<strong>in</strong>d, etwa durch neu geschlossene Freundschaften, die Beschäftigung<br />
mit Enkelk<strong>in</strong>dern oder durch menschlich befriedigende Begegnungen mit Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen<br />
von Sozialdiensten.<br />
290
EINSAMKEIT UND ISOLATION<br />
Diese genannten Beispiele machen im Übrigen deutlich, wie wichtig e<strong>in</strong>e auf den g esamten<br />
Lebensablauf bezogene Betrachtungsweise ist. So liegt es auf der Hand, dass lebenslang ledige<br />
und/oder k<strong>in</strong>derlose Menschen andere (<strong>in</strong>sbesondere auch außerverwandtschaftliche) Kommunikationsformen<br />
pfl egen und damit im hohen Alter anderen Verläufen von Verlustprozessen<br />
ausgesetzt se<strong>in</strong> werden als etwa verheiratete Menschen mit mehreren K<strong>in</strong>dern. Auch werden die<br />
Anpassungsphänomene (z. B. an die Wohnsituation des Alle<strong>in</strong>lebens im Alter) unterschiedlich<br />
se<strong>in</strong>, je nachdem, ob e<strong>in</strong>e isolierte, kontaktarme Lebensweise immer schon bestanden hat oder<br />
erst durch Personenverluste entstanden ist. Ebenso können Verlusterfahrungen <strong>in</strong>dividuell sehr<br />
unterschiedlich verarbeitet werden und beispielsweise im Laufe der Zeit auch wieder zu e<strong>in</strong>er<br />
Reduktion von E<strong>in</strong>samkeitsgefühlen führen.<br />
Solche Fragen des <strong>in</strong>dividuellen E<strong>in</strong>samkeitsverlaufs von den mittleren Jahren bis <strong>in</strong>s höchste<br />
Alter können nur durch Längsschnittuntersuchungen (Panelstudien) schlüssig beantwortet<br />
werden, wie sie etwa <strong>für</strong> die Niederlande vorliegen (Dykstra et al. 2005). Für <strong>Österreich</strong> gibt es<br />
solche Studien nicht.<br />
Zu erwarten ist jedenfalls, dass parallel zu der mit dem Alter zunehmenden Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />
von Personenverlusten <strong>in</strong> den höheren Altersgruppen die E<strong>in</strong>samkeitsgefühle <strong>in</strong>sgesamt häufi -<br />
ger auftreten als <strong>in</strong> den niedrigeren Altersgruppen. Wenn auch Sozialkontakte ke<strong>in</strong>eswegs notwendigerweise<br />
vor E<strong>in</strong>samkeit schützen, befi nden sich Menschen, denen viele Sozialkontakte<br />
verloren gegangen s<strong>in</strong>d, eben von den objektiven Voraussetzungen her <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er größeren Gefahr,<br />
E<strong>in</strong>samkeitsgefühle zu entwickeln. Ungeachtet der Notwendigkeit e<strong>in</strong>er konzeptuellen Trennung<br />
zwischen Isolation und E<strong>in</strong>samkeit ist es somit <strong>für</strong> die Charakterisierung der Lebenssituation<br />
der <strong>Hochaltrige</strong>n besonders wichtig, beide Phänomene zu betrachten.<br />
12.2. Soziale Isolation<br />
Unter sozialer Isolation wird e<strong>in</strong> niedriges Niveau an sozialen Beziehungen verstanden, als Indikator<br />
dient üblicherweise e<strong>in</strong>fach die Anzahl der regelmäßigen Kontakte. Bei den Primärgruppenkontakten<br />
grundsätzlich zu unterscheiden s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>erseits solche mit Familienangehörigen<br />
und Verwandten und andererseits solche mit Freunden, Bekannten und Nachbarn. Darüber<br />
h<strong>in</strong>aus s<strong>in</strong>d auch Kontakte zu berücksichtigen, die im öff entlichen Raum gepfl egt werden.<br />
Innerhalb Europas variiert der Stellenwert von verwandtschaftlichen bzw. nichtverwandtschaftlichen<br />
Kontakten beträchtlich. Während <strong>in</strong> den südlichen und östlichen Ländern die Kontakte<br />
mit den Angehörigen und Verwandten traditionellerweise e<strong>in</strong>e dom<strong>in</strong>ierende Rolle spielen, s<strong>in</strong>d<br />
<strong>in</strong> den westlichen und <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> den nördlichen Ländern die Kontakte mit Freunden und<br />
Be kannten von relativ größerer Häufi gkeit und Wertigkeit (Peabody 1985). Spätere Vergleichsstudien<br />
gelangen im Wesentlichen zu ähnlichen Resultaten (Alber & Köhler 2004, Glaser et al.<br />
2004), wobei <strong>Österreich</strong> stets zu den Ländern mit e<strong>in</strong>er eher starken Familienorientierung zählt<br />
(vgl. auch die nachstehenden Ausführungen). Ungeachtet dieser (quantitativen) Unterschiede<br />
291
EINSAMKEIT UND ISOLATION<br />
ist anzunehmen, dass überall von den meisten Menschen das Zusammense<strong>in</strong> mit den eigenen<br />
Nachkommen als bedeutsam und befriedigend empfunden wird.<br />
12.2.1. Intergenerationelle Wohnentfernung und Kontakthäufi gkeit<br />
Bei den Generationenbeziehungen s<strong>in</strong>d frag los die Wohnentfernung zu den eigenen K<strong>in</strong>dern<br />
und die Kontakthäufi gkeit mit ihnen die entscheidenden Kennwerte <strong>für</strong> Isolation. 2 E<strong>in</strong>e aktuelle<br />
und repräsentative Datengrundlage <strong>für</strong> zehn kont<strong>in</strong>entaleuropäische Länder bietet der „Survey<br />
of Health, Age<strong>in</strong>g and Retirement <strong>in</strong> Europe“ (SHARE) aus dem Jahre 2004. 3 In Tabelle 1 s<strong>in</strong>d die<br />
Ergebnisse <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> zu Wohnentfernung und Kontaktfrequenz – gegliedert <strong>in</strong> 10-Jahres-<br />
Altersgruppen – dargestellt, wobei <strong>in</strong> der Analyse jeweils jene Eltern-K<strong>in</strong>d-Dyade berücksichtigt<br />
ist, welche zue<strong>in</strong>ander die kürzeste geografi sche Distanz bzw. den häufi gsten (persönlichen,<br />
telefonischen oder sonstigen) Kontakt aufweist. 4<br />
12.2.1.1. INTERGENERATIONELLE WOHNENTFERNUNG<br />
Der europäische Vergleich <strong>in</strong> Bezug auf die <strong>in</strong>tergenerationellen Wohnentfernungen (hier nicht<br />
tabellarisch dargestellt) erweist e<strong>in</strong>en deutlichen Unterschied zwischen Nord und Süd: <strong>in</strong> den<br />
Mittelmeerstaaten ist die Di stanz zwischen den Generationen weitaus ger<strong>in</strong>ger bzw. ist der<br />
Anteil der Mehrgenerationenhaushalte höher als im Norden u nd Westen. <strong>Österreich</strong> befi ndet<br />
sich (zusammen mit Deutschland und der Schweiz) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er mittleren Position.<br />
2 In diesem Beitrag werden ausschließlich die Kontakte von älteren Menschen mit ihren K<strong>in</strong>dern behandelt. Außer Be-<br />
292<br />
tracht bleiben alle anderen (<strong>in</strong>tergenerationellen) Kontakte im Familienkreis (z. B. mit Geschwistern oder Nichten und<br />
Neff en). Das bedeutet auch, dass über die Isolation von k<strong>in</strong>derlosen alten Menschen mangels Daten gar nichts ausge-<br />
sagt werden kann. Ebensowenig s<strong>in</strong>d Informationen über das Ausmaß und die Art der Ehepartnerkontakte vorhanden.<br />
Freilich stellt sich bei der Ehe die Frage nach der sozialen Isolation im üblichen S<strong>in</strong>n normalerweise nicht, weil davon<br />
ausgegangen werden kann, dass die überwältigende Mehrzahl der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Partnerschaft lebenden alten Menschen<br />
auch zusammen wohnt und/oder (fast) täglichen Kontakt hat.<br />
3 Die teilnehmenden Länder <strong>in</strong> dieser Projektphase s<strong>in</strong>d Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland,<br />
Italien, die Niederlande, <strong>Österreich</strong>, Schweden, die Schweiz und Spanien; die nachfolgenden Erörterungen basieren auf<br />
den Auswertungen der Daten durch Hank (2007), siehe auch (14.10.2007).<br />
4 Heimbewohner/<strong>in</strong>nen werden von der SHARE-Stichprobe nicht erfasst. Da die <strong>in</strong>stitutionalisiert wohnenden Menschen<br />
besonders <strong>in</strong> den höchsten Altersklassen von e<strong>in</strong>er nicht zu vernachlässigenden Größenordnung s<strong>in</strong>d, muss von Verzerrungen<br />
ausgegangen werden: die Wohnnähe (<strong>in</strong>sbesondere das Wohnen im selben Haus) ist <strong>in</strong> der SHARE-Stichprobe<br />
ohne Zweifel größer als <strong>in</strong> der Gruppe der <strong>Hochaltrige</strong>n <strong>in</strong>sgesamt. Bei der Kontakthäufi gkeit kann über die Richtung der<br />
Verzerrung (Über- oder Unterschätzung der <strong>in</strong>tergenerationellen Kontakte) nichts ausgesagt werden, doch liegt die Vermutung<br />
nahe, dass Heimbewohner/<strong>in</strong>nen seltener als Personen <strong>in</strong> Privathaushalten täglichen Kontakt mit ihren K<strong>in</strong>dern<br />
haben werden.
EINSAMKEIT UND ISOLATION<br />
Für <strong>Österreich</strong> zeigt die genauere Betrachtung nach der Altersvariablen, dass rund die Hälfte<br />
der 50- bis 59-Jährigen <strong>Österreich</strong>er/<strong>in</strong>nen mit e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d „unter e<strong>in</strong>em Dach“ wohnt; der relativ<br />
hohe Anteil an Zusammenwohnenden <strong>in</strong> dieser mittleren Generation hängt zweifellos mit<br />
dem noch nicht stattgefundenen Auszug der K<strong>in</strong>der aus dem elterlichen Haushalt zusammen.<br />
Dementsprechend s<strong>in</strong>kt <strong>in</strong> den höheren Altersstufen ab 60 Jahren der Ant eil der <strong>in</strong>tergenerationell<br />
Zusammenwohnenden ab. In der höchsten Altersstufe ab 80 Jahren steigt dieser Anteil<br />
jedoch wieder an (Tabelle 1a), wobei ke<strong>in</strong>e Informationen vorliegen, <strong>in</strong>wieweit es sich um e<strong>in</strong>e<br />
Wiederaufnahme von Haushaltsgeme<strong>in</strong>schaften handelt.<br />
Es ist j edenfalls festzu halten, dass die große Mehrheit der hoch altrigen Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Wohnsituation lebt, die durch Nähe zu ihren Nachkommen gekennzeichnet ist: annähernd zwei<br />
von fünf 80- und mehrjährigen <strong>Österreich</strong>er/<strong>in</strong>nen wohnen mit e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d unter e<strong>in</strong>em Dach<br />
(e<strong>in</strong>e im europäischen Vergleich leicht überdurchschnittliche Quote) und fast die Hälfte wohnt<br />
vom K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er relativ leicht überbrückbaren Entfernung. In großer geografi scher Entfernung<br />
vom nächsten K<strong>in</strong>d (25 km oder mehr) wohnt nur jede/r siebente <strong>Hochaltrige</strong>. 5<br />
Da vergleichbare Daten im österreichischen Mikrozensus 1998 (Hörl & Kytir 2000: 71-72) ebenfalls<br />
erhoben worden s<strong>in</strong>d, ist e<strong>in</strong>e Trendaussage möglich. Für die 80- und Mehrjährigen kann dabei<br />
festgestellt werden, dass die Konstellation des Wohnens mit e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d im selben Haushalt<br />
oder im selben Haus seit den neunziger Jahren e<strong>in</strong>e hohe Stabilität aufweist. 6<br />
5 Die Umfrageergebnisse zeigen ferner, dass Frauen eher als Männer mit e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d zusammenwohnen und dass die<br />
Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit des geme<strong>in</strong>samen Wohnens im selben Haus <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> (wie auch <strong>in</strong> Deutschland) durch das<br />
Vorhandense<strong>in</strong> von Enkelk<strong>in</strong>dern bzw. durch e<strong>in</strong>en subjektiv schlechten Gesundheitszustand erhöht wird (Hank 2007:<br />
166, 170).<br />
6 Im Jahre 1998 wohnten <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> von den nicht-k<strong>in</strong>derlosen 60- und Mehrjährigen <strong>in</strong> Privathaushalten 46% und<br />
von den 80- und Mehrjährigen zwei Fünftel mit zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d „unter e<strong>in</strong>em Dach.“ Wie aus Tabelle 1a zu ersehen<br />
ist, liegen die entsprechenden Werte <strong>für</strong> 2004 <strong>für</strong> die Gesamtgruppe der 60- und Mehrjährigen deutlich niedriger,<br />
d. h. <strong>für</strong> die älteren Menschen <strong>in</strong>sgesamt ist e<strong>in</strong>e Tendenz <strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>es separierten Wohnens der Generationen zu<br />
beobachten. Diese Tendenz gilt jedoch nicht <strong>für</strong> die Teilgruppe der <strong>Hochaltrige</strong>n über 80 Jahren! Detailliertere Aussagen<br />
zu den Trends bei der <strong>in</strong>tergenerationellen Wohnentfernung s<strong>in</strong>d wegen der unterschiedlichen Operationalisierungen<br />
<strong>in</strong> den beiden Erhebungen nicht möglich.<br />
293
EINSAMKEIT UND ISOLATION<br />
Tabelle 1: Wohnentfernung und Kontakthäufi gkeit zwischen den Generationen, 50+jährige,<br />
<strong>Österreich</strong> (2004), <strong>in</strong> % (gewichtet; Rundungsfehler nicht ausgeglichen)<br />
(a) nächstes K<strong>in</strong>d wohnt ... Insgesamt 50-59 60-69 70-79 80+<br />
im selben Haus(halt) 39 50 34 30 38<br />
weniger als 25 km entfernt 46 39 48 54 47<br />
25 km oder weiter entfernt 15 11 18 16 15<br />
(n = 1.224) 100 100 100 100 100<br />
(b) Kontakthäufigkeit* Insgesamt 50-59 60-69 70-79 80+<br />
täglich 29 30 26 29 33<br />
m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der Woche 54 52 59 54 58<br />
seltener 17 18 15 18 19<br />
(n = 1.075) 100 100 100 100 100<br />
* Persönlicher, telefonischer oder sonstiger Kontakt mit jenem K<strong>in</strong>d, mit dem man <strong>in</strong> den letzten 12 Monaten am häufi gsten<br />
<strong>in</strong> Kontakt stand; ohne Personen, die mit e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d im selben Haushalt oder im selben Haus wohnen.<br />
Quelle: Survey of Health, Age<strong>in</strong>g and Retirement <strong>in</strong> Europe (SHARE; Hank 2007: 163).<br />
12.2.1.2. INTERGENERATIONELLE KONTAKTHÄUFIGKEIT<br />
Bei der Analyse der Kontakthäufi gkeit auf der europäischen Ebene bietet sich e<strong>in</strong> zur Wohnentfernung<br />
analoges Bild: <strong>in</strong> den südlichen Ländern kann man e<strong>in</strong>en höheren Anteil an täglichen<br />
Kontakten zwischen den Generationen feststellen als <strong>in</strong> den nördlichen und westlichen Ländern.<br />
Wie schon bei der Wohnentfernung befi ndet sich <strong>Österreich</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er mittleren Position (Hank 2007).<br />
Die Betrachtung nach dem Alter ergibt <strong>in</strong>sgesamt nicht allzu große Unterschiede (Tabelle 1b). In<br />
der höchsten Altersgruppe ist der Kontakt etwas <strong>in</strong>tensiver als <strong>in</strong> den jüngeren Altersgruppen:<br />
e<strong>in</strong> Drittel der separat von ihren K<strong>in</strong>dern wohnenden über 80-Jährigen <strong>Österreich</strong>er/<strong>in</strong>nen sieht<br />
täglich e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d oder telefoniert mit ihm. Auf der anderen Seite hat <strong>in</strong> dieser Altersgruppe e<strong>in</strong><br />
schwaches Fünftel seltener als e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der Woche Kontakt mit e<strong>in</strong>em Nachkommen und kann<br />
daher als relativ stark isoliert gelten.<br />
Detailauswertungen ist <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> ferner zu entnehmen, dass Frauen e<strong>in</strong>en höheren Anteil<br />
als Männer an täglichen Kontakten mit ihren K<strong>in</strong>dern haben. Außerdem ist <strong>für</strong> alte Menschen<br />
mit e<strong>in</strong>em niedrigen Schulbildungsniveau die Kontaktfrequenz erhöht. Das gleiche gilt <strong>für</strong> jene,<br />
die unter chronischen Krankheiten leiden (Hank 2007: 167-169).<br />
Der Vergleich mit den Ergebnissen des Mikrozensus 1998 ergibt, dass e<strong>in</strong>e dramatische Veränderung<br />
<strong>in</strong> der Häufi gkeit des Kontakts zwischen den hochaltrigen Menschen und ihren K<strong>in</strong>dern<br />
294
EINSAMKEIT UND ISOLATION<br />
<strong>in</strong> den letzten Jahren mit großer Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit nicht stattgefunden haben dürfte. 7 E<strong>in</strong>e<br />
bemerkenswerte Übere<strong>in</strong>stimmung fi ndet sich <strong>in</strong> den beiden Studien bei der Analyse nach dem<br />
Alter. Es ist jeweils e<strong>in</strong> u-förmiger Verlauf zu beobachten, d. h. im frühen Alter nimmt zunächst<br />
der tägliche Kontakt mit den K<strong>in</strong>dern ab, steigt jedoch ab dem Alter von etwa 70 Jahren wieder<br />
an. Weiterh<strong>in</strong> stimmen die Ergebnisse dar<strong>in</strong> übere<strong>in</strong>, d ass Frauen und die Angehörigen der<br />
niedrigeren (Bildungs-)Schichten tendenziell kontaktfreudiger s<strong>in</strong>d (Hörl & Kytir 2000: 76 77).<br />
Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass von e<strong>in</strong>em Niedergang der <strong>in</strong>t ergenerationellen<br />
Familienbeziehungen weder h<strong>in</strong>sichtlich der Wohnentfernung noch h<strong>in</strong>sichtlich der Kontaktfrequenzen<br />
die Rede se<strong>in</strong> kann. Vielmehr herrschen stabile Verhältnisse auf relativ hohem Niveau<br />
vor. Die gelegentlich geäußerten Be<strong>für</strong>chtungen e<strong>in</strong>er Isolierung der Generationen treff en zum<strong>in</strong>dest<br />
<strong>für</strong> das hohe und höchste Alter nicht zu. Selbstverständlich ist mit dieser Feststellung<br />
noch nichts über die Beziehungsqualität ausgesagt.<br />
12.2.2. Häufi gkeit von Aktivitäten und Sozialkontakten<br />
Zur weiteren Abklärung der Frage nach der sozialen Isolation wird im Folgenden e<strong>in</strong>e Reihe von<br />
<strong>in</strong>haltlich konkretisierten Sozialkontakten analysiert, die Menschen pfl egen oder pfl egen könnten.<br />
Als Datengrundlage dient e<strong>in</strong>e eigene Sonderauswertung der Umfrage „Generation 50 Plus“<br />
des Fessel-GfK Instituts <strong>für</strong> Marktforschung aus dem Jahre 2006.<br />
In Tabelle 2 fi ndet sich e<strong>in</strong>e Zusammenstellung von Aktivitäten, die mit regelmäßigen Sozialkontakten<br />
verbunden s<strong>in</strong>d. Da raus geht hervor, dass, alles <strong>in</strong> allem be trachtet, das Leben <strong>in</strong><br />
sozialer Isolation e<strong>in</strong>en Ausnahmefall darstellt. Diese Feststellung gilt nicht nur <strong>für</strong> die Menschen<br />
<strong>in</strong> ihren mittleren Jahren und im frühen Alter, sondern grundsätzlich auch <strong>für</strong> die hochaltrigen<br />
Menschen im Alter von über 80 Jahren.<br />
E<strong>in</strong>e deutliche Mehrheit von gut zwei Dritteln der 80- und Mehrjährigen hat regelmäßige Treffen<br />
mit Angehörigen und/oder Freunden und Bekannten; von mehr als e<strong>in</strong>em Drittel werden<br />
regelmäßige Außenkontakte im S<strong>in</strong>ne von Lokalbesuchen bzw. Spielrunden gepfl egt. 8 Zu den<br />
häufi gsten sozialen Aktivitäten außerhalb des engeren Familienkreises zählt – <strong>in</strong>sbesondere<br />
<strong>für</strong> Frauen – der Besuch des Gottesdienstes, wobei e<strong>in</strong> kurvil<strong>in</strong>earer Verlauf zu beobachten<br />
7 E<strong>in</strong> exakter Vergleich der Ergebnisse der SHARE-Studie mit jenen des Mikrozensus 1998 ist wegen der unterschiedlichen<br />
methodischen Vorgangsweisen nicht möglich. Während <strong>in</strong> der SHARE-Studie alle Kontaktformen zusammengefasst s<strong>in</strong>d,<br />
wurden im Mikrozensus 1998 „Besuche“ und „Telefonate“ getrennt ausgewiesen. Gemäß den Mikrozensus-Resultaten<br />
erhielt jede/r zehnte von den separat wohnenden 80- und Mehrjährigen täglichen Besuch von e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d und erhielten<br />
18% seltener als e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der Woche Besuch (Hörl & Kytir 2000: 77).<br />
8 Bei e<strong>in</strong>igen der <strong>in</strong> Tabelle 2 angeführten Aktivitäten werden wohl Mehrfachnennungen und Überschneidungen (z. B.<br />
Spielrunden im Freundeskreis) vorliegen.<br />
295
EINSAMKEIT UND ISOLATION<br />
ist: bis zum 80. Lebensjahr ist e<strong>in</strong>e stetige Teilnahmesteigerung zu verzeichnen, bei den über<br />
80-Jährigen s<strong>in</strong>kt der Anteil der Kirchenbesucher/<strong>in</strong>nen wieder (leicht) ab.<br />
296<br />
Tabelle 2: Häufi gkeit* ausgewählter Sozialkontakte, 50- und mehrjährige Männer und<br />
Frauen, <strong>Österreich</strong> (2006), <strong>in</strong> % (gewichtet; Rundungsfehler nicht ausgeglichen)<br />
n<br />
Insgesamt<br />
m w<br />
50-59<br />
m w<br />
60-69<br />
m w<br />
70-79<br />
m w<br />
80+<br />
m w<br />
ehrenamtliche (unbezahlte)<br />
Tätigkeit ausüben<br />
-1.015 21 17 23 21 22 21 19 16 11 2<br />
Karten/ Schach/<br />
Gesellschaftsspiele spielen<br />
-1.019 46 40 41 39 53 44 47 43 39 32<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Café/ Gasthaus/<br />
Restaurant gehen<br />
-1.019 68 58 82 68 65 60 62 49 45 39<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Club/ Vere<strong>in</strong> gehen<br />
sich politisch betätigen/<br />
-1.019 32 24 32 25 39 28 24 24 27 16<br />
politische Veranstaltungen<br />
besuchen<br />
-1.017 8 4 8 5 12 4 4 5 2 1<br />
e<strong>in</strong>en Gottesdienst besuchen -1.018 36 42 28 32 37 46 45 55 41 43<br />
Bekanntschaften machen<br />
mit der Familie/ Verwandten<br />
-1.003 32 22 44 30 32 21 20 18 11 11<br />
etwas unternehmen,<br />
zusammense<strong>in</strong><br />
mit Bekannten/ Freunden<br />
-1.016 75 80 78 86 74 79 75 75 70 73<br />
etwas unternehmen,<br />
zusammense<strong>in</strong><br />
-1.015 73 75 81 84 76 80 61 70 64 51<br />
sich mit K<strong>in</strong>dern beschäftigen -1.012 49 56 50 66 53 62 46 48 35 32<br />
E-Mails schicken/ empfangen -1.018 23 15 40 34 20 11 7 1 2 1<br />
übers Handy SMS<br />
schicken/ empfangen<br />
-1.018 19 20 35 41 13 16 8 4 5 1<br />
Telefonieren -1.019 91 97 95 97 88 98 91 96 84 96<br />
* Anteil der Personen <strong>in</strong> der jeweiligen Alters- und Geschlechtsgruppe, die e<strong>in</strong>mal im Monat oder häufi ger <strong>in</strong> den angeführ-<br />
ten Bereichen aktiv s<strong>in</strong>d.<br />
Quelle: Studie Generation 50 Plus 2006 der FESSEL-GfK Marktforschung Ges.m.b.H.; eigene Berechnungen.<br />
Im Altersgruppenvergleich ist erwartungsgemäß <strong>in</strong> den meisten Kategorien e<strong>in</strong> verhältnismäßig<br />
deutlicher Rückgang der Aktivitäts- bzw. Kontaktfrequenz festzustellen, d. h. die über 80-Jährigen<br />
verm<strong>in</strong>dern ihre entsprechenden Aktivitäten. 9 Als ziemlich stabil erweisen sich (abgesehen vom<br />
Sonderfall des Telefonierens) erwartungsgemäß die Familienbeziehungen und <strong>in</strong> abgeschwächter<br />
9 Da es sich um Querschnittsdaten handelt, welche die Unterschiede <strong>in</strong> den Verhaltensweisen der e<strong>in</strong>zelnen Alterskohorten<br />
widerspiegeln, dürfen die Ergebnisse nicht ohne weiteres so <strong>in</strong>terpretiert werden, als ob bestimmte Aktivitäten<br />
im <strong>in</strong>dividuellen Lebensablauf an Häufi gkeit zu- oder abnähmen. Aussagen über <strong>in</strong>dividuelle Verläufe (etwa „Je älter<br />
man wird, desto seltener übt man ehrenamtliche Tätigkeiten aus“) s<strong>in</strong>d streng genommen nur aufgrund von Paneldaten<br />
zulässig.
EINSAMKEIT UND ISOLATION<br />
Form auch die Kontakte mit Bekannten, Freund/<strong>in</strong>nen. Letztere Kontakte gehen bei den Frauen<br />
stärker zurück als bei den Männern, möglicher weise deswegen, weil sich bei den Fr auen die<br />
Personenverluste gravierender auswirken.<br />
Die stärkste Abnahme im hohen Alter erfahren jene Aktivitäten, die e<strong>in</strong>en eher formellen oder<br />
quasiverpfl ichtenden Charakter haben: das betriff t die Tätigkeit <strong>in</strong> Ehrenämtern, <strong>in</strong> Vere<strong>in</strong>en,<br />
die Teilnahme an politischen Veranstaltungen. Nicht überraschend ist, dass die Nutzungshäufi<br />
gkeit der modernen elektronischen Kommunikationsmedien hochgradig vom Alter abhängt.<br />
12.3. E<strong>in</strong>samkeit<br />
12.3.1. AUSMASS VON EINSAMKEITSGEFÜHLEN<br />
Über das absolute Niveau der E<strong>in</strong>samkeitsgefühle unter den älteren Menschen fi nden sich unterschiedliche<br />
Angaben, doch sche<strong>in</strong>t festzustehen, dass es sich grundsätzlich überall um e<strong>in</strong><br />
M<strong>in</strong>derheitenphäno men handelt. E<strong>in</strong>e Metaanalyse von <strong>in</strong>ternationalen Forschungsergebnissen<br />
zeigt, dass sich von den 65- und Mehrjährigen 5-15% häufi g und weitere 20-40% gelegentlich<br />
e<strong>in</strong>sam fühlen (P<strong>in</strong>quart & Sorensen 2001).<br />
Die auftretenden großen Di skrepanzen <strong>in</strong> den Proz entsätzen s<strong>in</strong>d teilweise e<strong>in</strong>e F olge der<br />
une<strong>in</strong>heitlichen methodischen Vorgangsweisen <strong>in</strong> den Studien. 10 Sie liegen aber auch <strong>in</strong> der<br />
bereits bei der Frage nach der sozialen Isolation besprochenen <strong>in</strong>terkulturellen Diversität begründet.<br />
Die Qualität von Lebensgefühlen wird <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Ländern sehr unterschiedlich<br />
wahrgenommen und bewertet, so nehmen <strong>in</strong> Eu ropa die subjektiven E<strong>in</strong>samkeitsgefühle von<br />
Nord nach Süd kont<strong>in</strong>uierlich zu (Jylhä & Jokela 1990).<br />
Es liegen bedauerlicherweise nur wenige E<strong>in</strong>samkeitsstudien vor, die hochaltrige Menschen<br />
e<strong>in</strong>schließen bzw. als Kategorie gesondert ausweisen und analysieren. Die verfügbaren Untersuchungen<br />
lassen allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>en Zweifel daran, dass unter den <strong>Hochaltrige</strong>n das Gefühl der<br />
E<strong>in</strong>samkeit wesentlich häufi ger auftritt als bei Personen <strong>in</strong> der frühen und mittleren Altersphase.<br />
10 Nicht immer wird <strong>in</strong> den Studien das Problem der Antwortverzerrung durch soziale Wünschbarkeit h<strong>in</strong>reichend bedacht.<br />
Da E<strong>in</strong>samkeit von vielen Menschen als e<strong>in</strong>e stigmatisierende negative Eigenschaft im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Nicht-Gebraucht-<br />
Werdens betrachtet und daher geleugnet oder verdrängt wird, dürften die tatsächlich vorhandenen E<strong>in</strong>samkeitsgefühle<br />
<strong>in</strong> vielen Studien (aufgrund von mangelhaften Operationalisierungen) unterschätzt werden. Noch am ehesten geben die<br />
Menschen zu, dass sie <strong>in</strong> der Vergangenheit e<strong>in</strong>mal unter E<strong>in</strong>samkeitsgefühlen gelitten haben (de Jong Gierveld 1987).<br />
Häufi g verwendet wird die UCLA-E<strong>in</strong>samkeitsskala (Russell et al. 1980; deutsche Fassung: Smith & Baltes 1993), doch<br />
s<strong>in</strong>d Reliabilität und Validität der Skala bei Anwendung an sehr alten Respondenten fragwürdig, weil sie die spezielle<br />
Problematik der im höchsten Lebensalter auftretenden Personenverluste nicht ausreichend berücksichtigt (Holmén &<br />
Furukawa 2002: 265).<br />
297
EINSAMKEIT UND ISOLATION<br />
In der „Berl<strong>in</strong>er Altersstudie“ ist zwischen dem 70. und dem 103. Lebensjahr e<strong>in</strong> kont<strong>in</strong>uierlicher<br />
Anstieg sowohl der sozialen als auch der emotionalen E<strong>in</strong>samkeit zu verzeichnen; <strong>in</strong>sgesamt<br />
fühlen sich <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> rund 50% der über 80-Jährigen häufi g e<strong>in</strong>sam (Wagner et al. 1996: 315). Im<br />
deutschen Wohlfahrtssurvey 1998 geben von den 70- und Mehrjährigen 27% bzw. 38% (West-<br />
bzw. Ostdeutschland) an, sich oft e<strong>in</strong>sam zu fühlen, während unter den 40- bi s 69-Jährigen<br />
die entsprechenden Anteile nur 15% bzw. 13% betragen (Noll & Schöb 2001, zit. nach Kuhlmey<br />
2002: 120). In e<strong>in</strong>er österreichischen Untersuchung äußern 14% der 60- bis 64-Jährigen, 18%<br />
der 65- bis 69-Jährigen, aber 25% der 70- bis 75-Jährigen explizite E<strong>in</strong>samkeitsgefühle (Rosenmayr<br />
& Kolland 2002).<br />
12.3.2. Bestimmungsgründe<br />
In der Literatur (de Jong Gierveld 1987, Kuhlmey 2002, Long & Mart<strong>in</strong> 2000, P<strong>in</strong>quart 2003, P<strong>in</strong>quart<br />
& Sorensen 2001) wird e<strong>in</strong>e Reihe von Risikofaktoren <strong>für</strong> (emotionale und soziale) E<strong>in</strong>samkeit<br />
angeführt, wobei die Gewichtung dieser Faktoren unterschiedlich ausfällt. Zum Teil laufen auch<br />
Wechselwirkungsprozesse (z. B. zwischen schlechtem Gesundheitszustand und E<strong>in</strong>samkeit)<br />
ab. Unbestritten ist, dass der (qualitative) Mangel an sozialen Beziehungen und B<strong>in</strong>dungen zur<br />
Entstehung von E<strong>in</strong>samkeitsgefühlen am stärksten beiträgt, namentlich das Alle<strong>in</strong>se<strong>in</strong> aufgrund<br />
des Todes des Lebenspartners oder der Lebenspartner<strong>in</strong> und von Freund/<strong>in</strong>nen. 11 E<strong>in</strong>e zweite<br />
Gruppe von Risikofaktoren umfasst gesundheitliche und Mobilitäts e<strong>in</strong>schränkungen und e<strong>in</strong>e<br />
dritte Gruppe bezieht sich auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale (z. B. Introversion, Angst,<br />
Depression). Schließlich s<strong>in</strong>d, viertens, soziodemografi sche Zusammenhänge zu beobachten:<br />
Angehörige der unteren Sozialschichten und Heimbewohner/<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d stärker gefährdet; Frauen<br />
äußern mehr E<strong>in</strong>samkeitsgefühle als Männer, was allerd<strong>in</strong>gs vor allem darauf zurückzuführen<br />
ist, dass Frauen häufi ger verwitwet s<strong>in</strong>d.<br />
Das Lebensalter als solches kann nicht als Risikofaktor bezeichnet werden; da jedoch bei den<br />
meisten der genannten Risikofaktoren mit steigendem Alter die E<strong>in</strong>tritts wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />
zunimmt, ergibt sich die beschriebene positive Korrelation zwischen E<strong>in</strong>samkeit und Alter.<br />
Insgesamt kann die im Anschluss an die konzeptuellen Erörterungen zum Zusammenhang zwischen<br />
Isolation und E<strong>in</strong>samkeit geäußerte Vermutung, dass gerade im höheren und höchsten<br />
Alter die soziale Isolation (im S<strong>in</strong>ne von Desolation) maßgeblich zur Entstehung von E<strong>in</strong>samkeitsgefühlen<br />
beiträgt, im Lichte des Literaturüberblicks als bestätigt gelten.<br />
11 Zur Frage, ob lebenslang unverheiratete und/oder k<strong>in</strong>derlose Menschen (bzw. solche ohne Enkelk<strong>in</strong>der) im Alter stärker<br />
298<br />
unter E<strong>in</strong>samkeit leiden, fi nden sich <strong>in</strong> der Forschungsliteratur widersprüchliche Ergebnisse (vgl. Cwikel et al. 2006,<br />
Koropeckyj-Cox 1998, Zhang & Hayward 2001).
12.3.3. E<strong>in</strong>samkeitserwartung<br />
EINSAMKEIT UND ISOLATION<br />
Da aktuelle österreichische Studien zur E<strong>in</strong>samkeit von <strong>Hochaltrige</strong>n nicht verfügbar s<strong>in</strong>d, wurde<br />
e<strong>in</strong>e Sonderauswertung der bereits erwähnten Studie „Generation 50 Plus“ vorgenommen.<br />
Die Messung von E<strong>in</strong>samkeit erfolgt hier durch die Reaktion der Befragten auf das Statement<br />
„Älterwerden bedeutet auch e<strong>in</strong>es Tages alle<strong>in</strong>e dazustehen.“ Das Item ist <strong>in</strong>direkt formuliert<br />
– d. h. es vermeidet Suggestion durch den wertenden Begriff „e<strong>in</strong>sam“ und thematisiert auch<br />
nicht ausdrücklich den aug enblicklichen subjektiven Gefühlszustand, sondern verlangt von<br />
den Befragten e<strong>in</strong>e generalisierende Stellungnahme –, und es bezieht sich eher auf Netzwerkverluste<br />
(„e<strong>in</strong>es Tages alle<strong>in</strong> dastehen“). E<strong>in</strong>e Interpretation wird daher vorsichtigerweise von<br />
E<strong>in</strong>sam keitserwartungen sprechen und zwar h<strong>in</strong>sichtlich der sozialen (und weniger der emotionalen)<br />
E<strong>in</strong>samkeitskomponente.<br />
Die Ergebnisse (Tabellen 3 und 4) stehen im Großen und Ganzen im E<strong>in</strong>klang mit den bisher<br />
referierten Erkenntnissen der Forschung.<br />
Tabelle 3:Erwartung von E<strong>in</strong>samkeit im Alter, 50- und mehrjährige Männer und Frauen,<br />
<strong>Österreich</strong> (2006), <strong>in</strong> % (gewichtet; Rundungsfehler nicht ausgeglichen)<br />
„Älterwerden bedeutet<br />
auch e<strong>in</strong>es Tages alle<strong>in</strong>e<br />
Insgesamt 50-59 60-69<br />
70-79 80+<br />
dazustehen“<br />
m w m w m w m w m w<br />
trifft sehr zu 24 32 18 20 21 35 28 41 48 44<br />
trifft eher zu 36 31 29 29 42 35 34 30 43 26<br />
trifft eher nicht zu 29 25 38 35 29 21 28 24 5 14<br />
trifft überhaupt nicht zu 11 12 16 16 8 9 10 5 5 16<br />
(n = 964) 100 100 101 100 100 100 100 100 101 100<br />
Quelle: Studie Generation 50 Plus 2006 der FESSEL-GfK Marktforschung Ges.m.b.H.; eigene Berechnungen.<br />
Insgesamt verb<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e deutliche Mehrheit von fast zwei Dritteln al ler Befragten mit dem<br />
Älterwerden e<strong>in</strong>e mehr oder weniger ausgeprägte E<strong>in</strong>samkeitserwartung.<br />
Die Unterschiede zwischen den mittleren und höheren Altersgruppen s<strong>in</strong>d beträchtlich. Während<br />
<strong>in</strong> der Altersgruppe der 50- bis 59-Jährigen noch e<strong>in</strong>e knappe Mehrheit den pessimistischen<br />
Ausprägungen zu den vorgegebenen Statements nicht zuzustimmen vermag, steigt ab<br />
dem 60. Lebensjahr der Anteil der Skeptiker/<strong>in</strong>nen scharf an. Bei den Fr auen antwortet dann<br />
gleichmäßig e<strong>in</strong>e große Mehrheit von rund 70% zustimmend während es bei den Männern ab<br />
80 Jahren nochm als e<strong>in</strong>e s ignifi kante Steigerung des Anteils jener gibt (auf über 90%), die<br />
diese Aussage <strong>in</strong>sgesamt <strong>für</strong> zutreff end erachten. Die extreme Position „triff t sehr zu“ erfährt<br />
e<strong>in</strong>e besonders steile Zunahme. Unter den Hoch altrigen über 80 Jahren wählt f ast die Hälf te<br />
diese Antwortalternative.<br />
299
EINSAMKEIT UND ISOLATION<br />
Es ist anzunehmen, dass sich <strong>in</strong> diesen Verlaufsmustern die alters- und geschlechts spezifi sch<br />
unterschiedlichen Lebensereignisse und Verlusterfahrungen widerspiegeln.<br />
In Tabelle 4 wird die E<strong>in</strong>samkeitserwartung mit e<strong>in</strong>er Reihe von möglichen psychosozialen und<br />
demografi schen E<strong>in</strong>fl ussfaktoren quertabuliert.<br />
300<br />
Tabelle 4: Erwartung von E<strong>in</strong>samkeit im Alter* nach ausgewählten Variablen , 50- und<br />
mehrjährige Männer und Frauen, <strong>Österreich</strong> (2006), <strong>in</strong> % (gewichtet)<br />
n Insgesamt 50-59 60-69 70-79 80+<br />
unverheiratet<br />
verheiratet<br />
-388<br />
-575<br />
66<br />
58<br />
51<br />
47<br />
72<br />
64<br />
68<br />
66<br />
74<br />
83<br />
alle<strong>in</strong> lebend -361 74 64 76 75 82<br />
nicht alle<strong>in</strong><br />
lebend<br />
-603 54 43 62 61 70<br />
ja<br />
ne<strong>in</strong><br />
-814<br />
-150<br />
59<br />
73<br />
46<br />
58<br />
64<br />
82<br />
67<br />
67<br />
72<br />
96<br />
ja<br />
ne<strong>in</strong><br />
-613<br />
-348<br />
61<br />
64<br />
45<br />
51<br />
62<br />
78<br />
67<br />
67<br />
72<br />
94<br />
bis 10.000 Ew.<br />
über 10.000 Ew.<br />
-552<br />
-412<br />
61<br />
63<br />
44<br />
54<br />
67<br />
67<br />
68<br />
65<br />
80<br />
73<br />
Pflichtschule -299 67 52 70 68 80<br />
mehr als<br />
Pflichtschule<br />
-665 59 47 65 66 75<br />
niedrig (C+D+E)<br />
hoch (A+B)<br />
-733<br />
-231<br />
63<br />
56<br />
51<br />
43<br />
66<br />
72<br />
67<br />
65<br />
80<br />
68<br />
niedrig<br />
hoch<br />
-555<br />
-409<br />
62<br />
61<br />
48<br />
48<br />
66<br />
68<br />
69<br />
62<br />
74<br />
81<br />
mittelmäßig/<br />
schlecht<br />
sehr gut/ gut<br />
-411<br />
-551<br />
70<br />
55<br />
63<br />
41<br />
74<br />
63<br />
69<br />
62<br />
77<br />
78<br />
niedrig -310 67 55 71 64 74<br />
hoch -654 59 47 66 70 85<br />
niedrig<br />
hoch<br />
-492<br />
-472<br />
69<br />
54<br />
55<br />
45<br />
74<br />
61<br />
68<br />
65<br />
79<br />
70<br />
Selbstbild<br />
negativdesengagiert<br />
-389 71 57 79 71 80<br />
positiv-engagiert -499 51 43 54 63 65<br />
3<br />
Kaufkraft<br />
subjektive<br />
Gesundheit<br />
Alltags-<br />
Funktionalität 1<br />
Aktivitätsniveau 2<br />
Familienstand<br />
Haushaltsgröße<br />
K<strong>in</strong>der<br />
Enkelk<strong>in</strong>der<br />
Ortsgröße<br />
Schulbildung<br />
soziale Schicht<br />
Quelle: Studie Generation 50 Plus 2006 der FESSEL-GfK Marktforschung Ges.m.b.H.; eigene Berechnungen.<br />
* Anteil der Personen, die die Aussage „Älterwerden bedeutet auch e<strong>in</strong>es Tages alle<strong>in</strong>e dazustehen“ als „sehr zutreff end“<br />
oder „eher zutreff end“ beurteilen. Lesebeispiel: 74% der unverheirateten 80+ fi nden diese Aussage sehr/eher zutreff end<br />
und 83% der verheirateten 80+ fi nden diese Aussage sehr/eher zutreff end.
EINSAMKEIT UND ISOLATION<br />
1 additiver Index aus acht Tätigkeiten (schwere E<strong>in</strong>kaufstasche tragen, sich Bücken, Baden/ Duschen, aus dem Bett aufste-<br />
hen, Spaziergang halbe Stunde, E<strong>in</strong>- und Aussteigen öff entliche Verkehrsmittel, Telefonieren, E<strong>in</strong>nehmen von Medikamen-<br />
ten); die Alltags-Funktionalität wird als hoch defi niert, wenn ke<strong>in</strong>e dieser Tätigkeiten Schwierigkeiten bereitet.<br />
2 additiver Index aus 39 Aktivitäten bzw. Kontakten (z. B. Hobby nachgehen, Sport treiben, Bücher lesen, Ausfl üge machen,<br />
Ausstellungen/ Museen besuchen, Handarbeiten/ Basteln, im Garten arbeiten, Fernsehen, Zeitungen lesen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Café/<br />
Gasthaus/ Restaurant gehen, mit Familie bzw. Bekannten etwas unternehmen usw.); das Aktivitätsniveau wird als hoch<br />
defi niert, wenn 17 oder mehr Aktivitäten e<strong>in</strong>mal im Monat oder häufi ger ausgeführt werden.<br />
3 Skala mit fünf Items (ich habe das Gefühl, sehr leistungsfähig zu se<strong>in</strong>, viel zustande zu br<strong>in</strong>gen; ich fühle mich alt [um-<br />
gepolte Codierung]; ich fühle mich jünger als ich b<strong>in</strong>; seit ich älter b<strong>in</strong>, b<strong>in</strong> ich richtig aufgeblüht; ich möchte aktiv an der<br />
Gesellschaft teilnehmen und mich engagieren) und vier Antwortausprägungen („triff t sehr zu = 1“ bis „triff t überhaupt nicht<br />
zu = 4“); Spannweite 5-20 Punkte; Cronbachs alpha = 0,78; das Selbstbild wird als positiv-engagiert defi niert, wenn 10 oder<br />
weniger Punkte erreicht werden.<br />
Die meisten der Variablen wirken <strong>in</strong> der erwarteten Richtung, und zwar geschieht dies <strong>in</strong> der<br />
Regel bei den 80- u nd Mehrjährigen <strong>in</strong> gleicher Weise wie bei den jü ngeren Altersgruppen.<br />
Demnach haben e<strong>in</strong>e signifi kant höhere E<strong>in</strong>samkeitserwartung jene hochaltrigen Menschen,<br />
die alle<strong>in</strong> wohnen, die ke<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der und ke<strong>in</strong>e Enkel haben, die über e<strong>in</strong>e nur niedrige Schulbildung<br />
verfügen bzw. e<strong>in</strong>er niedrigen sozialen Schicht angehören; sowie schließlich jene<br />
Menschen, die e<strong>in</strong> niedriges Aktivitätsniveau auf weisen, wenige Außenkontakte pfl egen und<br />
deren Selbstbild gekennzeichnet ist von e<strong>in</strong>er eher negativen E<strong>in</strong>stellung zu sich selbst und von<br />
e<strong>in</strong>er gesellschaftlichen Rückzugshaltung. 12<br />
Für die E<strong>in</strong>samkeitserwartung der ältesten Menschen ke<strong>in</strong>e Rolle spielen der formelle Familienstand,<br />
sowie der subjektive Gesundheitszustand und die Funktionalität <strong>in</strong> der Bewältigung<br />
alltäglicher Tätigkeiten. Diese Ergebnisse stimmen mit den bisherigen Erkenntnissen aus der<br />
Literatur nicht übere<strong>in</strong>, ohne dass da<strong>für</strong> e<strong>in</strong>e völlig plausible Erklärung auszumachen wäre. 13 Für<br />
die jüngeren Altersgruppen s<strong>in</strong>d h<strong>in</strong>gegen der Familienstand, sowie die Beurteilung der eigenen<br />
Gesundheit und der eigenen funktionellen Fähigkeiten <strong>für</strong> die E<strong>in</strong>samkeits erwartung sehr wohl<br />
relevant und verlaufen <strong>in</strong> der erwarteten Richtung. 14<br />
12 Diese Resultate stehen <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang mit den Ergebnissen e<strong>in</strong>er früheren österreichischen Studie (Rosenmayr & Kolland<br />
2002), deren Stichprobe allerd<strong>in</strong>gs nur Personen im Alter von bis zu 75 Jahren umfasst.<br />
13 Wie oben ausgeführt, führen chronische Krankheiten zu mehr Kontakten mit den K<strong>in</strong>dern. Dadurch könnte möglicher-<br />
weise das Vere<strong>in</strong>samungsgefühl trotz schlechtem Gesundheitszustand und niedriger Alltagsfunktionalität h<strong>in</strong>tangehal-<br />
ten werden.<br />
14 Etliche der angeführten Tendenzen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Altersgruppe der 70- bis 79-Jährigen nicht oder <strong>in</strong> schwächerer Form<br />
ausgeprägt als <strong>in</strong> den jüngeren und älteren Altersgruppen.<br />
301
EINSAMKEIT UND ISOLATION<br />
Zusammenfassend kann aus dieser Studie und unter Berücksichtigung der Resultate aus den<br />
anderen vorliegenden empirischen Untersuchun gen d er Schluss ge zogen werden, dass das<br />
Vorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es dichten Personennetzwerks <strong>in</strong>nerhalb und außerhalb der Familie, sowie<br />
e<strong>in</strong>e aktive Lebensführung und e<strong>in</strong>e optimistische, positiv engagierte Grundhaltung am besten<br />
geeignet s<strong>in</strong>d, E<strong>in</strong>samkeitsgefühle im Alter vermeiden zu helfen. Diese E<strong>in</strong>sicht ist grundsätzlich<br />
auch <strong>für</strong> die Menschen im Alter von 80 und mehr Jahren gültig.<br />
302
LITERATUR<br />
EINSAMKEIT UND ISOLATION<br />
Alber, Jens & Köhler, Ulrich (2004): Health and care <strong>in</strong> an enlarged Europe. Luxembourg: Offi ce<br />
for Offi cial Publications of the European Communities.<br />
Berardo, Felix M. & Berardo, Donna H. (2003): Widowhood. In: James J. Ponzetti (Hg), International<br />
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305
EINSAMKEIT UND ISOLATION<br />
306
13. GESUNDHEITLICHE ASPEKTE IM ALTER<br />
GESUNDHEITLICHE ASPEKTE IM ALTER<br />
FRANZ BÖHMER (ABSCHNITTE 1 BIS 8, 10), THOMAS FRÜHWALD (ABSCHNITTE 9, 10)<br />
13.1. E<strong>in</strong>leitung<br />
Das Altern i st der bedeutendste demogr afi sche Wandel, der i n unmittelbarer Zukunft jeden<br />
Menschen, jede Gesellschaft mit ihrem Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitssystem betreff en<br />
wird. Die Zunahme der Zahl der alten Menschen – <strong>in</strong>sbesondere der sehr alten Menschen – ist<br />
e<strong>in</strong> globales Phänomen (Böhmer 2001).<br />
Auch die österreichische Bevölkerung ist e<strong>in</strong>e typische „gray<strong>in</strong>g society“. Derzeit s<strong>in</strong>d etwa 20%<br />
60 Jahre alt und älter. Diese Prozentzahl, aber auch die Absolutzahl der alten Menschen wird<br />
<strong>in</strong>nerhalb der nächsten Jahrzehnte dramatisch ansteigen. Rezente demografi sche Projektionen<br />
sprechen von e<strong>in</strong>er Zunahme der 60+ Population auf 27-29% bis zum Jahr 2021 und auf mehr<br />
als 30% bis 2030. Die Gruppe der sehr alten Mensc hen (80+) wird sich bis 2030 verdoppeln<br />
und sie werden gleichzeitig immer älter werden.<br />
Insbesondere <strong>in</strong> der Gruppe der <strong>Hochaltrige</strong>n steigt das Risiko <strong>für</strong> e<strong>in</strong> komplexes, gleichzeitiges<br />
Nebene<strong>in</strong>ander physiologischer Alternsveränderungen von Organfunktionen, behandelbaren<br />
Erkrankungen und schon e<strong>in</strong>g etretenen Beh<strong>in</strong>derungen. Aus dieser Situation ergibt sich e<strong>in</strong><br />
hohes Risiko <strong>für</strong> Betreuungs- und Pfl egebedürftigkeit (Böhmer et al. 1998).<br />
Diese E<strong>in</strong>bußen und Defekte ergeben sich trotz aller Fortschritte der Mediz <strong>in</strong>, welche du rch<br />
Prävention, rechtzeitige Diagnostik sowie adäquate Therapie und Rehabilitation die Jahre der<br />
zunehmenden Lebenserwartung – die sozusagen gewonnenen Jahre – <strong>in</strong> relativer Gesundheit,<br />
Selbständigkeit und Autonomie erleben lassen möchten. Die so genannt e Kompression der<br />
Morbidität ist möglich, aber noch immer nicht <strong>in</strong> dem Ausm aß, welches die K onsequenzen<br />
der demografi schen Prognosen leichter verkraften ließe. Noch immer gilt, dass drei gewonnene<br />
Lebensjahre zwei Jahre mit chronischer Krankheit und Betreuungs abhängigkeit bedeuten<br />
(Füsgen 2005).<br />
Der zunehmende Bedarf an qualifi zierter Betreuung älterer Menschen zu Hause oder <strong>in</strong> Institutionen<br />
wird zu e<strong>in</strong>em dom<strong>in</strong>ierenden F aktor <strong>für</strong> die Planung zukünftiger Strukturen des<br />
österreichischen Gesundheits- und Sozialsystems.<br />
13.2. Krankheiten im Alter - Wirkungen des Alterns auf Krankheiten und<br />
vice versa<br />
Der Begriff „Alterskrankheit“ ist nur dann zu akzeptieren, wenn er Krankheiten impliziert, welche<br />
im Alter häufi ger vorkommen. Krankheiten, die ausschließlich dem Alter vorbehalten wären, gibt<br />
es nicht. Das Risiko der Manifestation vieler Krankheiten wird mit zunehmendem Alter größer.<br />
307
GESUNDHEITLICHE ASPEKTE IM ALTER<br />
Altern <strong>für</strong> sich alle<strong>in</strong> stellt ke<strong>in</strong>e Krankheit dar. Die Mehrzahl der Bevölkerung erreicht die<br />
7. Lebensdekade <strong>in</strong> Gesu ndheit und bewahrt diese bi s kurz vor dem Tod. Die Morbidit ät ist<br />
auf e<strong>in</strong>e kurze Lebensspanne wenige Monate vor dem Lebensende beschränkt. Funktionelle<br />
Defi zite s<strong>in</strong>d nicht als Konsequenz des Alterns zu sehen, sondern als Folge e<strong>in</strong>er oder mehreren<br />
Erkrankungen. Gerade beim älteren Patienten s<strong>in</strong>d die fünf Dimensionen der Gesundheit<br />
(physisch, psychisch, sozial, ökonomisch und Selbsthilfefähigkeit) zu berücksichtigen. Beim<br />
älteren Patienten treten Situationen auf, die beim jüngeren selten im ähn lichen Ausmaß <strong>für</strong><br />
die Therapie entscheidend s<strong>in</strong>d. Beispiele da<strong>für</strong>:<br />
Die Verfl echtung von spezifi schen Er kran kungen und allgeme<strong>in</strong>en Alterungsphänomenen hat<br />
meist Folgen <strong>für</strong> die funktionelle Integrität, dabei wird es schwierig zu beurteilen, wie viel Anteil<br />
an den Problemen der Grunderkrankung und wie viel dem normalen Alterungsprozess zufallen.<br />
Das Altern ist e<strong>in</strong> physiologischer Vorgang, also ke<strong>in</strong>e Krankheit. Der alte Organismus ist wegen<br />
se<strong>in</strong>er verm<strong>in</strong>derten Widerstands- und Adaptationsfähigkeit <strong>für</strong> Krankheiten anfälliger. Mit zunehmendem<br />
Alter nehmen auch die Krankheitshäufi gkeit, die Krankheits dauer und die Länge<br />
der Rekonvales zenzperiode zu. Altern kann als e<strong>in</strong> <strong>in</strong>direkter Risikofaktor <strong>für</strong> Krankheit gelten.<br />
An dererseits ist die Krankheit e<strong>in</strong>e wesentliche Determ<strong>in</strong>ante des Alterns. Die Alterungs vorgänge<br />
schaff en e<strong>in</strong>en Organismus, der sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Beschaff enheit und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Anpassungsvermögen<br />
von dem des Jüngeren wesentlich unterscheidet. Es kommt zu e<strong>in</strong>er gegenseitigen Bee<strong>in</strong>fl<br />
ussung von Krankheit und Altern, wobei die Dimension nicht nur e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> mediz<strong>in</strong>ische ist,<br />
sondern auch e<strong>in</strong>e psychische und soziale.<br />
13.3. Multimorbidität<br />
E<strong>in</strong> Charakteristikum der Erkrankungen im Alter ist die Multimorbidität. Darunter versteht man<br />
das im Alter typische gleichzeitige Auftreten bzw. Vorhandense<strong>in</strong> mehrerer behandlungswürdiger<br />
Krankheiten. Durchschnittlich können bei über 7 0-Jährigen je nach Untersuchung 3<br />
bis 9 Kr ankheiten gleichzeitig erwartet werden. Anders betrachtet: <strong>in</strong> der Gru ppe der 65 bi s<br />
69-Jährigen weisen 9% 7 oder mehr diagnostizierbare körperliche Bee<strong>in</strong>trächtigungen, bei<br />
den über 80-Jährigen s<strong>in</strong>d es schon 30%. Am häufi gsten handelt es sich um Erkrankungen des<br />
Herz-Kreislaufsystems, der Atmungsorgane, des Endokr<strong>in</strong>iums und des Stütz- und Bewegungsapparates<br />
(Böhmer et al. 1998).<br />
Diese Altersmultimorbidität lässt sich <strong>in</strong> zwei Gruppen e<strong>in</strong>teilen:<br />
308<br />
1. e<strong>in</strong>e unabhängige Multiplizität im S<strong>in</strong>ne von Begleiterkrankungen, die ke<strong>in</strong>en unmittelbaren<br />
Kausal zusammenhang aufweisen (z. B.: Gallenste<strong>in</strong> + koronare Herzerkrankung +<br />
Arthrose)<br />
2. e<strong>in</strong>e abhängige Multiplizität kausal abhängiger Komb<strong>in</strong>ationserkrankungen (z. B.: hoher<br />
Blutdruck + Diabetes + koronare Herzerkrankung + Schlaganfall).
GESUNDHEITLICHE ASPEKTE IM ALTER<br />
Leidet e<strong>in</strong> älterer Mensch unter mehreren akuten Krankheiten, so kann er zusätzlich mehrere<br />
ruhende Leiden (Polypathie) haben. Typische Krankheitsketten entstehen vor allem im Wechselspiel<br />
zwischen akuter Erkrankung und ruhenden Leiden.<br />
Die Multimorbidität bed<strong>in</strong>gt auch, dass die Therapie der E<strong>in</strong>zelerkrankungen immer e<strong>in</strong>e Beurteilung<br />
der Folgen <strong>für</strong> die anderen Erkrankungen als Voraussetzung haben muss, sie verlangt<br />
deshalb entsprechend ang epasste diagnostische und therapeutische Strategien, sie kann<br />
die richtige Deutung und Zuordnung von Symptomen erheblich erschweren. E<strong>in</strong>e Heilung der<br />
e<strong>in</strong>zelnen diagnostizierten Leiden ist oft unrealistisch. Diagnostische Maßnahmen bleiben oft<br />
ohne therapeutische Konsequenz, weil man sich auf wesentlichere Diagnosen und Therapien<br />
beschränken muss – dazu ist e<strong>in</strong>e gut fundierte Prioritätenaufstellung, e<strong>in</strong>e Hierarchisierung<br />
der Probleme nötig. Darunter wird neben dem Gewichten von unterschiedlichen Notwendigkeiten<br />
und Maßnahmen die s<strong>in</strong>nvolle Beschränkung auf e<strong>in</strong>e begrenzte, effi ziente Anzahl dieser<br />
Maßnahmen verstanden.<br />
Beim jüngeren Patienten s<strong>in</strong>d die Heilu ng, die R ückkehr <strong>in</strong> den Er werbsprozess, die Wiedererlangung<br />
der Normalität der Funktionen Therapie- bzw. Rehabilitationsziele. Beim älteren<br />
Patienten gel<strong>in</strong>gt es nur sehr selten, e<strong>in</strong> ähnlich formuliertes Ziel anzupeilen. Viel wichtiger ist<br />
es, sich bei der Therapie- und Rehabilitationsplanung an den <strong>in</strong>dividuellen Ressourcen und an<br />
e<strong>in</strong>er Optimierung der Lebensqualität zu orientieren (Füsgen 1988).<br />
Beim älteren Patienten steht die Erhaltung der Selbständigkeit und der selbst defi nierten Lebensqualität<br />
im Vordergrund. Dies soll die Perspektive der Geriatrie se<strong>in</strong>. Bei der sonst üblichen<br />
Mediz<strong>in</strong> ist es vor allem die Krankheitsheilung. Es gibt selbstverständlich Überlappungen dieser<br />
beiden Perspektiven, aber diese s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>dividuell sehr variabel, oft nur m<strong>in</strong>imal, auf jeden Fall<br />
aber jeweils neu zu bestimmen.<br />
13.4. Medikamentöse Polypragmasie<br />
Der durch die Multimorbidität oft bed<strong>in</strong>gte Refl ex nach Multimedikation zur Behandlung der<br />
vielen Diagnosen, Symptome und Beschwerden – die medikamentöse Polypragmasie – muss<br />
verh<strong>in</strong>dert werden. E<strong>in</strong>e solche „Schrotschusstherapie“ schadet öfter als sie nützt. Es ist wichtig<br />
zu erkennen, dass man oft nicht alle behandlungsbedürftigen Krankheiten zur gleichen Zeit<br />
behandeln soll. Immer mehr n ach den Kriterien der „E vidence based medic<strong>in</strong>e“ publizierte<br />
„Cl<strong>in</strong>ical practice guidel<strong>in</strong>es“, Therapiestandards und Konsensuspapiere führen eher zu unangebrachten<br />
Verordnungen von Medikamenten mit vielen negativen Konsequenzen (Chutka et al.<br />
2004). Übersehen wird oft, dass sich die Therapieempfehlungen meist auf Studienergebnisse<br />
berufen, die an jü ngeren Patienten mit gut defi nierbaren und abgrenzbaren Diagnosen ohne<br />
zu sätzliche Diagnosen, oder alternsbed<strong>in</strong>g te Funktionsm<strong>in</strong>derung der Org ansysteme durchgeführt<br />
wurden (Boyd et al. 2005, T<strong>in</strong>etti et al. 2004).<br />
309
GESUNDHEITLICHE ASPEKTE IM ALTER<br />
Die Adaptationsfähigkeit der Organsysteme ist im Alter <strong>in</strong>sbesondere bei Belastungen verm<strong>in</strong>dert,<br />
Leistungsgrenzen werden schneller erreicht. Bed<strong>in</strong>gt durch die im Rahmen des normalen<br />
Alterungsprozesses veränderte Pharmakok<strong>in</strong>etik und Pharmakodynamik ergeben sich größere<br />
Gefahren der Pharmakotherapie – häufi gere Nebenwirkungen, Wechselwirkungen.<br />
Als Multimedikation wird die gleichzeitige Verordnung von 5 oder mehr Medikamenten defi niert,<br />
sie ist der wichtigste Risikofaktor <strong>für</strong> unerwünschte Arzneimittelwirkungen.<br />
Die Berl<strong>in</strong>er Altersstudie zeigt, dass 42,6% der über 85-Jährigen M änner und 35,7% der Frauen<br />
derselben Altersgruppe mehr als 5 Medikamente verordnet hatten. E<strong>in</strong>e „Fehlmedikation“<br />
konnte bei 10,9% der Männer und 20,9% der Frauen festgestellt werden (Ste<strong>in</strong>hagen-Thiessen<br />
& Borchelt 1996).<br />
Fehlmedikation (<strong>in</strong>appropriate medication) ist hauptverantwortlich <strong>für</strong> die bei älteren Patienten<br />
bis zu sieben Mal häufi ger als bei jüngeren vorkommenden unerwünschten Arzneimittelwirkungen.<br />
Dies erklärt sich durch die im Rahmen des normalen Alterungs prozesses stattfi ndende Verm<strong>in</strong>derung<br />
der Adaptationsfähigkeit der Organsysteme bei Belastungen, sowie die Veränderungen<br />
der Pharmakodynamik und Pharmakok<strong>in</strong>etik (L<strong>in</strong>dley et al. 1992).<br />
Der Nachweis, dass die therapeutische Intervention bei multimorbiden, hoch betagten Patienten<br />
denselben positiven Eff ekt br<strong>in</strong>gt ist oft nicht erbracht. Diesbezüglich wird e<strong>in</strong> Umdenken<br />
und e<strong>in</strong> s<strong>in</strong>nvolleres, geriatrisches Vorgehen verlangt, dieses ruft nach e<strong>in</strong>er eher restriktiven<br />
Medikamentenverordnung (T<strong>in</strong>etti et al. 2004). Dabei gilt es, nic ht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en ther apeutischen<br />
Nihilismus oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en die älteren Patienten diskrim<strong>in</strong>ierenden Modus zu verfallen, ganz im<br />
Gegenteil: gesicherte, vielfach sekundär präventive Maßnahmen wie z. B. e <strong>in</strong>e konsequente<br />
antihypertensive Therapie, oder e<strong>in</strong>e gute Therapie des Diabetes mellitus sowie auch bei geriatrischen<br />
Patienten als effi zient nachgewiesene Maßnahmen wie die Vitam<strong>in</strong> D und Kalzium<br />
Substitutionstherapie sollen konsequent e<strong>in</strong>gesetzt werden. Ebenso selbstverständlich soll e<strong>in</strong>e<br />
gut <strong>in</strong>dizierte adäquate antidepressive Therapie sowie e<strong>in</strong>e ausreichende Schmerztherapie bei<br />
entsprechender Symptomatik se<strong>in</strong>.<br />
13.5. Psychosomatische Zusammenhänge<br />
Bei Krankheiten im Alter ist unbed<strong>in</strong>gt auf psychosomatische Zusammenhänge zu achten, denn<br />
<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Lebensalter s<strong>in</strong>d die Grenzen zwischen Körper und Seele so durchlässig wie <strong>in</strong> den<br />
defi zitreichen letzten Jahren des hohen Alters. Depressive Reaktionen auf vielfältige Verluste,<br />
<strong>in</strong>klusive die beg<strong>in</strong>nende Demenz, stehen am Anf ang – erst d ann entwickeln sich klassische<br />
körperlichseelische Zusammenhänge, so erklärt sich die Nähe der Geriat rie zur Psychiatrie –<br />
Gerontopsychiatrie.<br />
Altern ist also ke<strong>in</strong> re<strong>in</strong> somatischer Prozess, er umfasst auch Veränderungen des menschlichen<br />
Erlebens und Verhaltens im seeli schgeistigen Bereich und Veränderungen <strong>in</strong> den Umweltbe-<br />
310
GESUNDHEITLICHE ASPEKTE IM ALTER<br />
d<strong>in</strong>gungen. Deshalb verlangt die Erfassung des Alternsvorgangs e<strong>in</strong>e Zusammenarbeit über die<br />
Grenzen der e<strong>in</strong>zelnen wissenschaftlichen Diszipl<strong>in</strong>en und Berufsgruppen des Gesundheits- und<br />
Sozialwesens h<strong>in</strong>weg, e<strong>in</strong>en mehrdimensionalen E<strong>in</strong>satz, <strong>in</strong> dem somatische, psychische und<br />
soziale Aspekte des Alterns berücksichtigt werden können. Die psychosoziale Situation und<br />
Krankheiten im Alter bee<strong>in</strong>fl ussen sich auch gegenseitig: es gibt Zusammenhänge von Multimorbidität,<br />
Chronizität und Alter, sowie zwischen Krankheit, sozioökonomischen Faktoren, Bildungsni<br />
veau und früherer Berufslaufbahn. Krankheit ist nicht nur Resultat des Wechselspiels zwischen<br />
pathologischen Prozessen und dem physiologischen, normalen Alternsprozess (Füsgen 1988).<br />
13.6. Chronizität<br />
E<strong>in</strong> weiteres Charakteristikum der Krank heiten im Alter ist deren Chronizität. Sie zeichnen sich<br />
durch meist schleichenden Beg<strong>in</strong>n, progredienten Verlauf und schlechte Prognose aus. Degenerative,<br />
chronisch entzündliche und neoplastische Erkrankungen stehen im Vordergrund. Sie<br />
s<strong>in</strong>d meist durch e<strong>in</strong>e multifaktorielle Genese gekennzeichnet.<br />
Chronisch krank bedeutet neben e<strong>in</strong>er mediz<strong>in</strong>ischen, e<strong>in</strong>er psychologischen und e<strong>in</strong>er soziologischen<br />
auch e<strong>in</strong>e zeitliche Defi nition – es besteht das Stigma des "langen Leidens", wobei<br />
man das lange Leiden bis zum Tod me<strong>in</strong>t. Dabei ist es aber durch mediz<strong>in</strong>isch therapeutische<br />
und rehabilitative Maßnahmen möglich, <strong>in</strong> vielen Fällen die chronische Krankheit zu kompensieren<br />
und zu stabilisieren und dem Kranken zu e<strong>in</strong>er durchaus annehmbaren Lebensqualität<br />
zu verhelfen.<br />
Für den älteren Patienten ergeben sich besondere Anpassungsprobleme, die Chronizität se<strong>in</strong>er<br />
Erkrankung bestimmt se<strong>in</strong>en Bewegungs- und Interaktionsrahmen.<br />
Zwei Gruppen von chronisch kranken geriatrischen Patienten können unterschieden werden:<br />
1. Kranke, deren Leiden aktiv und fortschreitend ist – sie bedürfen e<strong>in</strong>er gezielten, stationären<br />
Therapie,<br />
2. Patienten mit stagnierendem Leiden, welches nicht gravierend fortschreitet, aber auch<br />
behandelt werden muss, um den be stehenden Zustand zum<strong>in</strong>dest zu erhalten.<br />
Rehabilitative Maßnahmen müssen <strong>in</strong> der Geriatrie – so wie die übrigen therapeutischen Maßnahmen<br />
- den verschiedenen Phasen der chronischen Erkrankung angepasst se<strong>in</strong>, es muss e<strong>in</strong><br />
abgestuftes geriatrisches Rehabilitationsangebot geben (Füsgen 1988).<br />
13.7. Immobilisationssyndrom<br />
Die "Bettruhe" im Rahmen e<strong>in</strong>er Erkrankung stellt beim geriatrischen Patienten e<strong>in</strong> erhöhtes<br />
sekundäres Erkrankungsrisiko dar, sie trägt zur Multimorbidität und zur Chronizität bei. Es kann<br />
311
GESUNDHEITLICHE ASPEKTE IM ALTER<br />
zum Immobilisationssyndrom kommen, zur Veränderung verschiedener funktioneller Leistungen<br />
des Organismus (Renteln-Kruse 2004):<br />
Im System Herz-Kreislauf-Lunge kommt es zu e<strong>in</strong>er verm<strong>in</strong>derten Anpassung an Belastungen,<br />
zur verm<strong>in</strong>derten Sauerstoff aufnahme, verm<strong>in</strong>derten Schlag- und Herzm<strong>in</strong>utenvolum<strong>in</strong>a, zur<br />
orthostatischen Dysregulation (Kollapsneigung), zur oberfl ächlichen Atmung bis zum erhöhten<br />
Pneumonierisiko.<br />
Die neuromuskuläre Belastbarkeit nimmt ab, es kommt zum Verlust exterozeptiver und propriozeptiver<br />
sensorischer Stimuli, zur Abschwächung physiologischer Refl exe (Gleichgewichtsfunktion,<br />
Reaktion auf Schwerkraft etc.), zur Verschlechterung sensorisch - motorischer Koord<strong>in</strong>ation,<br />
zum erhöhten Sturzrisiko.<br />
Neben der At rophie der Musk ulatur, neben Musk el- und Sehnenkontrakturen kommt es am<br />
Knochen zur Inaktivitätsosteoporose und damit <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit dem erhöhten Sturzrisiko zu<br />
e<strong>in</strong>er hohen Frakturneigung.<br />
Zweiterkrankungen, welche sich der Akuterkrankung, die der Immobilisierungsgrund war, aufpfropfen,<br />
s<strong>in</strong>d: Pneumonie, Dekubitalulzera, Thrombophlebitiden, Harnwegs<strong>in</strong>fekte, Inkont<strong>in</strong>enz,<br />
Obstipation, Verwirrtheitszustände etc.<br />
Die Frührehabilitation <strong>in</strong> der Geriatrie bedeutet vor allem die Vorbeugung von solchen vermeidbaren<br />
Zweiterkrankungen. Rasche Mobilisierung und psychische Aktivierung bilden die Grundlage<br />
e<strong>in</strong>er gezielten, funktionellen Rehabilitation mit der Perspektive der Wiedere<strong>in</strong>gliederung<br />
<strong>in</strong> das gewohnte soziale Umfeld des geriatrischen Patienten.<br />
Die Chronizität und Irreversibilität vieler Krankheiten des älteren Menschen resultiert <strong>in</strong> funktionalen<br />
Defi ziten, Beh<strong>in</strong>de rungen bis zum Tod. Daraus soll aber nicht nur e<strong>in</strong>e ausschließlich<br />
defi zitäre Sichtweise resultieren, ke<strong>in</strong> Resignations denken, ke<strong>in</strong> therapeutischer und rehabilitativer<br />
Nihilismus, sondern Off enheit <strong>für</strong> neue, auch kle<strong>in</strong>e Hilfsansätze, vor allem e<strong>in</strong>e Integration<br />
der palliativen Betreuung <strong>in</strong> die Geriatrie.<br />
13.8. Mangelernährung im Alter<br />
Mit zunehmendem Alter nimmt das Risiko zu, ernsthafte Ernährungsdefi zite zu entwickeln. Dies<br />
ist unter anderem Folge e<strong>in</strong>er altersabhängigen Reduktion von Nahrungs aufnahme bei gleichzeitigem<br />
Vorhandense<strong>in</strong> beh<strong>in</strong>dernder Erkrankungen. Die Malnutrition erhöht die funktionelle<br />
Abhängigkeit, Morbidität und Mor talität. Die E valuierung des Risikos <strong>für</strong> Mangelernährung<br />
und die Erhebung des Ernährungsstatus werden sowohl <strong>in</strong> der ambulanten Betreuung geriatrischer<br />
Patient/<strong>in</strong>nen als auch bei der Hospitalisierung sowie im Pfl egeheim zu oft unterlassen.<br />
Schwere Malnutrition wird zu oft übersehen, e<strong>in</strong>e auf e<strong>in</strong>em systematischen, standardisierten<br />
Ernährungsassessment basierende Ernährungs<strong>in</strong>tervention geschieht entsprechend selten.<br />
312
GESUNDHEITLICHE ASPEKTE IM ALTER<br />
Es besteht e<strong>in</strong>e bet rächtliche Variationsbreite zwischen verschiedenen Populationen älterer<br />
Menschen. Der Ernährungs status älterer Menschen hängt davon ab, ob man gesunde oder gebrechliche<br />
(„frail“) und kranke – multimorbide – Populationen älterer Menschen u ntersucht.<br />
Studien bei gesunden, autonomen und selbständigen älteren Personen zeigen, dass bei diesen<br />
e<strong>in</strong>e ausgeprägte Prote<strong>in</strong>-Kalorien-Unterernährung nicht sehr häufi g vorkommt. Bei dieser Gruppe<br />
kommt es zu ke<strong>in</strong>er signifi kanten Alteration der anthropometrischen und der biochemischen<br />
Marker des Ernährungsstatus. Vorausgesetzt, es gibt weder den E<strong>in</strong>fl uss von Krankheiten, noch<br />
von Pharmaka, gibt es ke<strong>in</strong>e Beweise e<strong>in</strong>er negativen Bee<strong>in</strong>fl ussung der Aufnahme von Makro-<br />
und Mikronutrienten durch das Altern. Bis auf e<strong>in</strong>ige wenige Ausnahmen ist der Ernährungsbedarf<br />
der gesunden älteren Population ähnlich dem der jüngeren Erwachsenen.<br />
E<strong>in</strong> typisches Charakteristikum älterer Menschen ist das Unvermögen, Gewichtsverluste im Rahmen<br />
von akuten Erkrankungen, oder <strong>in</strong> Folge von Lebensereignissen, wie dem Tod des Partners,<br />
aufzuholen. Progressive Unterernährung geschieht oft, ohne rechtzeitig diagnostiziert zu werden.<br />
Untersuchungen bei gebrechlichen alten Menschen haben e<strong>in</strong>e zu niedrige, oder grenzwertige<br />
Nährstoff aufnahme nachgewiesen. Bei diesen Individuen war Unterernährung e<strong>in</strong>deutig mit<br />
e<strong>in</strong>er Zunahme der Morbidität und Pfl egebedürftigkeit vergesellschaftet.<br />
In den nächsten Jahren ist mit e<strong>in</strong>er Zunahme des Anteils der funktionell beh<strong>in</strong>derten, gebrechlichen<br />
(„frail“) Älteren <strong>in</strong> der gesamten nicht <strong>in</strong>stitutionalisierten geriatrischen Population (der<br />
65 und Mehrjährigen) auf ca. 20% zu rechnen – e<strong>in</strong>e zunehmende Anzahl Älterer überschreitet<br />
sozusagen jene Schwelle, ab welcher ihre Reservekapazitäten ausgeschöpft s<strong>in</strong>d und ihr Bedarf<br />
an Makro- u nd Mikronutrienten nicht mehr sel bständig befriedigt werden k ann. Spätestens<br />
ab diesem Zeitpunkt wird e<strong>in</strong> Ern ährungsassessment gerade bei dieser Bev ölkerungsgruppe<br />
unerlässlich. Es darf angenommen werden, dass e<strong>in</strong>e rechtzeitige ernährungstherapeutische<br />
Intervention e<strong>in</strong>e Institutionalisierung wenn nicht schon verh<strong>in</strong>dern, dann jedenfalls zum<strong>in</strong>dest<br />
h<strong>in</strong>auszögern kann.<br />
Mangelernährung wird bei 32 bis 50% der akut hospitalisierten Patienten festgestellt. Sie ist e<strong>in</strong><br />
noch wesentlich größeres Problem bei Patient/<strong>in</strong>nen bzw. Bewohner/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> Langzeit<strong>in</strong>stitutionen.<br />
Untersuchungen <strong>in</strong> Pfl egeheimen zeigten e<strong>in</strong>e Prävalenz von Prote<strong>in</strong>-Energie-Malnutrition<br />
von 23–85%.<br />
Diese hohe Prävalenz von Unterernährung <strong>in</strong> Pfl egeheimen refl ektiert e<strong>in</strong>erseits den Transfer<br />
unterernährter geriatrischer Patienten von Akutkrankenhäusern <strong>in</strong> die Langz eit<strong>in</strong>stitutionen,<br />
andererseits aber auch e<strong>in</strong>e fortgesetzt schlechte Ernährungssituation im Pfl egeheim.<br />
Die Entstehung der Mangelernährung im Alter ist multifaktoriell. Neben der wesentlichen Rolle<br />
der verschiedenen physiologischen Altersveränderungen und Funktionse<strong>in</strong>schränkungen<br />
kommt dem mit zunehmenden Alter abnehmenden Energiebedar f e<strong>in</strong>e große Bedeut ung zu.<br />
Hauptgrund da<strong>für</strong> dür fte die R eduktion der Musk elmasse se<strong>in</strong>. Dazu k ommt die Reduktion<br />
der physischen Aktivität – hauptsächlich wegen gleichzeitig bestehender Erkrankungen des<br />
313
GESUNDHEITLICHE ASPEKTE IM ALTER<br />
Skelettsystems, wegen zunehmender Instabilität und chronischer Erkrankungen. Allerd<strong>in</strong>gs ist<br />
diese altersbed<strong>in</strong>gte Reduktion des Energiebedarfs nicht allgeme<strong>in</strong> anzutreff en – bei ca. 25%<br />
„gesunder Alter“ fand man sie nicht – e<strong>in</strong> Kard<strong>in</strong>alzeichen des Alterns ist eben e<strong>in</strong>e signifi kante<br />
Zunahme der Variabilität.<br />
13.9. Die Geriatrie als mediz<strong>in</strong>isches Spezialfach<br />
Die Geriatrie ist die Lehre von den Krankheiten des alten Menschen. Sie erhebt den Anspruch<br />
e<strong>in</strong>er ganzheitlichen Sichtweise des älteren Menschen im körperlichen, seelisch-geistigen und<br />
sozialen Bereich vor e<strong>in</strong>em funktionellen H<strong>in</strong>tergrund. Dies geht über den Ansatz der klassischen<br />
organ- und diagnosebezogenen Mediz<strong>in</strong> h<strong>in</strong>aus und <strong>in</strong>kludiert deshalb auch andere Strukturen,<br />
die über den arz tzentrierten Bezug h<strong>in</strong>ausgehen, diese s <strong>in</strong>d an der multidimens ionalen<br />
Problematik orientiert.<br />
Diese Philosophie ist die Gru ndlage des <strong>in</strong>ter diszipl<strong>in</strong>ären geriatrischen Teams, welches als<br />
obligatorischer Qualitätsstandard der Geriatrie gilt. Es gibt natürlich auch alte Menschen, die<br />
an e<strong>in</strong>er sozusagen unidimensionalen Krankheit leiden, doch mit zunehmendem Alter wird –<br />
wie oben ausg eführt – da s Risiko des gleichzeitigen Vorhandense<strong>in</strong>s mehrerer Kr ankheiten<br />
und deren F olgen immer größer . Zusätzlich kommt es bei der Mehrz ahl der im Rahmen der<br />
demografi schen Entwicklung am schnel lsten anwachsenden Bevölkerungsgruppe der über<br />
80-Jährigen zu e<strong>in</strong>er mehrdimensionalen funktionellen Fähigkeitsstörung – “Frailty” –, welche<br />
den <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Zugang erforderlich macht, den die Geriatrie bietet.<br />
Frailty bedeutet das Auftreten typischer geriatrischer Syndrome auf dem H<strong>in</strong>tergrund der Multimorbidität,<br />
komb<strong>in</strong>iert mit Gebrechlichkeit, H<strong>in</strong>fälligkeit, Pfl egeabhängig keit, Reduktion von<br />
Autonomie und Selbständigkeit. Frailty ist aber k e<strong>in</strong> unbee<strong>in</strong>fl ussbares Schicksal – g ezielte<br />
Prävention, Therapie und Rehabilitation können die Abhängigkeit signifi kant h<strong>in</strong>auszögern.<br />
Die geriatrischen Syndrome lassen sich e<strong>in</strong>prägsam auch als die sogenannten geriatrischen „I’s“<br />
aufzählen: Sir Bernard Isaacs, e<strong>in</strong>er der Begründer der modernen angelsächsischen Geriatrie<br />
sprach 1971 bei se<strong>in</strong>er Antrittsvorlesung <strong>für</strong> den Geriatrielehrstuhl <strong>in</strong> Birm<strong>in</strong>gham von den vier<br />
Giganten der Geriatrie, welche die Pfl egebedürftigkeit begünstigen: Instabilität, Immobilität,<br />
Inkont<strong>in</strong>enz, Intellektueller Abbau. Es s<strong>in</strong>d noch e<strong>in</strong>ige I’s dazu gekommen: Isolation, Insomnie,<br />
Impotenz, Immundefi zienz, Iatrogenität, zuletzt auch Ignoranz (Fasch<strong>in</strong>g 2005).<br />
Bei den geriatrischen Patienten besteht meist e<strong>in</strong>e Komb<strong>in</strong>ation von kurativer und rehabilitativer<br />
Indikation. Die Multimorbidität ist auch im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er die Situation erschwerenden Häufung<br />
von Begleiterkrankungen und iatrogener Komplikationen, <strong>für</strong> welche die geriatrischen Patient/<br />
<strong>in</strong>nen besonders anfällig s<strong>in</strong>d, zu verstehen.<br />
Der palliative Aspekt der geriatrischen Betreuung ist unbed<strong>in</strong>gt zu beachten, weil es der Geriatrie<br />
primär um die Verbesse rung der Lebensqualität alten Menschen geht und nicht lediglich um e<strong>in</strong>e<br />
314
GESUNDHEITLICHE ASPEKTE IM ALTER<br />
möglicherweise s<strong>in</strong>nlose Lebensverlängerung. Die Todesnähe ist e<strong>in</strong> weiteres Charakteristikum<br />
der Geriatrie. Es kommt oft zur Konfrontation des (Hippokratischen) Gebots, Leben zu verlängern<br />
mit dem ethischen Gebot, unerträgliches Leiden zu verh<strong>in</strong>dern, zu l<strong>in</strong>dern, es geht um:<br />
» aktive Sterbebegleitung (im Unterschied zur Sterbehilfe), palliative Therapie und Pfl ege<br />
(Palliative Care)<br />
» das Zulassen des absehbaren, durch kl<strong>in</strong>ische Behandlung nicht mehr abwendbaren<br />
Todes<br />
» die Sicherheit e<strong>in</strong>er Zuwendung des Geriaters, des geriatrischen Teams dem sterbenden<br />
alten Menschen gegenüber<br />
Die Herausforderung bei der Bet reuung dieser Patienten am Ende ihres Lebens ist, sie nicht<br />
nur <strong>in</strong>stitutionell zu verwahren, sie sauber und satt zu halten, sondern ihnen die Möglich keit<br />
zu geben, <strong>in</strong> ihrer letzten Lebensphase auch positive Qualitäten zu erfahren. Die Mehrheit der<br />
Menschen, die sterben, s<strong>in</strong>d geriatrische Patient/<strong>in</strong>nen – trotzdem s<strong>in</strong>d es gerade sie, die bisher<br />
am wenigsten von den Fortschritten der Palliativmediz<strong>in</strong> und -Pfl ege profi tieren. Für Palliative<br />
Care ist es nie zu spät, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> der Geriatrie.<br />
In diesem Spannungsfeld zwischen der Todesnähe und dem Sichern e<strong>in</strong>er L ebensqualität<br />
unabhängig von der Länge des noch verbleibenden Lebens, zwischen Förderung der Selbständigkeit<br />
und Autonomie e<strong>in</strong>erseits und Gewährleistung von Schutz, Hilfe und Betreuung, wenn<br />
die alten Menschen selbst nicht mehr dazu <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d andererseits, bewegen sich die <strong>in</strong><br />
der Geriatrie agierenden Berufs gruppen.<br />
Die meisten geriatrischen Patient/<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d also multimorbid, oft <strong>in</strong> ihrer globalen Funktionsfähigkeit<br />
beh<strong>in</strong>dert:<br />
» sie können kognitiv beh<strong>in</strong>dert, de ment, se<strong>in</strong>, sie haben e<strong>in</strong> Autonomiedefi zit<br />
» sie können physisch beh<strong>in</strong>dert, immobil, se<strong>in</strong>, abhängig von Hilfe bei der Verrichtung<br />
der Aktivitäten des täglichen Lebens, sie haben e<strong>in</strong> Selbständigkeitsdefi zit<br />
» viele s<strong>in</strong>d emotional beh<strong>in</strong>dert, de pressiv<br />
» viele s<strong>in</strong>d sozial beh<strong>in</strong>dert, vere<strong>in</strong>samt, isoliert, materiell arm.<br />
In der Geriatrie haben wir es mit Menschen zu tun, die progressiv ihre Autonomie und Selbstständigkeit<br />
verlieren, die beh<strong>in</strong>dert und hilfsbedürftig s<strong>in</strong>d. Und vor allem mit Menschen, die<br />
am Ende ihres Lebens stehen. Der Tod ist <strong>in</strong> der Geriatrie nicht der absolute Gegner. Wenn er<br />
kommt, ist er nicht so sehr e<strong>in</strong> Symbol des Versagens, wie er es <strong>in</strong> anderen Bereichen der Mediz<strong>in</strong><br />
oft ist. Der Tod wird nicht so sehr verdrängt, er wird akzeptiert, aber nur wenn er da ist, bis<br />
315
GESUNDHEITLICHE ASPEKTE IM ALTER<br />
dann leben die geriatrischen Patient/<strong>in</strong>nen, es ist nicht so, dass sie lediglich am Leben s<strong>in</strong>d,<br />
sie haben e<strong>in</strong> Leben bzw. sie sollten es haben.<br />
Dies macht die Besch äftigung mit Fragen der Ethik, das Bemühen, n ach Grundlagen <strong>für</strong> e<strong>in</strong><br />
gerechtes, s<strong>in</strong>nvolles, rationales, gutes – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Wort: ethisches Entscheiden und Handeln<br />
gerade <strong>in</strong> der Geriatrie so wichtig.<br />
Geriatrie wird noch immer vor allem mit Institutionen der g eriatrischen Langzeitpfl ege, den<br />
Pfl egeheimen assoziiert, sie hat sich <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> bis vor kurzem hauptsächlich nur dort etablieren<br />
und et was abseits des Gesundheits systems entwickeln können. Mit dem Pfl egeheim<br />
wird oft e<strong>in</strong>e Situation assoziiert, vor der man sich noch lange bevor man es brauchen könnte,<br />
mehr <strong>für</strong>chtet als vor dem Tod. Die <strong>in</strong>stitutionelle Langzeitbetreuung hat e<strong>in</strong> denkbar schlechtes<br />
Image: Gebrechlichkeit, Verzweifl ung, E<strong>in</strong>samkeit, Verluste auf allen Ebenen gehören dazu.<br />
Die Institution erodier t die du rch kognitive Abbauprozesse bereits schw<strong>in</strong>dende Autonomie<br />
zusätzlich. Die Pri vatsphäre der P atient/<strong>in</strong>nen/Bewohner/<strong>in</strong>nen wird auf die Schublade des<br />
Nachtkästchens reduziert, ihr Wille wird durch die Regeln und die Ordnung der Institution<br />
e<strong>in</strong>geschränkt, sie reglementier t, manipuliert ihren Schlaf-Wach-Rhythmus, ihre Es sens-,<br />
Hygienegewohnheiten, ihre Sozialkontakte, sie negiert ihre Sexualität, sie fördert durch ihre<br />
<strong>in</strong>frastrukturellen Unzulänglichkeiten den kognitiven Abbau, die Depression, die Verwirrtheit,<br />
die Immobilität, die Inkont<strong>in</strong>enz. Mit dem Verlust der D<strong>in</strong>ge des bisherigen Lebens kommt auch<br />
der Verlust e<strong>in</strong>es Stückes der persönlichen Biografi e (Heeg 1993), vorhandene Kompetenzen<br />
laufen Gefahr, schneller verloren zu gehen.<br />
Die ausschließlich mediz<strong>in</strong>ische Betrachtungsweise der Situation der pfl egebedürftigen geriatrischen<br />
Patienten greift <strong>in</strong> der Langzeit<strong>in</strong>stitution e<strong>in</strong>deutig zu kurz. Das Pfl egeheim sollte<br />
nur e<strong>in</strong> gut defi niertes Segment des Betreuungssystems chronisch multimorbider, beh<strong>in</strong>derter,<br />
gebrechlicher alter Menschen da rstellen. In se<strong>in</strong>em <strong>in</strong>fr astrukturellen und organisatorischen<br />
Ge füge sollte es der Tatsache gerecht werden, dass es <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en relativ gut defi nierbaren, demografi<br />
sch und epidemiologisch gut quantifi zierbaren Teil der älteren Bevölkerungs gruppe e<strong>in</strong><br />
Ersatz <strong>für</strong>s Zuhause wird.<br />
Die Antwort auf den zu erwartenden stark ansteigenden Bedarf kann jedoch nicht nur <strong>in</strong> d er<br />
Errichtung von noch mehr Pfl egeheimen nach dem altem Muster der Verwahrung alter, dementer,<br />
hilfl oser und hoff nungsloser Menschen liegen. Wege müssen gefunden werden, wie man<br />
optimistischer auf den oft als Bedrohung präsentierten demografi schen Trend antworten könnte.<br />
Langzeit<strong>in</strong>stitutionalisierung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Ambiente, welches den Bedürfnissen des alten Menschen<br />
nicht gerecht wird, darf nicht die e<strong>in</strong>zige Antwort auf Multimorbidität, Chronizität der Erkrankungen<br />
und auf die negative Evolution der Demenz se<strong>in</strong>, vor allem, wenn sie sich auch <strong>in</strong> ihren<br />
<strong>in</strong>frastrukturellen Bed<strong>in</strong>gungen am längst überholten Defi zitmodell des Alters orientiert – verbleibende<br />
Ressourcen, Kompetenzen werden durch die Langzeit<strong>in</strong>stitution nach traditionellem<br />
Muster negiert, unterdrückt, zerstört.<br />
316
GESUNDHEITLICHE ASPEKTE IM ALTER<br />
Moderne Geriatrie, die auch im Akutversorgungssektor des Gesundheitssystems ihren Pl atz<br />
hat, könnte Teil e<strong>in</strong>er optimistischen Alternative se<strong>in</strong> – sie kann dazu beitragen, den Bedarf an<br />
Langzeit<strong>in</strong>stitutionalisierung zu m<strong>in</strong>imieren. Wenn sie trotzdem doch unvermeidbar ist, sollten<br />
nicht nur Langzeitunterbr<strong>in</strong>gung, aber auc h Langzeittherapie, Langzeitrehabilitation und<br />
aktivierende Pfl ege Inhalte und primäre Aufgaben der <strong>in</strong>stitutionellen, <strong>in</strong>tra- und extramuralen<br />
geriatrischen Langzeitbetreuung se<strong>in</strong>.<br />
Der geriatrische Patient besitzt fast immer R ehabilitationspotential – es bleibt nur meist unerkannt<br />
oder wird unterschätzt, es wird selten evaluiert und gefördert. Der Akutsektor des Gesundheitssystems<br />
hat nur unzureichende Möglichkeiten, die Selbständigkeit und Autonomie<br />
des geriatrischen Patienten so zu fördern, dass ihm e<strong>in</strong> längeres Leben <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em gewohnten<br />
sozialen Umfeld ermöglicht wird. Die Wiedererlangung und die Erhaltung optimaler, vor allem<br />
motorischer und kognitiver, aber auch sozialer Funktionen der geriatrischen Patienten – auch<br />
solcher mit e<strong>in</strong>em vorwiegend palliativen Betreuungsbedarf – förder t deren Selbständigkeit,<br />
Mobilität, Lebensqualität und Autonomie. Dies ist das Hauptziel der Geriat rie – nicht nur <strong>in</strong><br />
der geriatrischen Akutbetreuung, auch <strong>in</strong> der Langzeitpfl ege und <strong>in</strong> der palliativen Betreuung.<br />
Geriatrie ohne Rehabilitation macht gar ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n.<br />
Die mediz<strong>in</strong>ischen, psychosozialen und funktionellen Probleme sowie die vorhandenen Ressourcen<br />
geriatrischer Patient/<strong>in</strong>nen werden du rch das sogenannte geriatrische Assessment erfasst<br />
und zum Teil auch quantifi ziert. Es ist dies e<strong>in</strong> standardisierter, multidimensionaler, <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärer<br />
diagnostischer Prozess mit dem Ziel, die mediz<strong>in</strong>ischen, psychosozialen und funktionalen<br />
Probleme und Defi zite sowie die bestehenden Kapazitäten zu erkennen und e<strong>in</strong>en umfassenden<br />
Therapie-, Rehabilitations- und Betreuungsplan zu entwickeln. Diese Vorgangsweise ist nachweislich<br />
effi zient (Stuck et al. 1993). Das geriatrische Assessment stellt die diagnostische Spezi fi tät<br />
dar, welche die Geriatrie gegenüber den anderen Fächern der Mediz<strong>in</strong> abgrenzt. Das geriatrische<br />
Assessment er laubt gleichzeitig e<strong>in</strong>e prognostische Aussage, es stellt die Therapie- und Rehabilitationsbasis<br />
dar, es ermöglicht soziale Weichenstellungen. Die Anwendung des geriatrischen<br />
Assessments und die Umsetzung der daraus gewonnenen Erkenntnisse senken erwiesenermaßen<br />
die Morbidität, die Mortalität und die Betreuungsbedürftigkeit im Alter.<br />
Durch das geriatrische Assessment werden Funktionen erfasst. In der Geriatrie bedeuten Funktionen<br />
(erhaltene und verloren gegangene) mehr als die sonst <strong>in</strong> der Mediz<strong>in</strong> üblichen Maße. Sie<br />
s<strong>in</strong>d entscheidend <strong>für</strong> die Autonomie und Selbständigkeit, <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e selbst bestimmte Lebensführung<br />
und <strong>für</strong> die Lebensqualität. Entscheidender als die nach üblichen Standards gemessene<br />
"Schwere" der Krankheit, so kann zum Bei spiel e<strong>in</strong>e die Mobilität beh<strong>in</strong>dernde Gelenksarthrose<br />
<strong>für</strong> die Patient/<strong>in</strong>nen unmittelbar schwerwiegendere Folgen als z. B. e<strong>in</strong>e Krebserkrankung haben.<br />
Die Erreichung, die Wiedererreichung, aber auch die Erhaltung der höchstmöglichen Stufe der<br />
körperlichen, geistigen und sozialen Funktionsfähigkeit ist Ziel der modernen re habilitativen<br />
Geriatrie - e<strong>in</strong>e sogenannte "Restitutio ad optimum" eher als die üblicherweise ideal angestrebte<br />
"Restitutio ad <strong>in</strong>tegrum".<br />
317
GESUNDHEITLICHE ASPEKTE IM ALTER<br />
Wenn das geriatrische Assessment die spezielle, die Geriatrie charakterisierende diagnostische<br />
Methode ist (ähnlich wie z. B. die Endoskopie <strong>in</strong> der Gastroenterologie), so ist das geriatrische<br />
<strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äre Team deren sie charakterisierende therapeutische Methode. Die geme<strong>in</strong>same,<br />
strukturierte <strong>Arbeit</strong> dieses Teams baut auf den Erkenntnissen aus dem geriatrischen Assessment<br />
auf, se<strong>in</strong>e Interdiszipl<strong>in</strong>arität und kommunikative Kompetenz trägt wesentlich zum Erfolg der<br />
geriatrischen Intervention bei (Oster 2000).<br />
13.10. Schlussfolgerungen<br />
Im Kontext des bisher Gesagten ist die Frage berechtigt, ob spezifi sche Bedürfnisse geriatrischer<br />
Patienten im g egenwärtigen Gesundheitssystem ausreichend Be achtung fi nden, oder ob es<br />
neue Strukturen geben soll, die diese Bedürfnisse besser abdecken können.<br />
Es ist erwiesen, dass spezialisierte geriatrische Strukturen im Akutkrankenhaus, wie die sogenannten<br />
„ACE-Units“ (Acute Care for the Elderly – Units), bzw. <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> die neuen Abteilungen<br />
oder Departments <strong>für</strong> Akutgeriatrie/Remobilisation (AGR) den bereits vorhandenen und durch<br />
die Hospitalisierung bed<strong>in</strong>gten zusätzlichen Funktionsverlust h<strong>in</strong>sichtlich der Aktivitäten des<br />
täglichen Lebens (ATLs) bei älteren Patienten eher m<strong>in</strong>imieren können, als die konventionellen<br />
Krankenhausstrukturen, sie können auch nachweislich den Bedarf an Langzeit<strong>in</strong>stitutionalisierung<br />
sowie die Mortalität und Rehospitalisierungsrate reduzieren (Cohen 2002, Saltvedt et al. 2002).<br />
E<strong>in</strong>e Expert/<strong>in</strong>nen-Gruppe des <strong>Österreich</strong>ischen Bundes<strong>in</strong>stituts <strong>für</strong> Gesundheits wesen (ÖBIG)<br />
empfahl deshalb schon 1999 die Schaff ung von Speziale<strong>in</strong>heiten <strong>für</strong> die Aufnahme und Behandlung<br />
geriatrischer Patienten im Akutsektor des Gesundheits systems.<br />
Die Empfehlungen und Konzepte des ÖBIG wurden vom <strong>Österreich</strong>ischen Kranken anstaltenplan<br />
(ÖKAP), bzw. nun dem <strong>Österreich</strong>ischen Strukturplan Gesundheit (ÖSG) übernommen, dieser<br />
sieht vor, dass die zuständigen Bundesländer<strong>in</strong>stanzen e<strong>in</strong> Netz von akutgeriatrischen E<strong>in</strong>heiten<br />
errichten sollen. Bis zum Jahr 2010 soll es <strong>in</strong>sgesamt ca. 3500 der Akutgeriatrie gewidmete<br />
Betten an ca. 60 Standorten <strong>in</strong> ganz <strong>Österreich</strong> geben.<br />
Die Organisationsform kann entweder die e<strong>in</strong>es Departments e<strong>in</strong>er bestehenden Abteilung <strong>für</strong><br />
<strong>in</strong>nere Mediz<strong>in</strong> bzw. Neurologie, oder die e<strong>in</strong>er selbständigen Abteilung se<strong>in</strong>.<br />
Die Ziele der akutgeriatrischen Betreuung liegen nicht nur <strong>in</strong> der Behandlung akuter mediz<strong>in</strong>ischer<br />
Probleme, die zur Krankenhausaufnahme führten, sie s<strong>in</strong>d spezifi sch geriatrisch durch<br />
e<strong>in</strong>e Reihe von Perspektiven:<br />
318
GESUNDHEITLICHE ASPEKTE IM ALTER<br />
» Wiederherstellung bzw. Erhaltung der Fähigkeit zur Führung e<strong>in</strong>es autonomen und<br />
selbständigen Leben<br />
» Prävention zusätzlicher Funktionsverluste<br />
» Verbesserung der Lebensqualität<br />
» Wiedere<strong>in</strong>gliederung des Patienten <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e gewohnte Umgebung<br />
Die von e<strong>in</strong>er ÖBIG-Experten-Gruppe verwendete Defi nition der Zielpopulation unterscheidet<br />
sich nicht von den <strong>in</strong>ternational üblichen Defi nitionen des geriatrischen Patienten. Danach ist<br />
e<strong>in</strong> geriatrischer Patient e<strong>in</strong> biologisch älterer Patient, der durch alternsbed<strong>in</strong>gte Funktionse<strong>in</strong>schränkungen<br />
bei Erkrankungen akut gefährdet ist, zur Multimorbidität neigt und bei dem e<strong>in</strong><br />
besonderer Handlungsbedarf <strong>in</strong> rehabilitativer, somatopsychischer und psychosozialer H<strong>in</strong>sicht<br />
besteht (Defi nition der ZEA <strong>für</strong> Geriatrie 1990 und ÖGGG 1992).<br />
Charakteristika geriatrischer Patient/<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d:<br />
» Fortgeschrittenes biologisches Alter<br />
» Veränderte physiologische Verhältnisse im Alter<br />
» Veränderte Pharmakodynamik und Pharmakok<strong>in</strong>etik im Alter<br />
» Multimorbidität<br />
» Medikamentöse Polypragmasie<br />
» Atypische Symptomatologie und Verlauf von Krankheiten<br />
» Instabilität, kognitive Beh<strong>in</strong>derung<br />
» Protrahierter Verlauf von Krankheiten und Rekonvaleszenz<br />
» Risiko von psychiatrischen Störungen<br />
» Risiko von Selbständigkeitsverlust<br />
Den Empfehlungen des ÖBIG folgend lauten die Aufnahmekriterien <strong>für</strong> die Strukturen der Akutgeriatrie/Remobilisation<br />
wie folgt:<br />
» Somatische oder psychische Multimorbidität, die e<strong>in</strong>e stationäre Akutbehandlung<br />
erforderlich machen<br />
» E<strong>in</strong>schränkung oder Bedrohung der Selbständigkeit durch den Verlust funktioneller<br />
und gegebenenfalls kognitiver Fähigkeiten oder durch psychosoziale Probleme im<br />
Rahmen der Erkrankung<br />
» Bedarf an funktionsfördernden, funktionserhaltenden oder re<strong>in</strong>tegrierenden Maßnahmen<br />
319
GESUNDHEITLICHE ASPEKTE IM ALTER<br />
Geriatrische Patient/<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d bei akuten gesundheitlichen Problemen immer <strong>in</strong> funktioneller<br />
H<strong>in</strong>sicht gefährdet und benötigen parallel zur akuten kl<strong>in</strong>ischen Diagnostik und Therapie e<strong>in</strong>e<br />
geriatriespezifi sche multidiszipl<strong>in</strong>äre Diagnostik – das geriatrische Assessment – und funktionsfördernde<br />
bzw. -erhaltende Therapie. Dazu zählt vor allem Mobilitätstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g, Orientierungshilfe<br />
sowie Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g der Aktivitäten des täglichen Lebens.<br />
E<strong>in</strong>e solche Vorgangsweise kann die Häufi gkeit der mit der Hospitalisierung assoziierten Morbidität<br />
reduzieren – z. B. akute Verwirrtheitszustände – und die Entlassungsergebnisse verbessern,<br />
z. B. M<strong>in</strong>imierung des Bedarfs an stationärer Langzeitpfl ege.<br />
Aus den Ergebnissen des geriatrischen Assessments lassen sich auch qualifi zierte Aussagen<br />
zum <strong>in</strong>dividuellen Nutzen/Risiko-Verhältnis e<strong>in</strong>er eventuell zur Diskussion stehenden spitzenmediz<strong>in</strong>ischen<br />
Inter vention ableiten. Dies kann <strong>in</strong> dem h äufi g vorhandenen Spannungsfeld<br />
unterschiedlicher Werthaltungen – kuratives versus palliatives Vorgehen – sachliche Klärung<br />
und emotionale Entlastung br<strong>in</strong>gen.<br />
In randomisierten Studien wurden die Behandlungsergebnisse akutgeriatrischer und traditioneller<br />
Abteilungen verglichen, wobei s ich e<strong>in</strong>deutige Vorteile <strong>für</strong> die P atienten der Ak utgeriatrien<br />
zeigten. Nach akutgeriatrischer Betreuung ist der funktionelle Zustand der Patienten<br />
signifi kant besser, dies ist auch n ach mehreren Monaten noch feststel lbar, ebenso bes sert<br />
sich die subjektive Lebensqualität der Patienten signifi kant, das Gefühl der Belastung bei den<br />
Betreuungspersonen ist ger<strong>in</strong>ger. Es kommt weniger häufi g zu Pfl egeheime<strong>in</strong>weisungen. Den<br />
größten Nutzen haben jene Patienten, die bereits Symptome von Altersgebrechlichkeit aufweisen,<br />
jedoch noch nicht stark pfl egeabhängig s<strong>in</strong>d. Die Kosten s<strong>in</strong>d etwa gleich hoch wie auf<br />
<strong>in</strong>ternistischen Normalstationen (Saltvedt et al. 2002).<br />
Das Angebot der E<strong>in</strong>heiten <strong>für</strong> Akutgeriatrie besteht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kompetenten geriatrischen mediz<strong>in</strong>ischen<br />
und pfl egerischen Betreuung sowie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er frühen rehabilitativen Intervention. Die<br />
Therapie, aktivierende Pfl ege, Rehabilitation und die Entlassungsplanung werden auf der Basis<br />
e<strong>in</strong>es komplexen geriatrischen Assessments durchgeführt. Für die Patient/<strong>in</strong>nen der Akutgeriatrie<br />
bedeutet e<strong>in</strong>e Akuterkrankung, die sich auf die vorbestehende Multimorbidität aufpfropft nicht<br />
unbed<strong>in</strong>gt den Beg<strong>in</strong>n des Verlustes der letzten Selbständigkeit und die defi nitive E<strong>in</strong>weisung<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Institution der Langzeitpfl ege – die meisten können ihr ursprüngliches soziales Umfeld<br />
wiedererlangen und ihre Selbständigkeit, Autonomie und Lebensqualität wahren.<br />
Der geriatrische Patient passt oft nicht <strong>in</strong> die Welt der modernen Mediz<strong>in</strong> mit ihren Illusionen<br />
des Machbaren, wenn es darum geht, Biomechanismen, die nicht mehr so laufen wie sie sollten,<br />
zu heilen und zu reparieren.Geriatrische Patient/<strong>in</strong>nen passen nicht <strong>in</strong> diese Illusionen: während<br />
ihrer langen Lebenszeit erfuhren sie viele chronische Krankheiten, die nicht mehr geheilt<br />
werden können. Alltagsfunktionen können nicht mehr wie früher erledigt werden. Heilung wird<br />
defi nitiv unmöglich.<br />
320
GESUNDHEITLICHE ASPEKTE IM ALTER<br />
Alte Menschen müssen lernen mit neuen Limits zu leben, diese Limits werden immer enger.<br />
Die Geriatrie nimmt sich jener Probleme an, die andere mediz<strong>in</strong>ische Fachbereiche ig norieren,<br />
weil sie sich auf bestimmte Organe und Behandlungsmethoden beschränken.<br />
Die Geriatrie will den speziellen Bedürfnissen alter kranker Menschen gerecht werden. Sie brauchen<br />
selbstverständlich die anderen, etablierten Spezialfächer, sie brauchen die <strong>in</strong>terventionelle<br />
Kardiologie, moderne Chirurgie, Intensivmediz<strong>in</strong>. Aber zusätzlich benötigen sie e<strong>in</strong>e Mediz<strong>in</strong>,<br />
die nicht nur e<strong>in</strong>e en ge Perspektive auf e<strong>in</strong> Organsystem hat. Sie brauchen e<strong>in</strong>e Mediz <strong>in</strong> <strong>für</strong><br />
ihre multidimensionalen Bedürfnisse. Die Geriatrie steht nicht <strong>in</strong> Konkurrenz zu den anderen<br />
Fächern, sie ergänzt und bereichert sie durch ihre eigene Kompetenz.<br />
E<strong>in</strong>ige Begriff serläuterungen:<br />
Dekubitalulkus = Druckgeschwür<br />
Endokr<strong>in</strong>um = Hormonhaushalt<br />
exterozeptiv = die oberfl ächliche Sensibilität betreff end<br />
Iatrogenität = durch ärztliche Maßnahmen verursachte Folgen<br />
Makronutrienten = Kohlehydrate, Eiweiß und Fette<br />
medikamentöse Polypragmasie = Mehrfachverordnung von Medikamenten<br />
Mikronutrienten = Vitam<strong>in</strong>e, M<strong>in</strong>eralstoff e und Spurenelemente<br />
propriozeptiv = die Tiefensensibilität betreff end<br />
Thrombophlebitis = Venenentzündung<br />
321
GESUNDHEITLICHE ASPEKTE IM ALTER<br />
LITERATUR<br />
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323
GESUNDHEITLICHE ASPEKTE IM ALTER<br />
324
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
14. GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITS-<br />
VERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
THOMAS DORNER, ANITA RIEDER<br />
14.1. E<strong>in</strong>leitung<br />
Biologische, psychische und soziale Gesundheit gew<strong>in</strong>nen mit steigendem Alter du rch Alterungsprozesse<br />
mit konsekutiven Verlusten von Funktionen, E<strong>in</strong>bußen der Selbstständigkeit und<br />
Zunahme der Morbidität stark an Bedeutung. Vorrangiges gesundheitliches Ziel bei hochbetagten<br />
Personen ist nicht nur die Vorbeugung von Krankheiten, sondern <strong>in</strong> besonderem Maße die Optimierung<br />
der Lebensqualität, Lebenszufriedenheit und Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit<br />
und Produktivität (Fries et al. 1989).<br />
E<strong>in</strong> weit verbreitetes Konzept von Gesundheit <strong>in</strong> der hochbetagten Bevölkerung berücksichtigt<br />
folgende drei mite<strong>in</strong>ander kommunizierende Faktoren (Kennie 1986):<br />
» Freiheit von Krankheit<br />
» Aufrechterhaltung von Funktionen und Wohlbefi nden<br />
» Vorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zufriedenstellenden sozialen und <strong>in</strong>frastrukturellen Unterstützung<br />
In der Gesundheitsförderung und Prävention bei Hochbetagten geht es um das Aufrechterhalten<br />
bzw. Erreichen e<strong>in</strong>es <strong>für</strong> die Gesu ndheit vorteilhaften Lebensstils, um die Früherk ennung und<br />
frühzeitige Behandlung von Krankheiten und um Rehabilitation. Diese Ziele unterscheiden sich<br />
nicht von denen bei jüngeren Altersgruppen, wobei jedoch <strong>in</strong> höherem Alter besondere Gegebenheiten<br />
berücksichtigt werden müssen und altersspezifi sche Schwerpunkte gesetzt werden sollen.<br />
Klassischerweise wird Prävention <strong>in</strong> primäre, sekundäre und tertiäre Prävention unterteilt, jedoch<br />
ist es <strong>in</strong> der Praxis nicht immer möglich, e<strong>in</strong>deutige Grenzen zwischen den Ebenen der Prävention<br />
zu ziehen. Die primäre Prävention dient zur Risikoreduktion und be<strong>in</strong>haltet auch bei Hochbetagten<br />
unspezifi sche Maßnahmen der Lebensstilmediz<strong>in</strong>, wie gesunde Ernährung, Bewegung<br />
und die Aufrechterhaltung e<strong>in</strong>er optimalen Körperzusammensetzung genauso wie spezifi sche<br />
Maßnahmen wie Impfungen zur Vermeidung von Infektionskrankheiten und Maßnahmen zur<br />
Sturzprävention. Die sek undäre Prävention im k lassischen S<strong>in</strong>n dient der Fr üherkennung im<br />
asymptomatischen Krankheitsstadium, um das Fortschreiten vermeidbarer (weiterer) Morbidität<br />
zu verh<strong>in</strong>dern. E<strong>in</strong> wichtiges Instrument der sekundären Prävention ist die Filteruntersuchung<br />
(Screen<strong>in</strong>g). Bei hochbetagten Personen muss man vor der Durchführung e<strong>in</strong>es Screen<strong>in</strong>gs zum<br />
Beispiel von Krebserkrankungen genau abwägen, ob es wirklich mit e<strong>in</strong>em Nutzen verbunden<br />
ist, oder ob durch das Screen<strong>in</strong>g möglicherweise mehr Schaden angerichtet wird, als es Nutzen<br />
325
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
br<strong>in</strong>gt. E<strong>in</strong>e besondere Art der Erfassung der Situation von Hochbetagten, die e<strong>in</strong>ige wichtige<br />
Aspekte von Screen<strong>in</strong>guntersuchungen be<strong>in</strong>haltet, ist das geriatrische Assessment, <strong>in</strong> dem<br />
nicht nur nach körperlichen Konditionen, sondern auch nach psychischen und sozialen Defi ziten<br />
gefahndet wird. Die tertiäre Prävention fi ndet nach akuter Krankheitsbehandlung statt. Zur<br />
Tertiärprävention gehören vor allem die Methoden der Rehabilitation, aber auch rezidivprophylaktische<br />
und, besonders bei Hochbetagten, palliative Maßnahmen.<br />
Der Präventivmediz<strong>in</strong> gegenüber steht die Gesu ndheitsförderung, die s ich im Geg en satz zur<br />
Prävention nicht durch e<strong>in</strong>en pathogenetischen Ansatz sondern e<strong>in</strong>en salutogenetischen Ansatz<br />
defi niert. In der Gesu ndheitsförderung wird die Entstehu ng von Gesundheit angestrebt,<br />
ermöglicht und gefördert (Salutogenese). In der Präventivmediz<strong>in</strong> h<strong>in</strong>gegen wird durch das<br />
Wissen um die Entstehung von Krankheit (Pathogenese) versucht, eben diese zu verh<strong>in</strong>dern.<br />
Ziel der Gesundheitsförderung ist es, unterstützende Umwelten <strong>für</strong> Gesundheit zu schaff en und<br />
Gesundheitspotentiale zu steigern, ohne Risiko- oder Krankheitsbezug. Aktives Altern im S<strong>in</strong>ne<br />
der Gesundheitsförderung bedeutet das Erlernen e<strong>in</strong>e s Umgangs mit Veränderungen, auch<br />
den Umgang mit Krankheit und E<strong>in</strong>schränkungen. Es gilt weiters soziale Voraussetzungen <strong>für</strong><br />
Gesundheit zu schaff en, Wege aus der E<strong>in</strong>samkeit zu fi nden oder der E<strong>in</strong>samkeit vorzubeugen.<br />
In diesem K apitel des <strong>Hochaltrige</strong>nberichtes wird der L ebensstil von hochbetagten <strong>Österreich</strong>er<strong>in</strong>nen<br />
und <strong>Österreich</strong>ern darg estellt, sowie Maßnahmen und die In anspruchnahme von<br />
Maßnahmen der Prävention diskutiert. Weiters wird die Nutzung von Gesundheitse<strong>in</strong>richtungen<br />
<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>, <strong>in</strong>sbesondere die Nutzung der Vorsorgeuntersuchung bei älteren Menschen, aber<br />
auch die In anspruchnahme von E<strong>in</strong>richtungen des Gesundheitssystems wie Krankenhäuser,<br />
niedergelassene Ärzt/<strong>in</strong>nen und Ambulatorien dargestellt.<br />
14.2. Stellenwert e<strong>in</strong>es gesunden Lebensstils<br />
Zur Aufrechterhaltung von Gesundheit spielt der Lebensstil e<strong>in</strong>e zentrale Rolle. Dazu gehören Ernährungs-,<br />
Konsum- und Bewegungsgewohnheiten. Bei Hochbetagten s<strong>in</strong>d solche Gewohnheiten<br />
meist schon lange etabliert und die Frage nach e<strong>in</strong>er Änderung solcher Gewohnheiten (Lebensstiloptimierung)<br />
zur Verh<strong>in</strong>derung von Krankheiten aber auch zur Steigerung der Lebensqualität<br />
muss im H<strong>in</strong>blick auf noch verbleibende Lebenserwartung bei Hochbetagten kritischer diskutiert<br />
werden als bei jü ngeren Altersgruppen. Dennoch s<strong>in</strong>d etwa der Stellenwert e<strong>in</strong>er adäquaten<br />
Ernährung und e<strong>in</strong>er regelmäßigen körperlichen Aktivität bei Hochbetagten zum Gesundheitsgew<strong>in</strong>n<br />
unbestritten. Wie auch bei allen andern ist der Lebensstil bei Hochbetagten abhängig<br />
vom sozialen Umfeld, der sozialen Unterstützung, von eventuell vorhandenen körperlichen und<br />
psychischen Faktoren, aber auch vom öff entlichen Angebot <strong>für</strong> Hochbetagte.<br />
326
14.2.1. Gesunde Ernährung<br />
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
Hochbetagte Menschen leiden häufi g an Mangelernährung, das heißt es liegt e<strong>in</strong> Mangel an<br />
Energie, Prote<strong>in</strong> oder anderen Nährstoff en vor. Gründe <strong>für</strong> das häufi ge Auftreten von Mangelernährung<br />
bei Hochbetagten s<strong>in</strong>d unter anderem, dass sich im Alter der Stoff wechsel verlangsamt,<br />
die Muskelmasse ab- und die Fet tmasse zu nimmt. Dadurch s<strong>in</strong>kt der Energiebedarf, jedoch<br />
bleibt der Nährstoff bedarf unverändert. Das heißt, alte Menschen müssen durch weniger Essen<br />
genauso viel an Nährstoff en aufnehmen wie Menschen jüngerer Altersgruppen. Bei manchen<br />
Nährstoff en ist der Bedarf im Alter sogar erhöht, wie es zum Beispiel bei Vitam<strong>in</strong> D der Fall ist.<br />
E<strong>in</strong>er Mangelernährung können des Weiteren verschiedene chronische Erkrankungen zugrunde<br />
liegen. Auch Kau- und Schluckbeschwerden, sowie Appetitlosigkeit durch e<strong>in</strong>e verm<strong>in</strong>derte Geruchs-<br />
und Geschmackswahrnehmung führen häufi g zu e<strong>in</strong>er Unterversorgung an Energie und<br />
Nährstoff en (DGE 2006a, Rob<strong>in</strong>son 2003). In <strong>Österreich</strong> hat bei den über 75-Jährigen etwa e<strong>in</strong><br />
Drittel Probleme, <strong>in</strong> feste Nahrung zu beißen und diese zu kauen (siehe Tabelle 1).<br />
Tabelle 1: Probleme beim Essen bei <strong>Österreich</strong>ischen Hochbetagten (Statistik Austria 2007).<br />
Alter <strong>in</strong> Jahren<br />
Können Sie ohne<br />
Probleme <strong>in</strong> feste<br />
Nahrung beißen und<br />
diese kauen? (<strong>in</strong> %)<br />
Probleme selbst zu essen<br />
Unterstützung bei<br />
dieser Tätigkeit<br />
Gesamt Ja Ne<strong>in</strong> Ja Ne<strong>in</strong> Unsicher Ja Ne<strong>in</strong><br />
65 bis
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
Die Kalziumaufnahme liegt aus oben ge nannten Gründen oft deutlich unter den Empfehlungen.<br />
In e<strong>in</strong>igen Studien wurde e<strong>in</strong>e kl<strong>in</strong>isch relevante Reduktion der Häufi gkeit von Frakturen<br />
durch Vitam<strong>in</strong> D- und Kalziumzusätze (Dawson-Hughes et al. 1997) oder durch hohe Vitam<strong>in</strong><br />
D-Dosierungen alle<strong>in</strong> (Trivedi et al. 2003) beleg t, während <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er randomisierten Studie<br />
(Women’s Health Initiative) die Ineff ektivität von Kalzium und Vitam<strong>in</strong> D <strong>in</strong> der Reduktion von<br />
Frakturen während e<strong>in</strong>es 7jährigen Follow ups gezeigt wurde (Jackson et al. 2006). Bei alten<br />
Menschen kann also e<strong>in</strong>e Supplementierung mit diesen beiden Nährstoff en e<strong>in</strong>e s <strong>in</strong>nvolle<br />
Alternative se<strong>in</strong>, wenn e<strong>in</strong>e ausreichende Versorgung über die Ernährung oder – im Fall von<br />
Vitam<strong>in</strong> D – durch Eigensynthese nicht möglich ist.<br />
Es gibt ke<strong>in</strong>e prospektiven randomisierten Studien, <strong>in</strong> denen die Ausw irkungen von Multivitam<strong>in</strong>supplementierung<br />
bei Hoch betagten auf Morbidität und Mortalität untersucht wurden.<br />
In e<strong>in</strong>er Kohortenstudie wurde gezeigt, dass e<strong>in</strong>e Steigerung der Vitam<strong>in</strong>aufnahme zu e<strong>in</strong>er<br />
Verbesserung des Mikronährstoff status führt, der mit e<strong>in</strong>em erniedrig ten Risiko <strong>für</strong> verschiedene<br />
chronische Erkrankungen assoziiert ist (McKay et al. 2000). Aus e<strong>in</strong>er Hypovitam<strong>in</strong>ose<br />
können neben e<strong>in</strong>er Verm<strong>in</strong>derung der Knochendichte Störungen <strong>in</strong> der Wundheilung, Bee<strong>in</strong>trächtigungen<br />
des Immunsystems und E<strong>in</strong>schränkungen der kognitiven Funktionen resultieren.<br />
E<strong>in</strong>ige Fachgesellschaften empfehlen daher e<strong>in</strong>e spezifi sche Supplementierung von Vitam<strong>in</strong>en<br />
und M<strong>in</strong>eralstoff en bei Hochbetagten (Dror et al. 2002). Diese sollte laut DGE jedoch nur dann<br />
erfolgen, wenn Senior/<strong>in</strong>nen über ihre Nahrung den Bedarf an essentiellen Nährstoff en nicht<br />
ausreichend decken können, und auch dann nur <strong>in</strong> Absprache mit ihrem Arzt (DGE 2006b). E<strong>in</strong>e<br />
unwillkürliche E<strong>in</strong>nahme von hochdosierten Vitam<strong>in</strong>präparaten – vor allem von Antioxidantien<br />
wie Vitam<strong>in</strong> E, A oder Bet acarot<strong>in</strong> – k önnen sich negativ auf die Gesu ndheit auswirken, und<br />
sogar die Mortalität steigern (Bjelakovic et al. 2007).<br />
In <strong>Österreich</strong> s<strong>in</strong>d Daten zur Nährstoff aufnahme <strong>für</strong> Senior/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> Wien verfügbar (Elmadfa<br />
et al. 2003). Das beschriebene Kollektiv ist jedoch nicht repräsentativ <strong>für</strong> ganz <strong>Österreich</strong>. Die<br />
Vitam<strong>in</strong> D-Aufnahme bei Senior/<strong>in</strong>nen ist vergleichbar mit jener bei österreichischen und Wiener<br />
Erwachsenen. Jed och gelten <strong>für</strong> ältere Menschen andere Empfehlungen. Personen ab 65 Jahren<br />
sollten m<strong>in</strong>destens 10 µg Vitam<strong>in</strong> D pro Tag zu sich nehmen, da im Alter unter anderem aufgrund<br />
erniedrigter Eigensynthese der Bedarf erhöht ist (DACH 2000). Die Vitam<strong>in</strong> D-Aufnahme sowohl<br />
bei den Wiener 75-84-Jährigen als auch bei den 85+Jährigen Männern betrug lediglich 3,4 µg,<br />
die Vitam<strong>in</strong> D-Aufnahme der 75-84-Jährigen Frauen 3,6 µg und die der 85+Jährigen Frauen 3,1 µg<br />
(Elmadfa et al. 2003). Dies spiegelt sich auch im Nährstoff status der untersuchten Personen wider,<br />
bei etwa 20% der über 55-Jährigen war der Vitam<strong>in</strong> D-Status suboptimal (Elmadfa et al. 2004).<br />
Die tägliche Kalziumaufnahme sollte gemäß den Empfehlungen 1000 mg betragen (DACH 2000).<br />
Auch hier gibt es e<strong>in</strong>e deutliche Unterversorgung <strong>in</strong> der hochbetagten Bevölkerung. So beträgt<br />
die tägliche Kalziumaufnahme bei den 74-84-Jährigen Männern und Frauen lediglich 695 bzw.<br />
780 mg und die der 85+Jährigen 642 bzw. 649 mg pro Tag (Elmadfa et al. 2003). Die Kalziumversorgung<br />
lag bei den Wiener Senior/<strong>in</strong>nen mit 765 mg bei den Männern und 754 mg bei den<br />
Frauen ebenfalls unter der empfohlenen Zufuhr von 1000 mg (Elmadfa et al. 2003).<br />
328
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
Bezüglich Vitam<strong>in</strong> D- u nd Kalziumaufnahme zeigte sich e<strong>in</strong> deutlicher Unterschied zwischen<br />
Wiener Senior/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> Privathaushalten und <strong>in</strong> Pensionisten- bzw. Pfl egewohnheimen. Männliche<br />
Senioren, die <strong>in</strong> Privathaushalten lebten, wiesen e<strong>in</strong>e deutlich höhere Zufuhr von Vitam<strong>in</strong><br />
D auf (4,7 µg/d) als jene <strong>in</strong> Pensionistenwohnheimen (3,0 µg/d), woh<strong>in</strong>gegen bei Senior/<strong>in</strong>nen<br />
diesbezüglich kaum e<strong>in</strong> Unterschied zu erkennen war (3,8 vs. 3,9 µg/d). E<strong>in</strong>e niedrige Vitam<strong>in</strong><br />
D-Aufnahme ist jedoch bei Personen <strong>in</strong> Pensionistenwohnheimen kritischer, da diese zumeist<br />
weniger an die Sonne kommen als jene, die <strong>in</strong> Privathaushalten leben, und daher die Vitam<strong>in</strong><br />
D-Synthese <strong>in</strong> der Haut viel ger<strong>in</strong>ger ausfällt. Die t ägliche Kalziumaufnahme bei m ännlichen<br />
<strong>in</strong>stitutionalisierten Pensionisten betrug lediglich 636 mg pro Tag, verglichen mit 867 mg bei<br />
Pensionisten <strong>in</strong> Pri vathaushalten. Bei den Fr auen war dieser Unterschied nic ht so st ark ausgeprägt<br />
(767 mg bei Institutionalisierten vs. 743 mg bei Pensionist/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> Privathaushalten)<br />
(Elmadfa et al. 2003 und AMZ 2007).<br />
Auch bei anderen Nährstoff en zeigten die Statusbestimmungen e<strong>in</strong>e suboptimale Versorgung<br />
bei den Wiener Senior/<strong>in</strong>nen, hier waren vor allem die Vitam<strong>in</strong>e der Gruppe B (B2, B6 und B12)<br />
und Folsäure betroff en. Aber auch der Vitam<strong>in</strong> C- und Vitam<strong>in</strong> K-Status waren teilweise leicht<br />
erniedrigt (Elmadfa et al. 2004).<br />
Tabelle 2 zeigt auf Lebensmittelbasis, dass bei Wiener Senior<strong>in</strong>nen und Senioren der Verzehr<br />
von e<strong>in</strong>igen vorteilhaften Lebensmitteln deutlich u nter den Ern ährungs empfehlungen lag,<br />
während unvorteilhafte Lebensmittel deutlich über den Empfeh lungen verzehrt wurden. So<br />
war die Aufnahme von tierischem Prote<strong>in</strong> <strong>in</strong> Form von Fleisch und Wurst sehr hoch, woh<strong>in</strong>gegen<br />
die Aufnahme von Gemüse sehr niedrig war. Auch die Zufuhr von Fisch und Obst lag unter<br />
den Empfehlungen der DGE, Milch und Milchprodukte wurden jedoch <strong>in</strong> ausreichenden Maßen<br />
konsumiert (Elmadfa et al. 2003).<br />
Tabelle 2: Vergleich von wünschenswerten Lebensmittelverzehrsmengen mit tatsächlichen<br />
Verzehrsdaten (Mittelwert) bei Wiener Senior<strong>in</strong>nen und Senioren.<br />
Lebensmittelgruppe<br />
Empfohlene<br />
Mengen1<br />
Studienergebnis<br />
% der<br />
Empfehlungen1<br />
Fleisch, Wurst (g/Woche) 300 651 217<br />
Obst (exkl. Fruchtsäfte) (g/d) 250 220 88<br />
Milch, Milchprodukte (g/d) 200 213 107<br />
Gemüse (g/d) 400 145 36<br />
Fisch (g/Woche) 150 112 75<br />
1DGE (Deutsche Gesellschaft <strong>für</strong> Ernährung)-Mengenvorschlag <strong>für</strong> niedrigere Energiezufuhr (1800-2300 kcal/Tag) <strong>für</strong> Erwachsene<br />
Quelle: modifi ziert nach: Elmadfa et al. 2003<br />
329
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
14.2.2. Körperliche Aktivität / Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />
Es gibt reich lich E videnz, d ass körperliche Aktivität <strong>für</strong> Pe rsonen aller Alte rsgruppen e<strong>in</strong>en<br />
gesundheitlichen Nutzen br<strong>in</strong>gt, die Gesamtmorbidität verr<strong>in</strong>gern und sich lebensverlängernd<br />
auswirken kann. Regelmäßige körperliche Aktivität bei älteren Personen verbessert die Kondition<br />
(Posner et al. 1992) und sche<strong>in</strong>t bei Patien/t<strong>in</strong>nen mit e<strong>in</strong>er zugrundeliegenden Erkrankung,<br />
wie chronische Herz<strong>in</strong>suffi zienz, koronare Herzkrankheit, Osteoarthritis, Osteoporose, Diabetes<br />
mellitus und rezidivierenden Stürzen besonders von Vorteil zu se<strong>in</strong>. Da exzessive, <strong>in</strong>tensive<br />
körperliche Aktivität im Alter sel bst e<strong>in</strong> Gesu ndheitsrisiko darstellen kann, sollte <strong>in</strong>dividuell<br />
e<strong>in</strong>e Nutzen-Risiko-Abschätzung vorgenommen werden (Larson et al. 1987).<br />
Größere Bedeutung als dem Ausdauertra<strong>in</strong><strong>in</strong>g kommt bei alten Menschen dem Krafttra<strong>in</strong><strong>in</strong>g,<br />
Kraftausdauertra<strong>in</strong><strong>in</strong>g und Koord<strong>in</strong>ationstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g zu (Marburger et al. 2002). Krafttra<strong>in</strong><strong>in</strong>g ist e<strong>in</strong><br />
wichtiges Mittel zur Sturzprävention. Durch Krafttra<strong>in</strong><strong>in</strong>g wird die Knochendichte erhalten, die<br />
Muskelmasse erhöht, die Muskelkraft verbessert und somit werden Risikofaktoren <strong>für</strong> Stürze<br />
verm<strong>in</strong>dert (Nelson et al. 1994).<br />
Bei hochbetagten Personen kann durch Krafttra<strong>in</strong><strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e Verm<strong>in</strong>derung der R eduktion von<br />
Muskelmasse (Sarkopenie) erzielt und die Ausdauerleistu ng erhöht werden. Weiters konnte<br />
gezeigt werden, dass e<strong>in</strong> gezieltes Kraf ttra<strong>in</strong><strong>in</strong>g zu e<strong>in</strong>er Opt imierung der Stoff wechsellage<br />
mit Senkung der Insul<strong>in</strong>resistenz, Blutdrucksenkung und Verr<strong>in</strong>gerung der Ge samtfettmasse<br />
sowie des <strong>in</strong>traabdom<strong>in</strong>ellen Fettgewebes führt. Durch die Verbesserung der Muskelkraft und<br />
der Muskelfunktion kommt es neben e<strong>in</strong>er Reduktion der Sturzhäufi gkeit zu e<strong>in</strong>er Verbesserung<br />
der Gelenksfunktion und zu e<strong>in</strong>er signifi kanten Schmerzreduktion an arthrotisch veränderten<br />
Gelenken (Hurley et al. 2000).<br />
Aber auch psychische Funktionen und die p sychosoziale Gesundheit werden durch Krafttra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />
aufrechterhalten oder sogar verbessert (Taunton et al. 1997). Bei 46 Personen mit e<strong>in</strong>em<br />
mittleren Alter von 73,2 Jahren war nach e<strong>in</strong>em Krafttra<strong>in</strong><strong>in</strong>g an Masch<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e signifi kante<br />
Verbesserung der Gedächtnisleistung zu verzeichnen (Perrig-Chiello et al. 1998). Bei e<strong>in</strong>er Gruppe<br />
von 16 Park<strong>in</strong>sonpatient/<strong>in</strong>nen konnten durch <strong>in</strong>tensives Krafttra<strong>in</strong><strong>in</strong>g sowohl die motorischen<br />
Defi zite verbessert werden, als auch die Stimmung und das subjektive Wohlbefi nden (Reuter<br />
et al. 1 999). Durch e<strong>in</strong> 10wöchig es Kraft- und Gleichgewichtstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g konnte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gru ppe<br />
von Bewohner/<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>er Wiener geriatrischen Sonderkrankenanstalt mit e<strong>in</strong>em mittleren<br />
Alter von 86,8 Jahren e<strong>in</strong>e signifi kante Verbesserung der kognitiven Funktionen erzielt werden<br />
(Dorner et al. 2007a).<br />
Die American Heart Association empfi ehlt bei älteren Personen zum Erreichen e<strong>in</strong>es optimalen<br />
präventiven und rehabilitativen Benefi ts e<strong>in</strong> Krafttra<strong>in</strong><strong>in</strong>g mit e<strong>in</strong>em M<strong>in</strong>imum von 2 Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gse<strong>in</strong>heiten<br />
pro Woche <strong>für</strong> 8 – 10 Muskelgruppen. Für jede Muskelgruppe sollte m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> Satz<br />
mit 10-15 Wiederholungen bis zur Erschöpfung durchgeführt werden. In der Wiederholungszahl<br />
unterscheiden sich diese Empfehlungen von denen <strong>für</strong> die jüngere Bevölkerung, wo 8-12 Wieder-<br />
330
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
holungen bis zur Erschöpfung empfohlen werden. (Pollock et al. 2003). Für ältere Personen mit<br />
Osteoarthritis empfi ehlt die American Geriatrics Society e<strong>in</strong> Beweglichkeitstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g (Statisches<br />
Stretchen drei- bis fünfmal pro Woche), Krafttra<strong>in</strong><strong>in</strong>g (isometrisches und isotonisches Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />
zwei- bis dreimal pro Woche) und Ausdauertra<strong>in</strong><strong>in</strong>g (M<strong>in</strong>imum 20 bis 30 M<strong>in</strong>uten drei- bis fünfmal<br />
pro Woche) (American Geriatrics Society Panel 2001). Um muskuloskeletalen Verletzungen<br />
vorzubeugen, sollte das Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g mit niedrig-moderater Intensität, Dauer und Häufi gkeit begonnen<br />
werden und langsam, über e<strong>in</strong>ige Wochen oder Monate gesteigert werden. Selbst sehr alte<br />
und gebrechliche Patient/<strong>in</strong>nen profi tieren von körperlichem Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g (Villareal et al. 2005).<br />
Das Bewegungsverhalten der <strong>Österreich</strong>er<strong>in</strong>nen und <strong>Österreich</strong>er aller Altersgruppen entspricht<br />
nicht den Bewegungsempfehlungen. Im Wiener Gesundheits- und Sozialsurvey sank der Anteil<br />
derer, die über regelmäßige körperliche Bewegung berichteten mit dem Alter . In der Altersgruppe<br />
der 75+Jährigen gaben nur 7,6% der Männer und 1,9% der Frauen an, täglich oder fast<br />
täglich durch körperliche Bewegung <strong>in</strong>s Schwitzen zu kommen. 6,4% der 75+Jährigen Männer<br />
und 10,2% der Frauen dieser Altersgruppe gaben an, mehrmals die Woche aufgrund von Bewegung<br />
<strong>in</strong>s Schwitzen zu kommen. Bei den 75+Jährigen ist der Anteil derer besonders hoch, die<br />
angaben, nie durch Bewegung <strong>in</strong>s Schwitzen zu kommen (50,6% der Männer und 63,3% der<br />
Frauen). Dieser Anteil betrug <strong>in</strong> der Allgeme<strong>in</strong>bevölkerung 14,8% bei den Männern und 24,0%<br />
bei den Frauen (Stadt Wien 2001).<br />
In der Gesundheitsbefragung 2006/2007 zeigte sich, dass mit zunehmendem Alter körperliche<br />
Aktivität an Stellenwert verliert. Von den 75+Jährigen Männern gaben 23,1% an, m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal<br />
<strong>in</strong> der Woche durch körperliche Aktivität <strong>in</strong>s Schwitzen zu kommen (im Vergleich zu 60,3%<br />
bei allen Männern) und bei den 7 5+Jährigen Frauen waren es lediglich 9,9% (im Vergleich zu<br />
48,7% aller Frauen) (Statistik Austria 2007).<br />
14.2.3. Körperzusammensetzung<br />
Hochbetagte Menschen leiden häufi g an Unterernährung, verursacht durch e<strong>in</strong>e hypokalorische,<br />
prote<strong>in</strong>arme Ernährung, andererseits steigt die Prävalenz von Adipositas bei älteren Menschen<br />
ebenso wie <strong>in</strong> der Gesamtbevölkerung. Mit zunehmendem Alter verändert sich zum Teil durch<br />
hormonelle E<strong>in</strong>fl üsse, teils lebensstilbed<strong>in</strong>gt die Körperzusammensetzung, die Muskelmas se<br />
schw<strong>in</strong>det (Sarkopenie) und die Körperfettmasse steigt relativ dazu an (sarkopenische Adipositas)<br />
(Zamboni et al. 2005). Sarkopenie ist geme<strong>in</strong>sam mit chronischer Unterernährung und der<br />
Abnahme von Muskelkraft und Muskelaktivität e<strong>in</strong> Schlüsselelement, das zu „Frailty“ führt. Frailty<br />
ist defi niert als e<strong>in</strong>e variable Komb<strong>in</strong>ation der Symptome Schwachheit, Müdigkeit, Gewichtsverlust,<br />
verm<strong>in</strong>dertes Gleichgewicht, wenig körperliche Aktivität, sozialer Rückzug, E<strong>in</strong>bußen<br />
der kognitiven Funktionen und erhöhter Vulnerabilität gegenüber Stress (Walston et al. 2006).<br />
Personen mit sarkopenischer Adipositas (relativer Anstieg der Körperfettmasse bei Gleichbleiben<br />
des Körpergewichtes) zeigten e<strong>in</strong> höheres Risiko <strong>für</strong> Beh<strong>in</strong>derungen und Stürze, verglichen mit<br />
älteren Personen, die an isolierter Sarkopenie oder an Adipositas litten (Baumgartner 2000).<br />
331
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
Während Untergewicht bei hochbetagten Personen unbestritten das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko<br />
erhöht (Sullivan 1995), ist die diesbezügliche Evidenz <strong>für</strong> Übergewicht bei Hochbetagten nicht<br />
so e<strong>in</strong>deutig. Im Gegensatz zu jüngeren Bevölkerungs gruppen stellt bei Personen ab 65 Jahren<br />
mildes oder moderates Übergewicht ke<strong>in</strong> erhöhtes Mortalitätsrisiko dar. Adipositas h<strong>in</strong>gegen ist<br />
<strong>in</strong> den meisten Studien auch <strong>in</strong> der älteren Bevölkerung mit erhöhter Mortalität assoziiert. Hier<br />
zeigte sich jedoch <strong>in</strong> allen Studien, dass Adipositas bei älteren Menschen nicht <strong>in</strong> dem Ausmaß<br />
zu e<strong>in</strong>er erhöhten Gesamtsterblichkeit oder Sterblichkeit an Herz- Kreislauferkrankungen führt,<br />
wie bei jüngeren adipösen Personen (Heiat et al. 2001). In vielen Studien wurde die niedrigste<br />
Mortalität bei älteren Personen mit e<strong>in</strong>em BMI < 27 kg/m² identifi ziert. In e<strong>in</strong>er deutschen Studie<br />
war jedoch die niedrigste Gesamtmortalität bei Personen ab dem 50. Lebensjahr mit e<strong>in</strong>em BMI<br />
zwischen 25 u nd 32 k g/m² zu verzeichnen (Bender et al . 1999) u nd <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er amerik anischen<br />
Studie hatten ältere Personen mit e<strong>in</strong>em BMI zwischen 27 und 30 kg/m² die niedrigste Mortalität<br />
(Folsom et al. 2000).<br />
In e<strong>in</strong>er Untersuchung bei Personen e<strong>in</strong>er Wiener geriatrischen Institution mit e<strong>in</strong>em mittleren<br />
Alter von 87,8 Jahren war die niedrigste Inzidenz von verschiedenen, neu auftretenden Erkrankungen<br />
bei Personen mit e<strong>in</strong>em BMI zwischen 26 und 30 kg/m² zu verzeichnen. Untergewicht<br />
und Adipositas (BMI > 30 k g/m²) waren mit e<strong>in</strong>em erhöhten R isiko <strong>für</strong> Inf ektionskrankheiten<br />
sowie <strong>für</strong> Dekubitalulzera und Untergewicht mit e<strong>in</strong>em erhöhten Risiko <strong>für</strong> Dehydrierung assoziiert<br />
(Dorner et al. 2007b).<br />
Bezüglich des Zusammenhangs von BMI und Beh<strong>in</strong>derung im Alter wurde e<strong>in</strong>e J-förmige Kurve<br />
beschrieben, es wurde e<strong>in</strong> höherer Beh<strong>in</strong>derungsgrad bei niedrigen und bei sehr hohen BMI-<br />
Leveln bei Männern und bei Frauen berichtet. Diese Beh<strong>in</strong>derungen betreff en <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />
E<strong>in</strong>bußen <strong>in</strong> der Mobilität. Für die Beh<strong>in</strong>derungen wurden der Verlust von Muskelmasse und e<strong>in</strong>e<br />
Erhöhung der Körperfettmasse verantwortlich gemacht. Die beschriebenen Beh<strong>in</strong>derungen im<br />
höheren Alter stellen selbst wieder e<strong>in</strong>en Risikofaktor <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e erhöhte Mortalität dar (Zamboni<br />
et al. 2005). Bei adipösen älteren Personen ist die Rate an Pfl egeheimaufnahmen höher als bei<br />
nicht adipösen (Villareal et al. 2005).<br />
In e<strong>in</strong>em P ositionsstatement der „Americ an Society for Nut rition“ und der „Obes ity Society“<br />
wird postuliert, dass bei älteren Personen im Gewichtsmanagement nicht so sehr die Prävention<br />
von mediz<strong>in</strong>ischen Komplikationen aufgrund von Adipositas im Vordergrund steht, sondern<br />
vielmehr die Verbesserung der physischen Funktionen und der Lebensqualität (Villareal et al.<br />
2005). E<strong>in</strong> weiterer großer Unterschied <strong>in</strong> der Adipositastherapie bei älteren Personen im Vergleich<br />
zu Jüngeren stellt die Wichtigkeit der Prävention von Muskel- und Knochenmasseverlust<br />
dar. Deshalb nimmt körperliches Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g im Management der Adipositas bei älteren Personen<br />
e<strong>in</strong>e Schlüsselposition e<strong>in</strong>, um Verluste von Muskel- und Knochenmasse zu verh<strong>in</strong>dern. Sowohl<br />
Ausdauer- als auch Krafttra<strong>in</strong><strong>in</strong>g br<strong>in</strong>gen bei älteren Menschen neben der Gewichts stabilisierung<br />
e<strong>in</strong>en zusätzlichen Benefi t, <strong>in</strong>dem sie die physischen Funktionen verbessern und die altersassoziierte<br />
„Frailty“ reduzieren. Individuelle Erkrankungen und Beh<strong>in</strong>derungen sollten dabei<br />
berücksichtigt werden (Villareal et al. 2005).<br />
332
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
Daten der österreichischen Gesund heits bef ragung 2006/2007 zeigten, dass die höchste Prävalenz<br />
von Adipositas (BMI >= 30 kg/m²), errechnet aus selbstberichteten Daten <strong>für</strong> Körpergröße<br />
und Körpergewicht, bei den 60- 75-Jährigen zu verzeichnen war (18,6% bei den Männern u nd<br />
20,9% bei den Frauen). Mit steigendem Alter s ank die Pr ävalenz der Adiposi tas wieder und<br />
betrug bei den 75+Jährigen 8,1% bei den Männern und 15,0% bei den Frauen. Der Anteil an Untergewichtigen<br />
(BMI < 18,5 kg/m ²) stieg h<strong>in</strong>gegen bei den Hochbetagten an und betrug 2,4% bei<br />
den 75+Jährigen Frauen und 1,6% bei den Männern dieser Altersgruppe (Statistik Austria 2007).<br />
Bei bevölkerungsbezogenen Studien wie der österreichischen Gesundheitsbefragung werden<br />
oft Menschen, die <strong>in</strong> Instit utionen leben, schwer erreicht und s<strong>in</strong>d unterrepräsentiert. E<strong>in</strong>e<br />
Auswertung von Ernährungsassessments von 139 Personen (65 Männer und 74 Frauen) e<strong>in</strong>er<br />
geriatrischen Sonderkrankenanstalt <strong>in</strong> Wien erbrachte e<strong>in</strong>e Prävalenz der Adipositas (BMI >=<br />
30,0 kg/m²) von 5,1% (mittleres Alter 82,7 ± 11,6 Jahre), während 16,1% dieser Personen untergewichtig<br />
(BMI < 18,5 kg/m²) waren (Dorner et al. 2006).<br />
14.2.4. „Nichtrauchen“<br />
Die Ergebnisse der Gesundheitsbefragung 2006/2007 zeigten deutlich, dass <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> der<br />
Anteil an Raucher/<strong>in</strong>nen mit steigendem Alter deutlich abnimmt. Bei den 7 5+Jährigen gaben<br />
lediglich 6,3% der Männer und 2,2% der Frauen an, täglich zu rauchen, während es h<strong>in</strong>gegen<br />
<strong>in</strong> der Allgeme<strong>in</strong>bevölkerung 27,3% bei den Männern und 19,4% bei den Frauen waren (Statistik<br />
Austria 2007).<br />
In den Guidel<strong>in</strong>es des „U.S. Department of Health and Human Services“ zur Behandlung von<br />
Tabakabhängigkeit wird postuliert, dass auch Raucher<strong>in</strong>nen und Raucher im Alter von über 65<br />
Jahren von e<strong>in</strong>er Zigarettenentwöhnung profi tieren. Zigarettenabst<strong>in</strong>enz bei ältern Personen reduziert<br />
das Risiko <strong>für</strong> Herz<strong>in</strong>farkt, Tod durch koronare Herzkrankheit und Lungenkrebs. Zusätzlich<br />
führt e<strong>in</strong>e Entwöhnung zu e<strong>in</strong>er schnelleren Genesung nach der Exacerbation e<strong>in</strong>er Erkrankung<br />
die durch Zigarettenrauch mitverursacht wurde (z. B.: COPD) und kann zu e<strong>in</strong>er Verbesserung<br />
der Durchblutung der Hirng efäße beitragen (U.S. Depar tment of Health and Hu man Services<br />
2000). E<strong>in</strong>e Studie, <strong>in</strong> der die Auswirkung von Raucherentwöhnung bei Personen über 65 Jahren<br />
untersucht wurde, zeigte <strong>in</strong>nerhalb von fünf Jahren e<strong>in</strong>e Ausnnahme der Gesamtmortalität bei<br />
diesen Personen, verglichen mit jenen, die weiterrauchten (Gold<strong>in</strong>g 2006).<br />
14.3. Spezifi sche Prävention<br />
Im Gegensatz zu unspezifi schen Maßnahmen der Gesu ndheitsförderung und Präventivmediz<strong>in</strong>,<br />
bei denen der Gesu ndheitsgew<strong>in</strong>n und gleichzeitig die Verh<strong>in</strong>derung von verschiedenen<br />
Krankheiten im Vordergrund stehen, konzentriert sich die spezifi sche Prävention gezielt auf<br />
Krankheiten oder mediz<strong>in</strong>ische Konditionen und versucht, diese zu verh<strong>in</strong>dern. Es soll <strong>in</strong> diesem<br />
Zusammenhang besonders auf Impfungen und auf die Sturzprophylaxe e<strong>in</strong>gegangen werden.<br />
333
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
14.3.1. Impfungen<br />
Gemäß dem <strong>Österreich</strong>ischen Impfplan 2007 wird e<strong>in</strong>e jährliche Infl uenzaimpfung <strong>für</strong> alle Personen,<br />
aber besonders ab dem Alter von 60 Jahren empfohlen. Alle Erwachsenen sollten ab<br />
dem 60. Lebensjahr gegen Pneumokokken geimpft werden. Zusätzlich wird e<strong>in</strong>e Impfung gegen<br />
Gürtelrose (Zoster) empfohlen. Weiters sieht der österreichische Impfplan neben den <strong>für</strong> alle<br />
Erwachsenen empfohlenen Impfungen e<strong>in</strong>e fü nfjährliche Auff rischungsimpfung <strong>für</strong> Tetanus,<br />
Diphtherie und Pertussis ab dem 60. Lebensjahr sowie e<strong>in</strong>e dreijährliche Auff rischungsimpfung<br />
<strong>für</strong> FSME vor (BMGFJ 2007).<br />
Mit steigendem Alter steig t die Grippe-Mor talität. In e<strong>in</strong>er niederl ändischen Untersuchung<br />
traten 54% der Infl uenza-<strong>in</strong>duzierten Todesfälle bei Personen über 80 Jahren auf, 29% bei den<br />
70-79-Jährigen und 12% bei den 60-69-Jährigen (Sprenger et al. 1993). Durch die Grippeimpfung<br />
wird die Mortalität gesenkt und die Hospitalisierung aufgrund von Pneumonie, Herz-Kreislaufkomplikationen<br />
und zerebrovaskulären Komplikationen verm<strong>in</strong>dert. Die „Number needed to<br />
vacc<strong>in</strong>ate“ um e<strong>in</strong>en Tod durch Infl uenza zu verh<strong>in</strong>dern betrug 95 b zw. 118 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Studie<br />
mit zwei verschiedenen Kohorten und um Tod oder Hospitalisierung zu verh<strong>in</strong>dern 61 bzw. 68<br />
(Nichol et al. 2003). Auch die Pneumokokken- und die Tetanusimpfung tragen zur Verr<strong>in</strong>gerung<br />
der Morbidität und Mortalität bei älteren Menschen bei (Gold<strong>in</strong>g 2006).<br />
Die Infl uenza-Durchimpfungsrate der österreichischen Bevölkerung ist mit nur 19 %, sehr niedrig.<br />
In der Altersgruppe der unter 40-Jährigen lassen sich überhaupt nur 15 % impfen, bei den über<br />
60-Jährigen ist jeder Dritte geimpft (33%) (BMGF). Gemäß Gesundheitsbefragung 2006/2007<br />
stieg mit der Altersgruppe der Anteil derer, die angaben, e<strong>in</strong>en aufrechten Impfschutz gegen<br />
Infl uenza zu haben bis zu den 75+Jährigen kont<strong>in</strong>uierlich an und betrug hier bei den Männern<br />
42,1% und bei den Frauen 38,1%. Bei den 60-75-Jährigen waren im Vergleich nur 32,5% der<br />
Männer und 29,8% der Frauen gegen Grippe geimpft (Statistik Austria 2007). Im Mikrozensus<br />
1999 gaben bei den 75-84-Jährigen lediglich 30,2% der Männer und 25,8% der Frauen an, gegen<br />
Grippe geimpft zu se<strong>in</strong>, w ährend bei den 85+Jährig en dieser Anteil gar nur 24,2 b zw. 22,3%<br />
betrug (Statistik Austria 2002).<br />
In der Gesundheitsbefragung 2006/2007 gaben 13,8% der 75+Jährigen Männer und 12,4% der<br />
Frauen dieser Altersgruppe an, e<strong>in</strong>en aufrechten Impfschutz gegen Pneumokokken zu haben.<br />
Bei den 60-75-Jährigen war der Anteil ähnlich, mit 12,8% bei den Männern und 10,5% bei den<br />
Frauen. Bezüglich Impfschutz gegen Tetanus betrug der Anteil der Geimpften 47,0% der männlichen<br />
und 37,4% der weiblichen 75+Jährigen. Damit liegt die Tetanusdurchimpfungsrate bei den<br />
Hochbetagten deutlich niedriger als <strong>in</strong> der Allgeme<strong>in</strong>bevölkerung, <strong>in</strong> der 72,7% der Männer und<br />
65,2% der Frauen e<strong>in</strong>en aufrechten Impfschutz haben (Statistik Austria 2007), wenn man die<br />
eigenen Angaben mit der tatsächlichen Durchimpfungsrate gleichsetzen würde.<br />
334
14.3.2. Sturzprävention<br />
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
Bei Personen über 70 Jahren, die zu Hause leben, stürzen etwa 30% m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal pro<br />
Jahr (Campbell et al. 1989). Die jährliche Inzidenz von Stürzen beträgt etwa 50% bei Personen<br />
ab dem 80. Lebensjahr (Gold<strong>in</strong>g 2006). Die Folgen von Stürzen s<strong>in</strong>d oft schwerwiegend. Durch<br />
osteoporotische Veränderungen ist das Frakturrisiko deutlich erhöht, l ang andauernde Bettlägerigkeit<br />
mit h<strong>in</strong>zukommenden Erkrankungen wie kardialen oder pulmonalen Komplikationen,<br />
Thromboembolien, gastro<strong>in</strong>test<strong>in</strong>alen Blutungen, Herz<strong>in</strong>farkten und Schlaganfällen (Lawrence<br />
et al. 2002), können folgen und erhöhen die Mortalität. Osteoporotische Hüftfrakturen verr<strong>in</strong>gern<br />
die Lebenserwartung um 1,8 Jahre oder 25% verglichen mit e<strong>in</strong>er alters- und geschlechtsstandardisierten<br />
Population. Nach e<strong>in</strong>em Sturz bleiben oft Schmerzen und Defi zite <strong>in</strong> den<br />
Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) zurück (Grisso et al. 1992). Auch psychische und soziale<br />
Konsequenzen nach Stürzen, Angst vor neuerlichen Stürzen, das „Postfall anxiety syndrome“<br />
mit gesellschaftlichem Rückzug, bee<strong>in</strong>trächtigen oft dauerhaft die L ebensqualität (American<br />
Geriatrics Society 2001).<br />
Die britische und die amerikanische Gesellschaft <strong>für</strong> Geriatrie haben im Rahmen e<strong>in</strong>er Metaanalyse<br />
bei Hochbetagten folgende Risikofaktoren <strong>für</strong> Stürze identifi ziert (Relatives Risiko bzw.<br />
Odds Ratio <strong>in</strong> Klammer):<br />
» Muskuläre Schwäche (4,4)<br />
» Stürze <strong>in</strong> der Anamnese (3,0)<br />
» Gangstörung (2,9)<br />
» Gleichgewichtstörung (2,9)<br />
» Benützen von Gehhilfen (2,6)<br />
» Sehstörung (2,5)<br />
» Arthrose (2,4)<br />
» ADL-Defi zite (2,3)<br />
» Depression (2,2)<br />
» Kognitive E<strong>in</strong>schränkung (1,8)<br />
» Alter > 80 Jahre (1,7) (American Geriatrics Society 2001).<br />
E<strong>in</strong> Review der Cochrane Collaboration aller Interventionsstudien, die <strong>in</strong> ihrer Zielsetzung die<br />
Prävention von Stürzen hatten, zeigte die Auswirkungen von verschiedenen Sturzpräventionsmodellen<br />
<strong>in</strong> 40 Studien (2 davon <strong>in</strong> Langzeitpfl ege<strong>in</strong>stitutionen). Die wirksamste Sturzprophylaxe<br />
zeigte sich durch e<strong>in</strong> komb<strong>in</strong>iertes Kraft- und Gleichgewichtstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g, gepooltes relatives Risiko<br />
0,80 (Gillespie et al. 2001). E<strong>in</strong>e Metaanalyse mit <strong>in</strong>sgesamt 1016 Personen im Alter von 65 bis<br />
97 Jahren zeigte, dass durch Kraft- und Gleichgewichtstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e Risikoreduktion <strong>für</strong> Stürze<br />
von 35% erreicht werden konnte. Den größten Benefi t durch das Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g hatten Personen im<br />
Alter von über 80 Jahren (Robertson et al. 2002). In e<strong>in</strong>er australischen Studie wurde die Eff ek-<br />
335
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
tivität von körperlichem Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g, Verbesserungen der Wohnungsbed<strong>in</strong>gungen und Ausgleich<br />
von Sehdefi ziten mite<strong>in</strong>ander verglichen. Auch hier konnten durch körperliches Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g die<br />
meisten Stürze verh<strong>in</strong>dert werden, am eff ektivsten war jedoch die Komb<strong>in</strong>ation aller drei Interventionsformen<br />
(Day et al. 2002).<br />
Neben Kraft- und Gleichgewichtstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g s<strong>in</strong>d die Verwendung von adäquaten Gehhilfen, e<strong>in</strong>e<br />
weitgehende Sanierung visueller Defi zite, Schulung der Patient<strong>in</strong>nen und Patienten bezüglich<br />
technischer Hilfsmittel und häuslicher Optimierungen, wie das Achten auf gute Beleucht ung<br />
und das Beseitigen von H<strong>in</strong>dernissen und Stolperfallen weitere evidenzbasierte Maßnahmen zur<br />
Sturzprävention. Weiters sollten Medikamente, besonders psychotrope Pharmaka, h<strong>in</strong>sichtlich<br />
ihres Nutzens und Risikos bei st urzgefährdeten Patient/<strong>in</strong>nen überdacht werden (Americ an<br />
Geriatrics Society 2001).<br />
14.4. Chancen und Grenzen von Screen<strong>in</strong>g bei Hochbetagten<br />
E<strong>in</strong>e Fahndung nach Krankheiten bei asymptomatischen Personen – Screen<strong>in</strong>g – ist nur <strong>in</strong>diziert,<br />
wenn e<strong>in</strong>e frühzeitige Behandlung der Krankheit, nach der gescreent wird, eff ektiver ist, als<br />
e<strong>in</strong>e späte oder ke<strong>in</strong>e Therapie. Wenn ke<strong>in</strong>e Evidenz <strong>für</strong> diese Eff ektivität gegeben ist, kann e<strong>in</strong><br />
Screen<strong>in</strong>g mehr Schaden anrichten, als es Nutzen br<strong>in</strong>gt. Das Wissen um die Diagnose „Krebs“<br />
beispielsweise, weitere zum Teil <strong>in</strong>vasive diagnostische Maßnahmen und Therapien oder Therapieversuche<br />
können die Lebensqualität hochbetagter Menschen unnötig e<strong>in</strong>schränken. Der<br />
Nutzen und die möglichen Risiken von Screen<strong>in</strong>g müssen gerade bei Hochbetagten <strong>in</strong>dividuell<br />
abgewogen werden, der Allgeme<strong>in</strong>zustand der Proband<strong>in</strong>nen und Probanden, eventuelle Ko-<br />
Morbiditäten und die Entscheidu ng der P atient/<strong>in</strong>nen nach ausführlicher Aufk lärung dabei<br />
berücksichtigt werden. Bei e<strong>in</strong>ig en Konditionen des hohen Alters ist e<strong>in</strong>e Heilu ng oder e<strong>in</strong>e<br />
Verbesserung der Lebensqualität durchaus möglich und e<strong>in</strong> Screen<strong>in</strong>g danach daher s<strong>in</strong>nvoll.<br />
14.4.1. Bluthochdruck<br />
Bei älteren Personen s<strong>in</strong>d kardiovaskuläre und zerebrovaskuläre Erkrankungen die häufi gsten<br />
Todesursachen. Die Identifi zierung und Behandlung der isolierten systolischen Hypertonie als<br />
wesentlichem Risikofaktor da<strong>für</strong>, ist besonders <strong>in</strong> der älteren Bevölkerung von großer Bedeutung<br />
(Staessen et al. 2000). In e<strong>in</strong>em systematischen Review wurde gezeigt, dass die Lebensqualität<br />
durch die antihypertensive Therapie nicht bee<strong>in</strong>trächtigt ist, und sogar verbessert werden kann<br />
(Beto et al. 1992 nach Gold<strong>in</strong>g 2006 ).<br />
14.4.2. Hör- und Sehprobleme<br />
E<strong>in</strong>e Korrektur der altersbed<strong>in</strong>gten Hör- und Sehdefi zite ist meist durch die Benützung technischer<br />
Hilfsmittel wie Brillen und Hörgeräte, möglich und trägt so entscheidend zur Verbesserung der<br />
Lebensqualität und Aufrechterhaltung der Selbstständigkeit bei. Bei den meisten älteren Personen<br />
treten signifi kante visuelle und akustische Defi zite auf. Diese Defi zite können zu massiven<br />
336
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
Funktionse<strong>in</strong>bußen, zu Stürzen und anderen Unfällen führen oder im Fall von Hörverlusten zu<br />
sozialer Isolierung und Depression (Popelka et al. 1998). Im Alter kommt es durch physiologische<br />
Alterungsprozesse zu e<strong>in</strong>er Verkle<strong>in</strong>erung des Gesichtsfeldes, e<strong>in</strong>er Verschlechterung des<br />
Dämmerungssehens und e<strong>in</strong>er erhöhten Blendempfi ndlichkeit. Regelmäßige augenärztliche<br />
Kontrollen s<strong>in</strong>d wichtig, damit Sehschwächen sofort erkannt und behoben werden können,<br />
aber auch um Erkrankungen wie Glaukom (grüner Star) oder Katarakte (grauer Star) rechtzeitig<br />
erkennen und behandeln zu können.<br />
14.4.3. Kognitive Defi zite<br />
Erkrankungen des Zentralnervensystems, und <strong>in</strong>sbesondere Demenzerkrankungen, zählen<br />
zu den Hauptursachen der chronischen Invalidität bei älteren Menschen sowie deren Bedar f<br />
nach e<strong>in</strong>er dauerhaften Pfl ege (Kamenski et al. 2006). Mit dem Alter steigt die Prävalenz von<br />
Demenzerkran kungen an. Personen über 85 Jahren leiden zu 20 bis 50% an Demenz (Gold<strong>in</strong>g<br />
2006). Durch Screen<strong>in</strong>gtests kann man Demenzerkrankungen frühzeitig erkennen und bei Personen<br />
mit milden bis moderaten kl<strong>in</strong>ischen Symptomen kann durch antidementive Therapie<br />
die Progredienz verlangsamt werden. Bei Personen mit schwerer Demenz ist der Benefi t e<strong>in</strong>es<br />
Screen<strong>in</strong>gs noch unklar (Boustani et al. 2003).<br />
In e<strong>in</strong>em K onsensusstatement der <strong>Österreich</strong>i schen Gesellschaft <strong>für</strong> Allgeme<strong>in</strong>mediz<strong>in</strong>, der<br />
Alzheimergesellschaft und der Alzheimerliga, <strong>in</strong> der auch <strong>in</strong>ternationale Empfehlungen wie<br />
die der United States Preventive Services Task Force übernommen wurden, wird e<strong>in</strong> generelles<br />
Demenz-Screen<strong>in</strong>g <strong>für</strong> ältere asymptomatische Erwachsene derzeit aufgrund mangelnder Evidenz<br />
da<strong>für</strong>, ob die Benefi ts die Schäden durch e<strong>in</strong> Screen<strong>in</strong>g überwiegen würden, nicht empfohlen.<br />
Es wird jedoch an Ärzt/<strong>in</strong>nen appelliert, die kognitiven Funktionen und das Verhalten zu untersuchen<br />
und abzuschätzen, wann immer der Verdacht auf Bee<strong>in</strong>trächtigung besteht. Auf diese<br />
Weise ist es möglich, die Patient<strong>in</strong>nen und Patienten möglichst früh entsprechenden Therapien<br />
zuzuführen (Rebhandl et al. 2004).<br />
Da Allgeme<strong>in</strong>mediz<strong>in</strong>er/<strong>in</strong>nen ihre Patient/<strong>in</strong>nen meist über viele Jahre betreuen und dadurch<br />
mögliche Änderungen <strong>in</strong> der kognitiven Leistung oder das Zurechtkommen mit den Aktivitäten<br />
des täglichen Lebens beobachten können, s<strong>in</strong>d diese <strong>in</strong> der Situation, kognitive Defi zite oder<br />
Demenzstörungen bei Patient<strong>in</strong>nen und Patienten frühzeitig zu erkennen und zu behandeln.<br />
In e<strong>in</strong>er repräsentativen telefonischen Umfrage bestätigten 75% von 200 Wiener Ärzt/<strong>in</strong>nen die<br />
Notwendigkeit e<strong>in</strong>es Früherkennungstestes <strong>für</strong> die Allgeme<strong>in</strong>praxis (Integral Market and Op<strong>in</strong>ion<br />
Reserach 2001). Jedoch nicht nur die Fahndung nach e<strong>in</strong>er manifesten Demenzerkrankung ist<br />
wichtig, sondern auch n ach Mild Cognitive Impairment, da 42% der F älle von Mild Cognitive<br />
Impairment sich <strong>in</strong>nerhalb von 5 Jahren zu e<strong>in</strong>er Demenz entwickeln (Eng land 2006, Palmer et<br />
al. 2003). E<strong>in</strong>e frühe Diagnose kognitiver Erkrankungen hilft außerdem den Angehörigen, sich<br />
auf zukünftige Herausforderungen bezüglich Betreuung und Pfl ege der Betroff enen e<strong>in</strong>zustellen<br />
und geme<strong>in</strong>sam mit diesen geeignete Maßnahmen frühzeitig zu planen und e<strong>in</strong>zuleiten.<br />
337
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
14.4.4. Depression<br />
Depression ist e<strong>in</strong> ernsthaftes Problem bei älteren Personen, das zu unnötigem Leiden, bee<strong>in</strong>trächtigter<br />
Funktionsfähigkeit, erhöhter Mortalität und Morbidität, und übermäßiger Belastung<br />
des Gesundheitssystems führen kann. Depressionen s<strong>in</strong>d bei Hochbetagten oft unterdiagnostiziert<br />
und nicht ausreichend behandelt (Hybels et al. 2003, Valenste<strong>in</strong> et al. 2004). Die Häufi<br />
gkeit von Depressionen ist höher bei älter en Menschen mit zusätzlichen Erkrankungen wie<br />
Schlaganfall, Myokard<strong>in</strong>farkt, oder Krebs, und bei Personen im <strong>in</strong>tramuralen Bereich (Koenig<br />
et al. 1997, Burke et al . 2003, Bor<strong>in</strong> et al. 2001).Weiters leiden bis zu 50% der Patient/<strong>in</strong>nen<br />
mit Alzheimer oder Park<strong>in</strong>sonkrankheit an e<strong>in</strong>er depressiven Störung (Sharp et al. 2002). Die<br />
wahre Prävalenz von depressiven Störungen bei 85+Jährigen dürfte jedoch unterschätzt se<strong>in</strong>,<br />
da es hier<strong>für</strong> kaum epidemiologische Studien gibt. Hochbetagte Menschen mit Depression haben<br />
e<strong>in</strong> erhöhtes Risiko <strong>für</strong> Defi zite <strong>in</strong> den Aktivitäten des täglichen Lebens, sozialen Rückzug<br />
und kognitive Funktionsverluste. Die Gesamtsterblichkeit ist um 70% erhöht (Gallo et al. 1997).<br />
Depression ist e<strong>in</strong> bedeutender Risikofaktor <strong>für</strong> Suizid bei älteren Menschen. In e<strong>in</strong>er Untersuchung<br />
<strong>in</strong> den USA wurde festgestellt, dass weiße Männer im Alter von 85 Jahren oder älter die<br />
höchste Suizidrate (55 pro 100.000) haben (Hoyert et al. 1999).<br />
Die Altersdepression kann fast immer zu friedenstellend behandelt, die L ebens qualität und<br />
Funktionsfähigkeit verbessert, sowie frühzeitige Mortalität verh<strong>in</strong>dert werden (Sharp et al. 2002),<br />
deshalb ist e<strong>in</strong> Screen<strong>in</strong>g danach s<strong>in</strong>nvoll. Die U.S Preventive Services Task Force (USPSTF) empfi<br />
ehlt Screen<strong>in</strong>g bei Erwachsenen <strong>in</strong> kl<strong>in</strong>ischen Praxen, die über präzise Diagnosesysteme und<br />
eff ektive Behandlungsmöglichkeiten verfügen sowie e<strong>in</strong> „Follow-up“ anbieten können (USPSTF<br />
2002a). Die Wichtigkeit e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>tegrierten Systems, <strong>in</strong> dem Screen<strong>in</strong>g und „Follow-up“ komb<strong>in</strong>iert<br />
s<strong>in</strong>d, wurde auch vom Canadian Task Force on Preventive Health Care postuliert (MacMillan<br />
et al. 2005). Die Empfehlung der USPSTF bezieht sich nicht auf spezifi sche Altersgruppen. Die<br />
Registered Nurses Association of Ontario – Professional Association hat Screen<strong>in</strong>g Guidel<strong>in</strong>es<br />
entwickelt („Screen<strong>in</strong>g for delirium, dementia, and depression <strong>in</strong> older adults“). Diese Guidel<strong>in</strong>es<br />
basieren auf Evidenz bei den 65+jährigen Erwachsenen und be<strong>in</strong>halten auch Empfehlungen <strong>für</strong><br />
Pfl egepersonen (Registered Nurses Association of Ontario 2003). Im Dokument „Depression:<br />
Management of depression <strong>in</strong> primary and secondary care“ vom National Institute for Health<br />
and Cl<strong>in</strong>ical Excellence (NICE), UK, wird e<strong>in</strong> Screen<strong>in</strong>g nach Depression <strong>in</strong> der Allgeme<strong>in</strong>praxis<br />
und im Sett<strong>in</strong>g Krankenhaus bei Gruppen mit hohem Risiko empfohlen, z. B. bei Menschen mit<br />
e<strong>in</strong>er Depression <strong>in</strong> der Anamnese, bei Personen mit schweren Krankheiten, bei Menschen mit<br />
Beh<strong>in</strong>derungen, aber auch bei Personen mit anderen psychischen Problemen und Demenz (NICE<br />
2007). Beispiele <strong>für</strong> etablierte Screen<strong>in</strong>gtests nach Depressionen s<strong>in</strong>d die „Yesavage Geriatric<br />
Depression Scale“ (Sheikh et al. 1991) und die „Five Item Geriatric Depression Scale“ (R<strong>in</strong>aldi<br />
et al. 2003).<br />
338
14.4.5. Krebs<br />
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
Durch die steig ende Anzahl von älteren Mensc hen steigt auch die Kr ebsprävalenz, <strong>in</strong>sbesondere<br />
die Prävalenz von Brustkrebs, Magen-Darmkrebs und Lungenkrebs (Ramesh et al. 2005).<br />
Screen<strong>in</strong>g nach bösartigen Erkrankungen bei älteren und hochbetagten Personen wird häufi g<br />
kontrovers diskutiert (Walter et al. 2001, Walter et al. 2006). Studien zeigen die durchschnittliche<br />
Eff ektivität e<strong>in</strong>er Intervention <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Population und können ke<strong>in</strong>e Rücksicht auf <strong>in</strong>dividuelle<br />
Patienteneigenschaften nehmen, w ie Komorbidität und Allgeme<strong>in</strong>zustand der P atient/<strong>in</strong>nen.<br />
Diese Faktoren üben jedoch e<strong>in</strong>en signifi kanten E<strong>in</strong>fl uss auf die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit aus, ob durch<br />
Screen<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> Nutzen oder Schaden im Vordergrund steht. E<strong>in</strong>e wichtige Überlegung bei älteren<br />
Menschen ist, dass möglicherweise durch e<strong>in</strong> Screen<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e Krebserkrankung entdeckt wird die<br />
nie kl<strong>in</strong>isch manifest geworden wäre. Die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit da<strong>für</strong> steigt mit zunehmendem Alter.<br />
In e<strong>in</strong>er Untersuchung bei älteren Männern wurde beispielsweise festgestellt, dass bei 36% der<br />
über 85-Jährigen e<strong>in</strong> PSA Screen<strong>in</strong>g durchgeführt wurde, wobei weniger als 10% dieser Männer<br />
e<strong>in</strong>e noch verbleibende Lebenserwartung von mehr als 10 Jahre hatten (Walter et al. 2006).<br />
Das Alter, <strong>in</strong> dem Screen<strong>in</strong>g nach Krebs mit höheren Risiken als Nutzen verbunden ist, ist <strong>für</strong> die<br />
meisten Krebsarten unklar. In e<strong>in</strong>em Framework <strong>für</strong> <strong>in</strong>dividualisierte Entscheidungsfi ndung wurde<br />
vorgeschlagen, <strong>in</strong>dividuelle Faktoren, wie die geschätzte weitere Lebenserwartung und die ungefähre<br />
„Number needed to screen“ um e<strong>in</strong>en Krebsspezifi schen Tod zu verh<strong>in</strong>dern, <strong>in</strong> die Entscheidung<br />
Tabelle 3: Number needed to screen um e<strong>in</strong>en Krebs-spezifi schen Todesfall zu verh<strong>in</strong>dern,<br />
nach Alter<br />
Alter (Jahre)<br />
50 70 75 80 85 90<br />
Mammographie<br />
Untere Quartile <strong>in</strong> Lebenserwartung 95 142 176 240 417 1066<br />
Mittlere Quartilen <strong>in</strong> Lebenserwartung 133 242 330 533 2131 -<br />
Obere Quartile <strong>in</strong> Lebenserwartung<br />
Zervixabstrich<br />
226 642 1361 - - -<br />
Untere Quartile <strong>in</strong> Lebenserwartung 533 934 1177 1694 2946 7528<br />
Mittlere Quartilen <strong>in</strong> Lebenserwartung 728 1521 2113 3764 15056 -<br />
Obere Quartile <strong>in</strong> Lebenserwartung<br />
Occultes Blut im Stuhl (Frauen)<br />
1140 4070 8342 - - -<br />
Untere Quartile <strong>in</strong> Lebenserwartung 145 178 204 262 455 1163<br />
Mittlere Quartilen <strong>in</strong> Lebenserwartung 263 340 408 581 2326 -<br />
Obere Quartile <strong>in</strong> Lebenserwartung<br />
Occultes Blut im Stuhl (Männer)<br />
577 1046 1805 - - -<br />
Untere Quartile <strong>in</strong> Lebenserwartung 138 177 207 277 554 2008<br />
Mittlere Quartilen <strong>in</strong> Lebenserwartung 255 380 525 945 - -<br />
Obere Quartile <strong>in</strong> Lebenserwartung 630 1877 - - - -<br />
Quelle: nach Walter et al. 2001<br />
339
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
über die S<strong>in</strong>nhaftigkeit von Screen<strong>in</strong>gtests mite<strong>in</strong>zubeziehen. Für viele bösartige Erkrankungen<br />
ist die altersabhängige „Number needed to screen“ <strong>in</strong> Tabelle 3 dargestellt. Weites sollten Patient/<strong>in</strong>nen<br />
vor e<strong>in</strong>em möglichen Screen<strong>in</strong>g <strong>in</strong> die Entscheidung mite<strong>in</strong>bezogen werden. Diese<br />
Patient/<strong>in</strong>nen müssen über die möglichen Risiken durch das Screen<strong>in</strong>g und die Konsequenzen<br />
e<strong>in</strong>es möglicherweise positiven Screen<strong>in</strong>g-Resultates aufgeklärt werden (Walter et al. 2001).<br />
Die Empfehlungen der e<strong>in</strong>z elnen Fachgesellschaften bezüglich Screen<strong>in</strong>g s<strong>in</strong>d nicht immer<br />
e<strong>in</strong>heitlich. Beispielsweise wird e<strong>in</strong> Brustkrebsscreen<strong>in</strong>g mittels Mammo graphie rout<strong>in</strong>emäßig,<br />
alle e<strong>in</strong> bis zwei Jahre <strong>für</strong> jede Frau ab 40 Jahren ohne obere Altersgrenze von Amerikanischen<br />
Gesellschaften (American Cancer Society, American College of Radiolog y, American Medical<br />
Association, National Cancer Institute, American College of Obstetrics and Gynecology, USPSTF,<br />
und American Academy of Family Physicians) empfohlen (Fletcher 2007, USPSTF 2002b). Anderseits<br />
wurde vom Advisory Committee on Cancer Prevention <strong>in</strong> the European Union e<strong>in</strong> Mammografi<br />
escreen<strong>in</strong>g nur <strong>für</strong> Frauen zwischen 50 und 69 Jahren empfohlen (Advisory Committee on<br />
Cancer Prevention 2000). Da s organisierte Brustkrebsscreen<strong>in</strong>g <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> richtet sich an<br />
alle Frauen zwischen 50 und 69 Jahren.<br />
14.5. Altersspezifi sche Vorsorgeuntersuchung <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
Die kostenlose Vorsorgeuntersuchung <strong>für</strong> Erwachsene gibt es <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> seit 1974. Im Oktober<br />
2005 trat e<strong>in</strong>e neue überarbeitete Version der Vorsorgeuntersuchung <strong>in</strong> Kraft. Alle sozialversicherten<br />
<strong>Österreich</strong>er<strong>in</strong>nen u nd <strong>Österreich</strong>er haben ab dem 1 9. Lebensjahr das Recht, an der<br />
Vorsorgeuntersuchung teilzunehmen.<br />
Die neue Vorsorgeuntersuchung richtet sich an verschiedene Altersgruppen: 20-40-Jährige,<br />
40-60-Jährige, die Generation 60+ und an die Generation 75+. Dies gibt Gelegen heit, speziell<br />
auf die Bedürfnisse, den Lebensstil und die Früherkennung von Erkrankungen der Älteren und<br />
Hochbetagten im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung e<strong>in</strong>zugehen. Für die genannten Altersgruppen<br />
gibt es e<strong>in</strong>en eigenen Gesundheitspass vor allem <strong>für</strong> die Erläuterung der Untersuchungen und<br />
Dokumentation <strong>für</strong> die Patient<strong>in</strong>nen und Patienten. Außerdem be<strong>in</strong>halten die Gesundheitspässe<br />
der Generation 75+ Selbsttests, die von Patient/<strong>in</strong>nen vor der Vorsorgeuntersuchung durchgeführt<br />
werden und das Augenmerk auf bestimmte Erkrankungen oder Beschwerden lenken sollen.<br />
E<strong>in</strong> wichtiger Punkt bei der Vorsorgeuntersuchung ist nicht nur die Früherkennung von Risikofaktoren<br />
und Krankheiten, vielmehr auch die Beratungsfunktion von Ärzt/<strong>in</strong>nen im H<strong>in</strong>blick auf<br />
e<strong>in</strong>en gesunden Lebensstil. Auch bei der Vorsorgeuntersuchung <strong>in</strong> der Generation 75+ gehört<br />
Lebensstil zu den Kernthemen. Von besonderer Wichtigkeit ist auch e<strong>in</strong>e Erhebung der sozialen<br />
Situation und der sozi alen Gesundheit. Hier<strong>für</strong> gibt es im G esundheitspass 75+ e<strong>in</strong>en kurzen<br />
Fragebogen zur sozialen Unterstützung, damit im Bedarfsfall die notwendigen sozialen Hilfen<br />
organisiert werden können.<br />
340
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
E<strong>in</strong> weiterer wichtiger Schwerpunkt bei 75+ ist e<strong>in</strong> Ernährungsassessment, welches die Auswahl<br />
der Nahrungsmittel, die Früherkennung von Zahn- und Zahnfl eischerkrankungen, sowie das<br />
Erfassen von Schluckstörungen be<strong>in</strong>haltet. Neu ist auch das besondere E<strong>in</strong>gehen auf kognitive<br />
Defi zite, auf Stimmungsstörungen und auf Inkont<strong>in</strong>enz <strong>in</strong> der Generation 75+, mittels Selbsttest<br />
im Gesundheitspass.<br />
E<strong>in</strong>e besondere Stellung bei e<strong>in</strong>em Alter über 65 Jahren kommt der Vorsorgeuntersuchung <strong>in</strong> der<br />
Früherkennung von Hörm<strong>in</strong>derung / Hörverlust und <strong>in</strong> der Früherkennung e<strong>in</strong>er Sehschwäche<br />
zu. Dazu werden im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung ab dem 65. L ebensjahr e<strong>in</strong>ige Fragen<br />
gestellt, die e<strong>in</strong>e Sehschwäche bzw. das mögliche Vorliegen e<strong>in</strong>es Glaukoms (grüner Star) detektieren<br />
sollen. Wenn sich daraus der Verdacht e<strong>in</strong>er Augenerkrankung ergibt, wird der Patient<br />
/ die Patient<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er augenärztlichen Untersuchung weitergeleitet. Zur Früherkennung von<br />
Schwerhörigkeit führt die Ärzt<strong>in</strong> / der Arzt ab dem 65. Lebensjahr e<strong>in</strong>en Flüstertest durch.<br />
Weiters wird der Impfstatus im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung erhoben und auf die Wichtigkeit<br />
der jährlichen Grippeschutzimpfung und der Impfung gegen Pneumokokken ab dem 60.<br />
Lebensjahr h<strong>in</strong>gewiesen.<br />
Die Vorsorgeuntersuchung soll auch zur Verm<strong>in</strong>derung des Unfallrisikos beitragen. Zur Sturzprophylaxe<br />
erhalten Personen bei der Vorsorgeuntersuchung e<strong>in</strong>e Begleitbroschüre mit praktischen<br />
H<strong>in</strong>weisen, wie das Sturzrisiko herabgesetzt werden kann.<br />
Zur Vorbeugung von Herz- Kreislauferkrankungen und kardio- und zerebrovaskulären Events<br />
wird im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung bei al len Altersgruppen e<strong>in</strong> Ri sikoassessment<br />
durchgeführt, das e<strong>in</strong> generelles Screen<strong>in</strong>g nach Hypertonie, Diabetes mellitus und Hyper- und<br />
Dyslipidämien mite<strong>in</strong>schließt.<br />
Zur Früherkennung von Krebserkrankungen wurden <strong>in</strong> der Vorsorgeuntersuchung die Altersempfehlungen<br />
<strong>in</strong>ternationaler Fachgesellschaften e<strong>in</strong>gearbeitet. E<strong>in</strong> generelles Screen<strong>in</strong>g wird <strong>für</strong><br />
die meisten Krebserkrankungen ab e<strong>in</strong>em Alter von 70 Jahren nicht empfohlen. Ob bei älteren<br />
symptomlosen Menschen bei der Vorsorgeunter suchung e<strong>in</strong> Kreb sscreen<strong>in</strong>g durchgeführt<br />
werden soll oder nicht, muss <strong>in</strong>dividuell, geme<strong>in</strong>sam von Ärzt<strong>in</strong> / Arzt und Patient<strong>in</strong> / Patient<br />
entschieden werden (BMGF 2006 und BMGF 2007).<br />
E<strong>in</strong>e Auswertung des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger zeigte, dass im Jahr 2005<br />
<strong>in</strong>sgesamt etwa 900.000 Personen die Vorsorgeuntersuchung <strong>in</strong> Anspruch genommen hatten,<br />
davon 62.466 Personen im Alter ab 75 Jahren (22.157 Männer und 40.309 Frauen). Bezogen auf<br />
die Gesamtbevölkerung nahmen <strong>in</strong> diesem Jahr 11,3% der Männer u nd 15,5% der Fr auen die<br />
Vorsorgeuntersuchung <strong>in</strong> Anspruch, bei den 75+Jährigen waren es 10,5% der Männer und 9,5%<br />
der Frauen, siehe Tabelle 4.<br />
341
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
Tabelle 4: Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> im Jahr 2005, nach<br />
Altersgruppen und Geschlecht <strong>in</strong> Prozent der Zielgruppen<br />
Quelle: Hauptverband der Sozialversicherungsträger 2006<br />
Selbstberichtete Angaben zur Häufi gkeit der Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen<br />
zeigen e<strong>in</strong> etwas anderes Bild. In der Gesundheitsbefragung 2006/2007 gaben 47,8% der Männer<br />
und 47,7% der Frauen an, jemals e<strong>in</strong>e Vorsorgeuntersuchung <strong>in</strong> Anspruch genommen zu haben,<br />
davon 44,5% der Männer und 42,1% der Frauen <strong>in</strong>nerhalb des Jahres vor der Befragung. Bei den<br />
75+Jährigen gaben 55,3% der Männer und 44,8% der Frauen an, jemals e<strong>in</strong>e Vorsorgeuntersuchung<br />
gemacht zu haben, von diesen 45,1% der Männer und 37,6 % der Frauen <strong>in</strong>nerhalb des<br />
Jahres vor der Befragung (Statistik Austria 2007).<br />
14.6. Stellenwert des geriatrischen Assessments<br />
Unter e<strong>in</strong>em geriatrischen Assessment versteht man e<strong>in</strong>e standardisierte Untersuchung älterer<br />
Menschen mit dem Ziel, die mediz <strong>in</strong>ischen, psychologischen und sozialen Ressourcen und<br />
Probleme e<strong>in</strong>es geriatrischen Menschen zu erfassen und auf Basis dieser Dokumentation e<strong>in</strong><br />
umfassendes <strong>in</strong>dividuelles Behandlungs- und Rehabilitationskonzept zu entwickeln. Die Tools<br />
des geriatrischen Assessments können nicht nur als Screen<strong>in</strong>g bei hoch betagten Menschen<br />
e<strong>in</strong>gesetzt werden, sondern h aben e<strong>in</strong>e große Bedeut ung <strong>in</strong> der Verlaufsbeobachtung und<br />
Evaluierung von Maßnahmen. Das geriatrische Assessment ist e<strong>in</strong> multi- und <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärer<br />
Prozess, bei dem ärz tliche, pfl egerische, psychologische und therapeutische (Ergotherapie,<br />
Physiotherapie, Logopädie, Diätologie, u.a.) Berufsgruppen <strong>in</strong>volviert s<strong>in</strong>d.<br />
342<br />
Altersgruppe<br />
Untersuchungen <strong>in</strong>sgesamt<br />
M + F Männer Frauen M + F<br />
d a v o n<br />
Basisuntersuchungen<br />
Männer Frauen<br />
Gynäkologische<br />
Unters.<br />
Insgesamt 13,5 11,3 15,5 11,7 11,3 12 3,5<br />
18 - 24 9 6,3 11,7 7,7 6,3 9 2,7<br />
25 - 29 11,5 8 14,9 9,3 8 10,6 4,3<br />
30 - 34 12,3 9,6 15 10,4 9,6 11,2 3,8<br />
35 - 39 13,1 10,6 15,8 11,2 10,6 12 3,8<br />
40 - 44 14 11,7 16,4 12,2 11,7 12,7 3,7<br />
45 - 49 15 12,7 17,3 13 12,7 13,5 3,8<br />
50 - 54 15,9 13,5 18,3 13,9 13,5 14,4 3,9<br />
55 - 59 17,2 14,6 19,6 15 14,6 15,4 4,2<br />
60 - 64 17,1 14,9 19,2 15 14,9 15,1 4,1<br />
65 - 69 16,9 15,2 18,5 15 15,2 14,8 3,7<br />
70 - 74 14,9 13,5 16 13,2 13,5 12,8 3,2<br />
75 und älter 9,8 10,5 9,5 8,8 10,5 7,9 1,6
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
Beim geriatrischen Assessment werden mittels standardisierter Tests Funktionen des älteren<br />
Menschen h<strong>in</strong>sichtlich Selbständig keit und physischer, kognitiver, emotionaler, sozialer und<br />
häuslicher Situation beurteilt. Es gibt jedoch ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitlichen Vorgangs weisen, wie e<strong>in</strong> geriatrisches<br />
Assessment aufgebaut werden soll und welche Tests es be<strong>in</strong>halten soll. Es gibt Empfehlungen,<br />
sich beim geriatrischen Assess ment auf die folgenden Domänen zu konzentrieren:<br />
» Medikation<br />
» Mobilität<br />
» Kognitive Fähigkeiten<br />
» „Activities of daily liv<strong>in</strong>g“ (ADL)<br />
» Sozialer Support<br />
» „Advance directives“ (ev. Testament, Klärung des Vorgehens mit lebensverlängernden<br />
Maßnahmen, Sachwalter schaft,…)<br />
» Hörvermögen<br />
» Sehvermögen<br />
» Kont<strong>in</strong>enz<br />
» Ernährung<br />
» Depression (Ladden 2005)<br />
E<strong>in</strong> geriatrisches Assessment aus der Public Health Perspektive ist nicht nur e<strong>in</strong> Instrument<br />
zur Beurteilung von Patient/<strong>in</strong>nen im Pfl egebereich, sondern kann auch generell zur besseren<br />
Abschätzung und E<strong>in</strong>schätzung von Bedürfnissen hochbetagter Menschen dienen. Außerdem<br />
dient es als Weichenstellung <strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>er diesen Bedürfnissen angepassten Unterstützung<br />
und Betreuung, unabhängig vom Pfl egebereich.<br />
14.7. Bedeutung der Rehabilitation im Alter<br />
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) defi niert Rehabilitation als e<strong>in</strong>en Proz ess, um e<strong>in</strong><br />
optimales Funktionsniveau bei Personen mit Bee<strong>in</strong>trächtigungen zu erreichen und aufrecht zu<br />
erhalten. Ziel ist die Wiederherstellung körperlicher aber auch sozialer Selbständigkeit (World<br />
Health Organization 2001a). Diese Defi nition wurde von der WHO modifi ziert, <strong>in</strong>dem die International<br />
Classifi cation of Function<strong>in</strong>g, Disability and Health mite<strong>in</strong>bezogen wurde. In dieser<br />
neuen Term<strong>in</strong>ologie wird Rehabilitation als koord<strong>in</strong>ierter Prozess gesehen, <strong>in</strong> dem „Aktivität“<br />
und „Partizipation“ von Personen mit Bee<strong>in</strong>trächtigungen unterstützt und verstärkt werden<br />
(World Health Organization 2001b).<br />
Hochbetagte Menschen s<strong>in</strong>d oft multimorbide Personen, deren Un abhängigkeit durch unterschiedliche<br />
Krankheitsbilder bedroht ist. Das Ziel der Rehabilitation bei Hochbetagten ist nicht<br />
so sehr die Wiederherstellung e<strong>in</strong>es krankheitslosen Zustands (Restitutio ad <strong>in</strong>tegrum), sondern<br />
das Erreichen e<strong>in</strong>er größtmöglichen Unabhän gig keit und Selbstständigkeit, sowie das Erreichen<br />
343
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
von bestmöglichem subjektiven Wohlbefi nden (Restitutio ad optimum). Im Vordergrund stehen<br />
das Bemühen um Verbesserung oder Stabilisierung, sowie das Verh<strong>in</strong>dern e<strong>in</strong>er Verschlechterung.<br />
Wichtige Behandlungsspektren der Rehabilitation bei Hochbetagten s<strong>in</strong>d die Rehabilitation nach<br />
Schlaganfall, die Rekompensation von chronischen Herz- Kreislauferkrankungen, verschiedene<br />
rehabilitative Maßnahmen bei Krebserkrankungen sowie die Mobilisierung bei entzündlichen<br />
und degenerativen Gelenks erkrankungen und nach Gelenks operationen. E<strong>in</strong> wichtiges Beispiel<br />
<strong>für</strong> Rehabilitation ist auch die R ehabilitation nach e<strong>in</strong>er Hüftfraktur. Hier ist es das Ziel, die<br />
Selbstversorgungsfähigkeit wieder zu erlangen und zu erhalten und die Hilfsbedürftigkeit und<br />
Pfl egeabhängigkeit zu verm<strong>in</strong>dern, sowie die Prävention möglicher nachfolgender Erkrankungen.<br />
14.8. Inanspruchnahme mediz<strong>in</strong>ischer Leistungen durch Hochbetagte <strong>in</strong><br />
<strong>Österreich</strong><br />
14.8.1. Krankenhausaufenthalte<br />
E<strong>in</strong>e Auswertung der Krankenhausentlassungsstatistik aus dem Jahr 2003 zeigt, dass die Raten<br />
an Krankenhausaufenthalten mit der Altersgruppe etwa ab dem 50. Lebensjahr stark anstiegen.<br />
In der Altersgruppe der 85 bis 89-Jährigen waren 104.000 Krankenhausaufenthalte / 100.000<br />
E<strong>in</strong>wohner bei den Männern und 91.000 / 100.000 bei den Frauen dieser Altersgruppe zu verzeichnen<br />
und bei den 90+Jährigen waren es 105.000 / 100.000 bei den Männern und 87.000 /<br />
100.000 bei den Frauen. Generell waren Krankenhausaufenthalte bei Männern häufi ger als bei<br />
Frauen, ausgenommen <strong>in</strong> der Altersgruppe der 15 bis 45-Jährigen (siehe Abbildung 1).<br />
Im Jahr 2005 gab es <strong>in</strong> österreichischen Krankenhäusern über 900.000 Krankenhausfälle von<br />
Patient/<strong>in</strong>nen im Alter ab 65 Jahren. Von diesen waren 20% aufgrund von Krankheiten des Kreislaufsystems<br />
und 16% aufgrund von Neubildungen stationär im Krankenhaus (eigene Berechnungen<br />
nach: Statistik Austria 2007b). Wie aus dem österreichischen Diabetesbericht hervorgeht,<br />
s<strong>in</strong>d 30% aller Krankenhausfälle mit Diabetes <strong>in</strong> der Hauptdiagnose bei Personen im Alter von<br />
über 75 Jahren zu verzeichnen (Rieder et al. 2004). Gemäß Osteoporosebericht betrafen 34%<br />
aller männlichen Fälle von Osteoporose <strong>in</strong> den Hauptdiagnosen Männer ab dem 75. Lebensjahr,<br />
bei den Frauen ab 75 betrug der Anteil an den Gesamtzahlen sogar 53% (AMZ 2007).<br />
Die durchschnittliche Krankenhausaufenthaltsdauer betrug im Jahr 200 3 8,1 Tage bei den<br />
Männern und 8,5 Tage bei den Fr auen. Mit zunehmendem Alter stieg die du rchschnittliche<br />
Krankenhausaufenthaltsdauer an und erreichte 10,7 bzw. 12,6 Tage bei den 80 bis 84-Jährigen<br />
Männern und Frauen, 12,3 bzw. 15,5 Tage bei den 85 bis 89-Jährigen und 14,8 bzw. 22,2 Tage<br />
bei den 90+Jährigen Männern und Frauen, siehe Abbildung 2.<br />
344
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
Abbildung 1: Stationär behandelte Personen 2003 nach Altersgruppen und Geschlecht mit<br />
Wohnsitz <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>. Nach: Statistik Austria, 2005, Daten zur Verfügung gestellt von<br />
Statistik Austria<br />
Patienten auf 100.000 der entspr.<br />
Bevölkerung<br />
120000<br />
100000<br />
80000<br />
60000<br />
40000<br />
20000<br />
0<br />
Quelle: Statistik Austria 2005<br />
Altersgruppen <strong>in</strong> Jahren<br />
Abbildung 2: Durchschnittliche Krankenhausaufenthaltsdauer 2003 nach Altersgruppen und<br />
Geschlecht bei Patient<strong>in</strong>nen und Patienten mit Wohnsitz <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
Durchschnittliche Aufenthaltsdauer <strong>in</strong><br />
Jahren<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
Altersgruppen <strong>in</strong> Jahren<br />
Quelle: Statistik Austria 2005, Daten zur Verfügung gestellt von Statistik Austria<br />
Männer<br />
Frauen<br />
bis 4<br />
5 bis 9<br />
10 bis 14<br />
15 bis 19<br />
20 bis 24<br />
25 bis 29<br />
30 bis 34<br />
35 bis 39<br />
40 bis 44<br />
45 bis 49<br />
50 bis 54<br />
55 bis 59<br />
60 bis 64<br />
65 bis 69<br />
70 bis 74<br />
75 bis 79<br />
80 bis 84<br />
85 bis 89<br />
bis 4<br />
90 u. älter<br />
5 bis 9<br />
10 bis 14<br />
15 bis 19<br />
20 bis 24<br />
25 bis 29<br />
30 bis 34<br />
35 bis 39<br />
40 bis 44<br />
45 bis 49<br />
50 bis 54<br />
55 bis 59<br />
60 bis 64<br />
65 bis 69<br />
70 bis 74<br />
75 bis 79<br />
80 bis 84<br />
85 bis 89<br />
90 u. älter<br />
Männer<br />
Frauen<br />
345
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
Bei den Daten aus der Krankenhausentlassungsstatistik handelt es sich um ke<strong>in</strong>e personenbezogene,<br />
sondern um e<strong>in</strong>e fallbezogene Statistik. Das bedeutet, dass e<strong>in</strong>e Person, die im Verlauf<br />
e<strong>in</strong>es Kalenderjahres mehrmals e<strong>in</strong> Krankenhaus aufgesucht hat, auch mehrmals <strong>in</strong> der Statistik<br />
ersche<strong>in</strong>t. In der Gesu ndheitsbefragung 2006/07 gaben 15,3% der Männer u nd 19,1% der<br />
Frauen an, im Jahr vor der Befra gung m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal stationär behandelt worden zu se<strong>in</strong>.<br />
Mit steigendem Alter stieg auch die Häufi gkeit e<strong>in</strong>es Spitals aufenthaltes. In der Altersgruppe<br />
der 75+Jährigen gaben 35,7% der Männer u nd 32,5% der Fr auen an, m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal im<br />
Krankenhaus gewesen zu se<strong>in</strong> (Statistik Austria 2007).<br />
14.8.2. Selbstberichtete Häufi gkeit von Arztbesuchen<br />
In der Gesundheitsbefragung 2006/2007 gaben 75,6% der Männer und 81,8% der Frauen an,<br />
m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal im Jahr zum Arzt <strong>für</strong> Allgeme<strong>in</strong>mediz<strong>in</strong> zu gehen und 14,4% der Männer und<br />
16,8% der Frauen g<strong>in</strong>gen nach eigenen Angaben m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal jährlich zum Internisten /<br />
zur Internist<strong>in</strong>. Mit steigendem Alter wurde der Anteil der Bevölkerung mit m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>em<br />
Haus- oder Facharztbesuch pro Jahr höher und erreichte über 90% <strong>für</strong> Allgeme<strong>in</strong>mediz<strong>in</strong>er bei<br />
hochbetagten Männern und Frauen. Auch der Anteil von Personen mit mehreren Arzt- /Ärzt<strong>in</strong>nenbesuchen<br />
pro Jahr war bei den Hochbetagten besonders hoch, siehe Tabellen 5 und 6.<br />
Tabelle 5: Häufi gkeit der Besuche beim Arzt <strong>für</strong> Allgeme<strong>in</strong>mediz<strong>in</strong> nach Alter und Geschlecht<br />
Quelle: nach Statistik Austria 2007<br />
346<br />
Vor mehr als<br />
12 Monaten<br />
oder nie<br />
Viermal oder<br />
häufiger<br />
Alter<br />
(Jahre)<br />
M<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>mal E<strong>in</strong>mal Zweimal Dreimal<br />
In %<br />
60-75 13,2 86,8<br />
Männer<br />
70,7 19,8 4 5,4<br />
75+ 9,7 90,3 66,7 19 5,1 9,2<br />
Gesamt 24,4 75,6 74,6<br />
Frauen<br />
16,5 3,4 5,5<br />
60-75 9,7 90,3 74,7 15,4 4,4 5,4<br />
75+ 6,2 93,8 65,7 18,4 3,4 12,6<br />
Gesamt 18,2 81,8 73 16,4 3,7 6,7
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
Tabelle 6: Häufi gkeit der Besuche beim Internisten nach Alter und Geschlecht<br />
Vor mehr als<br />
12 Monaten<br />
oder nie<br />
Quelle: nach Statistik Austria 2007<br />
Viermal oder<br />
häufiger<br />
Alter<br />
(Jahre)<br />
M<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>mal E<strong>in</strong>mal Zweimal Dreimal<br />
In %<br />
60-75 71,4 28,6<br />
Männer<br />
77 17,2 - 5,8<br />
75+ 69,4 30,6 82,8 10,7 2 4,5<br />
Gesamt 85,6 14,4 75,7<br />
Frauen<br />
19,3 1,3 3,7<br />
60-75 72,5 27,5 80,3 18,1 1,6 -<br />
75+ 74,7 25,3 79,6 13,4 - 7,1<br />
Gesamt 83,2 16,8 77,4 17,7 1,1 3,8<br />
14.8.3. Selbstberichtete Arzt-, Krankenhaus- und Ambulatorienbesuche<br />
Die mit dem Alter steigende Häufi gkeit von Arzt-, Krankenhaus- und Ambulatorienbesuchen<br />
geht aus dem Wiener Gesundheits- und Sozialsurvey hervor. Hier berichteten bei den 75+Jährigen<br />
nur 23,1% der Männer und 15,5% der Frauen <strong>in</strong> den 3 Monaten vor der Befragung ke<strong>in</strong>e<br />
ärztliche Hilfe <strong>in</strong> Anspruc h genommen zu haben. 63,0% der Männer u nd 60,9% der Fr auen<br />
dieser Altersgruppe konsultierten nach eigenen Angaben <strong>in</strong> den vorangegangenen 3 Monaten<br />
ihren Hausarzt / ihre Hausärzt<strong>in</strong> und 10,5% der Männer und 12,6% der Frauen nahmen <strong>in</strong> dieser<br />
Zeit e<strong>in</strong>en ärztlichen Hausbesuch <strong>in</strong> Anspruch. 35,1% der 75+Jährigen Männer und 40,7% der<br />
75+Jährigen Frauen konsultierten <strong>in</strong> den drei Monaten vor der Befragung e<strong>in</strong>en Facharzt / e<strong>in</strong>e<br />
Fachärzt<strong>in</strong>, 4,5% der Männer und 4,8% der Frauen wurden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ambulanz behandelt und<br />
8,5% der Männer und 12,1% der Frauen dieser Altersgruppe gaben an, stationär im Krankenhaus<br />
behandelt worden zu se<strong>in</strong>, siehe Tabelle 7.<br />
347
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
348<br />
Tabelle 7: Konsultieren von Ärzt<strong>in</strong>nen / Ärzten aufgrund von Beschwerden nach Alter und<br />
Geschlecht<br />
Arzt / Ärzt<strong>in</strong><br />
Arztbesuch wegen Beschwerden <strong>in</strong> den vergangenen<br />
3 Monaten (%)<br />
Alter (Jahre)<br />
16-24<br />
Männer<br />
25-44 45-59 60-74 75+<br />
HausärztInnen 25,8 30 42,2 52,1 63<br />
Hausbesuch von ÄrztInnen 0,6 1,3 1,6 3,6 10,5<br />
FachärztInnen 8 17,6 28 36,9 35,1<br />
ZahnärztInnen 12,3 18,9 17,7 12,2 6,2<br />
BetriebsärztInnen 0 0,6 2,4 0,5 0<br />
NotärztInnen 0,4 0,5 0,8 0,9 0,6<br />
Ambulanz 3,3 5,1 6 7,1 4,5<br />
Ich war im Krankenhaus (nicht ambulant) 2,9 1,8 5,9 6,3 8,5<br />
Andere ÄrztInnen 1,6 1,2 2,2 2,7 0<br />
ne<strong>in</strong> 57,9<br />
Frauen<br />
49,7 38,6 23,3 23,1<br />
HausärztInnen 27,1 29,3 49,1 60,2 60,9<br />
Hausbesuch von ÄrztInnen 1 1 2,4 2,7 12,6<br />
FachärztInnen 16,6 26,8 39,5 44,4 40,7<br />
ZahnärztInnen 18,2 19,4 17,9 14 13,7<br />
BetriebsärztInnen 0 0,5 0,9 0 0<br />
NotärztInnen 1,4 0,2 0,9 0,5 2,1<br />
Ambulanz 5,8 3 6,6 6,1 4,8<br />
Ich war im Krankenhaus (nicht ambulant) 3,3 2,8 7 3,3 12,1<br />
Andere ÄrztInnen 0,2 2,5 1,9 3,2 2,2<br />
ne<strong>in</strong> 49,7 44,2 26,2 23,3 15,5<br />
Quelle: nach Stadt Wien 2001<br />
14.8.4. Selbstberichteter Medikamentenkonsum<br />
In der Gesundheitsbefragung 2006/07 berichteten 39,5% der Männer und 55,7% der Frauen,<br />
<strong>in</strong> den beiden Wochen vor der Befragung von e<strong>in</strong>em Arzt /e<strong>in</strong>er Ärzt<strong>in</strong> verordnete Medikamente<br />
e<strong>in</strong>genommen zu haben. Dieser Anteil stieg mit der Alters gruppe. Bei den 60-75-Jährigen<br />
nahmen 76,8% der Männer und 80,7% der Frauen Medikamente e<strong>in</strong> und bei den 75+Jährigen<br />
88,2% der Männer und 92,1% der Frauen (Statistik Austria 2007). Der Anteil der Hochbetagten,<br />
die Medikamente e<strong>in</strong>genommen hatten, stieg seit dem Mikrozensus 1999, bei dem lediglich<br />
79,2% der 85+Jährigen Männer und 77,9% der Frauen angaben, <strong>in</strong> den letzten vier Wochen vor<br />
Befragung e<strong>in</strong> Medikament genommen zu haben (Statistik Austria 2002).<br />
Am häufi gsten wurden bei den 75+Jährigen Medikamente gegen hohen Blutdruck genommen<br />
(54,4% der Männer und 60,0% der Frauen). Medikamente gegen andere Herzkrankheiten wur-
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
den von 40,0% der hochbetagten Männer und 32,5% der Frauen e<strong>in</strong>genommen. Medikamente<br />
gegen hohen Cholester<strong>in</strong>spiegel wurden von 17,8% der Männer und 15,5% der Frauen und gegen<br />
Diabetes von 24,8% der Männer und 20,3% der Frauen e<strong>in</strong>genommen. 24,8% der Männer und<br />
44,9% der 75+Jährigen Frauen nahmen Medikamente gegen Gelenksschmerzen e<strong>in</strong>, 5,6% der<br />
Männer und 13,3% der Frauen gegen Kopfschmerzen oder Migräne und 27,9% der Männer und<br />
33,4% der Frauen gegen andere Schmerzen. „Schlaftabletten“ wurden von 16,2% der hochbetagten<br />
Männer und 25,9% der Frauen konsumiert und Medikamente gegen Depression von 9,2%<br />
der Männer und 9,7% der Frauen. 16,0% der 75+Jährigen Männer und 12,8% der Frauen dieser<br />
Altersgruppe wurden mit Medikamenten gegen Verdauungsbeschwerden behandelt (Statistik<br />
Austria 2007).<br />
14.8.5. Selbstberichtete Verwendung von Hilfsmitteln<br />
Mit steigendem Alter nahm die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit zu, Hilfsmittel zu benützen, um das Alltagsleben<br />
zu bewältigen. So gaben bei den 75+Jährigen im Wiener Gesundheits- und Sozial-survey<br />
84,0% der Männer und 94,7% der Frauen an, Brillen oder Kontaktl<strong>in</strong>sen zu benützen, 17,2%<br />
der Männer und 9,9% der Frauen dieser Altersgruppe benutzten e<strong>in</strong>e Hörhilfe und 27,3% der<br />
Männer und 33,6% der Frauen Gehhilfen wie Stöcke oder Krücken (Stadt Wien 2001).<br />
14.9. Zusammenfassung und Ausblick<br />
In diesem Kapitel wurden gesundheitsfördernde und präventivmediz<strong>in</strong>ische Empfehlungen<br />
<strong>für</strong> Hochbetagte, der Lebensstil von Hochbetagten <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> sowie die Inanspruchnahme<br />
mediz<strong>in</strong>ischer Leistun gen durch Hochbetagte <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> dargestellt. Die Präventivmediz<strong>in</strong> im<br />
klassischen S<strong>in</strong>n hat die Verh<strong>in</strong>derung von Erkrankungen, und bei Hochbetagten ganz besonders<br />
die Verh<strong>in</strong>derung von „Frailty“, die Verh<strong>in</strong>derung sozialer Abhängigkeit und die Vermeidung von<br />
E<strong>in</strong>bußen der Lebens qualität zum Ziel. Von ganz besonderer Bedeutung <strong>in</strong> der Prävention bei<br />
Hochbetagten s<strong>in</strong>d neben unspezifi schen Maßnahmen wie altersgerechter Ernährung, körperlicher<br />
Bewegung, Erreichung / Aufrechterhaltung e<strong>in</strong>er vorteilhaften Körperzusammensetzung<br />
und Nichtrauchen auch spez ifi sche präventivmediz<strong>in</strong>ische Maßnahmen wie Impfungen und<br />
Maßnahmen zur Sturzprävention. Mit zunehmendem Alter steigt auch der Stellenwert e<strong>in</strong>er Gesundheitsförderung<br />
mit dem Ziel der Aufrechterhaltung bzw. Verbesserung der Lebensqualität,<br />
der Unabhängigkeit und der Ressourcen zur Bewältigung der Aktivitäten des täglichen Lebens.<br />
Die spärlich vorhandenen österreichischen Daten bezüglich Lebensstil bei Hochbetagten zeigen,<br />
dass es Defi zite <strong>in</strong> der Ernährung gibt (Unter- bzw. Mangelernährung), aber auch, dass Adipositas<br />
auch bei Hochbetagten e<strong>in</strong>e immer größer werdende Rolle spielt. Weiters gibt es Defi zite<br />
bezüglich regelmäßiger körperlicher Aktivität. Zur Optimierung der körperlichen, psychischen<br />
und sozialen Gesundheit bei Hochbetagten wären <strong>in</strong>tramurale oder auch ambulante Institutionen,<br />
<strong>in</strong> denen bei spielsweise Kraft- und Gleichgewichtstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g <strong>für</strong> Hochbetagte angeboten<br />
werden, anzudenken.<br />
349
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
Der niedrige Anteil an Hoch betagten mit aufrechtem Impfschutz gegen Infl uenza oder Pneumokokken<br />
ist besonderes hervorzuheben. Im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er spezifi schen Primärprävention um<br />
Krankheit, Hospitalisierung und vorzeitige Todesfälle zu verh<strong>in</strong>dern, ist dieser Anteil unbed<strong>in</strong>gt<br />
zu erhöhen.<br />
In der sekundären Prävention bei Hochbetagten spielt die Fahndung nach Konditionen, die die<br />
Lebensqualität bee<strong>in</strong>trächtigen, wie Hörverlust, visuelles Defi zit, kognitives Defi zit sowie e<strong>in</strong><br />
Risikoassessment <strong>für</strong> Stürze, oder die Erhebung des Vorhandense<strong>in</strong>s sozialer Hilfen e<strong>in</strong>e wichtige<br />
Rolle. Die altersspezifi sche neue Vorsorgeuntersuchung <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> trägt diesen speziellen<br />
Bedürfnissen Rechnung. E<strong>in</strong>e Evaluierung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Jahren, wie diese speziellen Maßnahmen<br />
umgesetzt bzw. bei den <strong>Hochaltrige</strong>n angenommen werden, wäre wünschenswert.<br />
Bei Hochbetagten ist e<strong>in</strong> gesunder Lebensstil oft nicht nur Ausdruck des Willens der betroff enen<br />
Person selbst, sondern bei u nselbstständigen oder <strong>in</strong>stitutionalisierten Hochbetagten auch<br />
abhängig von der soz ialen Unterstützung und den Möglichkeiten im Rahmen der Betreuung.<br />
So zeigte sich bei männlichen Hochbetagten e<strong>in</strong> signifi kanter Unterschied <strong>in</strong> der Aufnahme der<br />
wichtigen Nährstoff e Kalzium und Vitam<strong>in</strong> D zwischen hochbetagten Männern, die im Pri vathaushalt<br />
lebten und jenen, die <strong>in</strong> Pensionisten- bzw. Pfl egeheimen lebten, während es bei den<br />
weiblichen Hochbetagten diese Unterschiede nicht gab. Bei <strong>in</strong>stitutionalisierten Hochbetagten<br />
hätte man jedoch viele Möglichkeiten aktiv e<strong>in</strong>zugreifen, sodass sie zum<strong>in</strong>dest nicht schlechter<br />
versorgt se<strong>in</strong> sollten, als Hochbetagte im extramuralen Bereich.<br />
Wie bei jü ngeren Altersgruppen gibt es auch bei Hoch betagten geschlechtsspezifi sche Unterschiede<br />
im Lebensstil. Aus den Auswertungen der Gesundheitsbefragung 2006/2007 geht<br />
hervor, dass sich 75+jährige Männer im Vergleich zu den Frauen dieser Altersgruppe wesentlich<br />
mehr bewegen und e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>gere Prävalenz von Adipositas aufweisen. Im Gegensatz zu jüngeren<br />
Altersgruppen, <strong>in</strong> denen Frauen tendenziell e<strong>in</strong>en gesundheitlich günstigeren Lebensstil<br />
aufweisen, verhalten sich hochbetagte Männer im Vergleich zu Frauen gesünder. Hier dürfte e<strong>in</strong><br />
Survivereff ekt zu tragen kommen, <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>n, dass Männer mit ungünstigerem Gesundheitsverhalten<br />
auch e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>gere Lebenserwartung haben.<br />
Es gibt auch geschlechtsspezifi sche Unterschiede bezüglich Inanspruchnahme mediz<strong>in</strong>ischer<br />
Leistungen. Hochbetagte Männer s<strong>in</strong>d häufi ger gegen Infl uenza und Tetanus geimpft. Laut eigenen<br />
Angaben nehmen hochbetagte Männer öfter e<strong>in</strong>e Vorsorgeuntersuchung <strong>in</strong> Anspruch als<br />
Frauen. Da<strong>für</strong> nehmen 75+Jährige Männer seltener är ztliche Konsultationen <strong>in</strong> Anspruch. Die<br />
durchschnittliche Krankenhausaufenthaltsdauer ist mit 10,7 vs. 12,6 Tagen bei den 80-84-Jährigen,<br />
mit 12,3 vs. 15,5 Tagen bei den 85-89-Jährigen und mit 14,8 vs. 22,2 Tagen bei den 90+Jährigen<br />
Frauen deutlich länger als bei Männern dieser Altersgruppen.<br />
Viele der darg estellten Daten zu Lebensstilfaktoren von Hochbetagten spiegeln Momentaufnahmen<br />
wider, <strong>in</strong>teressant wäre e<strong>in</strong> Blick <strong>in</strong> die Zukunft des Gesundheitszustands von Hochbetagten,<br />
wobei es natürlich grundsätzlich schwierig ist, Zukunftsprognosen abzugeben. Es<br />
350
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
ist unklar, wie der Gesundheitszustand und die Komorbidität beschaff en se<strong>in</strong> werden, und die<br />
Auswirkungen von derzeitigen Trends wie Diabetes- und Adipositasentwicklung und Trends im<br />
Zigarettenkonsum <strong>in</strong> der Bevölkerung ihren E<strong>in</strong>fl uss üben werden.<br />
Um Public Health Entscheidungen im Spannungsfeld zwischen Mediz<strong>in</strong>, Ethik und Politik zu<br />
fällen, bieten sich Gesundheitsziele als Leitsystem an. Solche Gesundheitsziele sollten auch<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em breiten Konsens <strong>für</strong> Hochbetagte defi niert werden. Gesundheitsziele helfen den Ressourcene<strong>in</strong>satz,<br />
der l angfristig e<strong>in</strong>e Verbesserung der Gesu ndheit der Bev ölkerung bewirken<br />
soll, sowohl mediz<strong>in</strong>isch als auch wirtschaftlich s<strong>in</strong>nvoll e<strong>in</strong>zusetzen und zu planen, <strong>in</strong>dem<br />
sie e<strong>in</strong>en Bogen spannen, von der optimalen Versorgung der Bevölkerung zu jener des e<strong>in</strong>zelnen<br />
Menschen. Die E<strong>in</strong>igu ng auf Gesundheitsziele ermöglicht e<strong>in</strong> effi zienteres Vorgehen<br />
<strong>in</strong> der Gesundheitspolitik <strong>für</strong> die Vorsorge-Versorgung der Bevölkerung und <strong>in</strong>sgesamt <strong>für</strong> die<br />
Gesundheitsversorgung der Bevölkerung.<br />
E<strong>in</strong> wichtiger Aspekt zur Erreichung und Umsetzung von Gesundheitszielen ist e<strong>in</strong>e adäquate<br />
Prävention und Gesundheitsförderung. In <strong>Österreich</strong> hat Gesundheitsförderung und Prävention<br />
besonders bei Hochbetagten nach wie vor nicht den Stellenwert, den es bedarf, um e<strong>in</strong>en<br />
aktiven Part <strong>in</strong> der Gesundheitsversorgung spielen zu können. Jedoch ist e<strong>in</strong>e konzertierte und<br />
abgestimmte Vorgehensweise unabd<strong>in</strong>gbar, besonders im H<strong>in</strong>blick auf die Herausforderungen,<br />
vor denen unser Gesundheitssystem steht.<br />
Allem gesundheitsförderlichen und präventiven Bestreben liegt das Bedürfnis zu Grunde, die<br />
Lebensqualität so lange wie möglich zu erhalten und e<strong>in</strong> gesundes Älterwerden zu ermöglichen.<br />
Das sogenannte „active age<strong>in</strong>g“ beg<strong>in</strong>nt nicht erst bei Hochbetagten, die Grundste<strong>in</strong>e da<strong>für</strong> werden<br />
bereits <strong>in</strong> der K<strong>in</strong>dheit und Jugend gelegt, müssen dann aber bis <strong>in</strong>s hohe Alter fortgesetzt<br />
werden. In diesem S<strong>in</strong>ne ist auch die Integrierte Versorgung zu verstehen, die e<strong>in</strong> fl exibles und<br />
umfassendes Konzept darstellt, von der Prävention bis zur Palliativversorgung alle relevanten<br />
Akteure, sei es Patient/<strong>in</strong>nen, Angehörige, Ärzt/<strong>in</strong>nen, Krankenhaus oder mobiles Pfl egeteam,<br />
aufe<strong>in</strong>ander und auf die optimale und eff ektive Versorgung von Hochbetagten abzustimmen.<br />
Wir danken Kitty Lawrence, BEng, MPH, Dr. Elisabeth Weichselbaum und Mag. Viktoria Ste<strong>in</strong> <strong>für</strong><br />
die Durchsicht und die Anmerkungen zu diesem Kapitel.<br />
351
GESUNDHEITSFÖRDERUNG, PRÄVENTION UND GESUNDHEITSVERSORGUNG BEI HOCHBETAGTEN<br />
E<strong>in</strong>ige Begriff serläuterungen:<br />
<strong>in</strong>traabdom<strong>in</strong>elles Fettgewebe = Fettgewebe im u nd um den Bauch, das mit e<strong>in</strong>em erhöhten<br />
Risiko <strong>für</strong> Herz- Kreislauferkrankungen verbunden ist.<br />
Dekubitalulzera = Druckgeschwüre, „Wundliegegeschwüre“<br />
COPD = C hronisch Obstruktive Lungenerkrankung (chronic obstructive pulmonary disease).<br />
Sammelbegriff <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Gru ppe von Krankheiten, die du rch Husten, vermehrten Auswurf und<br />
Atemnot bei Belastung gekennzeichnet s<strong>in</strong>d, wie zum Beispiel chronische Bronchitis und Lungenemphysem.<br />
Exacerbation e<strong>in</strong>er Erkrankung = Verschlimmerung e<strong>in</strong>er Erkrankung, zum Beispiel e<strong>in</strong>er COPD<br />
im Rahmen e<strong>in</strong>es Infektes.<br />
Tetanus-Diphtherie-Pertussis-Impfung = Dreif achimpfung gegen die Krank heiten Wundstarrkrampf<br />
(Tetanus), Diphtherie und Keuchhusten (Pertussis)<br />
Thromboembolien = Die Thrombose ist e<strong>in</strong>e Gefäßerkrankung, bei der s ich e<strong>in</strong> Blutger<strong>in</strong>nsel<br />
(Thrombus) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gefäß bildet. Dieses Blutger<strong>in</strong>nsel kann sich lösen und mit dem Blut verschleppt<br />
werden (Embolie) und zu e<strong>in</strong>em Verschluss e<strong>in</strong>es Blutgefäßes führen (Thromboembolie).<br />
antihypertensive Therapie = blutdrucksenkende Behandlung<br />
Komorbidität = Krankheiten, die zusätzlich zu e<strong>in</strong>er Grundkrankheit vorliegen.<br />
Hyper- und Dyslipidämien = Fettstoff wech selstörungen, die mit erhöhten Cholester<strong>in</strong>- und / oder<br />
Triglyzeridwerten verbunden s<strong>in</strong>d (= Hyperlipidämie) oder aus e<strong>in</strong>er unvorteilhaften Zusammensetzung<br />
der Blutfette (Lipide) bestehen (= Dyslipidämie), zum Beispiel erhöhtes LDL-Cholester<strong>in</strong><br />
(schlechtes Cholester<strong>in</strong>) und niedriges HDL-Cholester<strong>in</strong> (gutes Cholester<strong>in</strong>).<br />
352
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362
15. PFLEGE UND BETREUUNG<br />
JOSEF HÖRL<br />
15.1. E<strong>in</strong>leitung<br />
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
Unter <strong>in</strong>formeller Betreuung wird die grundsätzlich unbezahlte, d. h. nicht auf Erwerb ausgerichtete<br />
und nicht auf e<strong>in</strong>er vertraglichen Basis geleistete dauernde Hilfe und Pfl ege durch Menschen<br />
verstanden, die <strong>für</strong> diese Tätigkeiten ke<strong>in</strong> Ausbildungszertifi kat erworben haben. 1 Über<br />
den Anteil der <strong>in</strong>formell betreuten Personen unter allen pfl egebedürftigen alten Menschen gibt<br />
es nur Schätzungen, die bei rund 80% liegen (Badelt et al. 1997: 105, Wiedenhofer 1999: 744f).<br />
Die Ermittlung e<strong>in</strong>er zuverlässigen Prozentangabe scheitert schon daran, dass die statistischen<br />
Erhebungen <strong>in</strong> den österreichischen Bundesländern sowohl <strong>in</strong> Bezug auf die ambulante als auch<br />
auf die stationäre Betreuung une<strong>in</strong>heitlich durchgeführt werden und überdies Lücken aufweisen<br />
(BMSK 2007: 1, 29f); außerdem existieren ke<strong>in</strong>e repräsentativen Untersuchungen über den Umfang<br />
der Überschneidungen (Doppelbetreuungen) zwischen formeller und <strong>in</strong>formeller Betreuung.<br />
Ke<strong>in</strong> Zweifel kann daran bestehen, dass unter den Betreuer<strong>in</strong>nen und Betreuern die nahen Familienangehörigen<br />
überwiegen. Ebenso besteht weitgehende Übere<strong>in</strong>stimmung darüber, dass das<br />
System der sozialen Sicherung darauf angewiesen ist, dass die Familien (allenfalls unterstützt<br />
durch andere Primärgruppen oder Freiwilligenorganisationen) Aufgaben der Altenpfl ege übernehmen.<br />
Der Wert bzw. die privaten Kosten der <strong>in</strong>formell erbrachten Betreuungsarbeit <strong>für</strong> ältere<br />
Menschen werden auf 2 bis 3 Milliarden Euro pro Jahr veranschlagt (Schneider et al. 2006: 13).<br />
Abgesehen von allen humanitären Erwägungen wäre e<strong>in</strong>e vollständige Übernahme der derzeit<br />
<strong>in</strong>formell geleisteten Betreuung durch professionelle Dienste auf Erwerbsbasis weder mit den<br />
derzeitigen Budgetmitteln noch mit dem vorhandenen Personal zu realisieren. 2<br />
1 Die ausgedehnte Diskussion zur defi nitorischen Abgrenzung von „Hilfe“, „Pfl ege“, „Betreuung“, „Untertützung“ kann<br />
hier nicht wiedergegeben werden (siehe Bartholomeyczik 2002). In den <strong>für</strong> diesen Überblick herangezogenen Umfragen<br />
werden ke<strong>in</strong>e mediz<strong>in</strong>ischen Diagnosen wiedergegeben und es wird off en gelassen, ob bei Verwendung des Begriff s<br />
„Pfl ege“ von „Grundpfl ege“ oder von „Behandlungspfl ege“ die Rede ist. In der Alltagspraxis dürften viele betreuende<br />
Angehörige mediz<strong>in</strong>ische Pfl egehandlungen ausführen, beispielsweise kathetern oder Nahrung über die Magensonde<br />
e<strong>in</strong>führen (Hua<strong>in</strong>igg 2007: 37). Aus pragmatischen Gründen wird <strong>in</strong> diesem Beitrag vorzugsweise von „Betreuung“ ge-<br />
sprochen; dieser zugegebenermaßen unscharfe Überbegriff umfasst Hilfen zur Alltagsbewältigung ebenso wie bestimmte<br />
pfl egerische Leistungen <strong>in</strong> den verschiedensten Qualitäts- und Intensitätsstufen.<br />
2 Zum Vergleich: nach den Berechnungen von Schneider et al. (2006: 9ff ) beläuft sich (2003/04) der Gesamtaufwand <strong>für</strong><br />
die stationäre Altenpfl ege auf 1,32 Milliarden Euro (wovon 36% von den Bewohnern über Pfl egegeld, E<strong>in</strong>kommen und<br />
Vermögenswerte selbst aufgebracht werden) und <strong>für</strong> die mobile Betreuung auf 400 Millionen Euro (davon 27% Eigenleistungen<br />
der Betreuten). Die Zahl des Personals <strong>in</strong> Alten- und Pfl egeheimen wird (zum Stichtag 31.12.2003) mit rund<br />
19.000 Personen, jene des mobilen Personals mit rund 14.000 Personen angegeben, bei e<strong>in</strong>em durchschnittlichen<br />
Beschäftigungsgrad (auf Basis e<strong>in</strong>er 40-Stunden-Woche) von 85% bzw. 63% (BMSK 2007: 14).<br />
363
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
15.2. Empirische Grundlagen<br />
Dieser Beitrag beschreibt, welche Charak teristika die <strong>in</strong>formellen Betreuungspersonen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
aufweisen und wie ihre Lebens- und Pfl egesituation beschaff en ist. Für diesen Überblick<br />
werden <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie fü nf empirische Untersuch ungen herangezogen, welche al lesamt auf<br />
repräsentativen Stichproben basieren.<br />
Das Programm des Mikrozensus 2002 „Haushaltsführung, K<strong>in</strong>derbetreuung, Pfl e ge“ umfasst<br />
unter anderem Fragen nach der Betreuung von Hilfe- und Pfl egebedürftigen. Die große, auf der<br />
Gesamtbevölkerung basierende Stichprobe des Mikrozensus erlaubt st atistisch zuverlässige<br />
Aussagen, doch werden ke<strong>in</strong>e detaillierten Daten zu den Lebensverhältnissen der Betreuenden<br />
und zu deren sozialen Beziehungen <strong>in</strong> der Pfl egesituation erhoben (Kytir & Schrittwieser 2003).<br />
Im Rahmen e<strong>in</strong>er Eurobarometer-Umfrage (2002) werden e<strong>in</strong>ige Verhaltens- und E<strong>in</strong>stellungsfragen<br />
zur Altenbetreuung und zur Rolle der Familie gestellt, allerd<strong>in</strong>gs bewegen sich die Items auf<br />
e<strong>in</strong>em sehr allgeme<strong>in</strong>en Niveau, das tiefer gehende Analysen nicht zulässt (Alber & Köhler 2004).<br />
Weiters liegen drei E<strong>in</strong>z elstudien vor, die s ich ausschließlich auf die Gru ndgesamtheit der<br />
Pfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen (von Bundespfl egegeld) und deren Betreuungspersonen beziehen.<br />
Die Umstände der Betreuungssituation aus der Sicht der „privaten Hauptpfl egeperson“ werden<br />
<strong>in</strong> der schriftlichen Befragung „Situation pfl egender Angehöriger“ (Pochobradsky et al. 2005)<br />
dokumentiert. In der ebenfalls schriftlich durchgeführten „Analyse der Auswirkungen des Pfl egevorsorgesystems“<br />
(Badelt et al . 1997) werden sowohl die Pfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen selbst<br />
als auch deren Ang ehörige befragt; diese ältere Untersuchu ng beschäftigt sich besonders<br />
ausführlich mit der fi nanziellen Situation <strong>in</strong> der f amilialen Langzeitbetreuung. Die Bez ieher/<br />
<strong>in</strong>nen von Pfl egegeld der Stufen 3 bis 7 und deren private Hauptpfl egepersonen bilden die Untersuchungspersonen<br />
der Studie „Qualitätssicherung <strong>in</strong> der häuslichen Betreuung“ (Nemeth<br />
& Pochobradsky 2004), die sich vor allem mit der Frage befasst, ob die Betreuung durch Angehörige,<br />
d. h. durch Laien, h<strong>in</strong>sichtlich der erzielten Pfl egequalität zufriedenstellend ist.<br />
Es ist darauf h<strong>in</strong>zuweisen, dass (ausgenommen die Eurobarometer-Umfrage) die genannten<br />
Studien lediglich auf die Tatsache e<strong>in</strong>er dauernden Betreuungsbedürftigkeit abstellen, d. h. sie<br />
legen ke<strong>in</strong> bestimmtes M<strong>in</strong>destalter <strong>für</strong> die betreuten Personen fest. In den Gesamtergebnissen<br />
spiegeln sich daher nicht ausschließlich jene Problemkonstellationen, die <strong>in</strong> der Betreuung von<br />
alten Menschen auftreten.<br />
Genaue Informationen über die Altersv erteilung der bet reuten Menschen fi nden sich nur <strong>in</strong><br />
zwei Studien. Bei Badelt et al. (1997: 252) besteht die Stichprobe zu 50% aus 81- und Mehrjährigen<br />
(24% s<strong>in</strong>d 71-80 Jahre alt, 10% s<strong>in</strong>d 61-70 Jahre alt und die restlichen 16% s<strong>in</strong>d bis zu 60<br />
Jahre alt); bei Nemeth & Pochobradsky (2004: Tab. 1) umfasst die Stichprobe zu 54% Personen<br />
im Alter von 80 und mehr Jahren (23% s<strong>in</strong>d 70-79 Jahre alt, 10% s <strong>in</strong>d 60-69 Jahre alt und die<br />
364
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
restlichen 13% s<strong>in</strong>d unter 60 Jahre alt). H<strong>in</strong>gegen werden im Mikrozensus (Kytir & Schrittwieser<br />
2003) ke<strong>in</strong>erlei Angaben zur Altersverteilung der Betreuten gemacht. Bei Pochobradsky et al.<br />
fehlen konkrete Altersangaben ebenfalls, die Autor/<strong>in</strong>nen stellen lediglich fest, dass „darauf<br />
geachtet (wurde), e<strong>in</strong>e möglichst gute Entsprechung der wesent lichen Strukturmerkmale der<br />
Grundgesamtheit [der Pfl egegeldbezieher] wie Geschlecht, Alter, Pfl egestufe, etc. <strong>in</strong> der Stichprobe<br />
zu erzielen.“ (2005: 8). 3<br />
Da <strong>in</strong> den zur Verfügung stehenden empirischen Untersuchungen Angaben zu bzw. Auswertungen<br />
nach dem Alter der Betreuten nicht oder nur teilweise zu fi nden s<strong>in</strong>d, ist e<strong>in</strong>e Herausarbeitung von<br />
Spezifi ka der Gruppe der <strong>in</strong>formell betreuten Menschen im Alter von 80 und mehr Jahren kaum<br />
möglich. Allerd<strong>in</strong>gs überwiegen diese hochaltrigen Hilfeempfänger/<strong>in</strong>nen zahlenmäßig e<strong>in</strong>deutig<br />
und prägen damit weitgehend das Gesamtbild der <strong>in</strong>formellen Pfl ege und Betreuung <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>.<br />
Die zur Verfügung stehenden Untersuchungen s<strong>in</strong>d querschnittlich angelegt, daher kann nichts<br />
über die <strong>in</strong>formelle Gesamtbetreuungsdauer ausgesagt werden. Andere wichtige Fragen, etwa<br />
zur Dynamik im Betreuungsverlauf (z. B. wechselnde Belastungsformen und Belastungsgefühle<br />
oder E<strong>in</strong>schränkungen der Berufsarbeit im Zeitablauf) müssen ebenfalls unbeantwortet bleiben.<br />
Solche Fragen könnten nur im Rahmen e<strong>in</strong>er Längsschnittstudie untersucht werden.<br />
15.3. Merkmale der Betreuungspersonen<br />
15.3.1. Anzahl<br />
Über die Gesamtzahl der <strong>in</strong>formell betreuenden Personen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> liefern die Ergebnisse<br />
des Mikrozensus 2002 nach wie vor die akt uellste Information. Die diesbez üglich gestellte<br />
Frage („Betreuen Sie derzeit Angehörige oder Bekannte mit länger andauernden gesundheitlichen<br />
Problemen, ohne dass Sie da<strong>für</strong> e<strong>in</strong> völlig entsprechendes Entgelt erhalten?“) wird von<br />
281.900 Frauen und 144.000 Männern ab 18 Jahren bejaht. Es erbr<strong>in</strong>gen somit 8,5% der Frauen<br />
und 4,7% der Männer Hilfe- und Pfl egeleistungen, zusammen 425.900 Personen bzw. 6,7% der<br />
erwachsenen Bevölkerung. 4 Unter ihnen s<strong>in</strong>d 38.900 Personen, die zwei und mehr Menschen<br />
3 Die Altersverteilung der <strong>in</strong>sgesamt rund 320.000 Bezieher/<strong>in</strong>nen von Bundespfl egegeld zum Stichtag 31.12.2005 ist wie<br />
folgt: 52% s<strong>in</strong>d im Alter von 81 Jahren oder darüber (35% der Männer, 60% der Frauen); weitere 36% s<strong>in</strong>d 61-80 Jahre<br />
alt (45% der Männer, 33% der Frauen); die restlichen 12% s<strong>in</strong>d 0-60 Jahre alt (20% der Männer, 8% der Frauen). H<strong>in</strong>zu<br />
kommen rund 54.000 Landespfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen, deren Durchschnittsalter etwas niedriger ist (BMSK 2007: 40f).<br />
4 Die Eurobarometer-Umfrage (2002) ermittelt <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> mit 20,8% e<strong>in</strong>en im Vergleich zum Mikrozensus weitaus<br />
höheren Anteil an Personen, welche angeben, Betreuungs- und Hilfeleistungen (<strong>für</strong> ältere Menschen ab 60 Jahren) zu<br />
erbr<strong>in</strong>gen (Alber & Köhler 2004: 60). Die Diskrepanz dürfte zu e<strong>in</strong>em guten Teil <strong>in</strong> der breiteren Fragestellung des Eurobarometers<br />
begründet se<strong>in</strong>, welche nicht nur auf gesundheitlich bed<strong>in</strong>gte Dienstleistungen abzielt.<br />
365
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
betreuen; mith<strong>in</strong> erbr<strong>in</strong>g t e<strong>in</strong>e von zehn Personen mehr als e<strong>in</strong>e Bet reuungsleistung, wobei<br />
unter den 50- bis 54-Jährigen der Anteil der Mehrfachbetreuenden mit 14% am höchsten ist. 5<br />
Die <strong>in</strong>formellen Betreuungspersonen betreuen <strong>in</strong>sgesamt 464.800 Menschen (Kytir & Schrittwieser<br />
2003: 44). Die Betreutenzahl liegt beträchtlich höher – um mehr als 100.000 Personen<br />
– als jene der amtlich regi strierten Pfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen zum selben Zeitpunkt, weil im<br />
Mikrozensus auch solche pri vate Betreuungsverhältnisse erfasst werden, wo entweder ke<strong>in</strong><br />
Antrag auf Pfl egegeld gestellt worden ist bzw. die Voraussetzungen <strong>für</strong> se<strong>in</strong>en Bezug (nämlich<br />
die Notwendigkeit von m<strong>in</strong>destens 50 Betreuungsstunden pro Monat) nicht vorliegen. 6<br />
15.3.2. Alter<br />
Von sämtlichen Betreuungspersonen steht weit mehr als die Hälfte ( 59%) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Alter zwischen<br />
40 und 64 Jahren, e<strong>in</strong> Siebentel ist 65 bis 74 Jahre alt und e<strong>in</strong> Zehntel ist 75 Jahre oder<br />
älter. Weniger als 40 Jahre alt ist e<strong>in</strong> Sechstel der Betreuungspersonen, <strong>in</strong> der nichtbetreuenden<br />
Gesamtbevölkerung befi nden sich h<strong>in</strong>gegen 2½ mal so viele Menschen <strong>in</strong> dieser Altersgruppe<br />
(Tabelle 1, Spalten 2 und 3). Informelle Pfl ege und Betreuung ist also primär e<strong>in</strong>e Aufgabe der<br />
mittleren und älteren Generationen.<br />
Dieser Umstand tritt auch deutlich zutage, wenn man betrachtet, wie hoch der Anteil der Betreuungspersonen<br />
<strong>in</strong> der j eweiligen Altersgruppe ist (Tabelle 1, Spalte 1). Dieser Anteil steigt<br />
mit zunehmendem Alter stetig an, bis er zwischen dem 45. und dem 79. Lebensjahr auf e<strong>in</strong>em<br />
Niveau rund um 10% verharrt. Das Maximum wird bei den 55- bi s 59-Jährigen erreicht. Dieser<br />
Kurvenverlauf <strong>in</strong> der Altersverteilung kommt off ensichtlich dadurch zustande, dass sich <strong>in</strong> den<br />
Lebensabschnitten ab etwa 45 Jahren vermehrt Menschen mit der Notwendigkeit konfrontiert<br />
sehen, die Bet reuung der eig enen, alt gewordenen Elt ern bzw. später des Ehepar tners der<br />
Ehepartner<strong>in</strong> zu übernehmen.<br />
Aber auch von den 80- und Mehrjährigen übt noch jede/r Zwanzigste e<strong>in</strong>e Betreuungs tätigkeit<br />
aus. Somit ist bei den <strong>Hochaltrige</strong>n der Anteil an Betreuungspersonen höher als bei den unter<br />
5 In der Pfl egegeldstudie von Pochobradsky et al. (2005: 22) wird mit 12% e<strong>in</strong> ähnlich hoher Anteil an Mehrfachbetreuun-<br />
366<br />
gen genannt, wobei die Autor/<strong>in</strong>nen annehmen, dass es sich <strong>in</strong> den meisten Fällen um die Betreuung der beiden Eltern-<br />
teile durch K<strong>in</strong>der handelt. Diese Vermutung dürfte auch <strong>für</strong> die Mehrfachbetreuungen <strong>in</strong> der Mikrozensus-Befragung<br />
zutreff en.<br />
6 Auf der anderen Seite wird vom Mikrozensus die Gesamtzahl an Betreuungsbedürftigen aus zwei Gründen unterschätzt.<br />
Erstens gibt es natürlich e<strong>in</strong>e Dunkelziff er von Menschen, die von niemandem betreut werden, obschon es notwendig<br />
wäre und zweitens bleiben jene Menschen unerfasst, die stationär oder ambulant ausschließlich durch professionelle<br />
Kräfte gepfl egt werden. Hier ist <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie an die meisten der schätzungsweise 67.700 Heimbewohner/<strong>in</strong>nen zu<br />
denken, wovon 53.000 pfl egebedürftig s<strong>in</strong>d (Schaff enberger & Pochobradsky 2004: 34).
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
40-Jährigen! Die Hilfe- bzw. Selbsthilfekapazität ist also selbst unter den ältesten Menschen<br />
bemerkenswert hoch, wobei s ich <strong>in</strong> dieser L ebensphase die Betreuung auf den/die Ehepartner/<strong>in</strong><br />
konzentriert (mehr als die Hälfte der Fälle), aber auch die außerfamiliale Betreuung (von<br />
Bekannten und Nachbar/<strong>in</strong>nen) an Bedeutung gew<strong>in</strong>nt (Kytir & Schrittwieser 2003: 108f).<br />
Die Erkenntnis, dass die mittleren und ält eren Generationen die Hauptverantwortung <strong>in</strong> der<br />
<strong>in</strong>formellen Pfl ege tragen, aber auch noch e<strong>in</strong> beträchtlicher Anteil der Menschen im höchsten<br />
Alter Betreuungsleistungen erbr<strong>in</strong>gt, wird durch die Daten der anderen Umfragen erhärtet. Nach<br />
Pochobradsky et al. (2005: Tab. 1) s<strong>in</strong>d knapp 15% der pfl egenden Angehörigen unter 45 Jahre<br />
alt, aber mehr als die Hälfte (53%) ist zwischen 45 und 64 Jahre alt; weitere 14% s<strong>in</strong>d 65 bis<br />
74 Jahre alt; immerh<strong>in</strong> jeweils 7% der Betreuenden stehen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Alter von 75 bis 79 Jahren<br />
bzw. von 80 Jahren oder mehr. 7 Das Durchschnittsalter beträgt 59 Jahre, wobei jenes der Frauen<br />
mit 58 Jahren niedriger ist als jenes der Männer mit 61 Jahren. Dieser Unterschied wird auf den<br />
Umstand zurückgeführt, „dass Männer primär erst dann <strong>für</strong> Betreuungsarbeiten zur Verfügung<br />
stehen, wenn sie (...) <strong>in</strong> die Pension e<strong>in</strong>treten.“ (Pochobradsky et al. 2005: 12). Die Untersuchung<br />
von Badelt et al. (1997: 109) ge langt <strong>in</strong> diesem Zusammenhang zu identischen Schlüssen. 8<br />
Altersgruppe<br />
Tabelle 1: Alter der Betreuungspersonen (BP) (<strong>in</strong> %)<br />
Anteil an BP <strong>in</strong> der<br />
jeweiligen Altersgruppe<br />
Quelle: Kytir & Schrittwieser 2003: 105; eigene Berechnungen.<br />
Altersverteilung der BP<br />
7 Die Tabellen <strong>in</strong> Pochobradsky et al. (2005) s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>schließlich der „ke<strong>in</strong>e-Angabe“-Kategorie ausgewiesen, so dass sich<br />
die hier und folgend zitierten Prozentwerte nicht immer auf 100% summieren.<br />
Altersverteilung der Nicht-<br />
BP <strong>in</strong> der Bevölkerung<br />
18-24 1,4 2,2 10,8<br />
25-29 2,6 3,1 8,5<br />
30-34 3 4,7 10,9<br />
35-39 4 6,7 11,4<br />
40-44 6,8 10,3 10<br />
45-49 9,1 11,6 8,2<br />
50-54 10,4 12,5 7,7<br />
55-59 11,8 12,3 6,6<br />
60-64 10,6 11,9 7,1<br />
65-69 9,6 7,5 5<br />
70-74 9,4 7,2 4,9<br />
75-79 10,6 7,1 4,3<br />
80-84 5 1,9 2,5<br />
85+ 4,1 1,2 1,9<br />
N = 425.900 100 100<br />
8 Die Altersverteilung ist bei Badelt et al. (1997: 271) gleichfalls sehr ähnlich: 14% der Betreuungspersonen s<strong>in</strong>d bis 40<br />
Jahre alt, 49% s<strong>in</strong>d 41-60 Jahre, 19% s<strong>in</strong>d 61-70 Jahre, 13% s<strong>in</strong>d 71-80 Jahre und 6% s<strong>in</strong>d über 80 Jahre alt.<br />
367
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
15.3.3. Geschlecht<br />
Erwartungsgemäß dom<strong>in</strong>ieren Frauen als Betreuungspersonen. Im Mikrozensus s<strong>in</strong>d von diesen<br />
genau zwei Drittel weiblich (Kytir & Schrittwieser 2003), <strong>in</strong> den Pfl egegeldstudien von Badelt<br />
et al. (1997) und Pochobradsky et al. (2005) lieg t der Fr auenanteil mit 80% bzw. 79% noch<br />
erheblich höher.<br />
Der überwiegend „weibliche“ Charakter der Pfl ege hängt fraglos mit den althergebrachten Rollenbildern<br />
zusammen und im Speziellen mit der Tatsache, dass im „kritischen Alter“ um 50 die<br />
meisten Männer noch erwerbstätig s<strong>in</strong>d; zu diesem Zeitpunkt stellt <strong>für</strong> sie die Vere<strong>in</strong>barung von<br />
Beruf und Pfl ege (<strong>für</strong> alte Angehörige) von vornhere<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e Option dar und würde im konkreten<br />
Berufsalltag wahrsche<strong>in</strong>lich als exotischer Wunsch gelten, der noch schwieriger als <strong>für</strong> Frauen<br />
realisierbar wäre.<br />
Die Dom<strong>in</strong>anz der Frauen ist jedoch nicht <strong>in</strong> allen Kategorien 9 von Betreuten gleichmäßig stark<br />
ausgeprägt (zu den folg enden Angaben vgl. Kytir & Schrittwieser 2003: 108f). So ist bei der<br />
Elternpfl ege e<strong>in</strong>e gewisse Tendenz zur gleichgeschlechtlichen Betreuung zu konstatieren: 64%<br />
der Mütter werden von ihren Töchtern gepfl egt, jedoch „nur“ 57% der Väter – umgekehrt werden<br />
immerh<strong>in</strong> 43% der Väter von den Söhnen gepfl egt, jedoch nur 36% der Mütter. E<strong>in</strong>e Domäne der<br />
Frauen ist die Schwiegerelternbetreuung, sowohl bei den Schwiegervätern (79%) als auch bei<br />
den Schwiegermüttern (78%). Dasselbe gilt noch stärker <strong>für</strong> hilfebedürftige Nicht-Verwandte,<br />
welche sogar zu 83% von Frauen betreut werden.<br />
Männer werden relativ häufi g dann aktiv, wenn ihre Partner<strong>in</strong> pfl egebedürftig wird: Ehe gatten<br />
(Lebensgefährt/<strong>in</strong>nen) werden immerh<strong>in</strong> zu 41% vom männlichen (und entsprechend zu 59%<br />
vom weiblichen) Teil gepfl egt. Dass Ehefrauen häufi ger ihre Männer pfl egen als umgekehrt, hat<br />
allerd<strong>in</strong>gs nicht nur Traditionsgründe, sondern ist auch re<strong>in</strong> demografi sch bed<strong>in</strong>gt: Da Frauen<br />
e<strong>in</strong>e höhere Lebenserwartung als ihre Partner haben und überdies im Durchschnitt e<strong>in</strong>ige Jahre<br />
jünger s<strong>in</strong>d, überleben sie jene normalerweise um e<strong>in</strong>ige Jahre. Die gegenwärtige Generation<br />
von Männern kann daher auch im hohen Alter damit rechnen, im Betreuungsfall von ihren Gatt<strong>in</strong>nen<br />
gepfl egt zu werden. Wenn h<strong>in</strong>gegen Frauen heute betreuungsbedürftig werden, s<strong>in</strong>d sie<br />
<strong>in</strong> vielen Fällen bereits verwitwet.<br />
9 Bei der Interpretation der nachfolgenden Daten ist zu beachten, dass die meisten Menschen mehrere Positionen im<br />
368<br />
Verwandtschaftsgefüge e<strong>in</strong>nehmen (z. B. kann e<strong>in</strong>e Frau gleichzeitig Gatt<strong>in</strong>, Mutter, Schwester se<strong>in</strong>), und daher kann<br />
selbstverständlich auch die Betreuung <strong>in</strong> unterschiedlichen Konstellationen erfolgen (siehe auch Tabelle 3).
15.3.4. Erwerbs-, Bildungs- und Berufsstatus<br />
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
Betreuung und Beruf s<strong>in</strong>d schwierig zu vere<strong>in</strong>baren. Nach den Mikroz ensusdaten (Kytir &<br />
Schrittwieser 2003: 105) s<strong>in</strong>d 43% aller Betreuungspersonen erwerbstätig, 2% s<strong>in</strong>d arbeitslos<br />
und 55% s<strong>in</strong>d nicht oder nicht mehr erwerbstätig. 10 Der Anteil der Erwerbstätigen <strong>in</strong> der (nichtbetreuenden)<br />
öster reichischen Gesamtbevölkerung über 18 Jahren beträgt vergleichsweise<br />
60%, während 38% nichterwerbstätig und 2% arbeitslos s<strong>in</strong>d.<br />
Unter den Personen, die dauernde Betreuungsaufgaben wahrnehmen, ist somit der Anteil an<br />
Berufstätigen um 17 Prozentpunkte niedriger als unter jenen Personen, die niemanden betreuen.<br />
Die Betreuenden von Pfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d noch seltener er werbstätig, und zwar<br />
nach Pochobradsky et al. (2005: Tab. 16) zu 29% (17% voll- und 12% teilzeitbeschäftigt), d. h.<br />
mehr als zwei Drittel (68%) s<strong>in</strong>d nicht erwerbstätig. Die Erhebung von Nemeth & Pochobradsky<br />
(2004: Tab. 24) ergibt fast identische Zahlen: 31% s<strong>in</strong>d erwerbstätig (und zwar 17% voll- und<br />
14% teilzeitbeschäftigt) und 69% s<strong>in</strong>d nicht erwerbstätig.<br />
Die gleiche Fragestellung bei Badelt et al. (1997: 275) hatte vor rund zehn Jahren noch e<strong>in</strong>en<br />
niedrigeren Anteil von bloß 23% Erwerbstätigen gegenüber 77% Nichterwerbstätigen erbracht,<br />
so dass unter den Betreuenden e<strong>in</strong> doch bemerkenswerter Anstieg der Erwerbstätigenquote<br />
zu verzeichnen ist.<br />
Wie nicht anders zu erwarten, hängt die Möglichkeit, Betreuung und Erwerbstätigkeit zu vere<strong>in</strong>baren,<br />
zuvorderst vom gesundheitlichen Zustand der zu betreuenden Person ab. Während<br />
<strong>in</strong> den unteren Pfl egegeldstufen (1 bis 3) 32% der Bet reuungs personen erwerbstätig s<strong>in</strong>d, ist<br />
dies <strong>in</strong> den oberen Pfl egestufen (4 bis 7) nur bei 26% der Betreuungspersonen der Fall (Pochobradsky<br />
et al. 2005: 19).<br />
Bei der Frage, wie viele Personen wegen der Pfl ege ihre Berufstätigkeit aufgegeben oder e<strong>in</strong>geschränkt<br />
haben, gehen die Angaben ause<strong>in</strong>ander. Nach Badelt et al. (1997: 171-173) handelt<br />
es sich <strong>in</strong>sgesamt rund e<strong>in</strong> Viertel aller Betreuungspersonen, und zwar 25% der m ännlichen<br />
und 26% der weiblichen, wobei e<strong>in</strong>e große Schwankungsbreite entsprechend der notwendigen<br />
Betreuungs<strong>in</strong>tensität besteht: während <strong>in</strong> den niedrig en Pfl egestufen nur knapp e<strong>in</strong> F ünftel<br />
aller Betreuungspersonen ihre Berufstätigkeit ab- bzw. unterbrochen oder e<strong>in</strong>geschränkt hat,<br />
s<strong>in</strong>d es <strong>in</strong> den beiden höchsten Stufen rund 60%. In der Studie von Nemeth & Pochobradsky<br />
(2004: 28, 39) liegt dieser Prozentsatz erheblich niedriger: nur 13% der Pfl egepersonen haben<br />
10 Bei der umgekehrten Betrachtungsweise ergibt sich, dass der Anteil an Betreuenden unter der nichterwerbstätigen<br />
Bevölkerung erwartungsgemäß mit 9% wesentlich höher ist als unter der erwerbstätigen Bevölkerung mit 5% und unter<br />
den <strong>Arbeit</strong>slosen mit 6%.<br />
369
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
ihre Berufstätigkeit aufgrund der Pfl ege reduziert (davon haben 55% die Berufst ätigkeit ganz<br />
aufgegeben und 45% <strong>in</strong> Teilzeitbeschäftigung umgewandelt), wobei die Verfügbarkeit des Pfl egegelds<br />
e<strong>in</strong>e förderliche Rolle spielt. 11<br />
Da Männer, wenn überhaupt, ihre Betreuungstätigkeit zumeist erst nach ihrer Pensionierung<br />
beg<strong>in</strong>nen, ist die Doppelrolle von Beruf und Pfl ege <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong> Frauenproblem. Wie Badelt<br />
et al. (1997: 121-123) ausführen, können unter bestimmten günstigen Umständen die negativen<br />
Auswirkungen der Doppelbelastung abgemildert werden, ohne dass quantifi zierbar wäre, wie<br />
häufi g diese Umstände vorliegen:<br />
Es gibt – mit Ausnahme der Gesetze zur Pfl egefreistellung und zur Familienhospizkarenz – ke<strong>in</strong>e<br />
Regelungen, die sich explizit mit dem Vere<strong>in</strong>barkeitsproblem von Beruf und Altenpfl ege ause<strong>in</strong>andersetzen.<br />
12 Darüber h<strong>in</strong>aus ist dieses Thema auch nicht prom<strong>in</strong>ent auf der Agendenliste<br />
der politischen Parteien oder der Interessensvertretungen placiert.<br />
11 Aus der Gesamtperspektive der österreichischen weiblichen Bevölkerung betrachtet, bildet die Betreuungs-<br />
notwendigkeit <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Erwachsenen nur <strong>für</strong> wenige Frauen e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>dernis, e<strong>in</strong>e Berufstätigkeit auszuüben. In e<strong>in</strong>er<br />
Mikrozensus-Umfrage unter 15- bis 49-Jährigen nichterwerbstätigen „Hausfrauen“ (ohne Student/<strong>in</strong>nen, Pensionist/<br />
<strong>in</strong>nen) geben lediglich 2,6% an, dass die Betreuung e<strong>in</strong>es kranken oder sonstwie abhängigen Erwachsenen (z. B. des<br />
Partners, e<strong>in</strong>es Elternteils) der Hauptgrund <strong>für</strong> ihre Nichterwerbstätigkeit ist (Kreimer & Leitner 2002: 12).<br />
12 Die Bestimmungen der beiden Gesetze s<strong>in</strong>d auf Langzeitpfl ege nur bed<strong>in</strong>gt anwendbar und sie werden wegen der ungenügenden<br />
fi nanziellen Absicherung auch nur relativ selten <strong>in</strong> Anspruch genommen (Bernroitner 2004, BMSK 2007). Die<br />
sozialrechtlichen Vergünstigungen <strong>für</strong> Pfl egende kommen logischerweise pr<strong>in</strong>zipiell den Nichterwerbstätigen zugute.<br />
Sonstige sozialpolitische Maßnahmen und Forderungskataloge zielen primär auf die Vere<strong>in</strong>barkeit von Berufstätigkeit<br />
und Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>derbetreuung.<br />
370<br />
» Die Betreuungstätigkeit kann aufgrund des gesundheitlichen und psychischen Befi<br />
ndens des zu betreuenden alten Menschen auf e<strong>in</strong>em relativ niedrigen (zeitlichen)<br />
Niveau gehalten werden;<br />
» der Betreuungsort ist mit dem <strong>Arbeit</strong>s- und Lebensmittelpunkt identisch, wie dies<br />
beispielsweise bei Bauernfamilien der Fall ist;<br />
» es s<strong>in</strong>d ausreichende zusätzliche Ressourcen neben der Hauptpfl egeperson vorhanden,<br />
etwa andere Familienmitglieder oder Sozialdienste oder <strong>in</strong>formell engagierte<br />
fremde Pfl eger<strong>in</strong>nen;<br />
» <strong>Arbeit</strong>geber kommen den Betreuungsbedürfnissen ihrer Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen besonders<br />
entgegen.
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
Zum Bildungsstatus der Betreuenden liegen Daten nur aus den Pfl egegeldstudien vor. Bei Pochobradsky<br />
et al. (2005: Tab. 6) hat jeweils e<strong>in</strong> knappes Drittel nur die Pfl ichtschule bzw. zusätzlich<br />
e<strong>in</strong>e Lehre und e<strong>in</strong> weiteres Fünftel e<strong>in</strong>e Fachschule absolviert; über Matura oder e<strong>in</strong>en höheren<br />
Abschluss verfügt jede/r Zehnte. 13 In der Gesamtbevölkerung (Statistik Austria 2007: 54) ist der<br />
Anteil derer, die nur die Pfl ichtschule bzw. e<strong>in</strong>e Lehre oder Fachschule absolviert haben, ähnlich<br />
hoch, der Anteil der Höhergebildeten (Matura oder Studien abschluss) ist jedoch mit fast e<strong>in</strong>em<br />
Fünftel erheblich höher. E<strong>in</strong> an aloges Bild ergibt sich bei der Berufsstruktur, im Vergleich zur<br />
Allgeme<strong>in</strong>bevölkerung s<strong>in</strong>d (aktive oder pens ionierte) <strong>Arbeit</strong>er/<strong>in</strong>nen u nd Bäuer/<strong>in</strong>nen unter<br />
den Pfl egenden gegenüber Angestellten und öff entlich Bediensteten überrepräsentiert (Badelt<br />
et al. 1997: 124).<br />
Zusammenfassend ist festzustellen, dass im Vergleich zur Gesamtbevölkerung unter den Betreuungspersonen<br />
die Er werbs tätigen unterrepräsentiert und die Ang ehörigen der niedrig en<br />
Bildungs- und Sozialschichen überrepräsentiert s<strong>in</strong>d. 14<br />
Ersteres wird wohl damit zusammenhängen, dass aufgrund der schwierigen Vere<strong>in</strong>barkeit die<br />
Erwerbstätigkeit zugunsten der Pfl ege aufgegeben worden ist; es gibt auch H<strong>in</strong>weise, wonach<br />
erwerbstätige Frauen häufi ger als nicht erwerbstätige Frauen von vornhere<strong>in</strong> zur Auslagerung<br />
von Pfl ege an Sozialdienste tendieren (Hörl & Schimany 2004: 210). Desgleichen mag vermutet<br />
werden, dass die Angehörigen der höheren Bildungs- und Berufsschichten es eher vermeiden,<br />
selbst pfl egerisch tätig zu werden; es mag aber auch se<strong>in</strong>, dass die höheren Sozialschichten<br />
im Alter weniger durch chronische Krankheiten und Beh<strong>in</strong>derungen belastet s<strong>in</strong>d und dadurch<br />
das Betreuungsrisiko von vornhere<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger ist. Gesicherte Daten liegen dazu jedoch nicht vor.<br />
13 Bei den Betreuenden <strong>in</strong> der Studie von Badelt et al. (1997: 110) ist das Bildungsniveau noch niedriger; hier haben mehr<br />
als zwei Fünftel nur die Pfl ichtschule und knapp die Hälfte zusätzlich e<strong>in</strong>e Lehrausbildung (oder e<strong>in</strong>e Fachschule) absol-<br />
viert; Matura oder e<strong>in</strong>en höheren Abschluss weisen 9% auf.<br />
14 Streng genommen müsste beim Vergleich berücksichtigt werden, dass die Betreuungspersonen e<strong>in</strong> höheres Durch-<br />
schnittsalter als die erwachsene Gesamtbevölkerung aufweisen – und damit die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit höher ist, dass<br />
sie sich bereits im ohnedies geplanten Ruhestand befi nden –, und dass bei den Betreuungspersonen außerdem der<br />
Frauenanteil höher ist. Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass sich bei Berücksichtigung dieser Umstände das Gesamtbild<br />
entscheidend verändern würde.<br />
371
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
15.4. Merkmale der Betreuungsverhältnisse<br />
15.4.1. Verwandtschafts- oder sonstiges Verhältnis<br />
Der durch die <strong>in</strong> der Forschungsliteratur gesetzten Schwerpunkte genährte E<strong>in</strong>druck (siehe z. B.<br />
Hedtke-Becker & Schmidtke 1985, Knipscheer 1986, Wand 1986), dass <strong>in</strong>formelle Betreuung<br />
von alten Menschen mehr oder weniger gleichbedeutend ist mit der Pfl ege von Eltern durch<br />
ihre erwachsenen K<strong>in</strong>der, bedarf e<strong>in</strong>er gewissen Revision. Aus Tabelle 2 ist zu entnehmen,<br />
dass rund zwei Drittel 15 aller Betreuungspersonen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>tergenerationellen und e<strong>in</strong><br />
Drittel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>tragenerationellen Betreuungsverhältnis stehen. Etwas mehr als die Hälfte<br />
(52%) der Betreuungspersonen betreut e<strong>in</strong>en Eltern- oder Schwiegerelternteil: zwei von fünf<br />
betreuen die Mutter oder die Schwiegermutter, mehr als jede zehnte betreut den Vater oder<br />
den Schwiegervater. Mütter werden deswegen weitaus häufi ger betreut als Väter, weil Männer<br />
– wie bereits ausgeführt – im Bedarfsfall normalerweise auf ihre Ehefrauen als Pfl eger/<br />
<strong>in</strong>nen zählen können.<br />
Auf der anderen Seite betreut jede fünfte Betreuungsperson den/die Ehepar tner/<strong>in</strong> und immerh<strong>in</strong><br />
fast jede sechste e<strong>in</strong>e andere verwandte oder verschwägerte Person. Die Bet reuung<br />
von Nicht-Angehörigen (Bekannten, Nachbar/<strong>in</strong>nen, Freund/<strong>in</strong>nen) spielt e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>gere, aber<br />
ke<strong>in</strong>eswegs zu vernachlässigende Rolle.<br />
Um e<strong>in</strong> Bild von den <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> hochgerechneten absoluten Größenordnungen <strong>in</strong> den <strong>in</strong>formellen<br />
Pfl egeverhältnissen zu geben, werden <strong>in</strong> Tabelle 3 die 13 häufi gsten Pfl egekonstellationen<br />
angeführt. 16<br />
15 Die Kategorien „andere Verwandte“ und „Bekannte“ s<strong>in</strong>d vom Generationsverhältnis her nicht e<strong>in</strong>deutig zuzuordnen;<br />
aufgrund der Altersverteilung der Betreuenden (siehe Tabelle 1 bzw. Kytir & Schrittwieser 2003: 109) kann geschätzt<br />
werden, dass es sich im Falle der „anderen Verwandten“ zu rund e<strong>in</strong>em Drittel um <strong>in</strong>tergenerationelle Betreuungen<br />
(z. B. von Großeltern) und zu zwei Drittel um <strong>in</strong>tragenerationelle Betreuungen (z. B. von Geschwistern oder Verschwägerten)<br />
handelt; die betreuten „Bekannten“ werden wohl fast ausschließlich aus der gleichen Generation stammen. Insgesamt<br />
dürften daher ungefähr 35% aller Betreuungspersonen jemanden aus der gleichen Generation betreuen. Die Betreuung<br />
von „K<strong>in</strong>dern“ ist zwar defi nitionsgemäß <strong>in</strong>tergenerationell, doch s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Kategorie „K<strong>in</strong>d“ auch pfl egebedürftige<br />
ältere Menschen zu fi nden.<br />
16 Alle anderen Konstellationen umfassen hochgerechnet jeweils weniger als 10.000 Personen. Bei weniger als hochgerechnet<br />
18.000 Personen beträgt im Mikrozensus der Unsicherheitsbereich mehr als ±20%.<br />
372
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
Tabelle 2: Verwandtschafts- oder sonstiges Verhältnis (<strong>in</strong> %, Rundungsfehler nicht<br />
ausgeglichen)<br />
Betreute Person ist ... Anteil<br />
Ehegatte/ -gatt<strong>in</strong>/ Lebensgefährte/ -<strong>in</strong> 18,3<br />
Mutter 29,7<br />
Schwiegermutter 10,8<br />
Vater 8,6<br />
Schwiegervater 3,1<br />
K<strong>in</strong>d 7,2<br />
andere/r Verwandte/r, Verschwägerte/r 15,2<br />
Bekannte/r 6,8<br />
unbekannt 0,3<br />
N = 425.900 100,0<br />
Quelle: Kytir & Schrittwieser 2003: 108f<br />
Es zeigt sich, dass die Tochter-Mutter-Dyade zahlenmäßig bei weitem am bedeutendsten ist.<br />
Insgesamt wird nochmals die überr agende Rolle der Fr auen sowohl als Geber<strong>in</strong>nen als auch<br />
als Empfänger/<strong>in</strong>nen im Betreuungsgeschehen demonstriert, primäre Rezipient/<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d<br />
(verwitwete) Mütter.<br />
Tabelle 3: Pfl egekonstellationen nach Geschlecht und betreuter Person (<strong>in</strong> absoluten Zahlen)<br />
Konstellation Anzahl<br />
Tochter betreut Mutter 88.500<br />
Gatt<strong>in</strong> betreut Gatten 50.200<br />
Sohn betreut Mutter 49.600<br />
Frau betreut andere/n Verwandte/n 44.600<br />
Schwiegertochter betreut Schwiegermutter 39.300<br />
Gatte betreut Gatt<strong>in</strong> 34.700<br />
Frau betreut Bekannte/n 26.500<br />
Mann betreut andere/n Verwandte/n 26.200<br />
Mutter betreut K<strong>in</strong>d 24.400<br />
Tochter betreut Vater 22.800<br />
Sohn betreut Vater 17.400<br />
Schwiegertochter betreut Schwiegervater 11.600<br />
Schwiegersohn betreut Schwiegermutter 11.100<br />
Quelle: Kytir & Schrittwieser 2003: 108f<br />
15.4.2. Zeitaufwand<br />
Nach den Mikrozensus-Ergebnissen wenden 11% der Betreuungspersonen weniger als e<strong>in</strong>e Stunde<br />
pro Woche auf, e<strong>in</strong> schwaches Fünftel bis zu 5 Stunden. Fast die Hälfte (46%) leistet zwischen 5<br />
und 15 Wochenstunden und fast e<strong>in</strong> Viertel (24%) widmet der Pfl ege 15 oder mehr Stunden pro<br />
373
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
Woche. Frauen s<strong>in</strong>d zeitmäßig stärker engagiert, sie betreuen pro Woche im Durchschnitt 11,4<br />
Stunden, Männer h<strong>in</strong>gegen nur 9 Stunden – das ergibt e<strong>in</strong>e Diff erenz von fast 2½ Stunden. Für<br />
28% der Frauen, aber <strong>für</strong> nur 17% der Männer übersteigt die wöchentliche Pfl egezeit 15 Stun den<br />
(Kytir & Schrittwieser 2003: 46, 110).<br />
Wenn Pfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen den Untersuchungsfokus bilden, s<strong>in</strong>d weitaus längere Betreuungszeiten<br />
zu konstatieren. Nach Badelt et al. (1997: 263) wenden 38% der Betreuer/<strong>in</strong>nen bis<br />
zu 20 Stunden, 30% wen den 21 bis 40 Stunden und fast e<strong>in</strong> Drittel (32%) wendet mehr als 40<br />
Stunden pro Woche <strong>für</strong> die Pfl ege auf.<br />
Die Validität von exakten Stundenangaben ist allerd<strong>in</strong>gs fraglich, weil im Falle des Wohnens unter<br />
e<strong>in</strong>em Dach bzw. im geme<strong>in</strong>samen Haushalt und <strong>in</strong>sbesondere bei e<strong>in</strong>er mehr oder weniger<br />
permanenten Anwesenheitsnotwendigkeit – beispielsweise, weil die betreute Person verwirrt<br />
ist – große Schwierigkeiten bei der Ab schätzung des Zeitaufwands bzw. bei der Abgrenz ung<br />
zwischen konkreten „Betreuungsleistungen“ und e<strong>in</strong>er Art Bereitschaftsdienst entstehen. 17<br />
Pochobradsky et al. (2005: Tab. 30) weisen Anwesenheiten aus, diff erenziert nach den Pfl egegeldstufen.<br />
Demnach s<strong>in</strong>d 20% (bei den Pfl egestufen 1 bis 3) bzw. 5% (bei den Pfl egestufen 4 bis 7)<br />
fünfmal wöchentlich oder seltener betreuend tätig; 11% bzw. 5% s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>mal täglich, 27% bzw.<br />
20% mehrmals täglich tätig. Die Mehrheit der Betreuer/<strong>in</strong>nen, nämlich 43% bzw. 70% gibt an,<br />
„ständig anwesend“ zu se<strong>in</strong>, was zu meist auf e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen Haushalt zurückzuführen ist.<br />
Wenngleich die Datengrundlage unvollständig ist, kann vorsichtig geschätzt werden, da ss<br />
<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> m<strong>in</strong>destens 100.000 Menschen <strong>in</strong>formelle Pfl ege- und Betreuungsleistungen<br />
m<strong>in</strong>destens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zeitlichen Ausmaß erbr<strong>in</strong>gen, das dem bei e<strong>in</strong>er Teilzeiterwerbstätigkeit<br />
vergleichbar ist und entsprechende Belastungen mit sich br<strong>in</strong>gt.<br />
15.4.3. Betreuungsort<br />
Es ergibt sich aus der Natur e<strong>in</strong>er persönlichen Betreuungsbeziehung, dass die beiden Personen<br />
<strong>in</strong> der Regel auch <strong>in</strong> räumlicher Nähe wohnen (Tabelle 4), wenngleich regelmäßige <strong>in</strong>formelle<br />
Hilfeleistungen auch <strong>für</strong> weiter entfernt lebende oder <strong>in</strong> Heimen wohnende Personen durchaus<br />
nicht ausgeschlossen s<strong>in</strong>d.<br />
17 Wohl aus diesen Gründen ist bei Pochobradsky et al. (2005: Tab. 112) mehr als e<strong>in</strong> Drittel der Betreuer/<strong>in</strong>nen nicht <strong>in</strong><br />
374<br />
der Lage, auf die Frage nach dem Stundenaufwand e<strong>in</strong>e Angabe zu machen.
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
Tabelle 4: Betreuungsort nach Verwandtschafts- oder sonstigem Verhältnis <strong>in</strong> %, Rundungsfehler<br />
nicht ausgeglichen)<br />
Betreute<br />
Person ist ...<br />
und wohnt ...<br />
<strong>in</strong> derselben<br />
Wohnung wie<br />
Betreuer/<strong>in</strong><br />
<strong>in</strong> anderer<br />
Wohnung im<br />
selben Haus<br />
<strong>in</strong>sgesamt<br />
Quelle: Kytir & Schrittwieser 2003: 107<br />
Ehegatte/ -<br />
gatt<strong>in</strong><br />
(Schwieger-)<br />
Mutter<br />
(Schwieger-)<br />
Vater<br />
1 Gesamtzahl der betreuten Personen; 2e<strong>in</strong>schl. Verschwägerte<br />
Insgesamt wohnt mehr als der Hälfte der Betreuten mit der Betreuungsperson <strong>in</strong> derselben<br />
Wohnung oder im selben Haus. Bei Ehepartnern ist dies nahezu selbstverständlich. Bei den<br />
Pfl egeverhältnissen mit den Eltern bildet die g eme<strong>in</strong>same Wohnung oder da s geme<strong>in</strong>same<br />
Haus <strong>in</strong> fast der Hälfte der Fälle das räumliche Lebensumfeld. Der Anteil an <strong>in</strong>tergenerationell<br />
Zusammenwohnenden liegt damit erheblich, nämlich 10 bis 15 Prozentpunkte, über jenem <strong>in</strong><br />
der österreichischen Allgeme<strong>in</strong>bevölkerung vergleichbaren Alters (Hank 2007: 163). 18<br />
Es ist zu vermuten, dass der hohe Anteil von unter e<strong>in</strong>em Dach bzw. <strong>in</strong> unmittelbarer Nähe Wohnenden<br />
zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad durch Übersiedlungen (z. B. Aufnahme des pfl egebedürftigen<br />
Menschen <strong>in</strong> den Haushalt des K<strong>in</strong>des) zustande kommt. 19<br />
Über die Entfernungen der laut Tabelle 3 „anderswo“ wohnenden Betreuungspersonen können<br />
aus dem Mikrozensus ke<strong>in</strong>e Angaben entnommen werden, doch wird wohl davon ausgegangen<br />
werden können, dass die Mehrzahl der Betreuten von ihren Betreuer/<strong>in</strong>nen relativ rasch erreicht<br />
werden kann. Da<strong>für</strong> sprechen auch die Ergebnisse von Pochobradsky et al. (2005: 17), wonach<br />
lediglich 8% bzw. 4% der Betreuungspersonen e<strong>in</strong>e Wegstrecke zurücklegen müssen, die zwischen<br />
16 und 30 M<strong>in</strong>uten bzw. länger als e<strong>in</strong>e halbe Stunde <strong>in</strong> Anspruch nimmt.<br />
18 Unter den Bundesländer ist <strong>in</strong> Wien der Anteil jener Personen, die <strong>in</strong> der selben Wohnung oder im selben Haus mit den<br />
Betreuten wohnen, am niedrigsten (mit 38%); auf der anderen Seite wohnen <strong>in</strong> Kärnten, <strong>in</strong> der Steiermark und im Bur-<br />
genland 71%, 70% bzw. 68% der Betreuenden mit den Betreuten zusammen. Abgesehen von möglicherweise vorhandenen<br />
sozio-kulturellen Unterschieden und der Tatsache, dass <strong>in</strong> Wien der Anteil von „anderen“ Verwandten und Bekannten,<br />
die betreut werden, größer ist, spiegeln diese Zahlen sicherlich die großzügigeren Platzverhältnisse im ländlichen<br />
Raum wider, welche das geme<strong>in</strong>same Wohnen der Generationen erleichtern.<br />
19 Von den Pfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen wohnen sogar zwei Drittel geme<strong>in</strong>sam mit der Betreuungsperson (Pochobradsky et<br />
al. 2005: 17).<br />
K<strong>in</strong>d<br />
andere/r<br />
Verwandte/r 2<br />
Bekannte/r<br />
40,1 94,9 23,8 25,5 90,8 20,2 6,3<br />
15,0 0,7 22,7 19,5 1,8 14,7 13,5<br />
anderswo 44,9 4,4 53,5 55,1 7,1 65,1 79,9<br />
unbekannt 0,0 0,0 0,0 0,0 0,3 0,0 0,3<br />
N = 464.800 1 100,0 100,0 100,0 100,1 100,0 100,0 100,0<br />
375
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
15.4.4. Motive, Interaktionsmuster und Qualität <strong>in</strong> der Betreuung<br />
Die gleichlautenden Erkenntnisse der For schungsliteratur (siehe u. a. Badelt et al. 1997, Hörl 1989,<br />
Tesch-Römer & Kuhlmey 2002, Ziegler 2000) lassen es als gesichert gelten, dass e<strong>in</strong> aus vier<br />
<strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander verwobenen Komponenten zusammengesetztes Motivationsbündel existiert, welches<br />
dazu führt, dass die Betreuung und die Pfl ege des Partners, der Partner<strong>in</strong> bzw. der Eltern durch<br />
die Mehrzahl der Angehörigen mit e<strong>in</strong>er gewissen Selbstverständlichkeit übernommen wird:<br />
Von Ausnahmen abgesehen (welche im Falle von Demenzerkrankungen häufi ger auftreten, bei<br />
denen die Kommunikationsqualität ohnedies stark bee<strong>in</strong>trächtig ist) s<strong>in</strong>d die Reaktionen der<br />
Betreuten üblicherweise von großer Dan kbarkeit gegenüber den Betreuer<strong>in</strong>nen getragen; <strong>für</strong><br />
diese wirkt die gezeigte Dankbarkeit wiederum als immaterielle Gratifi kation, stärkt ihr Selbstbild<br />
als kompetent helfende Person und fördert somit letztlich die Bereitschaft zur Fortsetzung<br />
der Betreuung. Speziell pfl egende Töchter berichten darüber, dass sie zu ihrer Mutter im Laufe<br />
der Langzeitpfl ege e<strong>in</strong>e früher nicht so tief gefühlte und als bereichernd empfundene Nahbeziehung<br />
entwickelt hätten (Hörl 1989).<br />
Die Pfl ege, die von Angehörigen (z. T. <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit ambulanten oder teilstationären<br />
Gesundheits- und Sozialdiensten) erbracht wird, ist <strong>in</strong> der überwiegenden Zahl der Fälle von<br />
durchaus zufriedenstellender Qualität. In der Studie von Nemeth & P ochobradsky (2002: 21)<br />
wird von den Expert/<strong>in</strong>nen bei ihren Hausbesuchen festgestellt, „dass bei mehr als drei Vierteln<br />
[77%] der Pfl egegeldbezieher<strong>in</strong>nen und -bezieher e<strong>in</strong>e gute bis hervorragende Pfl ege vorgefunden<br />
wurde, bei e<strong>in</strong>em Fünftel wurden zwar Mängel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em der drei Bereiche körperliche Hygiene,<br />
Hygiene im Umfeld oder Hautz ustand festgestellt, der Gesamte<strong>in</strong>druck aber trotzdem als gut<br />
e<strong>in</strong>gestuft. Lediglich bei drei Prozent der Personen wurden Mängel <strong>in</strong> der Pfl ege und Betreuung<br />
festgestellt, die <strong>in</strong>sgesamt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en mangelhaften Gesamte<strong>in</strong>druck mündeten.“<br />
376<br />
» Liebe, aff ektive Zuwendung und <strong>in</strong>nere Verbundenheit, welche die Pfl ege von Angehörigen<br />
bis zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad auch als erfüllende Lebensaufgabe empfi nden<br />
lassen;<br />
» Gefühle der Dankbarkeit <strong>für</strong> die von den nunmehr Betreuungsbedürftigen früher<br />
selbst erbrachten Leistungen und Opfer, wobei sich diese Gefühle auf die gesamte<br />
geme<strong>in</strong>sam verbrachte Lebensspanne erstrecken;<br />
» kulturell überlieferte Verantwortlichkeitsnormen und die soziale Kontrolle durch die<br />
Umgebung, allenfalls verstärkt durch die Scheu, Fremden (z. B. Sozialdiensten) E<strong>in</strong>blick<br />
<strong>in</strong> das private Umfeld zu gewähren;<br />
» Anreize materieller Art, etwa Erwartung e<strong>in</strong>es Erbes, Geschenke, E<strong>in</strong>kommensverbesserung<br />
durch das Pfl egegeld.
15.4.5. Belastungen und negative Aspekte <strong>in</strong> der Betreuung<br />
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
Ungeachtet der positiven motivationalen Grundhaltung ist Betreuung fast immer mit Belastungen<br />
verbunden, die große Mehrheit der Betreuungspersonen (70%) klagt sogar über e<strong>in</strong>e zum<strong>in</strong>dest<br />
phasenweise Überbelastung (Pochobradsky et al. 2005: 60; Tab. 113).<br />
Die Erzielung der hohen Pfl egequalität geht also mit hohen Belastungen e<strong>in</strong>her, worunter als<br />
wichtigste zu nennen s<strong>in</strong>d (siehe dazu etwa Hörl & Rosenmayr 1994, Tesch-Römer & Kuhlmey<br />
2002):<br />
» Mehrarbeit (u. a. die ästhetisch unangenehmen <strong>Arbeit</strong>en und die damit zusammenhängende<br />
seelische Belastung, besonders bei Inkont<strong>in</strong>enz) und physische Belastungen<br />
durch bestimmte manuelle Tätigkeiten (z. B. Rückenschmerzen durch schweres<br />
Heben usw.), aber auch chronischer Schlafmangel aufgrund von dauernden nächtlichen<br />
Störungen;<br />
» soziale Isolation durch Angebundenheit im Haushalt bzw. durch fehlende Abgrenzungsmöglichkeit<br />
vom Aktivitätsrhythmus der Pfl egebedürftigen – daraus resultieren<br />
mangelnde Freizeit, Verzicht auf Urlaub, reduzierte berufl iche und private Selbstverwirklichungsmöglichkeiten;<br />
» Kommunikationsschwierigkeiten, wenn beispielsweise aufgrund von Schwerhörigkeit<br />
oder von Demenzerkrankungen Gespräche nicht oder nur unter größten Schwierigkeiten<br />
möglich s<strong>in</strong>d; widersprüchliche oder aggressive Verhaltensweisen des alten<br />
Menschen, die e<strong>in</strong>en wesentlichen Stressfaktor darstellen, selbst wenn man über<br />
deren Ursachen (z. B. bestimmte hirnorganische Veränderungen) <strong>in</strong>formiert worden<br />
se<strong>in</strong> mag;<br />
» Hoff nungslosigkeit angesichts des hilfl osen Erlebens von Krankheit und Leiden, trotz<br />
des hohen persönlichen E<strong>in</strong>satzes; Unabsehbarkeit des Endes dieser krisenhaften<br />
Lebensphase, wodurch ke<strong>in</strong>e Zukunftsplanung zugelassen wird;<br />
» fehlende Anerkennung und Unter stützung der Pfl egeleistungen durch die anderen<br />
Familienmitglieder, durch die Sozialbürokratie und durch die Gesellschaft im Allgeme<strong>in</strong>en.<br />
Alles <strong>in</strong> allem werden die psychisch-seelischen Belastungen noch bedrückender erlebt als die<br />
re<strong>in</strong> körperlichen oder fi nanziellen, wobei jene natürlich <strong>in</strong> besonders hohem Maße bei der Betreuung<br />
von demenziell Erkrankten auftreten. Den gewaltigen Umfang der Demenzproblematik<br />
ersieht man schon daraus, d ass <strong>in</strong> der Studie von Pochobradsky et al. (2005: 27) angegeben<br />
wird, dass f ast die Hälfte der Betreuten „m anchmal verwirrt“ ist (d. h. mehrmals pro Woche)<br />
und weitere 17% „völlig verwirrt“ s<strong>in</strong>d.<br />
377
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
15.4.6. Unterstützung der Betreuungspersonen<br />
15.4.6.1. PERSONELLE RESSOURCEN<br />
Die Hauptbetreuungspersonen von Pfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen erhalten zu e<strong>in</strong>em guten Drittel<br />
Unterstützung von weiteren Familienangehörigen und zu 12% von Bekannten und Nachbarn.<br />
Ambulante Sozialdienste werden <strong>in</strong>sgesamt von e<strong>in</strong>em Viertel der Betreuenden <strong>in</strong> Anspruch<br />
genommen, und zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em höheren Ausmaß von vollzeiterwerbstätigen Personen (zu 34%)<br />
und solchen mit Matura oder Hochschulabschluss (zu 40%). Die durchschnittliche Inanspruchnahme<br />
beträgt wöchentlich 5 Stunden <strong>für</strong> Heimhilfe bzw. 9 Stunden <strong>für</strong> Hauskrankenpfl ege,<br />
wobei gilt: je höher die Pfl egestufe, umso verbreiteter und <strong>in</strong>tensiver ist die Inanspruchnahme<br />
von professioneller Unterstützung 20 (Pochobradsky et al. 2005: 31f; ganz ähnliche Resultate<br />
fi nden sich bei Nemeth & Pochobradsky 2004: 24). Als Gründe <strong>für</strong> die Nichtannahme von ambulanten<br />
Diensten werden am h äufi gsten e<strong>in</strong>e grundsätzlich ablehnende Haltung (48%) und<br />
die mangelnde F<strong>in</strong>anzierbarkeit (42%), aber nu r selten da s ör tlich fehlende Angebot (10%)<br />
angegeben (Pochobradsky et al. 2005: Tab. 60).<br />
Nimmt man die Unterst ützung durch weitere Angehörige oder Bek annte und durch Sozialdienste<br />
zusammen, so dürften rund zwei Drittel der Betreuungspersonen <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Form<br />
e<strong>in</strong>e personelle Unterstützung von außen genießen. Informationen darüber, wie häufi g diese<br />
Unterstützungen kumuliert auftreten (also z. B. andere F amilienmitglieder und Sozialdienste<br />
mithelfen), sowie über die Art und Weise der Leistungen und die Kooperations formen mit der<br />
Hauptbetreuungsperson liegen nicht vor.<br />
15.4.6.2. PFLEGEGELD UND ANDERE SOZIALPOLITISCHE LEISTUNGEN<br />
Es gibt e<strong>in</strong>e Reihe von sozialpolitischen Maßnahmen zugunsten von pfl egenden Angehörigen,<br />
darunter die begünstigte Selbstversicherung <strong>in</strong> der Pensionsversicherung, den Unterstützungsfonds<br />
<strong>für</strong> Ersatzpfl ege im Fall der zeitweiligen Verh<strong>in</strong>derung der Hauptpfl egeperson, sowie verschiedene<br />
Beratungs- und Schulungsangebote (BMSK 2007).<br />
Am bedeutsamsten ist freilich die fi nanzielle Unterstützung durch das Pfl egegeld. Dieses wird<br />
bekanntlich e<strong>in</strong>kommensunabhängig gewährt, um den zusätzlichen Aufwand im Falle der Pfl egebedürftigkeit<br />
bis zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad zu kompensieren. Obwohl das Pfl egegeld nom<strong>in</strong>ell<br />
den Bedürftigen zusteht, kann ke<strong>in</strong> Zweifel bestehen, dass die meisten Angehörigen (86% bei<br />
Badelt et al. 1997: 136) zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>direkten Zugang zum Pfl egegeld haben, wenn s ie<br />
nicht sogar die faktische Verfügungsgewalt ausüben. Die Betreuten selbst bejahen zu 81%, dass<br />
20 Als Maxima werden 52 Stunden pro Woche bei der Hauskrankenpfl ege und 42 Stunden pro Woche bei der Heimhilfe<br />
378<br />
angegeben (Pochobradsky et al. 2005: Tab. 56).
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
das Pfl egegeld es ihnen ermöglicht, sich bei den Angehörigen „<strong>für</strong> ihren E<strong>in</strong> satz bei der Pfl ege<br />
erkenntlich zu zeigen“ (Badelt et al. 1997: 99).<br />
Das Pfl egegeld ist <strong>in</strong> der familialen Pfl ege zweifellos e<strong>in</strong> relevanter Faktor. Es fördert die Wahlfreiheit,<br />
wie von Nemeth & P ochobradsky (2004: 39) ausdrücklich betont wird: „Die meisten<br />
Hauptpfl egepersonen sehen dar<strong>in</strong> die Chance <strong>für</strong> den Pfl egebedürftigen, das Pfl egeheim zu<br />
vermeiden. Die Möglichkeit, durch die Verfügbarkeit des Pfl egegelds die Berufst ätigkeit der<br />
Pfl egepersonen e<strong>in</strong>zuschränken bzw. ganz daheim zu bleiben, wird begrüßt.“ Bei Pochobradsky<br />
et al. (2005: 23) stimmen 58% der Betreuenden der Aussage zu, dass „durch das Pfl egegeld die<br />
Betreuung und Pfl ege zu Hause erst möglich wird.“ E<strong>in</strong>e Reihe weiterer Statements zum Pfl egegeld<br />
wird ebenfalls durchwegs positiv beurteilt, wobei die Zustimmung mit der Pfl egestufe steigt.<br />
Die geäußerten Vorstellungen über die Bedeutung des Pfl egegelds ersche<strong>in</strong>en freilich teilweise<br />
übertrieben, wenn nicht illusionär, denn auch <strong>in</strong> den höheren Pfl egestufen ist es kaum ausreichend,<br />
um als Ersatz <strong>für</strong> e<strong>in</strong> regul äres <strong>Arbeit</strong>se<strong>in</strong>kommen zu dienen u nd es bietet selbstverständlich<br />
ke<strong>in</strong>e Perspektive <strong>für</strong> die langfristige Lebensplanung.<br />
15.4.6.3. IRREGULÄRE INFORMELLE BETREUUNG<br />
E<strong>in</strong> gegenwärtig vieldiskutiertes Problem ist der sog. gr aue Pfl egemarkt, wo ausländische <strong>Arbeit</strong>skräfte<br />
(zumeist aus Nachbarstaaten wie Ungarn oder der Slowakei) im Haushalt von Pfl egebedürftigen<br />
e<strong>in</strong>en 24-Stunden-Dienst leisten, der vor allem allgeme<strong>in</strong>e Betreuungsarbeit, aber<br />
zu e<strong>in</strong>em ge wissen Teil wohl auch (mediz<strong>in</strong>ische) Pfl ege be<strong>in</strong>haltet. 21 Üblicherweise arbeiten<br />
zwei Personen abwechselnd <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em 14-Tage-Turnus und fahren dazwischen zu ihrer eigenen<br />
Familie <strong>in</strong> ihr He imatland zurück, wo s ie auch so zialversichert s<strong>in</strong>d. F<strong>in</strong>anzierbar ist dieses<br />
System nur aufgrund des bestehenden Lohngefälles zwischen <strong>Österreich</strong> und Osteuropa und<br />
der faktischen Schwarzarbeit. Diese Praxis verstößt gegen zahlreiche österreichische Rechtsvorschriften,<br />
welche hier nicht im E<strong>in</strong>zelnen ausgeführt werden können (SVA 2007).<br />
Die wichtigste sozialpolitisc he Erkenntnis aus der gegebenen Situation besteht d ar<strong>in</strong>, d ass<br />
off enkundig e<strong>in</strong>e starke Nachfrage nach Dienstleistungen besteht, deren Hauptmerkmal nicht<br />
die qualifi zierte Pfl ege, sondern die st ändige Anwesenheit und Aufsicht im Haush alt der zu<br />
Betreuenden ist. E<strong>in</strong>e w ichtige Klientengruppe s<strong>in</strong>d jene Demenzkranken, die nicht alle<strong>in</strong><br />
gelassen werden dü rfen. Wenn e<strong>in</strong>e Heimu nterbr<strong>in</strong>gung nicht gewünscht wird, entsteht e<strong>in</strong>e<br />
21 Über die Anzahl der <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> illegal tätigen ausländischen Betreuer<strong>in</strong>nen kursieren nur unzuverlässige Schätzun-<br />
gen, die bis zu 40.000 Personen reichen. Solche irreguläre transnationale <strong>Arbeit</strong>sverhältnisse im Pfl egebereich s<strong>in</strong>d<br />
<strong>in</strong> den letzten Jahren <strong>in</strong> mehreren europäischen Ländern entstanden, wobei die politischen und behördlichen Reaktionen<br />
bzw. die Maßnahmen zur Unterb<strong>in</strong>dung dieser Dienstleistungen sehr unterschiedlich ausfallen (von Kondratowitz<br />
2005).<br />
379
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
Betreuungslücke, weil sich eben <strong>in</strong> vielen Fällen die F amilienangehörigen zur Bildung e<strong>in</strong>es<br />
geme<strong>in</strong>samen Haushalts nicht imstande sehen b zw. sie tagsüber e<strong>in</strong>er Er werbsarbeit außer<br />
Haus nachgehen. Die ambulanten Sozialdienste können mit ihrer bestehenden Personal- und<br />
Organisationsstruktur (und weil sie die gesetzlichen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>halten müssen)<br />
derartige permanente Anwesenheitsdienste nicht anbieten bzw. fi nanzieren. 22 Den etablierten<br />
Dienstleistungsorganisationen ist so <strong>in</strong> den irregul ären Pfl egeverhältnissen e<strong>in</strong>e u nliebsame<br />
Konkurrenz entstanden.<br />
Durch e<strong>in</strong> Fördermodell von Beschäftigungsverhältnissen bzw. Werkverträgen im Rahmen der<br />
Bestimmungen des neuen „Hausbetreuungsgesetzes“ und des freien Gewerbes „Personenbetreuung“<br />
(2007) wird versucht, der Betreuung <strong>in</strong> Form von permanenten Anwesenheitsdiensten<br />
e<strong>in</strong>e legale Basis zu geben und sie fi nanzierbar zu machen. Ausgeschlossen und ausdrücklich<br />
verboten s<strong>in</strong>d Pfl egetätigkeiten jeglicher Art. Für die Förderung ist Pfl egegeldbezug ab der dritten<br />
Stufe e<strong>in</strong>e Voraussetzung; außerdem dürfen bestimmte E<strong>in</strong>kommens- und Vermögensgrenzen<br />
nicht überschritten werden. 23 Wegen all dieser E<strong>in</strong>schränkungen wird es aller Voraussicht nach<br />
besonders <strong>für</strong> die höheren E<strong>in</strong>kommensklassen weiterh<strong>in</strong> attraktiv bleiben, Arrangements mit<br />
Pfl eger<strong>in</strong>nen zu suchen, die irreguläre <strong>Arbeit</strong>sverhältnisse e<strong>in</strong>zugehen bereit s<strong>in</strong>d. Ob die Behörden<br />
<strong>in</strong> Zukunft bestrebt und <strong>in</strong> der Lage se<strong>in</strong> werden, die unerwünschten und illegalen Formen<br />
der <strong>in</strong>formellen Dienstleistungsökonomie konsequent zu unterb<strong>in</strong>den bzw. aktiv zu verfolgen,<br />
kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht abgeschätzt werden. 24<br />
15.5. Ausblick<br />
Der zukünftige Status der <strong>in</strong>formellen Be treuung durch Angehörige ist schwierig vorauszusagen,<br />
weil die prognostizierten demografi schen und sozio-kulturellen Ent wicklungen e<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> ihren<br />
Wirkungen teilweise aufheben und – j e nachdem, wie man diese Entw icklungen gewichtet –<br />
unterschiedliche Szenarien heraufbeschworen werden können.<br />
22 Neuerd<strong>in</strong>gs wird von den Hilfsorganisationen verstärkt versucht, durch die Gründung von entsprechenden Sube<strong>in</strong>heiten<br />
380<br />
auch den Bereich der sogenannten Rund-um-die-Uhr-Betreuung abzudecken.<br />
23 Den e<strong>in</strong>zelnen Bundesländern s<strong>in</strong>d bestimmte Spielräume <strong>für</strong> eigene Regelungen e<strong>in</strong>geräumt worden. Die E<strong>in</strong>zelheiten<br />
der e<strong>in</strong>geführten Bestimmungen und Regelungen s<strong>in</strong>d unter (10.10.2007) abzurufen.<br />
24 Zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Berichts wird den illegal <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> tätigen Pfl eger/<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>e zeitlich begrenzte<br />
Nachsicht gewährt, die am 31.12.2007 ausläuft.
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
Die im Rahmen des europaweiten FELICIE-Projekts 25 erstellten Projektionen lassen es als sehr<br />
wahrsche<strong>in</strong>lich ersche<strong>in</strong>en, dass aus re<strong>in</strong> demografi schen Gründen – selbst wenn man unterstellt,<br />
dass sich der allgeme<strong>in</strong>e Gesundheitsstatus weiter verbessern wird – die Zahl der alten<br />
Pfl egebedürftigen stark zunehmen wird.<br />
Gleichzeitig werden diese betreuungsbedürftigen Menschen mittelfristig (bis 2030) weiterh<strong>in</strong><br />
und sogar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em vermehrten Maße <strong>in</strong> das familiale Netzwerk e<strong>in</strong>gebunden se<strong>in</strong>. So zeigen<br />
die Prognosen <strong>für</strong> Deutsc hland <strong>für</strong> den Zeitraum 2000 bis 2030, dass unt er den weiblichen<br />
Pfl egebedürftigen im Alter von 75 und mehr Jahren der Anteil jener Frauen, die e<strong>in</strong>en Partner<br />
und m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d haben, von 13% auf 28% steigen, d. h. sich verdoppeln wird, während<br />
der Anteil der Frauen ohne Partner und ohne K<strong>in</strong>d s ich fast halbieren wird (von 7% auf<br />
4%). Bei den pfl egebedürftigen Männern s<strong>in</strong>d die Veränderungen weniger dramatisch, doch<br />
auch bei ihnen wird es zu ke<strong>in</strong>er Ausdünnung des familialen Gefüges kommen (Doblhammer<br />
et al. 2006: 3). 26<br />
Da <strong>in</strong> den nächsten Jahrzehnten vor allem bei den Frauen der Anteil der Verwitweten zugunsten der<br />
Verheirateten stark zurückgehen wird, ist zu erwarten, dass sich der Schwerpunkt der <strong>in</strong>formellen<br />
Betreuung noch stärker als bisher <strong>in</strong> Richtung der Partnerunterstützung verschieben dürfte. Die<br />
Problematiken des verhältnismäßig rezenten Phänomens der vermehrten K<strong>in</strong>derlosigkeit und<br />
der gestiegenen Scheidungshäufi gkeiten („S<strong>in</strong>gularisierung“) wird sich im Altenpfl egebereich<br />
aller Voraussicht nach erst sehr langfristig auswirken.<br />
Davon abzuheben ist die Fr age nach der zukünftigen Pfl egebereitschaft durch die Töchter<br />
mittleren Alters, die derzeit die Hauptlast tragen. Im Zuge e<strong>in</strong>er anhaltend wachsenden Frauenerwerbstätigkeit<br />
bei gleichzeitig verlängerter Lebensarbeitszeit könnte sich die Vere<strong>in</strong>barkeitsproblematik<br />
verschärfen und mögen immer weniger Frauen <strong>in</strong> der Lage und bereit se<strong>in</strong>,<br />
ihre Erwerbstätigkeit zugunsten der Pfl ege von älteren Familienangehörigen e<strong>in</strong>zuschränken<br />
oder aufzugeben. Die Erg ebnisse des Eurobarometers (2002) deuten <strong>in</strong> di ese Richtung: <strong>in</strong><br />
den weitaus meisten europäischen Ländern betrachten die jü ngeren Menschen seltener<br />
als die älteren Menschen die zukünftige Betreuung alter Menschen als Aufgabe der Familie<br />
25 Dieses Forschungsprojekt verknüpft Prognosen zur Familien- und Haushaltsstruktur mit solchen zum Gesundheits-<br />
status („Future Elderly Liv<strong>in</strong>g Conditions <strong>in</strong> Europe; , 10.10.2007). <strong>Österreich</strong> ist nicht beteiligt; doch<br />
ähneln e<strong>in</strong>ander die Ergebnisse <strong>in</strong> den teilnehmenden Ländern (Belgien, Deutschland, F<strong>in</strong>nland, Frankreich, Großbritannien,<br />
Italien, Niederlande, Portugal, Tschechien), so dass sie grundsätzlich auch auf <strong>Österreich</strong> übertragbar se<strong>in</strong><br />
dürften.<br />
26 Vgl. auch die Haushaltsprognose <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> bis 2050 (Kytir, <strong>in</strong> diesem Bericht), woraus hervorgeht, dass die Zahl der<br />
<strong>in</strong> Mehrpersonenhaushalten lebenden 85- und Mehrjährigen stärker zunehmen wird als die Zahl der <strong>in</strong> E<strong>in</strong>personenhaushalten<br />
lebenden Personen gleichen Alters.<br />
381
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
(Alber & Köhler 2004). 27 Freilich ist aus methodischer Sicht h<strong>in</strong>zuzufügen, dass sich aufgrund<br />
von solchen querschnittlichen Momentaufnahmen nicht endgültig entscheiden lässt, ob und<br />
<strong>in</strong>wieweit die festgestellten Unterschiede zwischen den Altersgruppen tatsächlich Indikatoren<br />
<strong>für</strong> e<strong>in</strong>e sich verm<strong>in</strong>dernde Pfl egebereitschaft s<strong>in</strong>d oder E<strong>in</strong>stellungsänderungen im Lebenslauf<br />
widerspiegeln. Studien zu Pfl egearrangements weisen jedenfalls darauf h<strong>in</strong>, dass Faktoren wie<br />
höheres E<strong>in</strong>kommen und Bildungsniveau sowie sog. postmoderne Werte die Neigung fördern,<br />
pfl egebedürftige Angehörige nicht selbst zu versorgen (Blaumeiser & Klie 2002, Bl<strong>in</strong>kert & Klie<br />
2000). Auch unter dem Aspekt der pfl egekulturellen Orientierungen ist daher eher zu bezweifeln,<br />
dass das hohe Niveau an <strong>in</strong>tergenerationeller Betreuung aufrechterhalten werden kann.<br />
Auf der anderen Seite zeigt die Forschung, dass die Familie gleichsam besser ist als ihr Ruf,<br />
d. h. sie kann im Bedarfsfall fl exibel reagieren und erstaunliche Reserven mobilisieren; zumal<br />
die Solidarität zwischen den Generationen sche<strong>in</strong>t nach wie vor ungebrochen und lebendig zu<br />
se<strong>in</strong> (Majce 2006: 180). Allerd<strong>in</strong>gs lehrt die Erfahrung, dass gerade bei der Altenbetreuung viele<br />
Angehörige ihre potenzielle Fähigkeit überschätzen, die auf sie zukommenden Pfl egeaufgaben<br />
zu bewältigen. Um die Selbstausbeutung der pfl egenden Angehörigen <strong>in</strong> Grenz en zu halten,<br />
wird es daher e<strong>in</strong>es gut ausgebauten Angebots an begleitenden Beratungen und Schulungen<br />
und außerdem verbesserter fi nanzieller und sozialrechtlicher Rahmenbed<strong>in</strong>gungen und e<strong>in</strong>er<br />
Kooperation mit professionellen Diensten, im am bulanten wie im teilstationären Bereich (Tageszentren,<br />
Kurzzeit- und Nachtpfl egee<strong>in</strong>richtungen, Ersatzpfl ege usw.) bedürfen.<br />
Die vergleichende Forschung zu diesem Problemkreis zeigt, dass <strong>in</strong> Wohlfahrts staaten mit<br />
e<strong>in</strong>er hoch entw ickelten sozialen und gesundheitlichen Betreuungs<strong>in</strong>frastruktur (wie z. B. <strong>in</strong><br />
den skand<strong>in</strong>avischen Ländern) die Familie als Pfl ege<strong>in</strong>stanz durch die Inanspruchnahme von<br />
Sozial diensten nicht verdrängt wird und sich vielmehr e<strong>in</strong> komplementäres Verhältnis e<strong>in</strong>spielt,<br />
während <strong>in</strong> mehr familiaristisch orientierten Ländern (wie z. B. den Vere<strong>in</strong>igten Staaten) durch<br />
die Inanspruchnahme von Sozialdiensten die Familie eher ersetzt wird (Davey et al. 2005: S286,<br />
Motel-Kl<strong>in</strong>gebiel et al. 2005).<br />
Schließlich ist zu erwarten und als positive Entwicklung zu werten, dass der mediz<strong>in</strong>ische und<br />
der technische Fortschritt auch vor der Pfl ege im privaten, häuslichen Be reich nicht halt machen<br />
werden. Zwar wird die persönliche, mitmenschliche Begegnung immer unersetzbar se<strong>in</strong>, doch<br />
werden sich die Betreuenden zukünftig bei ihrer Tätig keit mit Hilfe technologischer Innovationen<br />
wirkungsvoll entlasten und so ihre L ebensqualität erhöhen können. Unter den Schlagworten<br />
27 Die Prozentsatzdiff erenz zwischen jenen, die <strong>für</strong> die Zukunft e<strong>in</strong>e erhöhte Verantwortung der Familie <strong>in</strong> der Altenbetreuung<br />
be<strong>für</strong>worten und jenen, die dies ablehnen, beträgt <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> bei den 15- bis 34-Jährigen 42,0 Prozentpunkte,<br />
bei den 35- bis 59-Jährigen 49,7 Prozentpunkte und bei den 60- und Mehrjährigen 66,7 Prozentpunkte. Insgesamt zählt<br />
<strong>Österreich</strong> damit zu den europäischen Ländern mit e<strong>in</strong>er verhältnismäßig starken Familienorientierung (Alber & Köhler<br />
2004: 69).<br />
382
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
der digital unterstützten „smart homes“ und des „betreuten Wohnens“ gibt es heute bereits<br />
e<strong>in</strong> reichhaltiges Angebot <strong>für</strong> Adaptierungen (um z. B. Wohnungen <strong>für</strong> die Benützung mit Rollstühlen<br />
geeignet zu machen) und an sog. „assistive technologies.“ Darunter s<strong>in</strong>d beispielsweise<br />
Sensoren <strong>für</strong> Lichtsteuerung, Tür- und Fensteröff nung, Bewegungs- und Rauchmelder, Alarm-<br />
und Notrufsysteme, Überwachungsmonitore („tele c are“), aber auch Pfl egeroboter u. dgl. zu<br />
verstehen (McCreadie & T<strong>in</strong>ker 2005, Panek et al. 2005).<br />
383
PFLEGE UND BETREUUNG I: INFORMELLE PFLEGE<br />
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386
16. PFLEGE UND BETREUUNG<br />
PFLEGE UND BETREUUNG II: DIE FORMELLE AMBULANTE PFLEGE<br />
ELISABETH RAPPOLD, MARTIN NAGL-CUPAL, INGRID DOLHANIUK, ELISABETH SEIDL<br />
16.1. Angebot und Inanspruchnahme mobiler Dienste<br />
Unter den sozialen oder mobilen Diensten werden verschiedene Dienstleistungen des ambulanten<br />
Sektors zusammengefasst, zu denen <strong>in</strong>sbesondere die (mediz<strong>in</strong>ische) Hauskrankenpfl ege sowie<br />
Leistungen von Pfl ege-, Alten-, Familien-, Heimhilfen, aber auch Re<strong>in</strong>igungsdienst, Essen auf<br />
Rädern, Hospizdienst, Besuchs-, Reparatur- und Wäschedienst sowie die mobilen mediz<strong>in</strong>ischtherapeutischen<br />
Dienste zählen. Im Folgenden wird nur auf die Kernbereiche der mobilen Dienste<br />
e<strong>in</strong>gegangen (Hauskrankenpfl ege, Alten-, Pfl ege-, Heimhilfe), dies soll jedoch die Bedeutung<br />
aller anderen mobilen Dienste <strong>in</strong>nerhalb der Versorgungslandschaft nicht schmälern.<br />
Die Hauskrankenpfl ege wird im F alle von Pfl ege- und Betreuungsbedürftigkeit von fachlich<br />
qualifi zierten Personen (diplomier te Gesundheits- und Krankenpfl ege, Altenfachbetreuung,<br />
Altenhilfe, Pfl egehilfe und Heimhilfe) erbracht. Im Gegensatz dazu wird Mediz<strong>in</strong>ische Hauskrankenpfl<br />
ege dann erbr acht, wenn Kr ankheit im S<strong>in</strong>ne des Allgeme<strong>in</strong>en Sozialversicherungsgesetzes<br />
vorliegt. Sie umfasst Krankenhaus ersetzende Leistungen und unterliegt der Anordnung<br />
e<strong>in</strong>es Arztes <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en beschränkten Zeitraum. Diese Leistungen werden ausschließ lich durch<br />
diplomierte Gesundheits- und Krankenpfl egepersonen im Rahmen de s mitverantwortlichen<br />
Aufgabenbereiches durchgeführt. Heimhilfen unterstützen und betreuen Menschen im Alltag<br />
bei hauswirtschaftlichen Tätigkeiten und Besorgungen.<br />
Pfl ege und Betreuung wird <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> großteils durch die überregional agierenden sozialen<br />
und sozialmediz<strong>in</strong>ischen Dienste der Bundesarbeitsgeme<strong>in</strong>schaft Freie Wohlfahrt erbracht. Dazu<br />
zählen die Caritas <strong>Österreich</strong>, das Diakonische Werk <strong>Österreich</strong>, das <strong>Österreich</strong>ische Hilfswerk,<br />
das <strong>Österreich</strong>ische Rote Kreuz und die Volkshilfe <strong>Österreich</strong> mit den jeweiligen Landesverbänden.<br />
In Vorarlberg gewährleisten die lokal und wohnortnah angesiedelten Krankenpfl egevere<strong>in</strong>e und<br />
<strong>in</strong> Tirol die Ge sundheits- und Sozialsprengel die Pfl ege und Betreuung. 1 Kle<strong>in</strong>ere lokal agierende<br />
Organisationen vervollständigen das Angebot. Allgeme<strong>in</strong> lässt sich sagen, dass mobile Dienste<br />
aufgrund des dichten Anbieternetzes österreichweit fl ächendeckend angeboten werden können.<br />
Der Ausbaugrad der Ang ebote und die Bet reuungs<strong>in</strong>tensität variieren <strong>in</strong> den Bu ndesländern<br />
allerd<strong>in</strong>gs erheblich (NPO-Institut 2004).<br />
1 Ausführliche Darstellung zur Organisation und Trägerstruktur der ambulanten Dienste siehe Seniorenbericht 2000 S.<br />
428 ff .<br />
387
PFLEGE UND BETREUUNG II: DIE FORMELLE AMBULANTE PFLEGE<br />
Die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit pfl egebedürftig zu werden steigt mit zunehmendem Alter an. Rund 60<br />
Prozent aller über 80-Jährigen Personen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> beziehen Pfl egegeld, was Tabelle 1 verdeutlicht.<br />
Somit können <strong>in</strong>sbesondere hochbetagte Menschen als Kunden von „Pfl egedienstleistungen“<br />
betrachtet werden (Schneider et al. 2006).<br />
In den Jahren 200 2/2003 wurden bundesweit rund 80.000 Personen zu Hause von mobilen<br />
Diensten betreut. Durchschnittlich 13% der über 75-Jährigen Personen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> beanspruchen<br />
ambulante Dienste. Auf alle Pfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen bezogen s<strong>in</strong>d dies 23% (NPO-Institut<br />
2004). Es zeigt sich auch, dass <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Bundesländern die angebotenen Dienste <strong>in</strong><br />
unterschiedlichem Ausmaß genutzt werden. Zum Beispiel werden <strong>in</strong> Vorarlberg rund 49% der<br />
Personen über 75 Jahre bzw. 92% aller Pfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen von ambulanten Diensten<br />
betreut. 2 In Tirol bzw. Oberösterreich werden 19 bzw. 18% der Personen über 75 Jahre betreut,<br />
bzw. e<strong>in</strong> Drittel aller Pfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen. In den anderen Bu ndesländern ist der Anteil<br />
erheblich ger<strong>in</strong>ger.<br />
388<br />
Tabelle 1: Anteil der Pfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen an der Gesamtbevölkerung 2004<br />
Alter Gesamtbevölkerung<br />
Pflegegeldbezieher-<br />
Innen Absolut<br />
Pflegegeldbezieher-Innen<br />
<strong>in</strong> %<br />
Bis 60 Jahre 6.479.710 66.286 1,02<br />
61-80 Jahre 1.404.899 129.695 9,23<br />
Über 80 Jahre 290.124 175.086 60,34<br />
Gesamt 8.174.733 371.067* 4,54<br />
* ohne OFG und Landeslehrer<br />
Quelle: Schneider et al. (2006: 6), auf Basis der Darstellungen BMSG (2006)<br />
Das Ausmaß der erbrachten Leistungen von ambulanten Diensten nimmt mit dem Alter der Klient/<br />
<strong>in</strong>nen zu. Um e<strong>in</strong>en Rückschluss auf die Betreuungsdichte zu ziehen, werden die Leistungsstunden<br />
auf die Bevölkerungszahl umgelegt (vgl. Tabelle 2) (NPO-Institut 2004). Bei der Personengruppe<br />
der über 75-Jährig en zeigt sich, dass die geleisteten Stunden <strong>in</strong> Wien mit 30,2 Stunden am<br />
höchsten s<strong>in</strong>d, gefolgt von Niederösterreich mit 24,4 Stunden, Salzburg mit 20,6 Stunden und<br />
Vorarlberg mit 16,8 Stunden. Bei den Leistungsstunden <strong>in</strong> Vorarlberg muss be rücksichtigt werden,<br />
dass diese ohne den Anteil der diplomier ten Pfl egepersonen aufsche<strong>in</strong>en u nd trotzdem e<strong>in</strong>e<br />
vergleichsweise hohe Versorgungsdichte aufweisen. Am ger<strong>in</strong>gsten s<strong>in</strong>d die Leistungsstunden<br />
pro Person <strong>in</strong> Oberösterreich mit 8,7 Stunden und der Steiermark mit 9,5.<br />
2 Der Grund <strong>für</strong> die hohe Inanspruchnahme <strong>in</strong> Vorarlberg lässt sich vermutlich auch zum Teil durch e<strong>in</strong>e lange Tradition <strong>in</strong><br />
der Hauskrankenpfl ege, die schon seit 1899 existiert, erklären. Die E<strong>in</strong>wohner/<strong>in</strong>nen können Mitglied <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Krankenpfl<br />
egevere<strong>in</strong> werden und sichern sich dadurch im Bedarfsfall das Recht an Pfl ege. (Land Vorarlberg 2004)
PFLEGE UND BETREUUNG II: DIE FORMELLE AMBULANTE PFLEGE<br />
Die Inanspruchnahme ambulanter Dienste <strong>in</strong> Abhängigkeit von der Pfl egebedürftigkeit wird meist<br />
anhand der Pfl egegeldstufen dargestellt. Per 31. 12. 2005 bezogen <strong>in</strong>sgesamt 374.216 Personen<br />
Pfl egegeld (BMSK 2007: 42ff ). Rund 47% der Pfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen waren über 81 Jahre<br />
alt. Am höchsten ist der Anteil der Pfl egeldbezieher/<strong>in</strong>nen über 81 Jahre <strong>in</strong> Wien mit 48%, am<br />
ger<strong>in</strong>gsten <strong>in</strong> Vorarlberg mit 41%. Neben dem lokalen Ausbaugrad hängt die Inanspruchnahme<br />
von mobilen Diensten auch mit der Höhe des Pfl egegeldes zusammen (BMSG/ÖBIG 2004a: 24).<br />
So nützen <strong>in</strong> der höc hsten Pfl egegeldstufe sieben knapp 29% der Bezieher/<strong>in</strong>nen mehrmals<br />
wöchentlich bis zu e<strong>in</strong>mal täglich und rund e<strong>in</strong> Viertel mehrmals täglich ambulante Dienste. Bei<br />
mittlerer Pfl egebedürftigkeit - <strong>in</strong> der Pfl egegeldstufe drei - ist die Inanspruchnahme niedriger.<br />
Hier liegt sie bei rund 17% mehrmals wöchentlich bis e<strong>in</strong>mal täglich und bei 4% bei mehrmals<br />
täglich. Nahezu zwei Drittel der Bezieher/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> den Stufen drei bis sechs verzichten allerd<strong>in</strong>gs<br />
gänzlich auf die Inanspruchnahme mobiler Dienste.<br />
Tabelle 2: Anzahl der Leistungsstunden der Pfl ege und Betreuung im ambulanten Sektor:<br />
Gesamt, nach Altersgruppen der 65-Jährigen und über 75-Jährigen pro Personen im Jahr,<br />
nach Bundesländern und Berufsgruppen diff erenziert<br />
Bundesland<br />
Quelle: NPO Institut, Nonprofi t (2004: 190)<br />
A = Leistungsstunden gesamt; B = Hauskrankenpfl ege (HKP): Diplomierte Pfl egepersonen, Altenhilfe, Pfl egehilfe; C = Heim-<br />
hilfe; d = Die Daten aus OÖ s<strong>in</strong>d nicht nach Berufsgruppen diff erenziert ausgewiesen.<br />
k.A. = ke<strong>in</strong>e Angaben<br />
Leistungsstunden pro<br />
Person/Jahr<br />
Leistungsstunden pro<br />
über 65-Jähriger<br />
Person/Jahr<br />
Leistungsstunden pro<br />
über 75-Jähriger<br />
Person/Jahr<br />
A B C A B C A B C<br />
Burgenland (2002) 0,8 0,3 0,6 4,7 1,7 3,0 10,3 3,7 6,6<br />
Kärnten (2002) 1,2 0,7 0,5 7,2 4,3 2,9 15,0 9,0 6,0<br />
NÖ (2002, hochgerechnet) 1,8 0,7 1,1 11,3 4,5 6,9 24,4 9,6 14,8<br />
OÖ (2003) d 0,6 0,6 k.A. 4,1 4,1 k.A 8,7 8,7 k.a.<br />
Salzburg (2002) 1,3 0,6 0,7 9,7 4,5 5,2 20,6 9,6 11,0<br />
Steiermark (2001) 0,8 0,4 0,4 4,5 2,4 2,1 9,5 5,0 4,5<br />
Tirol (2002) 0,8 0,5 0,3 5,8 3,8 2,0 12,6 8,6 4,3<br />
Wien (2002) 2,5 0,3 2,2 15,9 1,8 14,0 30,2 3,5 26,7<br />
Vorarlberg (2003 ohne HKP) 0,9 k.A. 0,9 7,4 k.A. 7,4 16,8 k.A 16,8<br />
<strong>Österreich</strong> (ohne Vorarlberg) 1,4 0,5 0,9 8,8 3,3 5,4 18,3 7,0 11,3<br />
389
PFLEGE UND BETREUUNG II: DIE FORMELLE AMBULANTE PFLEGE<br />
Tabelle 3: Inanspruchnahme mobiler Dienste durch Pfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen nach Pfl egestufen<br />
ab Stufe drei<br />
Frequenz der Inanspruchnahme<br />
(Angaben <strong>in</strong> %)<br />
Pflegegeldstufe<br />
gar nicht<br />
fallweise bis 1x<br />
wöchentlich<br />
mehrmals<br />
wöchentlich bis<br />
1x tägl.<br />
mehrmals<br />
täglich<br />
Gesamt<br />
Stufe 3 71,2 7,7 16,7 4,4 100,0<br />
Stufe 4 68,1 8,9 16,6 6,4 100,0<br />
Stufe 5 59,6 8,6 19,8 12,0 100,0<br />
Stufe 6 64,8 4,7 20,3 10,2 100,0<br />
Stufe 7 33,8 13,3 29,4 23,5 100,0<br />
Gesamt 66,6 8,3 17,8 7,3 100,0<br />
N 1367 170 366 150 2053<br />
Quelle: BMSG/ÖBIG (2004a), Prozentwerte zusammengefasst<br />
Die Gründe <strong>für</strong> die Nicht-Inanspruchnahme von mobilen Diensten zeigt e<strong>in</strong>e Studie, die den Fokus<br />
auf pfl egende Angehörige legt (BMSG/ÖBIG 2005): Die mit Abstand am häufi gsten erwähnten<br />
Begründungen aus Angehörigenperspektive waren zum e<strong>in</strong>en die mangelnde F<strong>in</strong>anzierbarkeit<br />
(42%) und zum anderen die ab lehnende Haltung gegenüber diesen Diensten (48%). Signifi -<br />
kante Unterschiede ergaben sich im Vergleich zwischen städtischen und ländlichen Gebieten: In<br />
ländlichen Regionen wird das Angebot als unzureichend e<strong>in</strong>geschätzt, <strong>in</strong> städtischen Bereichen<br />
wird die Unzufriedenheit mit der angebotenen Leistung und die ablehnende Haltung gegenüber<br />
ambulanten Diensten häufi ger genannt als am Land (vgl. Abbildung 1).<br />
390
PFLEGE UND BETREUUNG II: DIE FORMELLE AMBULANTE PFLEGE<br />
Abbildung 1: Gründe <strong>für</strong> die Nicht-Inanspruchnahme mobiler Dienste aus der Sicht pfl egender<br />
Angehöriger diff erenziert nach Wohnungsumgebung<br />
70%<br />
60%<br />
50%<br />
40%<br />
30%<br />
20%<br />
10%<br />
0%<br />
12%<br />
5%<br />
ländlich<br />
städtisch<br />
<strong>in</strong>sgesamt<br />
10%<br />
2%<br />
Regional nicht ausreichend<br />
7%<br />
4%<br />
Unzufrieden mit Leistung<br />
40% 43% 41%<br />
Quelle: BMSG/ÖBIG. ÖBIG-eigene Erhebung und Auswertung (2005: 33)<br />
Achsen: x-Achse: Gründe <strong>für</strong> Nicht-Inanspruchnahme; y-Achse: %-Verteilung nach Wohnort. (n = 830)<br />
16.2. Bedarfs- und Entwicklungspläne<br />
16.2.1. Ist-Stand der mobilen Dienste<br />
53%<br />
47%<br />
45%<br />
Mangelnde F<strong>in</strong>anzierbarkeit<br />
Ablehnende Haltung<br />
14% 12% 13%<br />
Ke<strong>in</strong>e Information über Angebote<br />
Aus der Studie „Ausbau der Dienste u nd E<strong>in</strong>richtungen <strong>für</strong> pfl egebedürftige Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>“<br />
(BMSG/ÖBIG 2004b) geht her vor, dass Ende 2002 genau 7.810 Pfl ege- und Betreuungspersonen<br />
(diplomierte Pfl egepersonen, Pfl egehelfer/<strong>in</strong>nen, Alten helfer/<strong>in</strong>nen, Heimhelfer/<br />
<strong>in</strong>nen) <strong>in</strong> Vollzeitäquivalenten (VZÄ) beschäftigt waren. Bezogen auf den Anteil der alten Bevölkerung<br />
waren dies durchschnittlich 13,4 Pfl ege- und Betreuungspersonen pro tausend der<br />
über 75-Jährigen <strong>Österreich</strong>er/<strong>in</strong>nen. Am höchsten ist die Versorgungsdichte <strong>in</strong> Wien mit 21 VZÄ<br />
und am ger<strong>in</strong>gsten <strong>in</strong> Oberösterreich mit 6,1 VZÄ. Bezogen auf den Bevölkerungsanteil der über<br />
75-Jährigen hat die personelle Versorgungsdichte <strong>in</strong> allen Bundesländern <strong>in</strong> den letzten Jahren<br />
zugenommen. Es besteht allerd<strong>in</strong>gs nach wie vor e<strong>in</strong> beträchtlicher Unterschied zwischen den<br />
e<strong>in</strong>zelnen Bundesländern.<br />
Tausend E<strong>in</strong>wohner/<strong>in</strong>nen ab dem 75. Lebensjahr stehen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> drei diplomierte Gesundheits-<br />
und Krankenpfl egepersonen, drei Pfl egehelfer/<strong>in</strong>nen bzw. 2,9 Altenfachbetreuer/<strong>in</strong>nen<br />
oder Altenhelfer/<strong>in</strong>nen und 7,6 Heimhelfer/<strong>in</strong>nen zur Verfügung. Betrachtet man die Qualifi kati-<br />
391
PFLEGE UND BETREUUNG II: DIE FORMELLE AMBULANTE PFLEGE<br />
onsstruktur der Pfl ege- und Betreuungspersonen der e<strong>in</strong>zelnen Bundesländer, so zeigt sich allerd<strong>in</strong>gs<br />
e<strong>in</strong> recht <strong>in</strong>homogenes Bild (vgl. Tabelle 4): Der Anteil der diplomierten Gesundheits- und<br />
Krankenpfl egepersonen ist prozentuell gesehen <strong>in</strong> den westlichsten Bundesländern Vorarlberg<br />
und Tirol am höchsten. Die Pfl egehelfer/<strong>in</strong>nen, Altenfachbetreuer/<strong>in</strong>nen und Altenhelfer/<strong>in</strong>nen<br />
überwiegen <strong>in</strong> den Bundesländern Oberösterreich und Kärnten. Die Heimhelfer/<strong>in</strong>nen stellen<br />
<strong>in</strong> Wien die mit Abstand größte Berufsgruppe dar (81 Prozent) wo-gegen es <strong>in</strong> Oberösterreich<br />
ke<strong>in</strong>e Heimhelfer/<strong>in</strong>nen gibt.<br />
392<br />
Tabelle 4: Qualifi kationsstruktur <strong>in</strong> den mobilen Diensten (Stichtag 31.12.2002)<br />
Qualifikationsstruktur VZÄ pro 1000 EW 75+<br />
Bundesland<br />
DGKP <strong>in</strong> %<br />
AH/ AFB/ PH<br />
<strong>in</strong> %<br />
HH <strong>in</strong> % DGKP AH/ AFB/ PH HH<br />
Burgenland 26 14 60 2,2 1,2 5,0<br />
Kärnten 22 47 31 2,1 4,5 2,9<br />
Niederösterreich 26 16 58 4,3 2,7 9,9<br />
Oberösterreich 31 69 0 1,9 4,2 0,0<br />
Salzburg 31 19 50 5,2 3,2 8,4<br />
Steiermark 32 30 38 2,8 2,6 3,3<br />
Tirol 36 40 24 3,3 3,7 2,2<br />
Vorarlberg 35 4 61 6,2 0,7 10,6<br />
Wien 10 9 81 2,0 1,9 17,1<br />
<strong>Österreich</strong> 22 22 56 3,0 2,9 7,6<br />
Quelle: BMSG/ÖBIG (2004b:10), modifi zierte Tabelle<br />
DGKP = Diplomiertes Gesundheits- und Krankenpfl egepersonen; AH = Altenhelfer/<strong>in</strong>nen; AFB = AltenfachbetreuerInnen;<br />
PH = Pfl egehelferInnen; HH = Heimhelfer/<strong>in</strong>nen; VZÄ = Vollzeitäquivalente (Basis: 40 Stunden Beschäftigung); EW 75+ =<br />
E<strong>in</strong>wohner/<strong>in</strong>nen 75 Jahre und älter<br />
16.2.2. Soll-Stand der mobilen Dienste<br />
Für den Personalbedarf <strong>in</strong> der mobilen Pfl ege und Betreuung <strong>für</strong> das Jahr 2010, bezogen auf die<br />
Gesamtzahl der E<strong>in</strong>wohner/<strong>in</strong>nen, beziff ert das ÖBIG <strong>für</strong> die diplomierten Pfl egepersonen e<strong>in</strong>en<br />
Zuwachs von 504, <strong>für</strong> die Altenhelfer/<strong>in</strong>nen/Pfl egehelfer/<strong>in</strong>nen/Altenfachbetreuer/<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>en<br />
Zuwachs von 578 Personen <strong>in</strong> VZÄ. Demnach würde 2010 der Soll-Stand bei den diplomierten<br />
Pfl egepersonen 2.219 und bei den Altenhelfer/<strong>in</strong>nen/Pfl egehelfer/<strong>in</strong>nen /Altenfachbetreuer/<br />
<strong>in</strong>nen 2.209 betragen (ÖBIG/BMGF 2006: 28). Bu ndeslandspezifi sch weisen Oberösterreich<br />
und die Steiermark den höchsten Ausbaubedar f auf, gefolgt von Tirol und Niederösterreich.<br />
Der Bedarf an Heimhelfer/<strong>in</strong>nen wird mit 2.971 VZÄ beziff ert, allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d die Bundesländer<br />
Wien, Vorarlberg und Salzburg <strong>in</strong> dieser Schätzung nicht berücksichtigt (BMSG/ÖBIG 2004b: 10).<br />
Die personelle Planung der ambulanten Versorgung, die dem tatsächlichen zukünftigen Bedarf<br />
entspricht, ist schwierig. Die E<strong>in</strong>schätzungen basieren auf e<strong>in</strong>er Fortschreibung des Status-Quo.
PFLEGE UND BETREUUNG II: DIE FORMELLE AMBULANTE PFLEGE<br />
Neue konzeptuelle und strukturelle Herausforderungen, die s ich angesichts sich ändernder<br />
Bedarfs lagen ergeben, werden wenig berücksichtigt. E<strong>in</strong>ige zukünftige Entwicklungsszenarien<br />
s<strong>in</strong>d relativ ungewiss, andere wiederum werden ziemlich sicher e<strong>in</strong>treten. Sicher ist die zunehmende<br />
Hochaltrigkeit. Unsicher dagegen, wie die Hochaltrigkeit erlebt wird und ob es durch die<br />
Langlebigkeit zur zeitlichen Ausdehnung oder bei gleichzeitiger Verbesserung des Gesundheitszustandes<br />
zur Kompression der Pfl egebedürftigkeit im letzten Lebensabschnitt kommt (Badelt<br />
1996). H<strong>in</strong>zu kommen noch neue pfl egerische Bedarfslagen (vgl. Kapitel 15).<br />
Tabelle 5: Vergleich Ist-Stande 2002 mit dem rechnerischen Sollstand an Pfl ege- und Betreuungspersonen<br />
im Jahr 2010 Bundesland Soll-Stand 2010<br />
Quelle: ÖBIG/BMGF (2006: 28)<br />
Soll-Stand 2010 Veränderung zum IST- Stand 2002<br />
Bundesland<br />
DGKP AH/ AFB/ PH<br />
Pflege<br />
personal<br />
gesamt<br />
DGKP AH/ AFB/ PH<br />
Pflege<br />
personal<br />
gesamt<br />
absolut absolut absolut<br />
Burgenland 63 43 106 15 16 31<br />
Kärnten 146 173 319 57 -16 41<br />
Niederösterreich 550 426 976 58 114 172<br />
Oberösterreich 292 527 819 113 137 250<br />
Salzburg 202 125 327 34 23 57<br />
Steiermark 339 396 735 87 157 244<br />
Tirol 236 277 513 103 127 230<br />
Vorarlberg 154 17 171 68 5 43<br />
Wien 237 225 462 -20 -18 -38<br />
<strong>Österreich</strong> 2219 2209 4428 504 578 1082<br />
Mit ziemlicher Sicherheit kann auch angenommen werden, dass es trotz ungebrochener Bereitschaft<br />
von Familienmitgliedern, die häusliche Pfl ege e<strong>in</strong>es pfl egebedürftigen Angehörigen zu<br />
übernehmen, <strong>in</strong> den nächsten Jahren zu e<strong>in</strong>em Rückgang der familiären Pfl ege kommen wird.<br />
Hier<strong>für</strong> wird e<strong>in</strong>e j ährliche Reduktion der Pfl egebereitschaft Angehöriger um e<strong>in</strong>en Proz entpunkt<br />
angenommen, um den w iederum die am bulante Versorgung durch Dienste zunehmen<br />
wird (Streissler 2004: 34ff ). Was die Pl anung noch bee<strong>in</strong>fl ussen kann ist, dass gege nwärtig<br />
geleistete <strong>Arbeit</strong>sstunden <strong>in</strong> der ambulanten Pfl ege zu niedrig e<strong>in</strong>geschätzt werden und dem<br />
tatsächlichen Pfl egebedarf häufi g nicht Rechnung tragen. Streissler (2004) hebt diesbezüglich<br />
hervor, dass nach vorangegangener Untersuchung (Badelt 1997), 16% der über 60-Jährigen, die<br />
bereits private oder professionelle Pfl ege erhielten, angaben, dass diese nicht ausreichend sei.<br />
Die Unterschätzung des Personalbedarfs <strong>in</strong> der ambulanten Pfl ege und Betreuung zeigen auch<br />
die Diskussionen rund um die „illegale Pfl ege“ <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>, worauf Untersuchungen schon<br />
seit längerer Zeit h<strong>in</strong>weisen (Krajic et al. 2005). Im Rahmen dieses so genannten „grauen oder<br />
schwarzen Pfl egebereichs“ bieten Schätzung zufolge zwischen 10.000 und 40.000 Personen<br />
393
PFLEGE UND BETREUUNG II: DIE FORMELLE AMBULANTE PFLEGE<br />
zum Teil e<strong>in</strong>e 24-Stunden Betreuung <strong>für</strong> ältere und/oder pfl egebedürftige Menschen, ab seits<br />
e<strong>in</strong>es Anstellungsverhältnisses, zu günstigen Preisen an. Durch die Legalisierungsdiskussion<br />
wurde e<strong>in</strong> bi sher unsichtbarer und unbewerteter Bedarf off en gelegt, der <strong>in</strong> die Pl anung der<br />
ambulanten Pfl ege und Betreuung e<strong>in</strong>fl ießen muss. Selbst wenn der unterste Wert der Schätzungen<br />
zutriff t, übersteigt dies die Anzahl der <strong>in</strong> der formellen Pfl ege tätigen Personen enorm.<br />
Im Sommer 2007 wurde e<strong>in</strong>e gesetzliche Regelung zur legalen Realisierung e<strong>in</strong>er 24-Stunden<br />
Betreuung beschlossen. Dies fi ndet sich e<strong>in</strong>erseits im Hausbetreuungsgesetztes zur Regelung<br />
der arbeitsrechtlichen Grundlage als auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Novelle des Pfl egegeldgesetzes um die Zuwendung<br />
öff entlicher Fördermittel zu diesen Diensten zu regelt.<br />
16.3. Entwicklung der Pfl ege- und Sozialberufe<br />
Die Pfl ege- und Sozialberufe s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Wachstumsbereich, der aufgrund demografi scher Entwicklungen,<br />
neuer Bedarfslagen und steigender Qualitätsansprüche zunehmend an Bedeutung<br />
gew<strong>in</strong>nen wird. Die Zunahme dieser Bedeutung schlägt sich <strong>in</strong> der Notwendigkeit nach adäquaten<br />
Qualifi zierungen der Personen nieder (Gruber & Kastner 2005: 9). Laut e<strong>in</strong>er Studie zur Situation<br />
der Aus- und Weiterbildung der Pfl egeberufe gibt es e<strong>in</strong>en hohen K onsens darüber, dass die<br />
Akademisierung der Ausbildung im Bereich Gesundheit und Pfl ege stark zu forcieren ist 3 (Gruber<br />
und Kastner 2005: 15ff ). E<strong>in</strong>e zukunftsfähige akademische Ausbildung im Gesu ndheits- und<br />
Pfl egebereich sche<strong>in</strong>t nur an Fachhochschulen und Universitäten s<strong>in</strong>nvoll. Der Anstoß hier<strong>für</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> ist schon vor längerer Zeit erfolgt: Derzeit wird an vier universitären Standorten <strong>in</strong><br />
<strong>Österreich</strong> (Wien, Graz, Hall <strong>in</strong> Tirol und künftig Salzburg) Pfl egewissenschaft angeboten. Dazu<br />
kommt e<strong>in</strong>e Vielzahl von weiteren Universitäten und Fachhochschulen, die gesundheitswissenschaftliche<br />
Ausrichtun gen aufweisen. Nicht zuletzt um dem Bedarf gerecht zu werden, aber auch<br />
um dem europäischen „H<strong>in</strong>terherh<strong>in</strong>ken“ vorzubeugen sowie die Ausbildung an <strong>in</strong>ternationale<br />
Standards anzugleichen, kann e<strong>in</strong>e n achhaltige Professionalisierung des Berufsfeldes ohne<br />
E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung der Grundausbildung <strong>für</strong> den gehobenen Dienst <strong>für</strong> Gesundheits- und Krankenpfl ege<br />
<strong>in</strong> die Akademisierung längerfristig nicht gel<strong>in</strong>gen. Bei anderen Berufen, z. B. den Mediz<strong>in</strong>isch-<br />
Therapeutischen Diensten oder den Hebammen, ist dieser Schritt bereits vollzogen.<br />
Neben der Notwendigkeit hoher Qualifi kation von Fachkräften auf akademischem Niveau<br />
befi ndet sich die gegenwär tige Ausbildungspraxis im Pfl ege- und Betreuungssektor <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Umbauphase, die durch die Entwicklung neuer Berufsgruppen und durch neue Bildungswege<br />
gekennzeichnet ist. Neben den etablierten Berufen (diplomierten Gesundheits- und Krankenpfl<br />
egepersonen, Alten-, Pfl ege- und Heimhelfer/<strong>in</strong>nen) werden g emäß der Vere<strong>in</strong>barung Art.<br />
15a B-VG zwischen dem Bund und den Ländern über Sozialbetreuungsberufe <strong>in</strong> Zukunft auch<br />
die Sozialfachbetreuer/<strong>in</strong>nen <strong>für</strong> Alten-, Beh<strong>in</strong>der ten- und Familienarbeit aktiv an der Pfl ege<br />
3 Auf Basis von ausführlichen ExpertInnengesprächen und weit reichender Recherchen der Bildungslandschaft im be-<br />
394<br />
nachbarten Ausland <strong>Österreich</strong>s (<strong>in</strong>sbesondere Deutschland, Schweiz, Italien/Autonome Prov<strong>in</strong>z Bozen)
PFLEGE UND BETREUUNG II: DIE FORMELLE AMBULANTE PFLEGE<br />
und Betreuung von hilfsbedürftigen Menschen beteiligt se<strong>in</strong>. Da die zweijährige Ausbildung zu<br />
den Sozialfachbetreuungsberufen beziehungsweise die dreijährige Ausbildung <strong>für</strong> diplomierte<br />
Sozialfachbetreuungsberufe erst beg<strong>in</strong>nen, s<strong>in</strong>d die Auswirkungen auf den gesamten Pfl ege-<br />
und Betreuungssektor noch nicht abschätzbar.<br />
Nach wie vor arbeiten qualifi katorische Maß nahmen mehr de m stationären denn dem am -<br />
bulanten Sektor zu. Dies wird auch an den Weiterbildungen <strong>in</strong> der Pfl ege deutlich. Hierbei<br />
bedarf es bei bestehenden Sonderausbildungen, die zur Ausübung von Spezialaufgaben <strong>in</strong><br />
der Gesundheits- und Krankenpfl ege berechtigen, e<strong>in</strong>es dr<strong>in</strong>genden Modernisierungsschubes.<br />
Zusätzliche Qualifi zierungsmaßnahmen speziell im g erontologisch-geriatrischen Bereich er -<br />
sche<strong>in</strong>en dr<strong>in</strong>gend notwendig. In e<strong>in</strong>em Gutachten über die Situation der ambulanten Pfl ege <strong>in</strong><br />
<strong>Österreich</strong> wird die Aufwertung der diplomierten Gesundheits- und Krankenpfl egepersonen als<br />
Kern der mobilen Dienste empfohlen (Krajic et al. 2005). E<strong>in</strong> diesbezügliches Konzept existiert<br />
beispielsweise <strong>in</strong> Form der „Familiengesundheitspfl ege“ (Family Health Nurse) der Weltgesundheitsorganisation<br />
(WHO 2000). Die Family Health Nurse ist e<strong>in</strong> zukunftsweisendes Konzept <strong>in</strong><br />
Form e<strong>in</strong>er Weiterbildung <strong>für</strong> Diplomierte Pfl egepersonen aber auch Hebammen. Der Fokus der<br />
Family Health Nurse liegt auf der gesamte Familie und dem Zuhause der Klient/<strong>in</strong>nen. Durch<br />
u.a. präventives Aufsuchen, Begleitung, Beratung, Unterstützung und Befähigung der Familien<br />
wird e<strong>in</strong> niederschwelliges Angebot angeboten, das den Zugang zu Leistungen des Sozial- und<br />
Gesundheitswesens erleichtert. Ab Herbst 2007 wird der erste Ausbildungslehrgang zur „Family<br />
Health Nurse“ <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er als Universitätslehrgang ausgerichteten mehrstufi gen<br />
Weiterbildung beg<strong>in</strong>nen.<br />
16.4. Trends und pfl egerische Bedarfslagen im Kontext der Hochaltrigkeit<br />
Gegenwärtige demografi sche Trends machen deutlich, dass sich der Anteil der hochaltrigen<br />
Bevölkerung <strong>in</strong> Zukunft <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> noch stärker erhöhen wir d. Aufgrund der Zunahme des<br />
alten und ganz alten Bevölkerungsanteils kann man davon ausgehen, dass neue Zielgruppen<br />
und Bedarfskonstellationen <strong>in</strong>s pfl egerische Blickfeld rücken werden. In e<strong>in</strong>em Gut achten <strong>in</strong><br />
Deutschland wurden unter anderem folgende Bedarfslagen identifi ziert, die <strong>in</strong> Zukunft von der<br />
Pfl ege besondere Aufmerksamkeit benötigen werden (Hasseler & Görres 2004): Bezogen auf die<br />
zunehmende Alterung s<strong>in</strong>d dies speziell Menschen mit Demenz, ältere Menschen mit Beh<strong>in</strong>derung<br />
und ältere Menschen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund. Dabei bedarf es neben ziel-gruppengerechter<br />
auch <strong>in</strong>tegrativer Kon zepte, die der häufi gen Multimorbidität und dem dadurch vielschichtigen<br />
Pfl ege- und Betreuungsbedarf der hochaltrigen pfl egebedürftigen Menschen Rechnung tragen.<br />
16.4.1. Ambulante Betreuung hochaltriger Menschen mit Demenz<br />
Bei gleich bleibenden Entwicklungen wird sich die Zahl der an Demenz erkrankten Menschen <strong>in</strong><br />
<strong>Österreich</strong> von 90.500 im Jahr 2000 auf ca. 233.800 im Jahr 2050 vervielfachen (Wancata 2002).<br />
Es zeigt sich deutlich, dass Demenz die Hauptursache <strong>für</strong> Pfl egebedürftikeit im Alter darstellt.<br />
Bei nahe die Hälfte der gesamten Pfl egebedürftigkeit entsteht aufgrund e<strong>in</strong>er dementiellen Er-<br />
395
PFLEGE UND BETREUUNG II: DIE FORMELLE AMBULANTE PFLEGE<br />
krankung und fast die Hälfte aller Pfl egeheime<strong>in</strong>weisungen erfolgt aufgrund Demenz (Ladurner<br />
2004). Demenz ist e<strong>in</strong> Problem der Familie und der Personen, die die Betroff enen pfl egen. Je<br />
nach Fortgang oder Schweregrad der Erkrankung besteht bei dieser Personengruppe e<strong>in</strong>e besondere<br />
Notwendigkeit an ständiger Beaufsichtigung, Motivierung, Anleitung und Hilfestellung.<br />
Die meisten Betroff enen benötigen e<strong>in</strong>e R und-um-die-Uhr-Pfl ege, <strong>für</strong> die nur die Familie die<br />
Ressourcen zur Verfügung stellen kann, will sie sich nicht am „illegalen Pfl egemarkt“ bedienen.<br />
Die ambulante Pfl ege ist bislang nur unzureichend auf demenziell erkrankte Menschen e<strong>in</strong>gestellt.<br />
Dies zeigt sich dar<strong>in</strong>, dass den angeboten Hilfen häufi g e<strong>in</strong> zu enges Pfl egeverständnis<br />
zu Grunde liegen, wonach Bedürfnisse oft auf elementare körperliche Selbst<strong>für</strong>sorgedefi zite<br />
beschränkt s<strong>in</strong>d. Im Rahmen von Fokusgruppen<strong>in</strong>terviews mit 36 pfl egenden Angehörigen,<br />
die e<strong>in</strong> dementes Familienmitglied pfl egen, wurden ambulante Dienste von den Angehörigen<br />
häufi g als hilfreich und entlastend wahrgenommen und als unterstützende Maßnahme, den<br />
Pfl egebedürftigen weiterh<strong>in</strong> zu Hause betreuen zu können. Gleichzeitig besteht an ambulante<br />
Dienste der Wunsch nach mehr zeitlicher Flexibilität und angepasster <strong>Arbeit</strong>sweisen der Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen<br />
an das jeweilige Stadium der Demenz, <strong>in</strong> dem sich das kranke Familienmitglied<br />
befi ndet (Seidl et al. 2005: 55f). Angehörige wünschen sich von den Pfl egenden umfangreiche<br />
Sachkenntnisse zum Krankheitsbild der Demenz sowie mehr und bessere Beratung zu Fragen<br />
von Unterstützungsangeboten. Was speziell bei Demenz noch e<strong>in</strong> Prob lem darstellt, ist die<br />
Praxis der Pfl egegeld-E<strong>in</strong>stufung, die den Bedarf dieser Personengruppe häufi g unterbewertet<br />
lässt oder die E<strong>in</strong>stufung auch von „fachfremden“ Ärzt/<strong>in</strong>nen (z. B. nicht „Neurologie“ oder<br />
„Psychiatrie“) vorgenommen wird, die n ach E<strong>in</strong>schätzung der pfl egenden Angehörigen nicht<br />
ausreichend über Demenz bescheid wissen (Seidl et al. 2005: 47). Allgeme<strong>in</strong> lässt sich sagen,<br />
dass <strong>für</strong> die Pfl ege und Betreuung von Menschen mit Demenz e<strong>in</strong>e qualit ativ diff erenzierte,<br />
zeitlich fl exible sowie wohnortsnahe Pfl ege und Betreuung mit niederschwelligen und fi nanzierbaren<br />
Entlastungsmöglichkeiten <strong>für</strong> Angehörige notwendig ist, die den Bedürfnissen dieser<br />
speziellen Gruppe Rechnung tragen.<br />
16.4.2. Ambulante Betreuung hochaltriger Menschen mit Beh<strong>in</strong>derung<br />
Alte und hochaltrige Menschen mit Beh<strong>in</strong>derung, die dauerhaft Pfl ege und Betreuung benötigen,<br />
s<strong>in</strong>d aus pfl egerischer Perspektive e<strong>in</strong> relativ neues Phänomen. E<strong>in</strong>erseits haben Menschen mit<br />
Beh<strong>in</strong>derungen heute e<strong>in</strong>e weitaus höhere Lebenserwartung als <strong>in</strong> den letz ten Jahrzehnten.<br />
Andererseits wurde e<strong>in</strong> großer Teil der Menschen mit Beh<strong>in</strong>derung im Dritten Reich systematisch<br />
ermordet, wodu rch e<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>andersetzung mit Bedürfnissen dieser P ersonengruppe<br />
erst relativ spät e<strong>in</strong>setzte. Es gibt <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> kaum Daten über Bedürfnisse von hochaltrigen<br />
Menschen mit Beh<strong>in</strong>derung. Das Statistische Jahrbuch 2006 zeigt bei körperlich beh<strong>in</strong>derten<br />
Personen auf, dass 43% der 75-und-mehr-Jährigen erheblich <strong>in</strong> den Tätigkeiten des täglichen<br />
Lebens e<strong>in</strong>geschränkt s<strong>in</strong>d (Statistik Austria 2005). Alte Menschen mit Beh<strong>in</strong>derung s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>eswegs<br />
als homogene Gruppen zu bezeichnen. Dies setzt sich natürlich auch im Bedar f an<br />
Unterstützung fort, die die unterschiedlichen Personengruppen der beh<strong>in</strong>derten alten Menschen<br />
haben (Landtag NRW 2005). Hasseler und Görres (2004) defi nieren unter anderem folgenden<br />
Bedarf <strong>für</strong> ältere pfl egebedürftige beh<strong>in</strong>derte Menschen: Qualifi zierung der Berufsgruppe zur<br />
396
PFLEGE UND BETREUUNG II: DIE FORMELLE AMBULANTE PFLEGE<br />
Pfl ege und Betreuung älterer beh<strong>in</strong>derter Menschen, Aufbau u nd Förderung von wohnortnahen<br />
Rehabilitationse<strong>in</strong>richtungen und präventiven Hausbesuchen du rch Pfl ege und andere<br />
Gesundheitsberufe, fl exiblere ambulante Dienstleistungen sowie berufsgruppenübergreifende<br />
Zusammenarbeit.<br />
16.4.3. Ambulante Betreuung hochaltriger Menschen mit Migrations<br />
h<strong>in</strong>tergrund<br />
Laut Volkszählung von 2001 lebten 710.926 Menschen aus anderen Ländern <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>. Der<br />
Anteil der über 75-Jährigen lag dabei bei 1,5% (Statistik Austria 2002). E<strong>in</strong> großer Teil der Menschen<br />
mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund kann im Falle von Pfl ege- und Betreuungsbedürftigkeit zurzeit noch<br />
auf e<strong>in</strong> tragfähiges familiäres Netz vertrauen. Immerh<strong>in</strong> gaben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Studie 65% der befragten<br />
türkischen Frauen an, im Bedarfsfall auf m<strong>in</strong>destens „5 oder mehr Personen“ zurückgreifen zu<br />
können (nur 18% der Öst erreicher/<strong>in</strong>nen können dies tu n) (Re<strong>in</strong>precht 1999). Dies wird sich<br />
aber an gesichts anhaltender gesellschaftlicher Trends verändern. Was die Inanspruchnahme<br />
ambulant pfl egerischer Dienste von Menschen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund betriff t, so gibt es so<br />
gut wie ke<strong>in</strong>e Daten. Allerd<strong>in</strong>gs kann man analog zu Schätzungen <strong>in</strong> Deutschland davon ausgehen,<br />
dass diese <strong>in</strong> den kommenden Jahrzehnten stark ansteigen wird (BMFSFJ 2002). In der<br />
Studie von Re<strong>in</strong>precht (1999) gaben 30% der befragten Personen an, sich vorstellen zu können,<br />
ambulante Dienste <strong>in</strong> Anspruch zu nehmen. Wobei das Bescheidwissen über die Existenz von<br />
ambulanten Diensten <strong>für</strong> die Bereitschaft, solche <strong>in</strong> Anspruch zu nehmen, e<strong>in</strong> entscheidendes<br />
Kriterium darstellt. Es existiert e<strong>in</strong>e Reihe von Zugangsbarrieren zu ambulanten Diensten (vorwiegend<br />
fi nanziell und sprachlich bed<strong>in</strong>gt) sowie Hemmnissen, diese <strong>in</strong> Anspruch zu nehmen,<br />
beispielsweise aufgrund allgeme<strong>in</strong>er schlechter Erfahrungen mit Behörden (Kremla 2004) 4 . In<br />
der direkten Pfl ege und Betreuung fehlt es an zeitgerechten Konzepten, die den Bedürfnissen<br />
dieser Personengruppe entsprechen. E<strong>in</strong> besonders Augenmerk muss dabei auf folgende Bereiche<br />
gelegt werden (B<strong>in</strong>der-Fritz 2005): Genderspezifi sche Aspekte der Altenpfl ege, Migrationserleben<br />
und psychische Verfassung im Alter, religiöse Bedürfnisse, Essensgewohnheiten,<br />
Patient/<strong>in</strong>nen orientierte Körperpfl ege, Zunahme der dementiellen Erkrankungen, Umgang mit<br />
Trauer, Sterben und Tod, spezielle Problemstel lungen vor dem H<strong>in</strong>tergrund religiös begründeten<br />
Handelns (z. B. Umgang mit Bluttrans fusionen, Obduktion, Organentnahme). An dieser Stelle<br />
muss aber auch betont werden, dass viele Menschen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund selbst <strong>in</strong> der<br />
direkten Pfl ege- und Betreuung tätig s<strong>in</strong>d, was e<strong>in</strong>e unschätzbare Ressource <strong>in</strong> der Betreuung<br />
dieser Personengruppe darstellt.<br />
4 Basierend auf Gruppendiskussionen mit Menschen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund und Trägerorganisationen<br />
397
PFLEGE UND BETREUUNG II: DIE FORMELLE AMBULANTE PFLEGE<br />
16.4.4. Versorgungs<strong>in</strong>tegration, Kooperation und Koord<strong>in</strong>ation<br />
<strong>Hochaltrige</strong> pfl egebedürftige Menschen s<strong>in</strong>d häufi g multimorbid und weisen daher e<strong>in</strong>en<br />
vielschichtigen Pfl ege- und Betreuungsbedarf auf (pfl egerisch/sozial/mediz<strong>in</strong>isch). Um d em<br />
gerecht zu werden, müssen Gesamtpakete an Maßnahmen geschnürt werden, die aufe<strong>in</strong>ander<br />
abgestimmt und durch qualifi zierte Personen koord<strong>in</strong>iert werden. Den dr<strong>in</strong>g enden Bedar f,<br />
beispielsweise an e<strong>in</strong>er k oord<strong>in</strong>ierten Entlassung aus dem Krankenhaus im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Entlassungsmanagements<br />
und Vorbereitung auf zu Hause sehen Spitäler nicht zuletzt aufgrund des<br />
bereits jetzt schon ca. 40prozentigen Anteils jener Patient/<strong>in</strong>nen im Krankenhaus, die über 65<br />
Jahre alt s<strong>in</strong>d (Grundböck & Luhan 2006). Bislang lagen nur Expert/<strong>in</strong>nenschätzungen über den<br />
Bedarf an Entlassungsmanagement vor. Erste Berechnungen <strong>für</strong> Wien zeigen mittlerweile, dass<br />
der Bedarf der aus dem Krankenhaus entlassenen Personen, die e<strong>in</strong>e anschließend umfassende<br />
pfl egerische/soziale/mediz<strong>in</strong>ische Betreuung zu Hause benötigen, <strong>in</strong> Wien bei durchschnittlich<br />
12% liegt (Grundböck & Luhan 2006).<br />
Im eigenen Zuhause müssen ebenfalls komplexe Leistungen erbracht werden, deren Organisation<br />
und Abstimmung <strong>für</strong> die Betroff enen häufi g e<strong>in</strong>e Überforderung darstellt. Im Rahmen der Erhebung<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Modellprojekt haben gut 39% der befragten und großteils alten Personen (n=91), die<br />
zu Hause leben und e<strong>in</strong>en hohen Pfl ege- und Betreuungsaufwand aufweisen, angegeben, dass<br />
sie die Organisation von <strong>für</strong> sie notwendigen Hilfen „teilweise“ bis „sehr aufwendig“ empfi nden.<br />
Weiters gaben mehr als die Hälfte der befragten Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen (n=60) der Pfl ege- und<br />
Sozialdienste an, dass ihnen im Rahmen der Betreuung ihrer Klient/<strong>in</strong>nen zu Hause niemand<br />
bekannt ist, der die umfassenden pfl egerischen, mediz<strong>in</strong>ischen, sozialen, hauswirtschaftlichen<br />
und therapeutischen Leistungen aufe<strong>in</strong>ander abstimmt (Pe<strong>in</strong>haupt et al. 2004; weiterführende<br />
Analysen des Rohdatensatzes aus dem Pik-Projekt).<br />
Für die Pfl ege und Betreuung zu Hause stellt „Case-Management“ e<strong>in</strong> s<strong>in</strong>nvolles Konzept zur<br />
Planung und Koord<strong>in</strong>ation unterschiedlicher Leistungen dar. Als Voraussetzung <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e fl ächendeckende<br />
und qualitätsgesicherte Umsetzung von Case-Management <strong>in</strong> der Betreuung zu Hause<br />
ist es allerd<strong>in</strong>gs notwendig, dass <strong>in</strong>haltlich/methodische sowie e<strong>in</strong>heitliche Standards vorliegen,<br />
die von Qualifi zierungs- und F<strong>in</strong>anzierungsschritten begleitet werden (Nowak et al. 2004).<br />
16.5. Resümee<br />
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Datenlage zur ambulanten Pfl ege- und Betreuung<br />
<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> <strong>in</strong> den hier diskutierten Bereichen e<strong>in</strong>ige Lücken aufweist. In Bezug auf hochaltrige<br />
pfl egebedürftige Menschen im Kontext der ambulant häuslichen Versorgung erlaubt sie teilweise<br />
nur e<strong>in</strong>e wenig diff erenzierte Analyse. Die Defi nition von Hochaltrigkeit ist <strong>in</strong> der Berichterstattung<br />
wenig konsistent. Vielfach ist die oberste Altersgruppe, <strong>für</strong> die Daten ausgewiesen s<strong>in</strong>d,<br />
die der 75-und-mehr-Jährigen, ältere Personengruppen s<strong>in</strong>d vielfach nicht berücksichtigt. Dies<br />
erschwert e<strong>in</strong>e vergleichende Darstellung, was besonders bei der Inanspruchnahme der ambulanten<br />
Dienste zum Tragen kommt. Für e<strong>in</strong>e eff ektive Bedarfsplanung der Pfl ege wäre dah<strong>in</strong>gehend<br />
398
PFLEGE UND BETREUUNG II: DIE FORMELLE AMBULANTE PFLEGE<br />
e<strong>in</strong>e bundesweit e<strong>in</strong>heitliche sowie auch umfangreiche Datenerfassung anzustreben. Aus der<br />
Sicht der Pfl ege s<strong>in</strong>d damit auch standardisierte Assessmentverfahren sowie die statistische<br />
Aufbereitung der Daten über die Statistik Austria und die Abbildung der Pfl egedaten im statistischen<br />
Jahrbuch verbunden. Dazu zählen auch die Erfassung der Personalsituation, der Nutzung<br />
von Leistungen sowie patient/<strong>in</strong>nenbezogene Daten, um den tatsächlichen Pfl egebedarf besser<br />
abbilden zu können. Die Berechnung des zukünftigen Soll-Standes bezieht sich gegenwärtig<br />
auf Richtwerte bzw. Indikatorenmodelle mit sehr divergierenden Ergebnissen. Dabei werden<br />
von Entscheidungsträgern am ehesten jene Werte akzeptiert, die nur leicht über dem Ist-Stand<br />
des Angebotes liegen (ÖBIG 2006: 28f). Zu große Abweichungen zwischen Soll- und Ist-Stand<br />
stoßen laut ÖBIG (2006) auf planerische Ablehnung. Die Planungen tragen somit spezieller Bedarfslagen<br />
wie etwa Menschen mit Demenz, die häufi g „Rund-um-die-Uhr-Pfl ege-und-Betreuung“<br />
benötigen, sowie weiterer „Schräglagen“ kaum Rechnung. Diesbezüglich muss auch dr<strong>in</strong>gend<br />
die zukünftige F<strong>in</strong>anzierung der Pfl ege und Betreuung zu Hause diskutiert werden.<br />
Generell treten hochaltrige Menschen als eigene „Nutzer/<strong>in</strong>nengruppe“ von ambulanten Diensten<br />
noch recht wenig hervor. Bei e<strong>in</strong>igen speziellen pfl egerischen Bedarfs lagen wie Beh<strong>in</strong>derung<br />
oder Menschen mit Migr ationsh<strong>in</strong>tergrund lässt sich festhalten, dass viele die Schwelle zur<br />
Hochaltrigkeit noch nicht passiert haben, allerd<strong>in</strong>gs damit zu rechnen se<strong>in</strong> wird, dass die Pfl ege<br />
<strong>in</strong> den kommenden Jahren und Jahrzehnten vermehrt mit speziellen Bedürfnissen dieser Gruppen<br />
konfrontiert se<strong>in</strong> wird. Die bedarfs- und zielgruppengerechte pfl egerische Versorgung von<br />
hochaltrigen Menschen wird <strong>in</strong> der Zukunft pfl egerische, aber auch professionsübergreifender<br />
Konzepte mit besonderem Augenmerk auf Integration und Koord<strong>in</strong>ation von Versorgungsleistungen<br />
benötigen. Um diesen Anforderungen künftig gerecht zu werden, bedarf es im Bereich<br />
der Pfl ege neben st rukturellen Maßnahmen auch hoher u nd teilweise neuer Qualifi kationen<br />
und Kompetenzentwicklungen sowie pfl egewissenschaftlich orientierte Forschungen <strong>in</strong> diesen<br />
Bereichen. Auf der Ebene der Ausbildung bedeutet das e<strong>in</strong> fl exibles und durchgängiges Bildungssystem,<br />
das an klaren Kompetenzen sowie an europäischen Bildungsnormen ausgerichtet ist.<br />
Auf der Ebene der direkten Betreuung muss das gegenwärtig häufi g verengte Pfl egeverständnis<br />
von re<strong>in</strong> körperlich bezogener Defi zitbewältigung erweitert werden. Es wird <strong>in</strong> der Pfl ege größeres<br />
Augenmerk auf kommunikative Kompetenz, Beratung und Anleitung, sowie auf präventive<br />
und rehabilitative Ausrichtungen zu legen se<strong>in</strong>. Aus der Sicht der formellen ambulanten Pfl ege<br />
muss dies sowohl auf die Zielgruppe der pfl egebedürftigen Menschen, die zu Hause leben, als<br />
auch auf deren Familien abzielen.<br />
399
PFLEGE UND BETREUUNG II: DIE FORMELLE AMBULANTE PFLEGE<br />
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PFLEGE UND BETREUUNG II: DIE FORMELLE AMBULANTE PFLEGE<br />
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402
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
17. PFLEGE UND BETREUUNG<br />
VOM ARMENASYL ZUR HAUSGEMEINSCHAFT: GEMEINSCHAFTLICHES<br />
WOHNEN BEI BETREUUNGS- UND PFLEGEBEDARF<br />
MARGIT SCHOLTA<br />
Unsere gegenwärtige "Gesellschaft des langen Lebens", seit 20 Jahren prognostiziert, beobachtet<br />
und thematisiert, erlebt e<strong>in</strong>e dreifache Alterung, charakterisiert durch e<strong>in</strong>e hohe Lebenserwartung,<br />
e<strong>in</strong>en steigenden Anteil der Menschen über 60 an der Gesamtbevölkerung und e<strong>in</strong>en<br />
überproportionalen Anstieg der Hochbetagten: bereits <strong>in</strong> 25 Jahren werden um 130% mehr<br />
Menschen im Alter von 85 Jahren und darüber <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> leben als heute.<br />
Noch befi nden sich die zukunftsweisenden Modelle und Vorstellungen, wie den Her ausforderungen,<br />
die mit der steigenden Anzahl hochaltriger Menschen und den mit dieser Lebensphase<br />
e<strong>in</strong>hergehenden sozialen, körperlichen und psychischen Veränderungen zu begegnen<br />
ist, im Anfangsstadium der Entwicklung. Bisher ist die Dienstleistungslandschaft noch geprägt<br />
von den konventionellen Angebotseckpunkten "Begleitung und Pfl ege durch Angehörige zu<br />
Hause" und "Pfl ege <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er stationären Langzeite<strong>in</strong>richtung". Es gibt auch ke<strong>in</strong>en nationalen<br />
Grundkonsens darüber, was als angemessene Leistung <strong>für</strong> alt gewordene Erwachsene mit Hilfebedarf<br />
gelten soll.<br />
Die Diskussion zur Weiterentwicklung der Bet reuungs- und Pfl egelandschaft beg<strong>in</strong>nt erst allmählich,<br />
e<strong>in</strong> Angebotskont<strong>in</strong>uum zu entwickeln, das nicht mehr ausschließlich auf Angehörige<br />
oder Groß-Institutionen setz t. Gegenwärtig lassen sich noch erheblic he Unterschiede <strong>in</strong> der<br />
Angebotsstruktur, den Vorstellungen, was angemessene Qualität der Leistungserbr<strong>in</strong>gung se<strong>in</strong><br />
muss, und dem E<strong>in</strong>satz von entsprechend ausgebildeten Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen feststellen.<br />
In der Folge werden unterschiedliche gesetzliche Aspekte, bundesländerspezifi sche Angebote<br />
und Strukturqualitäten und mögliche Wege zur Weiterentwicklung der formellen <strong>in</strong>stitutionellen<br />
Pfl ege aufgezeigt. Datengrundlage bilden die Erhebungen der Sozialabteilungen der e<strong>in</strong>zelnen<br />
Bundesländer und eigene Berechnungen. Dabei wird deutlich, w ie unterschiedlich sich<br />
die Entwicklungen <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Ländern darstellen und wie heterogen die Landschaft der<br />
Pfl egevorsorge <strong>für</strong> ältere Menschen <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Regionen trotz der seit 1993 geltenden<br />
Artikel-15a-B-VG -Vere<strong>in</strong>barung "Zur Neureglung der Pfl egevorsorge" nach wie vor ist.<br />
17.1. Herausforderung Pfl egebedürftigkeit<br />
In Kapitel 1 (Kytir) wird der markante demographische Wandel, die Alterung unserer Gesellschaft,<br />
detailliert behandelt. Im Blickw<strong>in</strong>kel des dar<strong>in</strong> zum Ausdruck kommenden überproportionalen<br />
Anstiegs der Anzahl hochbetagter Menschen wird die quantitative Dimension der Herausforderungen<br />
durch e<strong>in</strong>e l anglebige Gesellschaft verdeutlicht, gelten doch die über 80-Jährig en<br />
Menschen als größte Kund/<strong>in</strong>nengruppe <strong>für</strong> die professionellen stationären Betreuungs- und<br />
403
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
Pfl egeangebote. Da <strong>in</strong> dieser Altersgru ppe immer weniger familiäre Netzwerke zur Verfügung<br />
stehen, wird sich der Anteil jener Menschen, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Instit ution ihren L ebensabend verbr<strong>in</strong>gen,<br />
zwangsläufi g erhöhen.<br />
Die gesellschaftspolitische Bedeutung der organisierten Hilfe und Betreuung <strong>für</strong> ältere Erwachsene<br />
ist auch vor allem unter den Auswirkungen der Reduzierung des familiären Pfl egepotentials<br />
zu sehen. Sie zeigt sich e<strong>in</strong>erseits im Anstieg der Beschäftigungs quote der 15- bis 64-Jährigen<br />
Frauen zwischen 1981 und 2003 auf 62% und andererseits <strong>in</strong> der Zunahme der Scheidungsrate<br />
auf 43,2% im selben Zeitraum (vgl. BMSG 2006: 4). H<strong>in</strong>zu kommen noch als weitere Faktoren<br />
e<strong>in</strong> prognostizierter Anstieg der Zahl der Paare ohne K<strong>in</strong>der um 40% bis zum Jahr 2041 und e<strong>in</strong>e<br />
Steigerung des Anteils der E<strong>in</strong>personenhaushalte von 33,6% aller Wohn- und Wirtschaftsgeme<strong>in</strong>schaften<br />
auf 41,5% aller Haushalte bis zum Jahr 2050.<br />
(7.1.2007)<br />
Die politische Strategie „mobil vor stationär“ und der deklarierte Wunsch der alten Menschen<br />
nach e<strong>in</strong>em möglichst langen Verbleib <strong>in</strong> der eigenen Wohnung werden daher mangels unentgeltlich<br />
pfl egender Angehöriger als e<strong>in</strong>zige Dienstleister/<strong>in</strong>nen zu den bisherigen fi nanziellen<br />
Bed<strong>in</strong>gungen nicht mehr erfüllt werden können.<br />
Bessere Wohnstandards und der Ausbau der mobilen Dienste haben jedoch auch die Entwicklung<br />
der stationären Altenpfl ege nachhaltig bee<strong>in</strong>fl usst: Ältere Menschen übersiedeln erst <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em immer höheren Lebensalter und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr bee<strong>in</strong>trächtigten Gesundheitszustand <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong> Heim, und die immer größer werdende Anz ahl von Menschen mit Orientierungsstörungen<br />
und e<strong>in</strong>geschränkter Alltagskompetenz, die nicht mehr alle<strong>in</strong>e zu Hause leben können, verlangt<br />
ihrerseits ebenfalls e<strong>in</strong>e Anpassung der Heimstrukturen an ihre Bedürfnisse.<br />
Dennoch wird e<strong>in</strong>e Übersiedlung <strong>in</strong> e<strong>in</strong> konventionelles Heim nach wie vor als "letzte Konsequenz,<br />
wenn es ke<strong>in</strong>e anderen Mög lichkeiten mehr gibt", <strong>in</strong> Betracht gezogen (Zeglovits et al. 2006).<br />
H<strong>in</strong>gegen wecken neue Wohn- und Betreuungskonzepte bei den potentiellen Kund/<strong>in</strong>nen nun<br />
vermehrt Interesse <strong>für</strong> geme<strong>in</strong>schaftliches Wohnen. Sie könnten dazu anregen, rechtzeitig und<br />
vor allem auf Grund eigener Entscheidungen Vorsorge <strong>für</strong> das fortgeschrittene Alter zu treff en.<br />
Die <strong>in</strong>stitutionellen Pfl egesysteme werden daher weiter ihre Bedeutung haben, allerd<strong>in</strong>gs zunehmend<br />
mit veränderten Inhalten.<br />
17.1.1. Der quantitative Aspekt<br />
Mit dem Ausbau des ambulanten Sektors ist das durchschnittliche Alter bei der Übersiedlung<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Alten- und Pfl egeheim merkbar angestiegen und konzentriert sich be<strong>in</strong>ahe ausschließlich<br />
auf die Gruppe der hochaltrigen Frauen und Männer.<br />
404
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
1997 betrug der „Institutionalisierungsgrad“, also jener Anteil e<strong>in</strong>er Altersgruppe, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Alten- und Pfl egeheim lebt, <strong>für</strong> 85-Jährige und ältere Frauen 17%, jener <strong>für</strong> gleichaltrige Männer<br />
8% (Hörl & Kytir 2000: 59). Von der oberösterreichischen Bevölkerung im Alter von 85 Jahren<br />
und älter lebten zum Stichtag 1.1.2006 4.622 Personen, das s<strong>in</strong>d 21,3% dieser Altersgruppe, im<br />
Heim. Für Vorarlberg beträgt dieser Wert 17,03%. Da während e<strong>in</strong>es Jahres zwischen 20% und<br />
30% der Heimplätze e<strong>in</strong> weiteres Mal vergeben werden und eher hochaltrige Personen <strong>in</strong> die<br />
Heime e<strong>in</strong>ziehen, ist der Institutionalisierungsgrad vermutlich noch höher.<br />
Vergleicht man den proz entuellen Anteil der Heim bewohnenden im Alter von 80 oder mehr<br />
Jahren zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Bundesländern, so ergibt sich folgendes Bild:<br />
In Vorarlberg waren es zum Stichtag 31.12.2005 60,4% (Amt der Vorarlberger Landesregierung<br />
2006: 32).<br />
Bei den vom Fonds <strong>Soziales</strong> Wien geförderten und fi nanzierten Plätzen lag die Prozentzahl bei<br />
70,3%, <strong>in</strong> den Häusern des Kuratoriums Wiener Pensionistenheime bei 80,8%.<br />
Das Bundesland Salzburg weist e<strong>in</strong>en Anteil von 70,8% auf, allerd<strong>in</strong>gs bezieht sich dieser Prozentsatz<br />
nur auf jene Personen, die Sozialhilfezuzahlungen erhalten (Land Salzburg 2006: 47).<br />
In Oberösterreich waren es 70% (das Durchschnittsalter der im Jahr 2005 neu <strong>in</strong> e<strong>in</strong> oö. Heim<br />
e<strong>in</strong>gezogenen Personen lag bei 81,4 Jahren, das aller Heimbewohner/<strong>in</strong>nen bei 82,9 Jahren).<br />
Die Kärntner Heimbewohner/<strong>in</strong>nen h<strong>in</strong>gegen s<strong>in</strong>d deutlich jünger: das durchschnittliche E<strong>in</strong>trittsalter<br />
lag im Jahr 2005 bei 7 4,2 Jahren, das Durchschnittsalter der Heim bewohner/<strong>in</strong>nen<br />
bei 74,77 Jahren.<br />
Auch wenn Alter nicht gleichbedeutend mit Krankheit gesehen werden darf, steigt mit zunehmendem<br />
Lebensalter das Risiko, zum<strong>in</strong>dest <strong>für</strong> e<strong>in</strong>ige Zeit auf die Pfl ege durch andere Personen<br />
angewiesen zu se<strong>in</strong>. In der Altersgru ppe der 6 1- bis 80-Jährigen beziehen 130.561 Personen,<br />
das s<strong>in</strong>d 9,19%, Pfl egegeld. Von den hochaltrigen Menschen erhält bereits mehr als die Hälfte<br />
diese Geldleistung. Der vorliegende Bericht des <strong>Arbeit</strong>skreises <strong>für</strong> Pfl egevorsorge weist <strong>für</strong> das<br />
Jahr 2005 175.495 Personen, das s<strong>in</strong>d 57,7% der über 81-Jährigen, als Bezieher/<strong>in</strong>nen von Pfl egegeldern<br />
des Bundes oder der Länder aus (BMSG 2007: 40ff ).<br />
Obwohl die 6 1-Jährigen und Älteren mit 81,78% die größte Gru ppe der Pfl ege geldbezieher/<br />
<strong>in</strong>nen repräsentieren, erlaubt dies nicht den Rückschluss darauf, dass die älteren Menschen<br />
grundsätzlich erheblich pfl egebedürftiger wären als die jüngeren Bezieher/<strong>in</strong>nen von Pfl egegeld.<br />
Mehr als die Hälfte der hochbetagten Menschen mit Pfl egegelde<strong>in</strong>stufung (81 Jahre und älter),<br />
nämlich 91.668 Personen (52,22%), haben e<strong>in</strong>en Betreuungsbedarf von maximal 120 Stunden pro<br />
Monat zuerkannt bekommen. Das ergibt e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>ordnung <strong>in</strong> die Pfl egestufen 1 oder 2. Der Anteil<br />
405
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
der Beziehenden von Pfl egegeld der Stufen 5 bis 7, <strong>für</strong> die e<strong>in</strong> Betreuungs- und Pfl egebedarf im<br />
Ausmaß von mehr als 180 Stunden pro Monat Voraussetzung ist, ist bei den über 81-Jährigen<br />
nicht höher als bei den 41- bis 60-Jährigen und umfasst rund 13% dieser Altersgruppen. Bei sehr<br />
jungen Pfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen bis 20 Jahre liegt dieser Anteil mit 21,03% sogar deutlich höher.<br />
Für die weitere Erörterung des Entwicklungspotentials der "formellen stationären Pfl ege" s<strong>in</strong>d<br />
jene Zahlen von Bedeutung, die sich auf die alten Menschen <strong>in</strong> höherem Alter und mit erheblichem<br />
Pfl egebedarf beziehen: 22.919 Personen im Alter von 81 u nd mehr Jahren h aben die<br />
Stufen 5 bis 7 zuerkannt bekommen. Sie s<strong>in</strong>d jene Pfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen, die am häufi gsten<br />
organisierte Hilfe und Betreuung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Langzeite<strong>in</strong>richtung <strong>in</strong> Anspruch nehmen.<br />
Beispielsweise bezogen von den 2.429 Bewohner/<strong>in</strong>nen der Salzburger Alten- und Pfl egeheime,<br />
<strong>für</strong> die im Monat Dezember 2005 Sozialhilfe geleistet wurde, 874 Personen (36,44%) Pfl egegelder<br />
dieser Stufen.<br />
Von allen Kärntner Heimbewohner/<strong>in</strong>nen waren es 24,9%.<br />
Vorarlberg weist e<strong>in</strong>en Anteil von 56,8% aus, wobei die E<strong>in</strong>stufung des Pfl egebedarfs nach e<strong>in</strong>er<br />
landeseigenen, allerd<strong>in</strong>gs ebenfalls 7-Stufi gen, Skala erfolgt.<br />
34% der Bewohner/<strong>in</strong>nen Alten- und Pfl egeheime erhielten zum Stichtag 1.1.2006 Pfl egegeld<br />
der Stufen 5 bis 7. Im Jahr 2000 waren es erst 20%.<br />
(Quellen: Auskünfte der Sozialabteilungen der Landesregierungen Tirols, Kärntens und Oberösterreichs,<br />
Amt der Vorarlberger Landesregierung [Hg] 2006: 31ff ).<br />
17.1.2. Der gesetzliche Aspekt<br />
Der Verfassungsgerichtshof (Erkenntnis vom 16. Ok tober 1992, KII-2/91) hat ausgesprochen,<br />
dass die Regelung der Errichtung, der Erhaltung und des Betriebes von Heimen <strong>für</strong> Personen, die<br />
wohl ständiger Pfl ege, aber bloß fallweise ärztlicher Betreuung bedürfen, <strong>in</strong> die Zuständigkeit<br />
der Länder fällt, die diesen Tatbestand (mitunter) <strong>in</strong> ihren Sozialhilfegesetzen regeln (Wall 2007).<br />
Die nachfolgende Übersicht stellt die unterschiedlichen Zugänge bei Leistungen <strong>für</strong> pfl egebedürftige<br />
Personen <strong>in</strong> den Sozialhilfegesetzen der Bundesländer dar:<br />
406
Burgenland Sozialhilfegesetz<br />
Kärnten Sozialhilfegesetz<br />
Niederösterreich<br />
Tirol<br />
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
Pfl ege wird überwiegend als Teil der Hilfe zur Sicherung des Lebensbedarfes gewährt. Damit<br />
verbunden ist regelmäßig die Zuerkennung e<strong>in</strong>es Rechtsanspruches. Lediglich <strong>in</strong> Oberösterreich,<br />
Tirol und Vorarlberg wird Pfl ege als besondere L ebenslage bzw. soziale Notlage verstanden.<br />
Während jedoch Tirol und Vorarlberg konsequent die Leistung ausschließlich auf den Bereich<br />
der Privatwirtschaftsverwaltung beschränken, wird <strong>in</strong> Oberösterreich – ähnlich wie <strong>in</strong> anderen<br />
Ländern – unter bestimmten Voraus set zungen e<strong>in</strong> Rechtsanspruch gewährt.<br />
Ausgehend von dieser grundsätzlichen Zuordnung ist die k onkrete Ausgestaltung allerd<strong>in</strong>gs<br />
durchaus unterschiedlich:<br />
Burgenland:<br />
Sozialhilfegesetz<br />
Oberösterreich Sozialhilfegesetz<br />
Salzburg Sozialhilfegesetz<br />
Steiermark Sozialhilfegesetz<br />
Grundsicherungsgesetz<br />
Vorarlberg Sozialhilfegesetz<br />
Wien Sozialhilfegesetz<br />
Rechtsgrundlage Erfassung der Pflege<br />
LGBl. Nr. 5/2000 idF<br />
LGBl. Nr. 29/2004<br />
LGBl. Nr. 30/1996 idF<br />
LGBl. Nr. 44/2006<br />
LGBl. Nr. 9200-0 15/00 idF<br />
LGBl. Nr. 9200-3 48/04<br />
LGBl. Nr. 82/1998 idF<br />
LGBl. Nr. 9/2006<br />
LGBl. Nr. 19/1975 idF<br />
LGBl. Nr. 20/2006<br />
LGBl. Nr. 29/1998 idF<br />
LGBl. Nr. 103/2005<br />
LGBl. Nr. 20/2006<br />
LGBl. Nr. 1/1998 idF<br />
LGBl. Nr. 3/2006<br />
LGBl. Nr. 11/1973 idF<br />
LGBl. Nr. 15/2005<br />
Hilfe zur Sicherung des<br />
Lebensbedarfes<br />
Hilfe zur Sicherung des<br />
Lebensbedarfes<br />
Hilfe zur Sicherung des<br />
Lebensbedarfes<br />
Hilfe <strong>in</strong> besonderen<br />
Lebenslagen<br />
Hilfe zur Sicherung des<br />
Lebensbedarfes<br />
Hilfe zur Sicherung des<br />
Lebensbedarfes<br />
Hilfe <strong>in</strong> besonderen<br />
Lebenslagen<br />
Hilfe <strong>in</strong> besonderen<br />
Lebenslagen<br />
Hilfe zur Sicherung des<br />
Lebensbedarfes<br />
Die Hilfe zur Sicherung des Lebensbedarfes umfasst Pfl ege (§ 6 Ab s. 1 Z. 2). Pfl ege kann ambulant,<br />
teilstationär oder stationär gewährt werden (§ 9 Abs. 2). Sofern die Inanspruchnahme<br />
e<strong>in</strong>es sozialen Dienstes nicht <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er Pfl ichtleistung nach den Bestimmungen des 2. Abschnittes<br />
(Hilfe zur Sicherung des Lebensbedarfes) zu gewähren ist, besteht auf die Leistungen<br />
der sozialen Dienste ke<strong>in</strong> Rechtsanspruch, da sie das Land als Träger von Privatrechten erbr<strong>in</strong>gt<br />
(§ 37 Abs. 1).<br />
407
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
Kärnten:<br />
Anspruch auf Hilfe zur Sicherung des Lebensbedarfes hat nach Maßgabe der Bestimmungen<br />
dieses Abschnittes, wer den Lebensbedarf <strong>für</strong> sich nicht oder nicht ausreichend aus eigenen<br />
Kräften und Mitteln beschaff en kann und ihn auch nicht oder nicht ausreichend von anderen<br />
Personen oder E<strong>in</strong>richtung erhält (§ 4 Abs. 1). Zum Lebensbedarf gehört die Pfl ege (§ 4 Abs. 3).<br />
Niederösterreich:<br />
Die Hilfe zur Sicherung des Lebensbedarfes umfasst die Hilfe bei st ationärer Pfl ege (§ 8 Ab s.<br />
1 Z. 3). Die Hilfe zur Pfl ege umfasst alle Betreuungs- und Pfl egemaßnahmen <strong>in</strong> st ationären<br />
E<strong>in</strong>richtungen <strong>für</strong> hilfebedürftige Menschen. E<strong>in</strong>e Pfl ege durch e<strong>in</strong>en gemäß § 48 anerkannten<br />
sozialmediz<strong>in</strong>ischen und sozialen Betreuungsdienst, die das zeitliche Ausmaß e<strong>in</strong>er stationären<br />
Pfl ege erreicht, ist mit der stationären Pfl ege gleichzusetzen. (§ 12 Abs. 1).<br />
Oberösterreich:<br />
Auf Hilfe zur Pfl ege <strong>in</strong> stationären E<strong>in</strong>richtungen besteht e<strong>in</strong> Rechtsanspruch, wenn mit sozialen<br />
Diensten nicht das Auslangen gefunden werden kann (§ 17 Abs. 5). Auf soziale Dienste besteht<br />
ke<strong>in</strong> Rechtsanspruch (§ 2 Abs. 6).<br />
Salzburg:<br />
Auf die Hilfe zur Sicherung des Lebensbedarfes hat der Hilfesuchende e<strong>in</strong>en Rechtsanspruch.<br />
Auf soziale Dienste besteht ke<strong>in</strong> solcher Anspruch (§ 5). Zum Lebensbedarf gehört die Pfl ege<br />
(§ 10 Abs. 1 Z. 2).<br />
Steiermark:<br />
Zum Lebensbedarf gehört die erforderliche Pfl ege (§ 7 Abs. 1 lit. b). Zum Lebensbedarf gehört<br />
jene Pfl ege, die erforderlich wird, wenn auf Grund des körperlichen, geistigen oder psychischen<br />
Zustandes die Fähigkeit fehlt, die notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens ohne fremde<br />
Hilfe zu besorgen. Die erforderliche Pfl ege umfasst die mobile Pfl ege, die Pfl ege <strong>in</strong> geeigneten<br />
stationären E<strong>in</strong>richtungen und die Versorgung mit Pfl egemitteln und Pfl egebehelfen. Kosten der<br />
Hilfe zu mobiler Pfl ege s<strong>in</strong>d bis zu jenem Betrag zu gewähren, der vergleichsweise <strong>für</strong> dieselben<br />
Leistungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er stationären E<strong>in</strong>richtung anfällt (§ 9). Auf die Leistung sozialer Dienste<br />
besteht ke<strong>in</strong> Rechtsanspruch (§ 16 Abs. 5).<br />
Tirol:<br />
Die Gewährung der Hilfe fü r pfl egebedürftige Personen obliegt dem Land Tirol als Träger von<br />
Privatrechten (§ 7 Abs. 12).<br />
408
Vorarlberg:<br />
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
Die Hilfe <strong>für</strong> pfl egebedürftige und alte Menschen obliegt dem Land als Träger von Privatrechten<br />
(vgl. §§ 4 Abs. 2 und 6 Abs. 1).<br />
Wien:<br />
Die Pfl ege (im Rahmen des Lebensbedarfes) kann <strong>in</strong>nerhalb oder außerhalb von Pfl egeheimen<br />
gewährt werden (§ 15 Ab s. 1 letz ter Satz). Ansonsten, also im Bereic h der soz ialen Dienste,<br />
besteht ke<strong>in</strong> Rechts anspruch (§ 22 Abs. 4 letzter Satz).<br />
Das Sozialhilferecht der Bundesländer sieht also <strong>für</strong> Menschen mit Pfl egebedarf regelmäßig sowohl<br />
Leistungen aus dem Bereich der mobilen Dienste als auch teil- bzw. vollstationäre Dienste<br />
vor. Demgegenüber bestehen deutliche Unterschiede beim Zugang zu diesen Leistungen. Zum<br />
e<strong>in</strong>en wird der Zugang zur Leistung sozialer Hilfe durch e<strong>in</strong>en <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em behördlichen Verfahren<br />
durchsetzbaren Rechtsanspruch garantiert, zum anderen erfolgt die Zur-Verfügung-Stellung der<br />
Pfl egeleistungen im Wege der Privatwirtschaftsverwaltung. Im zweiten Fall tritt das Land, der<br />
Geme<strong>in</strong>deverband bzw. die Geme<strong>in</strong>de nicht als Behörde, sondern als rechtlich gleichwertiger<br />
(wenn auch faktisch dom<strong>in</strong>ierender) Partner auf.<br />
An diese Diff erenzierung knüpfen sich zahlreiche Konsequenzen, so zum Beispiel h<strong>in</strong>sichtlich<br />
des Grades der Gewährleistung des Zuganges zu den Leistungen oder h<strong>in</strong>sichtlich des eigenen<br />
Beitrages zu deren F<strong>in</strong>anzierung.<br />
Die Bedeutung soll anhand e<strong>in</strong>es Beispiels deutlich gemacht werden: Im Bereich der Leistungen,<br />
auf die e<strong>in</strong> Rechtsanspruch besteht, wird üblicherweise e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle Beurteilung der<br />
sozialen Notlage vorgenommen, bei der auch erhoben wird, <strong>in</strong>wieweit die pfl egebedürftige<br />
Person durch den E<strong>in</strong>satz eigenen E<strong>in</strong>kommens oder Vermögens von sich aus (oder allenfalls<br />
unter E<strong>in</strong>beziehung Dritter, wie z. B. unterhaltspfl ichtiger Personen oder Geschenknehmer) <strong>in</strong><br />
der Lage ist, ohne Unterstützung aus der Sozialhilfe die soziale Notlage zu bewältigen. Demgegenüber<br />
wird bei den L eistungen, auf die k e<strong>in</strong> Rechtsanspruch besteht (das s<strong>in</strong>d oftmals<br />
Leistungen der mobilen Hilfe) üb licherweise lediglich e<strong>in</strong> (soz ial gestaff elter) Kostenbeitrag<br />
aus dem E<strong>in</strong>kommen verlangt – das Vermögen bleibt unberücksichtigt; ebenso wird von e<strong>in</strong>em<br />
Rückgriff auf Dritte Abstand genommen.<br />
Aus dieser Konstruktion ist unschwer zu erkennen, dass die Inanspruchnahme von Leistungen,<br />
auf die ke<strong>in</strong> Rechtsanspruch besteht, <strong>für</strong> die pfl egebedürftige Person unproblematischer ist. Es<br />
darf allerd<strong>in</strong>gs auch nicht übersehen werden, dass bei diesen Leistungen im Falle von Unstimmigkeiten<br />
(z. B. über das Bestehen bzw. das Ausmaß der Pfl egebedürftigkeit) ke<strong>in</strong>e rechtliche<br />
Handhabe verfügbar ist.<br />
409
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
Bei der Kostenbeteiligung der Kund/<strong>in</strong>nen spiegeln sich die deutlichen Unterschiede <strong>in</strong> den<br />
Bundesländern ebenfalls wider (vgl. Brunner & Mühlböck 2006: 13ff ): während <strong>in</strong> Oberösterreich<br />
der Kostendeckungsgrad <strong>für</strong> mobile Betreuung und Hilfe bei 19,3% liegt, beträgt der Prozentsatz<br />
<strong>in</strong> Vorarlberg 70,5%, <strong>in</strong> Niederösterreich 49,29%, liegt <strong>in</strong> Salzburg mit 37,43% und <strong>in</strong> der<br />
Steiermark mit 36,29% schon deutlich niedriger und weist <strong>für</strong> Wien 28,97% aus. Burgenland,<br />
Tirol und Kärnten konnten ke<strong>in</strong>e Angaben liefern (vgl. Land Salzburg 2007: 36). Der Eigenbeitrag<br />
der Kund/<strong>in</strong>nen reicht von 0,78 € <strong>in</strong> der niedrigsten Stufe <strong>in</strong> Oberösterreich über 11,56 € <strong>in</strong><br />
Niederösterreich bis 14,00 im Burgenland. Pfl egegeldbeziehenden wird e<strong>in</strong> Zuschlag zwischen<br />
3,93 (<strong>in</strong> OÖ) bis 5,45 (<strong>in</strong> NÖ) verrechnet.<br />
Noch stärker dem Sozialhilfepr<strong>in</strong>zip unterliegt die K ostentragung <strong>für</strong> die Pfl ege <strong>in</strong> Heimen:<br />
zuerst wird das private E<strong>in</strong>kommen und verwertbare Vermögen bis auf e<strong>in</strong>en – je Bundesland<br />
unterschiedlich hohen – Vermögensfreibetrag aufgebraucht, die nicht gedeckten Kosten werden<br />
<strong>in</strong> weiterer Folge vom zuständigen Sozialhilfeträger übernommen. Diese Sozialhilfeausgaben<br />
werden auf dem Regressweg zum Teil wieder e<strong>in</strong>gebracht. So s<strong>in</strong>d beispielsweise die Erben<br />
e<strong>in</strong>es Sozialhilfeempfängers zum Ersatz aus dem Nachlass verpfl ichtet, ebenso s <strong>in</strong>d <strong>in</strong> al len<br />
Bundesländern Rückgriff e auf Schenkungen möglich, wobei auch hier w ieder die R ückgriff sfristen<br />
und die Höhe der Freibeträge unterschiedlich s<strong>in</strong>d. Zum gesetzlichen Unterhalt nach<br />
dem Familienrecht verpfl ichtete Personen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> allen Bundesländern ersatzpfl ichtig, jedoch<br />
werden <strong>in</strong> den Ländern Wien, Salzburg und Oberösterreich die K<strong>in</strong>der davon ausgenommen.<br />
In diesem Zusammenhang fällt auf, dass eben diese drei Bundesländer den höchsten Ausbaugrad<br />
im stationären Bereich aufweisen. Es kann vermutet werden, dass die pfl egebedürftigen<br />
Familienangehörigen e<strong>in</strong>e Heimübersiedlung eher <strong>in</strong> Betracht ziehen, wenn damit <strong>für</strong> die K<strong>in</strong>der<br />
ke<strong>in</strong>e fi nanzielle Belastung entsteht.<br />
Auch die österreichische Betreuungs- und Pfl ege<strong>in</strong>frastruktur wird von neun Gesetzeswerken<br />
mit unterschiedlichen Bestimmungen h<strong>in</strong>sichtlich der Bewilligung und des Betriebes von Heimen,<br />
weiters von Förderungen zu deren Errichtung, Ausstattung und Kostentragung gestaltet.<br />
Neben den Länderg esetzen gibt es auch noch zahlreiche Bundesnormen, die ebenf alls den<br />
Betrieb e<strong>in</strong>es Alten- und Pfl egeheimes (mit)regeln.<br />
Das Gesundheits- und Krankenpfl ege gesetz 1997 leg t die Berufsbilder <strong>in</strong> der Krankenpfl ege,<br />
die Befugnisse der Pfl egepersonen und deren Ausbildung fest.<br />
Das Bundespfl egegeldgesetz 1993 regelt die Gewährung, aber auch das Ruhen e<strong>in</strong>es Teiles des<br />
Geldes <strong>für</strong> den pfl egebed<strong>in</strong>gten Mehraufwand.<br />
Das Heimvertragsgesetz 2004 regelt die Rechtsbeziehungen zwischen Heimträger und Kund/<br />
<strong>in</strong>nen.<br />
410
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
Das Heimaufenthaltsgesetz 2004 i.d.F. 2006 regelt die Vornahme freiheitsbeschränkender<br />
Maßnahmen als ultima ratio, um Gefährdungen von Leben oder Gesundheit der Heimbewohner/<br />
<strong>in</strong>nen h<strong>in</strong>tan zu halten.<br />
17.1.3. Die Neuregelung der Pfl egevorsorge<br />
Wie vorh<strong>in</strong> gezeigt wurde, haben pfl egebedürftige Menschen <strong>für</strong> Heimplätze oder mobile Dienste<br />
je nachdem, <strong>in</strong> welchem Bundesland sie wohnen, unterschiedlich hohe Beiträge zu leisten oder<br />
unterschiedlich hohe Vermögensanteile e<strong>in</strong>zusetzen. Dies könnte zu dem Schluss führen, dass<br />
die jeweilige Dienstleistung <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Bundesländern unterschiedlich viel wert ist oder<br />
sich sogar große Qualitätsunterschiede ablesen ließen.<br />
E<strong>in</strong> Weg, die heterogene Landschaft der „stationären Altenversorgung“ mit vergleichbaren Standards<br />
zu versehen und damit e<strong>in</strong>en Vergleich der angebotenen Leistungen zu ermöglichen, kann<br />
<strong>in</strong> der Pfl egevere<strong>in</strong>barung zwischen Bund und Ländern aus dem Jahr 1993 gesehen werden, <strong>in</strong><br />
der sich die Länder verpfl ichten, <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en M<strong>in</strong>deststandard im Leistungsangebot zu sorgen und<br />
Bedarfs- und Entwicklungspläne zu erstellen. Im Artikel 5 der Ar t.-15a-B-VG-Vere<strong>in</strong>barung zur<br />
Pfl egevorsorge werden <strong>in</strong> der Anlage A jene M<strong>in</strong>deststandards defi niert, die von den Bundesländern<br />
bis Ende 2010 erfüllt werden sollen. Weiters verpfl ichten sich die Länder, zur langfristigen<br />
Sicherung der genannten M<strong>in</strong>deststandards <strong>in</strong>nerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten dieser<br />
Vere<strong>in</strong>barung, Bedarfs- und Entwicklungspläne gemäß Anlage B zu erstellen, sowie diese <strong>in</strong>nerhalb<br />
der vere<strong>in</strong>barten Erfüllungszeitpunkte umzusetzen. In drei Pl anungsschritten sollen die<br />
Länder bis 2010 den Ausbau dieser Dienste u nd E<strong>in</strong>richtungen <strong>für</strong> pfl egebedürftige Personen<br />
<strong>in</strong> ihrem Hoheitsgebiet festlegen.<br />
Die Forderungen nach Vere<strong>in</strong>heitlichung des Angebotes und nach e<strong>in</strong>er Festlegung vergleichbarer<br />
Standards, damit die Leistungserbr<strong>in</strong>gung und deren Qualität transparenter werden, kommen<br />
<strong>in</strong>sofern an die Grenzen der Realisierbarkeit, als <strong>in</strong> den verschiedenen Bundesländern äußerst<br />
unterschiedliche Vorstellungen bezüglich Qualität und Angebotsdichte bestehen.<br />
Wie unterschiedlich diese formulierten Standards tatsächlich gesehen werden, soll an den<br />
Beispielen Platzkapazität und Zimmerausstattung von Heimen dargestellt werden (die nachfolgenden<br />
Daten – auch <strong>in</strong> den anderen Kapiteln – wurden von den Ämtern der Landesregierungen<br />
zur Verfügung gestellt):<br />
Die Bestimmungen <strong>für</strong> die maximale Platzanzahl je E<strong>in</strong>richtung reichen von 350 Plätzen <strong>in</strong> Wien<br />
über 120 Plätze <strong>in</strong> Oberösterreich bis zu 50 Plätzen <strong>in</strong> Kärnten. Während <strong>in</strong> Oberösterreich 90%<br />
des Platzangebots mit E<strong>in</strong>zelzimmern abzudecken s<strong>in</strong>d, s<strong>in</strong>d es <strong>in</strong> Kärnten 80%. In Niederösterreich<br />
müssen 50% der Zimmer E<strong>in</strong>zelzimmer se<strong>in</strong>, bei besonderer Bet reuung und Pfl ege<br />
s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Sonderfällen auch Zimmer <strong>für</strong> drei Personen möglich. In der Steiermark dürfen nur mehr<br />
E<strong>in</strong>zel- und Doppelzimmer errichtet werden, Vorarlberg schreibt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Pfl egeheimverordnung<br />
generell E<strong>in</strong>zelzimmer vor. In Wien können <strong>für</strong> Personen, die entsprechende soziale Kontakte<br />
411
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
wünschen, "Vierbettzimmer" angeboten werden, auch das Burgenland normiert <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Verordnung<br />
maximal diese Personenanzahl je Zimmer.<br />
Die Ausstattung der Zimmer mit eigenen Badezimmern ist <strong>in</strong> allen Bundesländern aufgrund der<br />
Artikel 15a-Vere<strong>in</strong>barung obligatorisch geworden. Dennoch s<strong>in</strong>d Abweichungen festzustellen:<br />
Kärnten lässt e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Sanitäre<strong>in</strong>heit <strong>für</strong> maximal 2 Zimmer zu, Wien unterscheidet<br />
zwischen mobilen, orientierten Personen, die e<strong>in</strong> Anrecht auf e<strong>in</strong> eigenes Badezimmer haben,<br />
und Personen, die aufgru nd ihrer k örperlichen oder psychischen Verfassung weder Dusche<br />
noch Toilette benutzen können. In diesen Wohne<strong>in</strong>heiten ist e<strong>in</strong> Waschbecken ausreichend.<br />
Die normierte Größe des Wohn-/Schlafraums <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>-P ersonen-E<strong>in</strong>heit reicht von 14 m2<br />
(Steiermark und Wien) über 15 m2 (Burgenland und Vorarlberg) bis zu 18 m2 (Oberösterreich,<br />
Salzburg, Kärnten und Niederösterreich).<br />
Die Formulierung "Länderspezifi sche Gegebenheiten s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den Bed arfs- und Entwicklungsplänen<br />
der Länder zu berücksichtigen" lässt jenen vorher dargestellten Spielraum bei der Interpretation<br />
dessen zu, was z. B. bei den Heimgrößen unter „Übersc haubarkeit“ oder „familiäre<br />
Strukturen“ jeweils verstanden wird.<br />
Werden Standards festgeschrieben, können dies lediglich M<strong>in</strong>deststandards se<strong>in</strong>. L egt man<br />
nämlich defi nierte Größen gesetzlich fest, dürfen diese weder unter- noch überschritten werden.<br />
Bei M<strong>in</strong>deststandards ist allerd<strong>in</strong>gs zu bedenken, dass diese sehr rasch zur alle<strong>in</strong>igen<br />
Norm werden können. Auch stellt sich die Frage der Kostentragung bei allfälliger großzügiger<br />
Überschreitung von festgelegten M<strong>in</strong>deststandards.<br />
Seit der 2003 durch das <strong>Österreich</strong>ische Bundes<strong>in</strong>stitut <strong>für</strong> Gesundheitswesen (ÖBIG) erstellten<br />
Zwischenbilanz über den „Ausbau der Dienste und E<strong>in</strong>richtungen <strong>für</strong> pfl egebedürftige Menschen<br />
<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>“ lässt sich folgende Entwicklung feststellen (ÖBIG 2004: IVff ):<br />
Die Versorgungsdichte mit Heimplätzen betrug zum Zeitpunkt dieser Zwischenbilanz 116 Plätze<br />
pro 1.000 E<strong>in</strong>wohner/<strong>in</strong>nen über 75 Jahre, Ende 2005 lag dieser Wert bei 109,72. Dies kann e<strong>in</strong><br />
Indikator da<strong>für</strong> se<strong>in</strong>, dass die Sozialplanung <strong>in</strong> den Ländern die Strategie „mobil vor stationär“<br />
<strong>in</strong> den letzten Jahren konsequent umsetzt.<br />
Dieser Strukturwandel wird im deutlichen R ückgang von Wohnheimplätzen zugunsten e<strong>in</strong>er<br />
Angebotserweiterung bei pfl egegerechten Heimplätzen sichtbar. 15,4% der <strong>in</strong>sgesamt 69.500<br />
Heimplätze s<strong>in</strong>d als Wohnheimplätze ausgewiesen, wobei der größte Antei l mit 7.613 Plätzen<br />
(70,86%) auf das Bundesland Wien entfällt.<br />
Die nachfolgende Tabelle zeigt die Entwicklung h<strong>in</strong>sichtlich der Versorgungsdichte mit Heimplätzen<br />
zwischen 2002 und 2005:<br />
412
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
Tabelle 1: Versorgungsdichte mit Heimplätzen, nach Bundesländern, 2002/2005<br />
Salzbg Wien OÖ Tirol Vbg Stmk NÖ Ktn Bgld<br />
2002 153,3 152,2 125,2 116,4 104,4 99,2 95,0 80,5 67,1<br />
2005 142,3 147,9 112,5 105,9 92,8 101,7 87,7 79,5 73,7<br />
Korr. 2005 96,6 105,8 80,3<br />
E<strong>in</strong>e Erklärung <strong>für</strong> diese Unterschiedlichkeit könnte se<strong>in</strong>, dass es <strong>in</strong> den 3 Bundesländern mit<br />
der höchsten Versorgungsdichte ke<strong>in</strong>e Regressforderungen an unterhaltsverpfl ichtete K<strong>in</strong>der<br />
gibt und daher die Nachfrage nach Heimplätzen sehr groß ist. In der Steiermark und <strong>in</strong> Kärnten<br />
blieben bei der Erstellu ng der Zwischenbilanz die privaten Pfl egeplätze unberücksichtigt. Da<br />
sie jedoch auch E<strong>in</strong>fl uss auf das Angebot stationärer Versorgung haben, wurden die Zahlen<br />
entsprechend korrigiert (siehe Korrekturzeile).<br />
Seit die Heimg esetze von Kärnten und der Steiermark (2003) auch die pri vaten Pfl egeplätze<br />
regeln, reduziert sich dieses Angebot sukzessive. In der Steiermark gibt es der zeit noch 416<br />
Plätze, <strong>in</strong> Kärnten s<strong>in</strong>d zur Zeit 13 E<strong>in</strong>richtungen mit maximal 39 Plätzen genehmigt und müssen<br />
spätestens bis 2010 geschlossen werden. In Niederösterreich unterliegen die Pfl egeplätze und<br />
Pfl egee<strong>in</strong>heiten seit 2002 ebenfalls den Normen der Pfl egeheimverordnung, was zwar ke<strong>in</strong>e<br />
zahlenmäßige, jedoch e<strong>in</strong>e qualitative Veränderung mit sich brachte.<br />
E<strong>in</strong>e genaue Aussage darüber, wie viele „stationäre“ Plätze <strong>in</strong> den Bundesländern tatsächlich<br />
zur Verfügung stehen, ist kaum zu treff en, da die Frage nach e<strong>in</strong>em „Platz“ e<strong>in</strong>e Defi nitionsfrage<br />
ist: F<strong>in</strong>den sich nur die nach e<strong>in</strong>er gesetzlichen Vorschrift bewilligungspfl ichtigen Plätze <strong>in</strong> der<br />
Statistik, oder nur jene, mit denen der Sozialhilfeträger e<strong>in</strong>en Vertrag hat? S<strong>in</strong>d auch jene Plätze<br />
dazuzuzählen, die im jeweiligen Bundesland nicht durch e<strong>in</strong> Gesetz geregelt s<strong>in</strong>d, aber ebenfalls<br />
der Versorgung alter Menschen dienen? Plätze <strong>in</strong> Sonderkrankenhäusern haben wieder e<strong>in</strong>e<br />
andere gesetzliche Grundlage. Genauso schwierig ist die Zuordnung bei Sonderwohnformen<br />
wie Senior/<strong>in</strong>nen-WGs oder den Wiener Dauerwohnhäusern <strong>für</strong> wohnungslose Menschen.<br />
Da jedes Bundesland e<strong>in</strong>en eigenen sozialplanerischen Zugang zur Festlegung des künftigen<br />
Bedarfs an Heimpl ätzen gewählt hat, gibt es auch k e<strong>in</strong>e bundesweit e<strong>in</strong>heitliche „richtige“<br />
Kennzahl, zu der sich die Bundesländer h<strong>in</strong>entwickeln sollen. Maßstab <strong>für</strong> den optimalen Ausbau<br />
der Dienstleistungen werden immer die regionalen Gegebenheiten sowie die subjektiven<br />
E<strong>in</strong>schätzungen der Bevölkerung bleiben, die darüber befi nden, ob die Angebote ausreichend<br />
s<strong>in</strong>d oder ob es Kapazitätsengpässe gibt. Diese Entscheidung ist allerd<strong>in</strong>gs nicht nur von der<br />
objektiven Pfl egebedürftigkeit, sondern vor allem auch von den <strong>in</strong>dividuell anfallenden Kosten<br />
je Dienstleistung abhängig.<br />
Die <strong>in</strong> den letzten Jahren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Bundesländern festzustellende Überkapazität an Heimplätzen<br />
könnte e<strong>in</strong>e Reaktion auf die dort gebotene Qualität und auf Sozialhilfevorschriften se<strong>in</strong>.<br />
Mithilfe preisgünstiger Anbieter/<strong>in</strong>nen am freien Markt, al lerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> illegalen <strong>Arbeit</strong>sverhält-<br />
413
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
nissen, wurde e<strong>in</strong>e R und-um-die-Uhr-Betreuung <strong>in</strong> Pr ivathaushalten möglich, wodu rch sich<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Bundesländern die Nachfrage nach Heimplätzen erkennbar reduzierte. In welchem<br />
Ausmaß sich das jetzt legalisierte Angebot der bis zu 24-Stunden-Betreuung zu Hause auf das<br />
Nachfrageverhalten auswirken wird, kann erst nach Auslaufen der Amnestieregelung mit Ende<br />
Dezember 2007 festgestellt werden.<br />
Die Nachfrage kann auch durch die qualitative Veränderung der Angebotslandschaft bee<strong>in</strong>fl usst<br />
werden, z. B. durch alternative Formen von Dienstleistungen wie ambulante Wohngruppen oder<br />
Angebote <strong>für</strong> Betreutes Wohnen. Die bedarfs- und sozialplanerischen Aussagen über die künftige<br />
Entwicklung s<strong>in</strong>d demnach unter anderem stark von den oben skizzierten E<strong>in</strong>fl ussgrößen<br />
abhängig. Im Rahmen der Sozialplanung ist im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Planungskreislaufs sehr genau auf<br />
die Entwicklung der E<strong>in</strong>fl ussgrößen zu achten, um möglichst zielgenaue Aussagen zu treff en.<br />
17.2. Lebenswelt Heim<br />
Derzeit werden noch drei Viertel der Menschen mit Hilfebedarf von Angehörigen zu Hause betreut.<br />
Fehlt e<strong>in</strong> solches soziales Netz, wird meist e<strong>in</strong> Umzug <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>richtung erforderlich. Wie weit<br />
sich die bis zu 24-Stunden-Betreuung zu Hause nach den neuen Gesetzen und Förderungen als<br />
tragfähige Alternative durchsetzen wird, kann zur Zeit noch nicht beurteilt werden.<br />
Heime haben <strong>in</strong> der Bevölkerung e<strong>in</strong> schlechtes Image, zum<strong>in</strong>dest bei jenen Menschen, die nicht<br />
dort leben. Befragt man h<strong>in</strong>gegen Heimbewohner/<strong>in</strong>nen, erhält man durchwegs Antworten, die<br />
Zufriedenheit ausdrücken. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass die Menschen nicht so sehr<br />
das Heim <strong>für</strong>chten, sondern eher jenen Zustand, der sie zw<strong>in</strong>gt, ihr Zuhause zu verlassen und<br />
Heimpfl ege <strong>in</strong> Anspruch zu nehmen. Mit der Vorstellung vom Heimleben s<strong>in</strong>d Be<strong>für</strong>chtungen wie<br />
Wohnen im Mehrbettzimmer, Verlust der Intimsphäre, Entmündigung, Isolation usw. verbunden.<br />
Die Geschichte der Heime ist eng mit den mittelalterlichen Spitälern verbunden, die kr anke,<br />
arme und alte Menschen versorgten, zumal im damaligen Fürsorgewesen ke<strong>in</strong>e Unterscheidung<br />
zwischen Armen- und Krankenhaus getroff en wurde. Menschen wurden aufgrund ihrer Gebrechlichkeit<br />
oder Mittellosigkeit aufgenommen, und der Anteil der älteren Menschen an dieser Armenpopulation<br />
war aufgrund der hausrechtlich abhängigen <strong>Arbeit</strong>sverhältnisse entsprechend<br />
hoch (Feuerste<strong>in</strong> 2006: 8ff ). Da im 19. Jahrhundert das Alter – meist durch Krankheit – mit dem<br />
Verlust der <strong>Arbeit</strong>skraft e<strong>in</strong>herg<strong>in</strong>g, wurde dieser Lebensabschnitt mit Krankheit gleichgesetzt<br />
und von der Mediz<strong>in</strong> vere<strong>in</strong>nahmt (Bramberger 2005: 25ff ). Die Logik "Alter als Krankheit" hielt<br />
dann auch <strong>in</strong> den Institutionen, die die Krankenhäuser als Betreuungse<strong>in</strong>richtungen ablösten,<br />
E<strong>in</strong>zug.<br />
Die Asyle wohltätiger Organisationen außerhalb der Zentren mit großen Schlafsälen <strong>für</strong> die "Insassen"<br />
wurden <strong>in</strong> den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von E<strong>in</strong>richtungen abgelöst,<br />
die sich primär an der mediz<strong>in</strong>ischen Betreuung, der Funktio nalität und am betriebwirtschaftlichen<br />
Denken orientierten. Der Ab lauf, die Wirtschaftlichkeit, die Hy giene waren die Pfeiler ,<br />
414
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
wonach sich der Bau und das Konzept ausrichteten, krankenhausorientiert durchorganisiert.<br />
Für ihre "Patienten" waren diese Heime ke<strong>in</strong>e Wohnorte.<br />
Parallel zu den E<strong>in</strong>richt ungen zur Pfl ege alter Menschen entst anden ab den 70-er Jahren die<br />
Pensionisten-Wohnheime, vorwiegend zur Verbesserung der Wohnqualität der mobilen alternden<br />
Bevölkerung. Mit dem Ausbau der mobilen Dienste und e<strong>in</strong>es allgeme<strong>in</strong> verbesserten<br />
Wohnungsstandards haben sie weitgehend ih re Bedeutung verloren und werden von den<br />
Trägern zu pfl egegerechten Heimen umgebaut. Während 1999 noch 23.600 Wohnplätze (44%<br />
der stationären Plätze) ausgewiesen wurden, s<strong>in</strong>d es 2004 nur mehr 3.0 73 oder 8,2 3% aller<br />
Heimplätze, die <strong>für</strong> alte Menschen mit ger<strong>in</strong>gem Betreuungsbedarf (maximal Pfl egegeldstufe<br />
2) vorgehalten werden (vgl. ÖBIG 1999: VIII und ÖBIG 2004: 51). Die Rolle der Wohnversorgung<br />
haben die Betreuten (Betreubaren) Wohnungen übernommen (siehe Kapitel 2).<br />
E<strong>in</strong> weiterer Entwicklungsschritt Mitte der 80er Jahre versuchte e<strong>in</strong>e Synthese von Pfl ege und<br />
Wohnen. Bei allen Bemühungen um Wohnlichkeit behielten die zumeist großen E<strong>in</strong>richtungen<br />
mit 100 und mehr Plätzen ihren Anstaltscharakter, der vor allem die Unterordnung der/des<br />
E<strong>in</strong>zelnen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en vorgegebenen Tagesrhythmus verlangte. Der Verlust der eigenen Entscheidungsmöglichkeit<br />
und der Handlungsfreiheit wurden als die größten Nachteile des Heimlebens<br />
gesehen und von potentiellen Kund/<strong>in</strong>nen ge<strong>für</strong>chtet. Obwohl es sich um Wohnorte alternder<br />
Erwachsener handelte, blieb der Krankheitsaspekt der dom<strong>in</strong>ierende E<strong>in</strong>fl ussfaktor <strong>für</strong> die <strong>in</strong>nere<br />
Organisation und die Qualifi kationsstruktur der Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen (diverse Veröff entlichungen<br />
des Kuratoriums Deutsche Altershilfe, Köln).<br />
Zum Unterschied von der Betreuungsarbeit <strong>für</strong> Menschen mit Bee<strong>in</strong>trächtigungen konnte sich<br />
die Altenpfl ege nie von der Logik der Krankenpfl ege abnabeln.<br />
Trotz der Modernisierung der Heime und der damit verbundenen Qualitätsverbesserung befi nden<br />
sich <strong>in</strong> vielen Köpfen noch die Bilder jener „Anstalten“, die es <strong>in</strong> allen Bundesländern gegeben<br />
hat: große E<strong>in</strong>richtungen <strong>für</strong> alte Menschen, die nicht mehr arbeiten k onnten, die nirgendwo<br />
Platz hatten, die ke<strong>in</strong>er wollte. Die Angst vor "dem Heim" und die Abwehr möglicher Übersiedlungsszenarien<br />
s<strong>in</strong>d daher nach wie vor weit verbreitet.<br />
Wie weit die Architektur und das Konzept „traditioneller“ Pfl egee<strong>in</strong>richtungen - große Häuser,<br />
Mehrbettzimmer, Anstaltsordnungen - diese E<strong>in</strong>stellung gefördert haben, ist nicht ausreichend<br />
untersucht. Erfahrungen zeigen jedoch, dass die <strong>in</strong>zwischen <strong>in</strong> manchen Bundesländern umgesetzten<br />
kle<strong>in</strong>räumigen und alltagsorientiert organisierten E<strong>in</strong>richtungen durchaus nachgefragt<br />
werden und sich nicht nur bereits pfl egebedürftige Menschen <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e solche Wohnform<br />
<strong>in</strong>teressieren.<br />
Die Rahmenbed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er „totalen Institution“, wie sie das Heim darstellt, <strong>in</strong> der alle Lebensbereiche<br />
unter e<strong>in</strong>em Dach u nd unter e<strong>in</strong>er Autorität stattfi nden, erfahren daher derzeit<br />
e<strong>in</strong>e tiefgreifende Neustrukturierung. So mussten <strong>für</strong> die <strong>in</strong> großer Zahl <strong>in</strong> den Heimen lebenden<br />
415
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
demenziell veränderten Bewohner/<strong>in</strong>nen, die die Regeln e<strong>in</strong>er großen Organisation nicht verstehen<br />
und befolgen können, neue Wohnformen entwickelt werden, die auch den orientierten<br />
<strong>in</strong> den Heimen lebenden alten Menschen zugute kommen.<br />
Bei der Konzeptentwicklung von zukunftsfähigen Dienstleistungen <strong>für</strong> alternde Erwachsene<br />
werden daher vermehrt Organisationsformen gefordert, die Versorgungs sicherheit mit größtmöglicher<br />
Normalität verb<strong>in</strong>den.<br />
17.2.1. Personalrichtwerte als Strukturqualität<br />
Um die Förderung, Begleitung und Pfl ege hoch altriger Frauen und Männer <strong>in</strong> den Heimen fachgerecht<br />
leisten zu können, erfordert es entsprechend ausgebildete Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen. Dabei wäre<br />
davon auszugehen, dass die personellen Ausstattungen der Heime nicht gravierend vone<strong>in</strong>ander<br />
abweichen werden, da die Bedarfe <strong>in</strong> jeder E<strong>in</strong>richtung entsprechend befriedigt werden sollen.<br />
Die Bundesländer haben entweder <strong>in</strong> eigenen Heimgesetzen (z. B. Kärnten, Wien, Steiermark,<br />
Tirol, Vorarlberg, Burgenland) oder aufgrund des Sozialhilfegesetzes durch Verordnungen (Oberösterreich,<br />
Niederösterreich) oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Pfl egegesetz (Salzburg) <strong>in</strong> ihrem Kompetenzbereich<br />
die Errichtung und den Betrieb der Alten- und Pfl egeheime geregelt. Auf die Unterschiedlichkeit<br />
<strong>in</strong> den Strukturen der Bu ndesländer h<strong>in</strong>sichtlich der Versorgungsdichte, der Platzkapazität<br />
oder der Wohnraumgröße der Heime wurde bereits h<strong>in</strong>gewiesen. Beispielhaft sollen nun die<br />
Regelungen bezüglich der Personalrichtwerte und der geforderten Qualifi kation der Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen<br />
dargestellt werden.<br />
Niederösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg normieren "angemessene Pfl ege" als zu erbr<strong>in</strong>gende<br />
Leistung, die anderen Bundesländer formulieren als Ziel, fachliche Pfl ege zu leisten, die<br />
Bewohner/<strong>in</strong>nen<strong>in</strong>teressen zu schützen und die Qualität der E<strong>in</strong>richtungen zu sichern.<br />
Die Bundesländer Burgenland, Kärnten, Steiermark, Oberösterreich u nd Wien haben <strong>in</strong> den<br />
jeweiligen Verordnungen e<strong>in</strong>en Personalschlüssel verb<strong>in</strong>dlich normiert; <strong>in</strong> den anderen Bundesländern<br />
weist die Formulierung "der Träger hat <strong>für</strong> ausreichendes Personal zu sorgen" auf e<strong>in</strong>en<br />
etwas größeren Spielraum bei der Personalbemessung h<strong>in</strong>. Es gibt aber überall landes<strong>in</strong>terne<br />
Personalrichtwerte.<br />
Zur Zeit fehlt noch e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>heitliches rationales Personalbemessungssystem. Anleihen aus dem<br />
Gesundheitssektor haben sich als nur bed<strong>in</strong>gt tauglich erwiesen, da die Personal-Notwendigkeiten<br />
im Krankenhaus nicht unmittelbar auf die Situation <strong>in</strong> den Heimen übertragbar s<strong>in</strong>d. Vor allem<br />
werden die unterschiedlichen Betreuungskonzepte oder die Besonderheiten <strong>in</strong> der <strong>Arbeit</strong>s- und<br />
Ablauforganisation nur unvollständig abgebildet. So bleiben die Aspekte der Altagsbegleitung<br />
und Lebensweltorientierung <strong>in</strong> den der zeit festgelegten M<strong>in</strong>destpersonalbedarfen noch zu<br />
wenig berücksichtigt.<br />
416
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
Die Anzahl der vorzuhaltenden Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen orientiert sich nahezu ausschließlich an der<br />
Betreuungs- und Pfl egebedürftigkeit der Heim bewohnenden. Diese k ann durch die Pfl egegelde<strong>in</strong>stufung<br />
entsprechend den E<strong>in</strong>stufungsverordnungen des Bundes und der Länder oder<br />
durch landes<strong>in</strong>tern festgelegte Zeitrichtwerte (Burgenland und Tirol) ausgedrückt werden. In<br />
Vorarlberg wird e<strong>in</strong> eig enes Kategorisierungssystem der <strong>Arbeit</strong>sg eme<strong>in</strong>schaft der Heim- u nd<br />
Pfl egedienstleitungen angewendet, <strong>in</strong> Oberösterreich ist nicht von der bescheidmäßig festgestellten<br />
E<strong>in</strong>stufung, sondern vom tatsächlichen Pfl egebedarf auszugehen, es s<strong>in</strong>d also auch<br />
off ene E<strong>in</strong>stufungsverfahren zu berücksichtigen, Niederösterreich h at <strong>für</strong> Sonderformen wie<br />
Intensivpfl ege, Hospiz oder psychiatrische Nachsorge den 7 Pfl egegeldstufen e<strong>in</strong>e landeseigene<br />
Pfl egestufe 8 h<strong>in</strong>zugefügt.<br />
Der Personalschlüssel <strong>für</strong> die vorzuhaltenden Mitarbeitenden <strong>in</strong> der Bet reuung und Pfl ege<br />
drückt sich im Verhältnis von Personale<strong>in</strong>heiten (PE) zu Heimbewohner/<strong>in</strong>nen aus, wobei bei<br />
e<strong>in</strong>er Personale<strong>in</strong>heit von e<strong>in</strong>em vollen Beschäftigungsausmaß ausgegangen wird. Das kann<br />
je Bundesland allerd<strong>in</strong>gs zu unterschiedlichsten Ergebnissen führen: Wenn beispielsweise e<strong>in</strong><br />
Personalschlüssel von 1 PE zu 2 Bewohner/<strong>in</strong>nen (z. B. <strong>in</strong> Wien <strong>für</strong> die Pfl egestufe 3) normiert<br />
ist, s<strong>in</strong>d <strong>für</strong> diese e<strong>in</strong>e PE je nach kollektivvertraglich vere<strong>in</strong>barter Normalarbeitszeit 40 Stunden<br />
oder nur 38 Stunden pro Woche zu kalkulieren.<br />
Je nach vere<strong>in</strong>barter Wochenarbeitszeit steht e<strong>in</strong>e Vollzeitkraft 1.600 oder 1.5 20 Nettojahresarbeitsstunden<br />
zur Verfügung. Wird grundsätzlich von e<strong>in</strong>er 40-Stunden-Woche ausgegangen,<br />
haben die Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen mit ger<strong>in</strong>geren Wochenarbeitszeiten weniger Zeit je Heimbewohner/<br />
<strong>in</strong> zur Verfügung. Wenn 80 Stunden je Personale<strong>in</strong>heit im Jahr "fehlen", reduziert sich die zur<br />
Verfügung stehende Betreuungs zeit <strong>für</strong> den gleichen <strong>Arbeit</strong>sumfang um mehr als 2 Wochen!<br />
In jedem Bundesland wird also von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgegangen, daher<br />
ist e<strong>in</strong> Vergleich nur schwer möglich. In e<strong>in</strong>er Modellrechnung wurde daher <strong>für</strong> e<strong>in</strong> Heim mit 72<br />
Bewohner/<strong>in</strong>nen der <strong>für</strong> jedes Bundesland entsprechende Pfl egepersonalbedarf berechnet. Die<br />
Bandbreite der durchschnittlichen Personalrichtwerte <strong>für</strong> e<strong>in</strong> derartiges Haus reicht von 1 PE <strong>für</strong><br />
4,5 Bewohner/<strong>in</strong>nen bis h<strong>in</strong> zu 1:1,92.<br />
Da es sich bei den P ersonalschlüsseln der Bu ndesländer um M<strong>in</strong>destwerte handelt, können<br />
die tatsächlichen Personal-Vorhaltezahlen durchaus darüber liegen.<br />
Setzt man die Gesamtzahl der Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen zu den Heimplätzen <strong>in</strong> Beziehung, variiert das<br />
Verhältnis von e<strong>in</strong>er P ersonale<strong>in</strong>heit zu e<strong>in</strong>er bestimmten Anz ahl von Heimbewohner/<strong>in</strong>nen<br />
von 1:1,62 bis h<strong>in</strong> zu 1:3,39. E<strong>in</strong> hoher Wert bei den Bewohner/<strong>in</strong>nen mus s allerd<strong>in</strong>gs nicht<br />
bedeuten, dass zu wenig Personal vorgeschrieben wird, er kann auch deshalb entstehen, weil<br />
viele Menschen mit ger<strong>in</strong>gem Pfl egebedarf <strong>in</strong> den Heimen l eben und daher auch weniger Betreuungs-<br />
und Pfl egemitarbeiter/<strong>in</strong>nen erforderlich s<strong>in</strong>d.<br />
417
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
Auch ist nicht bekannt, wie viele andere Berufsgruppen zusätzlich zu den Sozial- und Gesundheitsberufen<br />
e<strong>in</strong>gesetzt s<strong>in</strong>d, z. B. Hauswirtschaftskräfte, angelernte Hilfskräfte, Küchenmitarbeiter/<strong>in</strong>nen<br />
im Service, Therapeuten, etc., die den Wert ebenfalls bee<strong>in</strong>fl ussen.<br />
Sehr divergierende Auff assungen haben die Gesetzgeber <strong>in</strong> den Bundesländern über die Struktur<br />
der Betreuungs- und Pfl egeteams h<strong>in</strong>sichtlich der Qualifi kationsprofi le der Betreuungspersonen.<br />
Der vorgeschriebene M<strong>in</strong>destanteil an diplomierten Gesundheits- und Krankenpfl egepersonen<br />
bewegt sich von 20% (Oberösterreich und Steiermark) über 30% <strong>in</strong> Kärnten, 40% (Wien, Niederösterreich<br />
und Vorarlberg) bis 50% im Falle von erheblich pfl egebedürftigen Bewohner/<strong>in</strong>nen<br />
im Burgenland. Tirol und Salzburg normieren, dass jederzeit „genügend geeignetes Personal<br />
zur Verfügung“ zu stehen hat.<br />
Die zweite Berufsgruppe s<strong>in</strong>d die Altenfachbetreuer/<strong>in</strong>nen (<strong>in</strong> Oberösterreich und der Steiermark<br />
als eigene Berufsgruppe per Verordnung vorgeschrieben) bzw. Pfl egehelfer/<strong>in</strong>nen. Mit e<strong>in</strong>em<br />
Anteil von über 50% machen sie mehr als die Hälfte <strong>in</strong>nerhalb der jeweiligen Betreuungs- und<br />
Pfl egeteams aus.<br />
Unausgebildetes Personal darf mit e<strong>in</strong>em Anteil bis zu 13% <strong>in</strong> Niederösterreich, mit 15% <strong>in</strong> Wien<br />
und 20% <strong>in</strong> der Steiermark e<strong>in</strong>gesetzt werden.<br />
In manchen Bundesländern darf der Personalschlüssel auch ger<strong>in</strong>gfügig unterschritten werden.<br />
Auch bei der Qualifi kationsstruktur können die tatsächlichen Werte von den M<strong>in</strong>destrichtwerten<br />
abweichen, da sie zwar nicht unterschritten, jedoch durchaus überschritten werden dürfen. Aus<br />
diesen Gründen ist e<strong>in</strong>e verallgeme<strong>in</strong>ernde Darstellung der normierten Personalrichtwerte nicht<br />
möglich, da sie lediglich e<strong>in</strong>e verkürzte Sichtweise darstellt.<br />
Ende 2005 waren <strong>in</strong> den 782 österreichischen Heimen geschätzte 23.000 Personale<strong>in</strong>heiten <strong>in</strong><br />
der Betreuung und Pfl ege beschäftigt (<strong>für</strong> Niederösterreich liegen ke<strong>in</strong>e aktuellen Zahlen vor).<br />
Wie viele Per sonen zusätzlich im Service oder <strong>in</strong> der Alltagsbegleitung e<strong>in</strong>gesetzt s<strong>in</strong>d, konnte<br />
den vorliegenden Daten nicht entnommen werden.<br />
Es s<strong>in</strong>d zu 92% ausgebildete Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen beschäftigt, wovon 30,2% dem g ehobenen<br />
Dienst <strong>für</strong> Gesundheits- und Krankenpfl ege angehören, 30,5% s<strong>in</strong>d Pfl egehelfer/<strong>in</strong>nen, und<br />
bereits 29,2% s<strong>in</strong>d Altenfachbetreuer/<strong>in</strong>nen. 2% der Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen haben e<strong>in</strong>en anderen<br />
Beruf erlernt, wie z. B. Physio- oder Ergotherapie, Animation, Familienhilfe, etc. (Berechnung<br />
ohne Niederösterreich).<br />
In den letzten 15 Jahren setzte sich verstärkt die Überzeugung durch, dass <strong>in</strong> Heimen lebende<br />
alternde Erwachsene vergleichbare Wohnbedürfnisse haben wie alte Menschen <strong>in</strong> Privathaushalten.<br />
Diese Bedürfnisse drücken sich neben dem Wunsch nach Privatsphäre und Autonomie<br />
418
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
auch dar<strong>in</strong> aus, nicht auf e<strong>in</strong>e P atientenrolle fi xiert zu werden. Die <strong>in</strong> den Gesu ndheits- und<br />
Krankenpfl egeschulen stattfi ndende Ausbildung der Angehörigen des gehobenen Dienstes <strong>in</strong><br />
der Gesundheits- und Krankenpfl ege und der Pfl egehelfer/<strong>in</strong>nen sozialisiert die angehenden<br />
Krankenpfl egepersonen überwiegend <strong>für</strong> die Notwendig keiten der Krankenpfl ege und des Krankenhausbetriebes.<br />
Damit gilt die Aufmerksamkeit den Krankheiten und den damit verbundenen<br />
Defi ziten im Alter. Für die Förderung, Begleitung und Pfl ege alter Menschen wurden daher entsprechend<br />
neue Berufsbilder entw ickelt, deren Aufgabe <strong>in</strong> der Mitg estaltung der Lebenswelt<br />
von Menschen liegt, die aufgrund von Alter, Bee<strong>in</strong>trächtigung oder e<strong>in</strong>er anderen schwierigen<br />
Lebenslage <strong>in</strong> ihrer Lebensgestaltung benachteiligt s<strong>in</strong>d.<br />
In der Ausbildung zur Altenfachbetreuung wird vertieftes gerontologisches, geriatrisches und<br />
sozialpädagogisches Wissen vermittelt, und es werden damit spezielle Kenntnisse <strong>für</strong> die<br />
Begleitung alternder Erwachsener erworben. Damit werden die Absolvent/<strong>in</strong>nen befähigt, e<strong>in</strong><br />
lebenswertes Umfeld <strong>für</strong> alte Menschen mit Betreuungsbedarf zu gestalten.<br />
Oberösterreich hat 1992 mit dem/der Altenfachbetreuer/<strong>in</strong> e<strong>in</strong> eigenes verb<strong>in</strong>dliches Berufsbild<br />
<strong>für</strong> die <strong>Arbeit</strong> mit alten Menschen entwickelt und hat gesetzlich festgelegt, dass ausschließlich<br />
entsprechend geschulte Personen im Altenbereich arbeiten dürfen. Dieses Berufsbild ist nun<br />
auch Grundlage <strong>für</strong> den <strong>in</strong> der Artikel 15a B-VG-Vere<strong>in</strong>barung zur "Harmonisierung der Sozialbetreuungsberufe"<br />
defi nierten Beruf des Fach-Sozialbetreuers/der Fach-Sozialbetreuer<strong>in</strong> mit<br />
Schwerpunkt Altenarbeit.<br />
Niederösterreich und die Steiermark haben das Berufsbild des Altenfachbetreuers/der Altenfachbetreuer<strong>in</strong><br />
ebenfalls gesetzlich geregelt, normieren allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>en Tätigkeitsvorbehalt.<br />
Altenfachbetreuer/<strong>in</strong>nen fi nden sich explizit im Personalschlüssel von Oberösterreich (m<strong>in</strong>destens<br />
50%) und der Steiermark (60%). Damit wurde den <strong>in</strong>ternationalen Strömungen und auch<br />
im Inland von Expert/<strong>in</strong>nen angestellten Überlegungen Rechnung getragen, die <strong>in</strong> den stationären<br />
E<strong>in</strong>richtungen nicht mehr spitalsähnliche Pfl ege und Versorgung organisieren, sondern<br />
<strong>in</strong>dividuelles Wohnen mit Pfl egemöglichkeiten anbieten. Sie sehen die Heime vorwiegend als<br />
Wohn- und Lebens ort, an dem die alten, durchaus auch multimorbiden u nd auf fremde Hilfe<br />
angewiesenen Bewohner/<strong>in</strong>nen von Angehörigen der Sozialberufe begleitet werden. Pfl egekompetenz<br />
wird, wie <strong>in</strong> Privathaushalten auch, "zugekauft".<br />
Diese neue Ablauforganisation wird – je nach Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>er der beiden <strong>in</strong>v olvierten<br />
Berufsgruppen – leidenschaftlich be<strong>für</strong>wortet oder abgelehnt. Die Entwicklung zur Vere<strong>in</strong>heitlichung<br />
und Festigung des Berufsprofi ls "Sozialbetreuungsberufe" ist allerd<strong>in</strong>gs noch zu kurz,<br />
um bereits verallgeme<strong>in</strong>erbare Ergebnisse darstellen zu können.<br />
419
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
17.2.2. Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung<br />
Mit der Neuregelung der Pfl egevorsorge 1993 übernahmen die Länder auch die Verpfl ichtung,<br />
<strong>für</strong> e<strong>in</strong>e entsprechende Sicherung der fachlichen Qualität und Kontrolle der Dienste sowie des<br />
Ausbaugrades zu sorgen. Die Landesbehörden aller Bundesländer sichern im Rahmen ihrer<br />
Aufsichtstätigkeit allerd<strong>in</strong>gs vornehmlich die Strukturqualität, beispielsweise <strong>in</strong> Bewilligungsverfahren<br />
<strong>für</strong> Heime, bei E<strong>in</strong>schauen vor Ort, durch die sanitäre Aufsicht etc.<br />
Zunehmend wird auch die stationäre Altenhilfe als Markt <strong>für</strong> Gütesiegel und Zertifi zierungse<strong>in</strong>richtungen<br />
entdeckt. Die gängigen Qualitätsentwicklungs<strong>in</strong>strumente lassen sich nach folgenden<br />
E<strong>in</strong>satzbereichen unterscheiden (Kuratorium Deutsche Altershilfe 1998: Modul 1 – 9):<br />
E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>er bestimmten Form des Qualitätsmanagements mithilfe allgeme<strong>in</strong>er Verfahren<br />
und organisatorischer Vorschläge, wie Qualität <strong>in</strong>nerhalb welcher Rahmenbed<strong>in</strong>gungen erzeugt<br />
werden kann (DIN ISO 9000ff ), die Ergebnisqualität wird nicht überprüft.<br />
Instrumente, die e<strong>in</strong>e Stärken-/Schwächen-Analyse durch Selbstbewertung ermöglichen (Qualität<br />
als Prozess (QAP) der Frey-Akademie, Qualitätsförderndes, <strong>in</strong>novatives Lernen <strong>in</strong> Alten- und<br />
Pfl egeheimen (E-Qal<strong>in</strong>)).<br />
Verfahren und Instrumente zur Optimierung von Qualitätsprofi len (fachliche Standards z.B. zur<br />
Sturzprophylaxe, zum Beschwerdemanagement, pfl egetheoretische Ansätze von Orem (1997)<br />
bis Krohw<strong>in</strong>kel (1998), Gütesiegel wie das von der <strong>Österreich</strong>ischen <strong>Arbeit</strong>sgeme<strong>in</strong>schaft zur<br />
Förderung der Qualität (www.qualityaustria.com) vergebene.<br />
Mit Ausnahme von Vorarlberg, das <strong>für</strong> die Hälfte se<strong>in</strong>er Heime die E<strong>in</strong>führung von QAP gefördert<br />
und unterstützt hat, kommen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> zur Zeit Qualitätsmanagement-Systeme lediglich<br />
vere<strong>in</strong>zelt zum E<strong>in</strong>satz.<br />
Im Rahmen e<strong>in</strong>es EU-Projekts unter österreichischer Federführung wurde die europäische Branchenversion<br />
"E-Qal<strong>in</strong>" als eige nes Qualitätsmanagementsystem <strong>für</strong> Alten- u nd Pfl egeheime,<br />
das <strong>in</strong>sbesondere auf die Ergebnisqualität bei den Bewohner/<strong>in</strong>nen fokussiert, entwickelt. Es<br />
hat den Vorteil, dass nicht die "richtige" Anwendung von Qualitätssicherungsverfahren zertifi<br />
ziert wird, sondern e<strong>in</strong> k ont<strong>in</strong>uierlicher Verbesserungsprozess <strong>in</strong> Gang k ommt. Im Rahmen<br />
der Selbstbewertung können Stärken und Verbesserungspotentiale erkannt werden, geschieht<br />
e<strong>in</strong>e Sensibilisierung der Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf Qualität, erhalten alle Betroff enen<br />
ausreichende Möglichkeiten zur Refl exion und fi nden zu geme<strong>in</strong>samen Maßnahmenformulierungen<br />
zur Verbesserung von Qualität und Steigerung der Zufriedenheit der Bewohner/<strong>in</strong>nen<br />
und Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen. Diese Br anchenversion enthält Vorgehenskonzepte und Prozessanweisungen<br />
<strong>für</strong> die Durchführung des (Self-)Assessments durch die Leitungspersonen, stellt<br />
also e<strong>in</strong> Führungs<strong>in</strong>strument dar, umfasst weiters Bildungsmaßnahmen zur Durchführung des<br />
(Self-)Assessments und bietet e<strong>in</strong> Konzept <strong>für</strong> die Verankerung des QM-Systems als kont<strong>in</strong>u-<br />
420
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
ierlicher Verbes serungsprozess und Selbstbewertungsprozess <strong>in</strong> den Alten- und Pfl egeheimen<br />
(Bruckmüller 2003: 1 ff ).<br />
Um die Weiterentwicklung der Heime h<strong>in</strong>sichtlich der dort angebotenen Qualität vorantreiben<br />
zu können und vor allem e<strong>in</strong>e entsprechende Ergebnisqualität <strong>für</strong> die Kund/<strong>in</strong>nen zu erzeugen,<br />
bedarf es der Weiterentwicklung nationaler Standards <strong>für</strong> die Defi nition von Ergebnisqualität und<br />
<strong>für</strong> deren Messung. Zur Zeit wird von Vertreter/<strong>in</strong>nen der Länder, dem Dachverband der Alten-<br />
und Pfl egeheime <strong>Österreich</strong>s und dem Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> <strong>Soziales</strong> und Konsumenten schutz<br />
an den gru ndsätzlichen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen <strong>für</strong> e<strong>in</strong> "Nation ales Qualitäts zertifi kat (NQZ)"<br />
gearbeitet. Durch das NQZ kann die <strong>in</strong> den Heimen erbrachte Qualität transparent gemacht und<br />
ausgezeichnet werden. Es wird anhand e<strong>in</strong>es Fremdbewertungsverfahrens vergeben, wobei als<br />
Ausgangspunkt die verschiedenen gängigen Qualitätsmanagement systeme oder auch heimeigene<br />
QM-Systeme verwendet werden können. Im Fokus der Zertifi zierung sollen die Bewohner/<br />
<strong>in</strong>nen stehen und nicht <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie die Struktur-, sondern die Prozess- und Ergebnisqualität<br />
dargestellt werden.<br />
17.2.3. Entwicklungsbedarf und Entwicklungspotential von Heimen<br />
Die stationären E<strong>in</strong>richtungen zur Begleitung, Betreuung und Pfl ege alternder Er wachsener<br />
befi nden sich seit e<strong>in</strong>igen Jahren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>tensiven konzeptionellen und baulichen Veränderungsprozess.<br />
Während noch bis <strong>in</strong> die 90er Jahr e funktionelle Abläufe, Aufgabenteilung und<br />
kl<strong>in</strong>ikähnliche Raum- und Funktionsprogramme die Grundlage der stationären Altenbetreuung<br />
und –pfl ege waren, fi ndet zur Zeit e<strong>in</strong>e Neuausrichtung statt, <strong>in</strong> der sehr deutlich die Komponente<br />
des Wohnens vertreten und umgesetzt wird.<br />
Die Herausforderungen, die durch e<strong>in</strong>e völlig veränderte Bewohner/<strong>in</strong>nenstruktur entstehen,<br />
erfordern diese neuen baulichen und pfl egerischen Konzepte. Für die immer größer werdende<br />
Anzahl von Menschen mit Demenz, deren Alltagskompetenz e<strong>in</strong>geschränkt ist, werden spezifi -<br />
sche Angebote wie homogene Wohngruppen, betreute Wohngeme<strong>in</strong>schaften mit strukturierter<br />
<strong>in</strong>dividueller Rund-um-die-Uhr-Betreuung oder tagesstrukturierende Maßnahmen vermehrt<br />
umgesetzt. Betreuungs- und Pfl egekonzepte wie mäeutische (erlebensorientierte) Pfl ege, basale<br />
Stimulation, wahrnehmende Pfl ege, validierende Pfl ege oder "reaktivierende Pfl ege nach<br />
Böhm", wobei die letz ten drei K onzepte von österreichischen Pfl egeexpert/<strong>in</strong>nen entwickelt<br />
wurden, gehen ganz besonders auf die <strong>in</strong>dividuellen Bedürfnisse und Lebenssituationen von<br />
sehr alten und/oder desorientierten Menschen e<strong>in</strong>.<br />
Das E<strong>in</strong>beziehen der Wirkung von Farben, sowie besonders gestaltete Therapie- bzw. S<strong>in</strong>nesgärten<br />
oder das Halten von Tieren im Heim runden die Bestrebungen ab, den Heimalltag <strong>für</strong> die<br />
alten Menschen trotz körperlicher oder <strong>in</strong>tellektueller Bee<strong>in</strong>trächtigung so biografi eorientiert<br />
und so normal wie möglich zu machen.<br />
421
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
Neue Organisationsformen wie ambulant betreute Wohngruppen oder Hausg eme<strong>in</strong>schaften<br />
tragen diesen Bedürfnissen ebenfalls entsprechend Rechnung.<br />
In e<strong>in</strong>er Hausgeme<strong>in</strong>schaft leben 8 bis 12 alte Menschen, das bauliche Zentrum bildet e<strong>in</strong> großes<br />
geme<strong>in</strong>sames Wohnzimmer mit <strong>in</strong>tegrierter Küche. E<strong>in</strong>e Präsenzkraft (oder Alltagsmanager/<strong>in</strong>)<br />
befi ndet sich als Ansprechperson tagsüber durchgehend <strong>in</strong> diesem Zentrum. Sie kocht, animiert<br />
dabei zum Mitmachen und lässt die Bewohner/<strong>in</strong>nen am alltäglichen, gewohnten Tagesablauf<br />
teilnehmen. Nicht die Pfl egelogik bestimmt das Tagesgeschehen, sondern die Alltagsnormalität.<br />
Krankenpfl egerische Leistungen werden „zugekauft“: die Angehörigen der Gesundheitsberufe<br />
stellen e<strong>in</strong>e eigene Organisationse<strong>in</strong>heit dar und werden wie mobile Dienste <strong>in</strong> die Hausg eme<strong>in</strong>schaft<br />
gerufen.<br />
Solche Hausgeme<strong>in</strong>schaften können auch <strong>in</strong> traditionellen Heimen durch <strong>in</strong>terne Umstrukturierungen<br />
e<strong>in</strong>gerichtet werden, zur Zeit s<strong>in</strong>d Modelle mit zwei bis acht Hausgeme<strong>in</strong>schaften<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Heim <strong>in</strong> Betrieb. Dieses Konzept wurde – auch <strong>in</strong> verschiedenen Ausprägungen – <strong>in</strong><br />
Vorarlberg, <strong>in</strong> der Steiermark und <strong>in</strong> Oberösterreich umgesetzt.<br />
In Wien gibt es 38 Senior/<strong>in</strong>nen-WGs mit 3 bis 12 Bewohner/<strong>in</strong>nen, die tagsüber von Heimhelfer/<strong>in</strong>nen<br />
begleitet werden. Diese WGs befi nden sich <strong>in</strong> Wohnbauten und gewährleisten den<br />
Nutzer/<strong>in</strong>nen und den Betreuungspersonen größtmögliche Autonomie.<br />
E<strong>in</strong>e Realisierung solcher al ltagsnahen Konzepte beruht nicht alle<strong>in</strong>e auf architektonischen<br />
Lösungen, sondern erfordert vor allem e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>stellungs- und Bewusstse<strong>in</strong>sänderung bei den<br />
Heimträgern, den Mit arbeiter/<strong>in</strong>nen, den Nutzer/<strong>in</strong>nen und den politisch Verantwortlichen.<br />
E<strong>in</strong> wesentlicher Schritt <strong>in</strong> die Richtung Lebensweltorientierung und Normalität im Heimleben<br />
war bzw. wird – da der Prozess noch nicht abgeschlossen ist – e<strong>in</strong>e Überw<strong>in</strong>dung der Krankenhausorientierung<br />
se<strong>in</strong>. Erfolg versprechende Ansätze fi nden sich <strong>in</strong> Berufsbildern, die spezielle<br />
Kenntnisse und Kompetenzen <strong>für</strong> die Begleitung alt gewordener Erwachsener vermitteln. Mitte<br />
des Jahres 2007 wird die Artikel 15a B-VG-Vere<strong>in</strong>barung zur "Harmonisierung der Sozialbetreuungsberufe"<br />
<strong>in</strong> Landesg esetze umgesetzt se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> Ausbildungszweig wird den Schwerpunkt<br />
Altenarbeit vermitteln. Im Bereich der Gesundheitsberufe konnte der Wunsch der Praktiker/<strong>in</strong>nen<br />
nach e<strong>in</strong>er Ausbildung im gehobenen Dienst <strong>für</strong> Gesundheits- und Krankenpfl ege mit gerontologisch/geriatrischem<br />
Schwerpunkt nicht realisiert werden. Die Ang ehörigen des gehobenen<br />
Dienstes und die Pfl egehelfer/<strong>in</strong>nen können sich allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> Weiterbildungen Zusatzkenntnisse<br />
<strong>in</strong> diesem Bereich aneignen.<br />
17.3. Unterstützung des häuslichen Pfl egesystems<br />
Zu den <strong>in</strong>stitutionellen Betreuungs- und Pfl egeangeboten zählen auch die Tages- und Nachtpfl<br />
ege bzw. die K urzzeitpfl ege. Diese Angebote dienen hauptsächlich dazu, den pfl egenden<br />
Angehörigen <strong>für</strong> wenige Stunden bis h<strong>in</strong> zu mehreren Wochen e<strong>in</strong>e Auszeit zu ermöglichen.<br />
422
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
Als neues Segment mit Betreuungsleistungen außerhalb der Heime h at sich das Betreute (<strong>in</strong><br />
Oberösterreich Betreubare) Wohnen entwickelt. Es kann ebenfalls die familiären Betreuungsstrukturen<br />
stützen, da durch altersangepassten Wohnraum Betreuungsleistungen mit weniger<br />
<strong>Arbeit</strong>s- und Zeitaufwand erbracht werden können.<br />
17.3.1. Tagesbetreuung<br />
Die Tagesbetreuung bzw. Tagespfl ege ermöglicht Menschen mit Hilfebedarf e<strong>in</strong> Verbleiben zu<br />
Hause, wenn n achts und während des Wochenendes die Bet reuung durch Angehörige oder<br />
Freiwillige gesichert ist. Diese E<strong>in</strong>richt ungen s<strong>in</strong>d häufi ger <strong>in</strong> den Städten zu fi nden. In den<br />
ländlich strukturierten Regionen ist die Nachfrage noch ger<strong>in</strong>g, da vor allem durch den Transport<br />
zum und vom Tageszentrum hohe Kosten anfallen und e<strong>in</strong> Betrieb <strong>für</strong> 4 oder 6 Gä ste zu hohe<br />
Eigenleistungen erfordern würde.<br />
Um die Besuche lei stbar zu machen, s<strong>in</strong>d manche Heimträger dazu übergegangen, e<strong>in</strong>zelne<br />
Gäste tagsüber <strong>in</strong> die Wohngruppen aufzunehmen, was nach Berichten <strong>für</strong> alle Beteiligten zu<br />
positiven Ergebnissen führt. Niederösterreich wird beispielsweise dieses Angebot <strong>in</strong> den Landespfl<br />
egeheimen realisieren.<br />
Für bestimmte Gruppen wie zum Beispiel <strong>für</strong> Menschen mit Demenz wurden spezialisierte Tagesbetreuungsangebote<br />
e<strong>in</strong>gerichtet.<br />
E<strong>in</strong>ige E<strong>in</strong>richtungen bieten auch die Möglichkeit an, dass Menschen mit Hilfebedarf im Heim<br />
übernachten, weil sie sich dort sicherer fühlen. Der Tag wird dann wie gewohnt zu Hause verbracht.<br />
Da <strong>in</strong> den Ländern die statistischen Aufzeichnungen über diese Angebote entweder Besuchsstunden,<br />
Tage oder Plätze bes chrei ben, liegen ke<strong>in</strong>e vergleichbaren Daten vor.<br />
17.3.2. Kurzzeitpfl ege<br />
Kurzzeitpfl egeplätze, "Probewohnen" oder "Urlaubsbetten" ermöglichen e<strong>in</strong>en zeitlich befristeten<br />
Aufenthalt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Heim. Neben der Möglich keit, den Heimalltag kennen zu lernen, ist<br />
Kurzzeitpfl ege eher e<strong>in</strong> Angebot, um pfl egenden Angehörigen e<strong>in</strong>e Auszeit zu ermöglichen oder<br />
um sich nach e<strong>in</strong>er schweren Erkrankung bei professioneller Betreuung erholen zu können.<br />
Je Bundesland s<strong>in</strong>d die diesbezüglichen Regelungen unterschiedlich:<br />
Kärnten hat e<strong>in</strong> K urzzeitpfl egeplatz-Vergabe-Modell entwickelt, das sowohl den Trägern als<br />
auch den Angehörigen Sicherheit bietet: Jene Träger, die dem Land Kärnten e<strong>in</strong>en Kurzzeitpfl egeplatz<br />
zur Verfügung stellen (zur Zeit s<strong>in</strong>d es 14 Plätze), erhalten vom Land Kärnten pro Platz<br />
und Monat e<strong>in</strong>en Fixbetrag ersetzt. Bei Vergabe des Kurzzeitpfl egeplatzes werden den K und/<br />
423
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
<strong>in</strong>nen lediglich die anteiligen (tatsächlichen oder e<strong>in</strong>geschätzten) Pfl egegeldsätze verrechnet,<br />
ohne Berücksichtigung der jeweiligen Vermögensverhältnisse.<br />
Vorarlberg trägt dem erhöhten Verwaltungsaufwand häufi g wechselnder Kurzzeitpfl egegäste<br />
dah<strong>in</strong>gehend Rechnung, dass die Anbieter von Kurzzeitpfl egeplätzen pro Tag 10,00 € ersetzt<br />
bekommen. Im Jahr 2005 nutzten 787 Kurzzeitpfl egegäste die 91 fi x gewidmeten Plätze. Das Land<br />
leistet auch Sozialhilfe-Zuzahlungen, wobei <strong>für</strong> die Berechnung der Bemessungsgrundlage e<strong>in</strong><br />
Barbetrag von € 15.000,00 sowie Liegenschaften ke<strong>in</strong>e Berücksichtigung fi nden, und es gibt<br />
ke<strong>in</strong>e Rückforderungen von den Angehörigen.<br />
Oberösterreich sieht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Bedarfs- und Entwicklungsplan 3% der Normplätze als Kurzzeitpfl<br />
egeplätze vor, das s<strong>in</strong>d nach derzeitigem Stand 333 Plätze, die ausschließlich <strong>für</strong> Kurzzeitpfl<br />
ege vorgehalten werden sollen. Für Landespfl egegeldbezieher/<strong>in</strong>nen gibt es analog zu den<br />
Leistungen aus dem Unterstützungsfonds <strong>für</strong> Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen beim Ausfall der<br />
Hauptpfl egeperson e<strong>in</strong>en Zuschuss, der <strong>für</strong> Kurzzeitpfl egeaufenthalte genutzt werden kann.<br />
Fix gewidmete Plätze bedürfen e<strong>in</strong>er guten Bew irtschaftung, damit fi nanzielle Ausfälle durch<br />
Leerstände so ger<strong>in</strong>g wie möglich gehalten werden können. Es kann aber davon ausgegangen<br />
werden, dass <strong>in</strong> jedem Bundesland zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>ige variable Plätze angeboten werden. Da <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>igen Bundesländern die Heimplatzkapazität nicht zur Gänze genützt wird, werden diese freistehende<br />
Plätze ebenfalls zur Kurzzeitpfl ege vergeben. Exakte Daten über das Gesamtangebot<br />
s<strong>in</strong>d daher nicht ermittelbar.<br />
17.3.3. Betreutes (Betreubares) Wohnen<br />
Als zusätzliches Segment im Dienstleistungsbereich <strong>für</strong> ältere Erwachsene gew<strong>in</strong>nt das Konzept<br />
des Betreuten Wohnens zunehmend an Bedeut ung. Es handelt sich um e<strong>in</strong> u nterstützendes<br />
Wohnangebot <strong>für</strong> ältere Menschen oder Menschen mit Bee<strong>in</strong>trächtigungen, das ihnen <strong>in</strong> ihren<br />
eigenen vier Wänden e<strong>in</strong>e selbstständige Lebensführung ermöglicht. Die Wohnungen selber s<strong>in</strong>d<br />
barrierefrei gebaut, verfügen über e<strong>in</strong>e Rufhilfe; Betreuungs- und Pfl egedienste können wahlweise<br />
und <strong>in</strong>dividuell bei Bedarf abgerufen werden. E<strong>in</strong>e Ansprechperson, die zu bestimmten Zeiten<br />
anwesend ist, berät und unterstützt die Mieter/<strong>in</strong>nen. Ziel ist es, die sel bstständige Lebensführung<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er altersangepassten Wohnung mit organisiertem Betreuungsnetz zu fördern und<br />
selbst bei Pfl egebedarf e<strong>in</strong>e Übersiedlungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Heim zu vermeiden oder zum<strong>in</strong>dest h<strong>in</strong>aus<br />
zu schieben. Diese Wohnungen lösen die bisherigen Pensionisten- oder Seniorenheime ab.<br />
Es werden <strong>in</strong> al len Bundesländern solche Wohnungen errichtet, oft auch <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit<br />
e<strong>in</strong>em Alten- und Pfl egeheim. Diese Wohnungen werden entweder im Rahmen des normalen<br />
Wohnbaus oder mit e<strong>in</strong>er Sonderförderung aus Wohnbaumitteln errichtet, können mit Geme<strong>in</strong>schaftse<strong>in</strong>richtungen<br />
ausgestattet se<strong>in</strong>, und es befi nden sich Ansprechpersonen vor Ort. In der<br />
Steiermark und <strong>in</strong> Oberösterreich s<strong>in</strong>d sie e<strong>in</strong> quantitativ festgelegter Teil der Sozialplanung.<br />
424
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
In der Steiermark sollen <strong>in</strong> den kommenden 5 Jahren etwa 100 Objekte (M<strong>in</strong>imum 8 Wohnungen,<br />
Maximum 16 Wohnungen) mit <strong>in</strong>sgesamt 1.200 Wohnungen errichtet werden. E<strong>in</strong>e Präsenzkraft<br />
ist entweder halbtags (bei 8 Wohnungen) oder ganztags (bei 16 Wohnungen) vor Ort und<br />
unterstützt die Mieter/<strong>in</strong>nen. Die Betreuungspauschale ist, da es sich bei diesem Angebot um<br />
e<strong>in</strong>en mobilen Dienst nach dem Sozialhilfegesetz handelt, sozial gestaff elt. In Oberösterreich<br />
werden 90% der Erricht ungskosten mit Wohnbaumitteln gefördert, <strong>für</strong> die R ufhilfe und e<strong>in</strong>e<br />
Ansprechperson (2 Stunden pro Wohnung und Monat) wird e<strong>in</strong> Bereitstellungszuschlag verrechnet.<br />
Seit Start des Programms 1997 s<strong>in</strong>d 1.845 Wohnungen bezogen, weitere 1.400 <strong>in</strong> Planung<br />
bzw. <strong>in</strong> Bau, und laut Bedarfs- und Entwicklungsplan soll bis 2010 e<strong>in</strong>e Gesamtzahl von 3.220<br />
Wohnungen errichtet werden.<br />
Bedenken, dass im Falle steigender Pfl egebedürftigkeit e<strong>in</strong> weiterer Umzug <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Heim erforderlich<br />
wäre, treff en bis jetzt nicht zu: das Durchschnittsalter der Mieter/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> Oberösterreich<br />
ist 76 Jahre, e<strong>in</strong> Drittel ist älter als 80 Jahre. Von 229 e<strong>in</strong> weiteres Mal vermieteten Wohnungen<br />
wurden 158 (69%) durch e<strong>in</strong>en Todesfall frei.<br />
17.4. Zusammenfassung und Ausblick<br />
So vielfältig die Bedürfnisse und Bedarfe bezüglich Betreuung und Pfl ege aus Sicht der Nutzer/<br />
<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d, so vielfältig stellt sich auch die Pfl egelandschaft der österreichischen Bundesländer<br />
dar.<br />
Neben den klassischen Alten- und Pfl egeheimen haben sich neue Wohnformen entwickelt, die<br />
e<strong>in</strong>erseits dem Bedürfnis der alten Menschen, „normales Wohnen“ mit „erforderlicher Betreuung<br />
und Pfl ege“ zu verb<strong>in</strong>den, am nächsten kommen, und andererseits spezifi sche Angebote<br />
<strong>für</strong> Menschen mit besonderen Bedürfnissen bereit halten. Hier ist vor allem die Gruppe jener<br />
hochaltrigen Menschen zu nennen, die durch e<strong>in</strong>e demenzielle Erkrankung unter der fortschreitenden<br />
Bee<strong>in</strong>trächtigung ihrer Alltagskompetenz leidet und <strong>in</strong> konventionellen Alten- und Pfl egeheimen<br />
nur unter großem organisatorischem Aufwand fachgerecht und bedürfnisorientiert<br />
begleitet werden kann.<br />
Es wurde e<strong>in</strong>e Vielzahl unterschiedlicher Betreuungs- und Pfl egekonzepte entwickelt, welche<br />
jetzt erprobt, an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst und schon umgesetzt werden.<br />
Die Landesbehörden sichern im Rahmen ihrer Aufsichtstätigkeit die länderspezifi schen Strukturqualitäten.<br />
Zur weiteren Qualitätssteigerung s<strong>in</strong>d Initiativen zur Intensivierung von Qualitätsentwicklung<br />
und Qualitätsmanagement im Gange. Ziel könnte e<strong>in</strong> Nationales Qualitätszertifi kat<br />
<strong>für</strong> jedes Heim se<strong>in</strong>.<br />
Das zur Verfügung stehende Datenm aterial ist <strong>in</strong> Bez ug auf Informationsbreite und -tiefe äußerst<br />
unterschiedlich. M anche Bundesländer erheben schon seit mehrer en Jahren Strukturdaten,<br />
die auch längerfristige Vergleiche ermöglichen und Entwicklungstendenzen aufzeigen,<br />
425
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
andere wieder bauen j etzt e<strong>in</strong>e u mfangreichere Datensammlung auf. Die Entw icklung e<strong>in</strong>er<br />
über die Datenermittlung des <strong>Arbeit</strong>skreises <strong>für</strong> Pfl egevorsorge h<strong>in</strong>ausgehenden e<strong>in</strong>heitlichen<br />
Datenbank mit vergleichbaren Angaben und Ergebnissen <strong>für</strong> alle Bundesländer wäre <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e<br />
vorausschauende Kapazitätsplanung und als Steuerungs<strong>in</strong>strument empfehlenswert. Da<strong>für</strong> ist<br />
jedoch die Konzeptionierung e<strong>in</strong>es neuen Abfrage<strong>in</strong>struments <strong>für</strong> die jährliche Erhebung durch<br />
den <strong>Arbeit</strong>skreis <strong>für</strong> Pfl egevorsorge erforderlich.<br />
426
LITERATUR<br />
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
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427
PFLEGE UND BETREUUNG III: DIE FORMELLE INSTITUTIONELLE PFLEGE<br />
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for Social Research and Analysis. Wien.<br />
(7.1.2007)<br />
428
18. GEWALT UND KRIMINALITÄT<br />
JOSEF HÖRL<br />
18.1. Problemstellungen<br />
18.1.1. Wo geschieht Gewalt?<br />
GEWALT UND KRIMINALITÄT<br />
Die Frage der Opf erwerdung (Viktimisierung) von alten Menschen <strong>in</strong>folg e von Gewalt, Misshandlung,<br />
Missbrauch und Vernachlässigung hat viele Facetten. Die Beschreibung der Formen,<br />
die Ursachenforschung und die Suche nach wirksamen Präventionsmaßnahmen diff erieren je<br />
nach den sozialen Situationszusammenhängen, <strong>in</strong> denen diese unerwünschten Phänomene<br />
auftreten.<br />
In Forschung und Pr axis werden üblicherweise drei soziale Situationen bzw. Konstellationen<br />
unterschieden: die allgeme<strong>in</strong>e Krim<strong>in</strong>alität im öff entlichen Raum; die stationären Pfl egee<strong>in</strong>richtungen;<br />
der private Nahraum von Familie und Partnerschaft.<br />
Im Bereich der Krim<strong>in</strong>alität im Allgeme<strong>in</strong>en geht es um die polizeilich registrierten Delikte (d. h. die<br />
erfolgten Anzeigen), entsprechend den im Strafgesetzbuch verzeichneten strafbaren Handlungen.<br />
Jenseits dieser „re<strong>in</strong>en“ Krim<strong>in</strong> alitätsformen fi n den zwei Bereiche sozialer Beziehungen besondere<br />
Aufmerksamkeit, welche durch zwei Umstände gekennzeichnet s<strong>in</strong>d: es herrscht e<strong>in</strong>e<br />
elementare Vertrauensbeziehung zwischen Täter/<strong>in</strong> und altem Opfer bzw. sollte sie herrschen<br />
und darüber h<strong>in</strong>aus gibt es zumeist e<strong>in</strong> Abhängigkeitsverhältnis.<br />
Der erste Vertrauensbereich ist jener, wo alte Menschen professionell gepfl egt und/oder geheilt<br />
werden. Hier stehen die stationären E<strong>in</strong>richtungen im Brennpunkt, sowohl Alten- und Pfl egeheime<br />
als auch (geriatrische) Krankenhäuser. Abgesehen von den zwar spektakulären, aber sehr seltenen<br />
Fällen von (Serien )Tötungen und schweren Misshandlungen und Körperverletzungen kreisen<br />
hier die Diskussionen e<strong>in</strong>erseits um die grobe Vernachlässigung, Pfl egefehler und mangelnde<br />
Zuwendung, andererseits um die Problematik der freiheitsbeschränkenden Maßnahmen. Über<br />
Missbrauchsfälle im ambulanten Pfl egesektor durch Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen von Gesundheits- und<br />
Sozialdiensten oder auch durch frei praktizierende Ärzt/<strong>in</strong>nen liegen – wieder abgesehen von<br />
E<strong>in</strong>zelfällen mit Sensationscharakter – kaum Erkenntnisse vor.<br />
Der zweite Vertrauensbereich ist jener von Familie und Partnerschaft. Hier stehen ebenfalls gewalthafte<br />
Handlungen oder Vernachlässigungen anlässlich von Pfl ege und Betreuung im Blickpunkt,<br />
damit im Zusammenhang oder als eigene Phänomene gibt es im privaten Nahraum e<strong>in</strong>e Reihe<br />
von problematischen Verhaltensweisen, wie fi nanzielle Ausbeutung oder psychische Gewalt<br />
(z. B. Drohungen).<br />
429
GEWALT UND KRIMINALITÄT<br />
18.1.2. Formen der Gewalt 1<br />
Bei der Analyse von alten Opfern ist die grundlegende Diff erenzierung zwischen Ge walt durch<br />
aktives Tun e<strong>in</strong>erseits und durch unterlassene Handlungen andererseits zu beachten, wobei<br />
die e<strong>in</strong>zelnen Formen unterschiedlich häufi g auftreten und nur e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Teil davon e<strong>in</strong>deutig<br />
strafrechtlich sanktionierbar ist.<br />
Gewalt durch aktives Tun:<br />
Vernachlässigung durch Unterlassung von Handlungen:<br />
1 Nicht behandelt wird <strong>in</strong> diesem Bericht die gerontologische Variante der These von der sog. strukturellen Gewalt (Gal-<br />
430<br />
» körperliche Misshandlung: z. B. Schlagen; Stoßen; Festb<strong>in</strong>den an Möbelstücken;<br />
Verabreichung von überdosierten Medikamenten;<br />
» sexueller Missbrauch;<br />
» psychische Misshandlung: z. B. Beschimpfungen; Verunglimpfungen; E<strong>in</strong>schüchterungen;<br />
Drohungen; Aus drücken von Verachtung;<br />
» fi nanzielle Ausbeutung: Entwendung von Geld oder Vermögen; Unterb<strong>in</strong>dung der Verfügungsmacht;<br />
Pressionen zur Eigentumsübertragung;<br />
» E<strong>in</strong>schränkung des freien Willens: z. B. Abschiebung <strong>in</strong>s Heim; Zwang zu Verhaltensweisen,<br />
etwa bestimmte Kleidungsstücke (nicht) anzuziehen.<br />
» passive Vernachlässigung: z. B. Mangelernährung; Zulassung von Dehydration oder<br />
der Entwicklung von Druckgeschwüren;<br />
» aktive Vernachlässigung: z. B. ke<strong>in</strong>e Re<strong>in</strong>igung des Bettes; Verweigerung h<strong>in</strong>reichender<br />
Pfl ege, des Waschens, der Versorgung mit Essen;<br />
» psychische Vernachlässigung: z. B. Alle<strong>in</strong>lassen, Isolierung; beharrliches Schweigen.<br />
tung 1975), welche mit e<strong>in</strong>er extensiven Auslegung des Gewaltverständnisses operiert und besonders häufi g <strong>in</strong> populä-<br />
ren Streitschriften aufgegriff en wird. Über die personalen Gewaltformen weit h<strong>in</strong>ausgehend wird die Argumentation auf<br />
die gesamtgesellschaftliche Ebene gehoben, wobei die Altersdiskrim<strong>in</strong>ierung und die Altenfe<strong>in</strong>dlichkeit („ageism“) als<br />
Hauptansatzpunkte dienen.
18.2. Datenlage und Dunkelfeldproblem<br />
GEWALT UND KRIMINALITÄT<br />
Die Datenlage zur Gewalt gegen alte Men schen ist unbefriedigend. Es gibt weltweit nur wenige<br />
Repräsentativuntersuchungen und diese beschränken sich auf bestimmte Teilgebiete (z. B.<br />
häusliche Gewalt). Noch seltener widmen sich Studien explizit der Gruppe der <strong>Hochaltrige</strong>n.<br />
Für <strong>Österreich</strong> fehlt überhaupt jegliche Forschung auf der Basis von Zufallsstichproben, daher<br />
können <strong>für</strong> diesen Überblick nur wenige und verhältnismäßig kle<strong>in</strong>e Untersuchungen mit teils<br />
willkürlichen Auswahlverfahren herangezogen werden. Um überhaupt e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck vermitteln<br />
zu können, wie bestimmte Phänomene quantitativ verteilt s<strong>in</strong>d, wird auf exemplarische<br />
ausländische Studien zurückgegriff en werden müssen. Die gewonnenen Erkenntnisse s<strong>in</strong>d auf<br />
<strong>Österreich</strong> nur unter Vorbehalt zu übertragen.<br />
Die Ausgangsfrage nach der Prävalenz, d. h. wie hoch die Zahl an alten Menschen i st, die zu<br />
Opfern werden, e<strong>in</strong>deutig zu beantworten, erweist sich als schwierig.<br />
Zunächst ist der Umstand h<strong>in</strong>derlich, dass es – wie g enerell beim abweichenden Verhalten –<br />
Informationen lediglich über die nach außen (z. B. den Behörden) bekannt gewordenen Delikte<br />
gibt und damit e<strong>in</strong> mehr oder w eniger großes Dunkelfeld von Taten existiert, die niemals entdeckt<br />
und/oder angezeigt worden s<strong>in</strong>d. Zusätzlich begegnet man jedoch besonderen Schwierigkeiten,<br />
wenn alte Menschen bet roff en s<strong>in</strong>d. Denn j enseits der st rafrechtlich e<strong>in</strong>deutigen<br />
Normen bestehen gerade bei alten Opfern e<strong>in</strong>e große Bandbreite und fl ießende Grenzen <strong>in</strong> der<br />
Defi nition dessen, welche Handlungen denn eigentlich als gewaltförmig zu bezeichnen seien.<br />
Dieses Problem stellt sich <strong>in</strong> besonderer Dr amatik beim Umg ang mit Pfl egebedürftigen. Die<br />
Verwerfl ichkeit von Handlungen (z. B. bestimmt er Formen des Zwangs bei der E<strong>in</strong>n ahme von<br />
Nahrung) kann aber als solche nicht erkannt, nicht bekannt und schon gar nicht sanktioniert<br />
werden, wenn <strong>für</strong> deren Negativität bei den Opfern, bei etwaigen Zeugen, und nicht zuletzt bei<br />
den „Täter<strong>in</strong>nen“ und „Tätern“ selbst ke<strong>in</strong> Bewusstse<strong>in</strong> besteht.<br />
Dunkelfelder unentdeckter Taten, e<strong>in</strong> defi nitorischer Graubereich und mangelndes Bewusstse<strong>in</strong><br />
<strong>für</strong> den Gewaltcharakter bestimmter Handlungen oder Unterlassungen s<strong>in</strong>d auch <strong>in</strong> der <strong>in</strong>stitutionalisierten,<br />
professionellen Altenpfl ege anzutreff en und ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong> Phänomen, das<br />
ausschließlich bei <strong>in</strong>formellen Beziehungen oder <strong>in</strong> der Familie auftritt.<br />
In den Familien s<strong>in</strong>d freilich die Vorstellungen über e<strong>in</strong>e unter allen Umständen zu wahrende<br />
Privatsphäre, wo nichts nach außen dr<strong>in</strong>gen darf, besonders wirkungsmächtig. Zusammen mit<br />
der besonderen Gefühlsdynamik <strong>in</strong> vielen „Täter/<strong>in</strong>nen“-„Opfer“-Beziehungen erzeugt dies e<strong>in</strong>e<br />
<strong>für</strong> die Forschung (aber vielfach auch <strong>für</strong> die praktische Sozialarbeit) kaum zu überw<strong>in</strong>dende<br />
Barriere.<br />
431
GEWALT UND KRIMINALITÄT<br />
Neben den pr<strong>in</strong>zipiellen Dunkelfeld- und Defi nitionsproblemen stoßen wissenschaftliche Studien<br />
auf e<strong>in</strong>e Reihe von schwierigen methodischen E<strong>in</strong>zelfragen, die mit der Stichprobenziehung <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er sehr kle<strong>in</strong>en und überdies verborgenen Grundgesamtheit („hidden population“, vgl. Heckathorn<br />
2002), mit der praktischen Durchführung der Datenerhebung (z. B. Informationsgew<strong>in</strong>nung<br />
bei Alzheimerpatient/<strong>in</strong>nen) und nicht zuletzt damit zu tun haben, dass die e<strong>in</strong>zelnen Felder,<br />
wo Gewalt geschieht (Familien, geschlossene E<strong>in</strong>richtungen, öff entlicher Raum usw.) höchst<br />
unterschiedlich strukturierte Interaktionsformen aufweisen. Die Berechnung von Gesamtprävalenzen<br />
ist daher e<strong>in</strong>e komplexe Aufgabe, die bis jetzt nirgendwo zufriedenstellend gelöst ist.<br />
18.3. Gewaltsituationen und -konstellationen<br />
18.3.1. Krim<strong>in</strong>alität im Leben alter Menschen<br />
Zur Beantwortung der Frage, wie viele ältere Menschen Opfer krim<strong>in</strong>eller Handlungen werden,<br />
kann (<strong>für</strong> die polizeilich erfassten Straftaten) auf die Krim<strong>in</strong>alstatistik zurückgegriff en werden.<br />
Die im österreichischen Krim<strong>in</strong>alitätsbericht (BMI 2006) verzeichneten Daten beziehen sich <strong>in</strong><br />
der aktuell vorliegenden Ausgabe auf das Jahr 2005. Da <strong>in</strong> dieser Veröff entlichung <strong>in</strong>nerhalb<br />
der Gruppe der 65- und Mehrjährigen nicht weiter diff erenziert wird, kann über die <strong>Hochaltrige</strong>n<br />
im Speziellen bedauerlicherweise nichts ausgesagt werden.<br />
Insgesamt s<strong>in</strong>d im Berichtsjahr 1.652 Personen im Alter von 65 und mehr Jahren das Opfer e<strong>in</strong>er<br />
strafbaren Handlung geworden (davon 731 Männer und 921 Frauen); die Vergehen überwiegen<br />
mit 1.071 Fällen bei weitem die Verbrechen mit 581 Fällen (BMI 2006: B25).<br />
Wenn man nun die 65- und Mehrjährigen mit der Bevölkerung im Alter von 40 und mehr Jahren<br />
<strong>in</strong>sgesamt vergleicht, so zeigt sich, dass der Anteil der alten Opfer sowohl bei den Männern<br />
als auch bei den Frauen fast durchwegs unter dem Anteil der alten Menschen an der Gesamtbevölkerung<br />
im entsprechenden Al ter (also den 40- u nd Mehrjährigen) 2 liegt (Tabelle 1). Alle<br />
strafbaren Handlungen zusammengefasst, beträgt der Anteil der über 65-Jährigen an allen<br />
Opfern knapp 12%, ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ist dagegen fast dreimal so hoch. Die<br />
allgeme<strong>in</strong>e Krim<strong>in</strong>alitätsbelastung der älteren Bev ölkerung ist somit bedeutend niedriger als<br />
jene der Bevölkerung mittleren Alters. E<strong>in</strong>e Ausnahme bilden die weiblichen Opfer von „strafbaren<br />
Handlungen gegen fremdes Vermögen“ (z. B. Diebstahl, Raub), d. h. die älteren Fr auen<br />
ab 65 Jahren werden bei diesen Delikten etwas häufi ger zu Opfern als Frauen im mittleren Alter.<br />
2 Die unter 40-Jährige Bevölkerung <strong>in</strong> den Vergleich e<strong>in</strong>zuschließen, ersche<strong>in</strong>t wegen des <strong>in</strong> vielen Bereichen fundamen-<br />
432<br />
tal divergierenden Lebensstils zwischen Jung und Alt nicht s<strong>in</strong>nvoll. Im Übrigen erbrächte dieser Vergleich e<strong>in</strong>e verhält-<br />
nismäßig noch ger<strong>in</strong>gere Krim<strong>in</strong>alitätsbelastung der alten Menschen.
GEWALT UND KRIMINALITÄT<br />
Tabelle 1: Anteil der Opfer im Alter von 65 Jahren und mehr unter den 40- und mehrjährigen<br />
Opfern <strong>in</strong>sgesamt (<strong>Österreich</strong>, <strong>in</strong> %)<br />
Deliktgruppe - strafbare Handlungen gegen ... <strong>in</strong>sgesamt Männer Frauen<br />
Leib und Leben (Verbrechen) 17,9 16,5 20,8<br />
Leib und Leben (Vergehen) 8,6 7,5 10,3<br />
die Freiheit (Verbrechen) 6,1 5,2 6,8<br />
die Freiheit (Vergehen) 9,6 9,9 9,1<br />
fremdes Vermögen 29,2 16,3 39,4<br />
die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung 11,3 0,0 11,5<br />
Gesamtsumme aller strafbaren Handlungen 11,5 9,2 14,4<br />
davon Verbrechen 23,8 14,5 30,9<br />
davon Vergehen 9,0 8,4 9,8<br />
Anteil der Bevölkerung 65+ an Bevölkerung 40+ 32,6 27,9 36,6<br />
Quelle: Krim<strong>in</strong>alitätsbericht 2005; eigene Berechnungen.<br />
Insgesamt ergeben die österreichischen Krim<strong>in</strong>alitätsdaten <strong>in</strong> Bezug auf die älteren Menschen<br />
e<strong>in</strong> ziemlich undramatisches Bild. 3 Die deutschen Statistiken liefern ganz analoge Ergebnisse,<br />
die Detailauswertun gen zur Viktimisierung stellen lediglich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>z igen Position e<strong>in</strong>e<br />
merkliche Höhergefährdung alter Menschen fest, n ämlich beim Handtaschenraub an älteren<br />
Frauen (Görgen 200 4: 53f). Allerd<strong>in</strong>gs ist zu bedenken, dass bei alten Menschen, wenn sie<br />
tatsächlich Opfer von krim<strong>in</strong>ellen Gewalttaten geworden s<strong>in</strong>d, die Heilungsprozesse verzögert<br />
verlaufen und sie eher als jüngere Menschen unter dauernden körperlichen und psychischen<br />
Folgeschäden leiden.<br />
Dass bei alten Menschen trotz ih res objektiv niedrigeren Risikos besonders hohe Fu rcht vor<br />
Krim<strong>in</strong>alität vorherrscht, behauptet die These vom „Viktimisierungs-Furcht-Paradoxon“, dessen<br />
Gültigkeit allerd<strong>in</strong>gs umstritten ist (zur Diskussion siehe Görgen et al. 2002: 29). E<strong>in</strong>e gewisse<br />
Bestätigung der Richtigkeit des Paradoxons fi ndet sich <strong>in</strong> zwei österreichischen Studien.<br />
In e<strong>in</strong>er Untersuchung von Riedl (2003: 99) antwortet fast die Hälfte der Älteren (45%) auf die<br />
Frage „Wie sicher fühlen Sie sich nachts alle<strong>in</strong>e <strong>in</strong> ihrer Wohngegend?“ mit „ziemlich unsicher“<br />
oder „sehr unsicher.“ Es ist e<strong>in</strong> deutlicher positiver Zusammenhang zwischen isolierter<br />
Lebensweise und Furcht vor Krim<strong>in</strong>alität f eststellbar, d. h. anders ausg edrückt, d ass das<br />
erwünschte Sicherheits gefühl durch e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkung der Außenkontakte erkauft werden<br />
3 Bei den Straftätern s<strong>in</strong>d ältere Menschen ebenfalls unterrepräsentiert: von den im Jahre 2005 <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> rechtskräftig<br />
verurteilten Personen waren nur 3,3% bzw. 0,8% <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Alter von 60 und mehr bzw. 70 und mehr Jahren Statistik Austria<br />
2006: 73), woh<strong>in</strong>gegen der Anteil dieser Altersgruppen an der strafmündigen Gesamtbevölkerung mehr als siebenbzw.<br />
siebzehnmal so hoch ist<br />
433
GEWALT UND KRIMINALITÄT<br />
muss. 4 Reiterer (<strong>in</strong> diesem Bericht) br<strong>in</strong>gt Daten aus e<strong>in</strong>er größer angelegten Untersuchung,<br />
welche besagen, dass die „Angst, Opfer von Überfällen oder Diebstahl zu werden“ bei 15% der<br />
65- bis 74-Jährigen, bei 20% der 75- bis 84-Jährigen und bei 23% der 85- und Mehrjährigen „oft“<br />
oder „immer“ vorhanden ist; beim Item „Angst, bei Dunkelheit länger unterwegs zu se<strong>in</strong>“ lauten<br />
<strong>in</strong> den drei genannten Altersgruppen die Werte <strong>für</strong> „eher schon“ oder „ja“: 29%, 38%, 60%.<br />
Mith<strong>in</strong> ersche<strong>in</strong>t die Vermutung nicht unplausibel, dass die relativ niedrigen Viktimisierungsquoten<br />
der alten Menschen nicht zuletzt die Folge gesteigerter Furcht, e<strong>in</strong>er daraus erwachsenden<br />
Vorsicht und e<strong>in</strong>es bestimmten Vermeidungsverhaltens und e<strong>in</strong>er „freiwilligen“ Selbstisolierung<br />
(z. B. nach E<strong>in</strong>bruch der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße gehen) se<strong>in</strong> dürften.<br />
18.3.2. Gewalt <strong>in</strong> stationären E<strong>in</strong>richtungen<br />
Für diesen Überblick werden Krankenhäuser und Alten- und Pfl egeheime geme<strong>in</strong>sam betrachtet,<br />
allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d die vorhandenen Datenquellen <strong>in</strong> Bezug auf Heime ergiebiger.<br />
Für die Alten- u nd Pfl egeheime <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> w ird <strong>in</strong>sgesamt e<strong>in</strong>e Versorgungsdichte von 116<br />
Plätzen pro 1.000 E<strong>in</strong>wohner im Alter von 75 Jahren und darüber ausgewiesen (Schaff enberger<br />
& Pochobradsky 2004: 34), woraus schon ersichtlich wird, dass Heime nur <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>gen<br />
Anteil der alten Menschen den ständigen Lebensmittelpunkt bilden. Une<strong>in</strong>geschränkt gilt dies<br />
freilich nur <strong>in</strong> der Querschnittsbetrachtung. Wenn man jedoch bedenkt, dass die Mehrzahl der<br />
Men schen ihre letzte Lebensphase – und seien es nur Tage oder Wochen – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Krankenhaus<br />
oder Heim verbr<strong>in</strong>gt, ist deren reale Bedeutung sehr hoch zu veranschlagen. 5<br />
In stationären Institutionen leben bek anntlich überwiegend Hoch- u nd Höchstaltrige, so beträgt<br />
– bei steigender Tendenz – das Medianalter der Heimbewohner/<strong>in</strong>nen z. B. <strong>in</strong> Niederösterreich<br />
84 Jahre (Löger & Amann 2001: 61). Parallel zum Ansteigen des Durchschnittsalters der<br />
E<strong>in</strong>tretenden steigen der Grad der physischen und mentalen Bee<strong>in</strong>trächtigung der Bewohner/<br />
<strong>in</strong>nen und damit die <strong>Arbeit</strong>sbelastung bei unzureichender Personalausstattung. Unter diesen<br />
Voraussetzungen muss das Heim als e<strong>in</strong> prekäres Lebensumfeld angesehen werden.<br />
4 Die Studie umfasst e<strong>in</strong>e nichtrepräsentative Auswahl von 60- und mehrjährigen Grazer/<strong>in</strong>nen und Salzburger/<strong>in</strong>nen<br />
434<br />
(n = 88); e<strong>in</strong> Vergleich mit der <strong>in</strong> anderen Altersgruppen herrschenden Krim<strong>in</strong>alitätsfurcht ist allerd<strong>in</strong>gs nicht durchge-<br />
führt worden.<br />
5 Die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit, jemals <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Heim zu kommen, liegt <strong>in</strong> Deutschland <strong>für</strong> Männer im Alter von 65 Jahren bei<br />
etwa 40% und <strong>für</strong> Frauen desselben Alters bei etwa 70% (Kle<strong>in</strong> & Salaske 1994: 453). Der Sterbeort ist <strong>in</strong> der Deutsch-<br />
Schweiz <strong>für</strong> rund 70% der älteren Menschen e<strong>in</strong>e Institution, und zwar <strong>für</strong> 37% e<strong>in</strong> Krankenhaus und <strong>für</strong> knapp 34% e<strong>in</strong><br />
Alten- oder Pfl egeheim (Fischer et al. 2004).
GEWALT UND KRIMINALITÄT<br />
Und <strong>in</strong> der Tat kommen die vorliegenden empirischen Ergebnisse aus Deutschland und den Vere<strong>in</strong>igten<br />
Staaten übere<strong>in</strong>stimmend zum Schluss, dass psychische Gewalt vermutlich von e<strong>in</strong>er<br />
Mehrzahl (bis zu zwei Dritteln) und physische Gewalt von bis zu e<strong>in</strong>em Drittel der Pfl egenden<br />
angewendet wird. In absteigender Häufi gkeit handelt es sich um folgende Tatbestände – bei<br />
der psychischen Gewalt: wütend anschreien; be schimpfen; ignorieren, i solieren; absichtlich<br />
ärgern; – bei der physischen Gewalt: nicht rechtzeitig umlagern; nicht aus dem Bett holen; exzessiv<br />
Freiheit beschränken, fi xieren; stoßen, schubsen, grob anfassen; nicht <strong>in</strong>s Freie br<strong>in</strong>gen,<br />
auf Toilettengang warten lassen (Görgen 2000, Pillemer & Moore 1989).<br />
E<strong>in</strong>e gut zu dokumentierende, weil dauerhaf t sichtbare Folge von grober Vernachlässigung<br />
s<strong>in</strong>d Pfl egeschäden, die <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Form des Druckgeschwürs (Dekubitus) auftreten. E<strong>in</strong>e<br />
Hamburger Erhebung im Rahmen von Leichenschauen ermittelt e<strong>in</strong>en Anteil von 11% von Druckgeschwüren,<br />
die sehr schweren Geschwüre machen 2% aus. Professionelle Pfl ege bietet ke<strong>in</strong>e<br />
absolute Gewähr gegen Pfl egeschäden, denn über die Hälfte der sehr schweren Geschwüre<br />
kommt aus Pfl egeheimen, über e<strong>in</strong> Zehntel aus Krankenhäusern, e<strong>in</strong> Drittel von daheim (He<strong>in</strong>emann<br />
et al. 2000).<br />
Für <strong>Österreich</strong> liegen leider ke<strong>in</strong>erlei systematische Untersuchungen über das Ausmaß an oder<br />
die Formen von Gewalt und Vernachlässigung <strong>in</strong> stationären E<strong>in</strong>richtungen vor. Es gibt e<strong>in</strong>ige<br />
qualitativ orientierte Studien, die auf Gesprächen mit dem Personal und (teilnehmenden) Beobachtungen<br />
<strong>in</strong> Heimen basieren, aber auf die Themen Aggression und Gewalt nur am Rande<br />
e<strong>in</strong>gehen (Hofer 1997, Jenull-Schiefer et al . 2006, Rosenmayr 2002, Verender 2003²). 6 Der<br />
Tenor dieser <strong>Arbeit</strong>en lautet im Wesentlichen, dass die reduzierte Ansprechbarkeit der Pfl egebedürftigen,<br />
deren unaufhaltsamer körperlicher Verfall und die Alltäglichkeit des Sterbens das<br />
ursprüngliche Ideal des Helfens dauernd frust rieren. Zusammen mit dem enormen Zeitdruck<br />
wird so e<strong>in</strong>e u nkommunikative bzw. <strong>in</strong>fantilisierende Grundhaltung und e<strong>in</strong>e mech anische<br />
Massenabfertigung begünstigt. Aggressionen durch mental e<strong>in</strong>geschränkte Personen 7 ziehen<br />
6 E<strong>in</strong> Sonderfall ist der Bericht der Expertenkommission, die zur Aufarbeitung der im Jahre 1988 verübten Serientötungen<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Mediz<strong>in</strong>ischen Abteilung e<strong>in</strong>es Wiener Krankenhauses e<strong>in</strong>gesetzt worden war. Weit über den Anlassfall h<strong>in</strong>aus-<br />
gehend, werden hier bestimmte gravierende Strukturprobleme und Gewalt fördernde Unzukömmlichkeiten (etwa <strong>in</strong> der<br />
Pfl egeausbildung) aufgezeigt und Vorschläge erstellt (Fell<strong>in</strong>ger et al. 1989). In jüngerer Zeit schildert Vogt (2005) aus<br />
der Sicht der Funktion des Wiener Pfl egeombudsmanns se<strong>in</strong>e Erfahrungen – vornehmlich im Umgang mit Politik und<br />
Bürokratie, aber auch mit privaten Heimbetreibern.<br />
7 Nach deutschen Daten zeigt rund e<strong>in</strong> Drittel der Heimbewohner/<strong>in</strong>nen direkt aggressives Verhalten (z. B. Kratzen, Spu-<br />
cken, sexuelle Annäherung), massive Formen s<strong>in</strong>d aber selten. Beleidigungen s<strong>in</strong>d relativ häufi g und werden von zwei<br />
Fünfteln der Krankenschwestern und -pfl eger berichtet (Görgen 2000: 8, Grond 2007). Beobachten lassen sich auch<br />
zahlreiche <strong>in</strong>direkte oder versteckte Aggressionsäußerungen (z. B. auf den Tisch klopfen, Papierzerreißen), sowie e<strong>in</strong><br />
hohes Aggressionspotenzial der Bewohner/<strong>in</strong>nen untere<strong>in</strong>ander, das beispielsweise <strong>in</strong> Form von territorialen Ause<strong>in</strong>andersetzungen<br />
um bestimmte Sitzplätze e<strong>in</strong>en Ausdruck fi ndet (Rosenmayr 2002).<br />
435
GEWALT UND KRIMINALITÄT<br />
bisweilen Gegenaggressionen, etwa <strong>in</strong> Form von übertrieben ausgeführten Pfl egehandlungen<br />
oder auch Meidungsverhalten nach sich, letzteres äußert sich beispielsweise <strong>in</strong> Nichtbeachtung,<br />
im wortlosen Verlassen des Zimmers und Zusperren der Tür. Grundsätzlich wird vom Personal<br />
e<strong>in</strong> sich abgrenzendes Verhalten als professionelle Selbstschutzhaltung gerechtfertigt.<br />
E<strong>in</strong> spezielles Thema stellen die Freiheitsbeschränkungen dar. 8 Als physische Mittel s<strong>in</strong>d Fesselungen<br />
oder Fi xierungen mit verschiedenen mechanischen Apparaturen bzw. elektronisch<br />
gesteuerte Sperren <strong>in</strong> Verwendung, um verme<strong>in</strong>tlich sturzgefährdete Personen oder solche mit<br />
demenziell bed<strong>in</strong>gten Weglauftendenzen an e<strong>in</strong>er u nbefugten Entfernung aus der Obhut des<br />
Pfl egepersonals zu h<strong>in</strong>dern. Unbestritten ist, dass Freiheitsbeschränkungen bei alten Patient/<br />
<strong>in</strong>nen vielfach praktiziert werden. Die Prävalenz im Zeitraum 1999 bis 2004 schwankt nach der<br />
transnational vergleichenden Forschungslage zwischen 41% und 64% <strong>in</strong> Pfl egeheimen und<br />
zwischen 33% und 68% <strong>in</strong> Krankenhäusern, wobei die Ruhigstellung durch Medikamente nicht<br />
e<strong>in</strong>gerechnet ist (Hamers & Huiz <strong>in</strong>g 2005: 1 9). In e<strong>in</strong>er Untersuchung <strong>in</strong> 45 österreichi schen<br />
Heimen (Berlach-Pobitzer et al. 2005: 59-61) wird festgestellt, dass zwei freiheitsbeschränkende<br />
Maßnahmen, nämlich Fixierung im Rollstuhl und Steckgitter, <strong>in</strong> drei Vierteln aller E<strong>in</strong>richtungen<br />
zum<strong>in</strong>dest fallweise verwendet werden, wobei das Ausmaß an Freiheitsbeschr änkungen <strong>in</strong><br />
Großanstalten höher ist als <strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>heimen.<br />
Nach Borutta (1994) <strong>in</strong>terpretiert e<strong>in</strong>e Mehrheit des Pfl egepersonals Freiheitsbeschränkungen<br />
nicht explizit als Gewalthandlungen, doch dür fte <strong>in</strong> der Zwischenzeit e<strong>in</strong>e Sensibilisierung<br />
stattgefunden haben. Nach den Aussagen des ärztlichen und des Pfl egepersonals <strong>in</strong> der österreichischen<br />
Studie ist das gestiegene Problembewusstse<strong>in</strong> nicht zuletzt e<strong>in</strong>e Folge der skandalisierenden<br />
Medienberichterstattung zu Vorkommnissen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Heimen (Berlach-Pobitzer<br />
et al. 2005: 17).<br />
8 In <strong>Österreich</strong> wird diese Materie durch das seit 2005 <strong>in</strong> Kraft befi ndliche Heimaufenthaltsgesetz geregelt. Danach<br />
436<br />
darf e<strong>in</strong>e Freiheitsbeschränkung nur vorgenommen werden, wenn die Betroff enen psychisch krank oder geistig beh<strong>in</strong>-<br />
dert s<strong>in</strong>d und im Zusammenhang damit ihr Leben oder ihre Gesundheit oder das Leben und die Gesundheit anderer<br />
ernstlich und erheblich gefährdet ist. Das Gesetz sieht e<strong>in</strong>e Dokumentationspfl icht vor. E<strong>in</strong>gerichtet wurde ferner e<strong>in</strong>e<br />
Heimbewohnervertretung, welche bestimmte Beratungs- und Kontrollaufgaben wahrnehmen soll. Zum Zeitpunkt der<br />
Abfassung dieses Berichts ist die unmittelbar bevorstehende Veröff entlichung e<strong>in</strong>er Studie des Instituts <strong>für</strong> Rechts- und<br />
Krim<strong>in</strong>alsoziologie angekündigt, welche den Prozess der Implementation nach dem Inkrafttreten des Gesetzes evaluiert,<br />
e<strong>in</strong>schließlich der Auswertung der Meldedatenbanken <strong>in</strong> Bezug auf freiheitsbeschränkende Maßnahmen und der<br />
Anträge zu deren Überprüfung durch die Gerichte ( 25.10.2007).
18.3.3. Gewalt im häuslichen und persönlichen Nahraum<br />
GEWALT UND KRIMINALITÄT<br />
Aufgrund der seit rund 25 Jahren <strong>in</strong> den US A und e<strong>in</strong>igen wenigen anderen Ländern (j edoch<br />
nicht <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>) durchgeführten Prävalenzstudien wird man zu dem Schluss kommen, dass<br />
e<strong>in</strong>e nicht unbeträchtliche M<strong>in</strong>derheit der <strong>in</strong> Privathaushalten lebenden älteren Menschen m<strong>in</strong>destens<br />
e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Erfahrung mit Misshandlung oder grober Vernachlässigung machen muss.<br />
Nach den Erkenntnissen e<strong>in</strong>er groß angelegten amerikanischen Studie, die das Dunkelfeld mit<br />
Hilfe von Informanten zum<strong>in</strong>dest teilweise ausleuchten konnte, hat pro Jahr m<strong>in</strong>destens 1%<br />
der <strong>in</strong> Privathaushalten lebenden Bevölkerung im Alter von 60 und mehr Jahren e<strong>in</strong> massives<br />
Gewalterlebnis (Takamura & Golden 1 998). Nur 16% dieser F älle s<strong>in</strong>d von den Behörden vorher<br />
offi ziell registriert worden. Unter den Opfern überrepräsentiert s<strong>in</strong>d die über 80-Jährigen,<br />
und zwar s<strong>in</strong>d sie zwei- bis dreimal häufi ger vertreten als es ihrem Anteil an der Bev ölkerung<br />
entspräche. Der Anteil der hochaltrigen Opfer ist besonders hoch <strong>in</strong> folg enden Kategorien:<br />
Vernachlässigung ( 52%), fi nanzielle Ausbeutung (48%), k örperlicher (44%) und emotionalpsychischer<br />
Missbrauch (41%). Überrepräsentiert s<strong>in</strong>d weiters die Fr auen, welche ru nd drei<br />
Viertel aller Opfer ausmachen. Schließlich werden rund 60% der Opfer als verwirrt e<strong>in</strong>gestuft,<br />
während die Prävalenz demenzieller Erkrankungen <strong>in</strong> der älteren Population <strong>in</strong>sgesamt auf nur<br />
10% geschätzt wird. Bei den Täter/<strong>in</strong>nen mit festgestellter Identität handelt es sich zu fast 90%<br />
um Familienangehörige, überwiegend um die erwachsenen K<strong>in</strong>der oder den Ehepartner.<br />
Andere Untersuchungen zu Ende des 20. Jahrhunderts, die <strong>in</strong> den Niederl anden, <strong>in</strong> F<strong>in</strong>nland,<br />
<strong>in</strong> den USA und <strong>in</strong> Kanada (Comijs et al. 1998, Kivelä et al. 1992, Pillemer & F<strong>in</strong>kelhor 1988,<br />
Podnieks 1990) durchgeführt worden s <strong>in</strong>d und welche ebenf alls das Dunkelfeld zu erfassen<br />
trachten, kommen zu Schätzungen von Jahresprävalenzen 9 zwischen 2,6% und 5,6%. In e<strong>in</strong>er<br />
deutschen Studie (Wetzels et al. 1995) wird berichtet, dass 6,9% der über 60-Jährigen im Zeitraum<br />
1987-1991 durch Familien- bzw. Haushaltsmitglieder körperlich misshandelt worden s<strong>in</strong>d.<br />
Die aktuellsten verfügbaren Daten st ammen aus Israel und Großbritannien. Die i sraelische<br />
Studie (Eisikovits et al. 2004) kommt (bei e<strong>in</strong>er weiten Defi nition des Gewaltbegriff s) zu e<strong>in</strong>er<br />
Jahresprävalenz von 18,4% bei den 65- und Mehrjährigen.<br />
Die britische Studie (O’Keeff e et al. 2007) errechnet <strong>für</strong> die 66- und Mehrjährigen e<strong>in</strong>e Jahresprävalenz<br />
von 2,6%, sofern nur die Beteiligung von Familienmitgliedern, engen Freund/<strong>in</strong>nen<br />
oder Sozialhelfer/<strong>in</strong>nen als Täter/<strong>in</strong>nen berücksichtigt wird; wenn Nach barn und bloße Bekannte<br />
zusätzlich e<strong>in</strong>bezogen werden, erhöht sich der Anteil auf 4,0%. Als Tatbestände <strong>in</strong>sgesamt am<br />
häufi gsten festzustellen s<strong>in</strong>d Vernachlässigung und die fi nanzielle Ausbeutung. Zwei Drittel der<br />
9 Unter Jahresprävalenz ist das Vorkommen des Ereignisses der Gewaltanwendung bei der defi nierten Population <strong>in</strong>ner-<br />
halb e<strong>in</strong>es Zeitraums von 12 Monaten vor der Erhebung (Befragung) zu verstehen.<br />
437
GEWALT UND KRIMINALITÄT<br />
Täter/<strong>in</strong>nen leben im gleichen Haushalt und zwei Fünftel der Täter/<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d betreuend tätig.<br />
Überrepräsentiert unter den Opfern s<strong>in</strong>d auch <strong>in</strong> dieser Studie die <strong>Hochaltrige</strong>n (die 85- und<br />
Mehrjährigen) und die Frauen. <strong>Hochaltrige</strong> Männer s<strong>in</strong>d (im Vergleich zu unter 85-Jährigen Männern)<br />
besonders häufi g von fi nanzieller Ausbeutung betroff en, hochaltrige Frauen (im Vergleich<br />
zu unter 85-Jährigen Frauen) <strong>in</strong> höherem Maße von Vernachlässigung. Personen mit schlechter<br />
Gesundheit und solche, die sich oft e<strong>in</strong>sam fühlen, werden häufi ger zu Opfern.<br />
Bereits diese sk izzenhafte Übersicht verdeutlicht, dass e<strong>in</strong>e Gesamtbeurteilung der Opfersituation<br />
alter Menschen im pri vaten Nahraum nur e<strong>in</strong>geschränkt möglich ist. Abgesehen vom<br />
grundsätzlichen Problem des Dunkelfelds wird die Vergleichbarkeit der e<strong>in</strong>zelnen Ergebnisse<br />
durch unterschiedliche Erhebungstechniken bzw. operationelle Defi nitionen erschwert. Verzerrungen<br />
kaum unüberprüfbaren Ausmaßes fi nden außerdem durch Selektionseff ekte statt: Opfer<br />
s<strong>in</strong>d aufgrund ihrer persönlichen Betroff enheit e<strong>in</strong>erseits vielleicht eher bereit, entsprechende<br />
Fragen überhaupt zu beantworten; andererseits s<strong>in</strong>d diese oft verängstigten oder p sychisch<br />
bee<strong>in</strong>trächtigten Menschen weniger gewillt oder <strong>in</strong> der Lage, an Interviews teilzunehmen.<br />
Immerh<strong>in</strong> dürfte mit e<strong>in</strong>iger Sicherheit die Behauptung zutreff en, dass <strong>in</strong> den Privathaushalten<br />
die pfl egebedürftigen <strong>Hochaltrige</strong>n das höchste Opferrisiko tragen. Da<strong>für</strong> sprechen zwei Umstände,<br />
die aus den empirischen Studien abzuleiten s<strong>in</strong>d: e<strong>in</strong>erseits der relativ hohe Stellenwert,<br />
den Vernachlässigungen e<strong>in</strong>nehmen und andererseits die Tatsache, dass Demenzkranke<br />
besonders gefährdet zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>en. Die (Alzheimer-)Demenz betriff t bekanntlich hauptsächlich<br />
sehr alte Menschen, wobei die durchschnittliche Überlebenszeit rund sieben Jahre beträgt<br />
(Rothgang 2003: 174). 10 Im Falle von Betreuungsnotwendigkeit ist der Aufwand hoch und vor<br />
allem mit psychischen Belastungen verbunden. Bei Demenzkranken s<strong>in</strong>d zwar nicht selten die<br />
körperlichen Voraussetzungen gegeben, um die zur Grundpfl ege zählenden Verrichtungen selbst<br />
auszuführen, <strong>in</strong> der Regel ist da<strong>für</strong> aber e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive und oft ständige Beaufsichtigung durch<br />
Dritte erforderlich. Der Umg ang mit Demenzkranken erfordert besondere Kenntnisse und e<strong>in</strong><br />
besonderes Verständnis <strong>für</strong> deren spezifi sche Verhaltensformen. Da bei Familienangehörigen<br />
solche Qualifi kationen <strong>in</strong> der Regel nicht vorausgesetzt werden können, ist das Gewaltrisiko<br />
verhältnismäßig hoch (Stechl et al. 2007: 72, Thoma et al. 2004).<br />
10 Für die Zukunft ist alle<strong>in</strong> aufgrund des demografi sch bed<strong>in</strong>gten Altersstruktureff ekts e<strong>in</strong> steiler Anstieg der Demenz-<br />
438<br />
erkrankungen (und damit <strong>in</strong>direkt der Gefährdung durch Gewalt) zu erwarten, sofern der entscheidende Durchbruch<br />
<strong>in</strong> der Prävention und Therapie ausbleibt. Für das Jahr 2050 werden <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> etwa 233.800 Fälle prognostiziert,<br />
während <strong>für</strong> 2000 noch e<strong>in</strong>e Zahl von 90.500 Fällen geschätzt wird (Wancata et al. 2001). Von den derzeitigen Patienten<br />
ist nach den Erkenntnissen e<strong>in</strong>er Wiener Langzeitstudie (Tragl & Fischer 2005: 1) „etwa die Hälfte hilfs- und pfl egebedürftig,<br />
die andere Hälfte wird ... als leicht dement bezeichnet: diese Patienten kommen trotz störender <strong>in</strong>tellektueller<br />
Ausfälle mit ihrem Leben noch alle<strong>in</strong> zurecht.“
GEWALT UND KRIMINALITÄT<br />
Die <strong>in</strong> diesem Zusammenhang entwickelte „caregiver-overload“-These (Ste<strong>in</strong>metz 1993) besagt<br />
nun, dass die Tatsache, dass Pfl egesituationen (nicht nur, aber <strong>in</strong>sbesondere im Falle von Demenz)<br />
durch Überforderung und Stress hoch bel astet und überdies <strong>in</strong> ih rem Ende nicht abzusehen<br />
s<strong>in</strong>d, dazu führt, dass manche Angehörige bei Vorliegen bestimmter „Gelegenheits strukturen“<br />
(z. B. geme<strong>in</strong>sames Wohnen mit dem/der Pfl egebedürftigen) <strong>in</strong> die Gewalthaftigkeit entgleisen,<br />
was wegen des großen Machtgefälles und der zumeist isolierten Lebensweise relativ gefahrlos<br />
geschehen kann.<br />
Neben Stress <strong>in</strong> der Pfl egesituation können bei der Gew alt im Alter zwei weitere Umstände<br />
identifi ziert werden, die e<strong>in</strong>e größer e Rolle spielen: e<strong>in</strong>erseits Ehekonfl ikte, die u. U. bereits<br />
jahrzehntelang bestehen und <strong>in</strong>s höhere Alter gleichsam mitgeschleppt werden und andererseits<br />
das Vorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es fi nanziell abhängigen (und oft alkohol- oder sonst suchtkranken<br />
bzw. psychisch auff älligen) erwachsenen K<strong>in</strong>des. Es k ann dann auc h der Fall e<strong>in</strong>treten, dass<br />
gestörte Personen, die aggressive Handlungstendenzen bereits früher gezeigt hatten, diese <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er Pfl egebeziehung weiterh<strong>in</strong> ausleben (Pillemer & Suitor 1992).<br />
18.4. Subjektive Gewaltverständnisse<br />
Zur Beantwortung der speziellen Frage, welches Gewaltverständnis die älteren Menschen selbst<br />
(Hörl 2007) bzw. die pfl egenden Angehörigen von alten Menschen (Ebner 2006) aufweisen, kann<br />
auf Erkenntnisse zurückgegriff en werden, die im Wege von Gruppendiskussionen (mit „Fokusgruppen“)<br />
<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> gewonnen worden s<strong>in</strong>d und im Folgenden zusammengefasst werden. 11<br />
Das Hauptmerkmal des subjektiven Gewaltverständnisses der älteren Menschen besteht dar<strong>in</strong>,<br />
dass es grundsätzlich e<strong>in</strong>en sehr viel breiteren Bereich umfasst als dies bei wissenschaftlichen<br />
Konzepten üblicherweise der Fall ist (Hörl 2007).<br />
11 Die erste Studie wurde 2001 im Rahmen e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>ternational vergleichenden WHO-Projekts <strong>in</strong> acht Ländern mit Diskussionsgruppen<br />
von nicht-pfl egebedürftigen und selbst nicht aktiv betreuend tätigen älteren Menschen durchgeführt. Die<br />
Teilnehmer/<strong>in</strong>nen waren zwischen 54 und 89 Jahre alt, das Durchschnittsalter betrug 72 Jahre. Es wurden fünf Gruppendiskussionen<br />
<strong>in</strong> vier Bundesländern (Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol) abgehalten, wobei <strong>in</strong>sgesamt 31<br />
Frauen und 14 Männer teilnahmen. Für die zweite Studie wurden 2006 drei Diskussionsgruppen <strong>in</strong> drei Bundesländern<br />
(Kärnten, Salzburg, Steiermark) mit pfl egenden Angehörigen (ausschließlich Frauen) zusammengestellt und jeweils drei<br />
Treff en abgehalten; die Altersspannweite der <strong>in</strong>sgesamt 24 Teilnehmer/<strong>in</strong>nen lag hier zwischen 54 und 86 Jahren; die<br />
pfl egenden Angehörigen zählten also teilweise selbst bereits zur Gruppe der alten Menschen. Die Ergebnisse müssen<br />
als vorläufi g betrachtet werden, weil <strong>in</strong> Wien und e<strong>in</strong>igen anderen Bundesländern ke<strong>in</strong>e Diskussionsgruppen zustande<br />
kamen und die Auswahl der Teilnehmer/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> den durchgeführten Gruppendiskussionen nach dem Schneeballverfahren<br />
erfolgte.<br />
439
GEWALT UND KRIMINALITÄT<br />
Bestimmte Gefühlszustände, wie missachtet oder gedemütigt zu werden, wie auch der Mangel<br />
an Respekt, ja sogar bloß unachtsame oder u nhöfl iche Verhaltensweisen werden u nter „Gewalt“<br />
subsumiert. Die entsprechenden Er fahrungen werden h auptsächlich bei Beg egnungen<br />
<strong>in</strong> öff entlichen Räumen, wie Ämtern, Geschäften, Verkehrsmitteln, gesammelt. Gewaltformen<br />
<strong>in</strong> der Familie werden weitaus seltener genannt, noch am häufi gsten wird die fi nanzielle Ausbeutung<br />
zur Sprache gebracht.<br />
Typisch <strong>für</strong> die alltagstheoretische Ursachenzuschreibung ist e<strong>in</strong>e eigentümliche Verschmelzung<br />
von „Gewalt als sozi alem Tatbestand“ mit e<strong>in</strong>er „naturalistischen“ Sichtweise. Die hochgradige<br />
Abwertung des Alters <strong>in</strong> der Gesellschaft gilt als e<strong>in</strong>e unbestreitbare Grundtatsache. Die<br />
Eskalation von der verächtlichen Abwertung h<strong>in</strong> zur direkten Gewaltausübung tritt <strong>in</strong> weiterer<br />
Folge dann e<strong>in</strong>, wenn die biologischen Gegebenheiten es zulassen, d. h. durch die körperliche<br />
Unterlegenheit Angst und Unsicherheit hervorgerufen wird. Es entsteht e<strong>in</strong>e Art Kreislauf: wer<br />
nicht mehr die Kraft besitzt, sich zu verteidigen oder zu fl iehen wird immer wieder zum Opfer,<br />
weil er/sie Unsicherheit ausstrahlt und wenig Gegenwehr zu erwarten ist.<br />
H<strong>in</strong>ter diesen Grundtenor der leidenden Klage und der kulturpessimistischen Anklage („Opfer<br />
der Gesellschaft“) tritt das Bemühen u m Ausgewogenheit zurück. Nur gelegentlich wird beispielsweise<br />
der Aspekt der Gegenseitigkeit (etwa wechselseitige Aggressionen zwischen Opfern<br />
und Tätern) e<strong>in</strong>gebracht.<br />
In den Diskussionen mit pfl egenden Angehörigen (Ebner 2006) fi ndet sich erneut das soeben<br />
angesprochene erweiterte Gewaltverständnis, auch sie schließen subtile Formen durchaus <strong>in</strong><br />
ihre Betrachtungen e<strong>in</strong>. Im Gegensatz zu den älteren Menschen selbst werden allerd<strong>in</strong>gs verbale<br />
Ausbrüche eher verharmlost und entschuldigt. Möglicherweise spiegelt sich <strong>in</strong> dieser Haltung,<br />
die bestimmte Gewaltäußerungen als legitim ersche<strong>in</strong>en lässt, <strong>in</strong>direkt die Erfahrung mit der<br />
eigenen Belastung, welche manchmal zur Überschreitung von Grenzen führen mag.<br />
Trotz der Dynamik des Gesprächsverlaufs, die Gruppendiskussionen normalerweise eigen ist,<br />
bleibt bei den Angehörigen <strong>in</strong>sgesamt die Zurückhaltung groß, eigene negative Verhaltensweisen<br />
zu thematisieren, <strong>in</strong>s besondere ist d as Anführen von Beispielen physischer Gewalt e<strong>in</strong>e<br />
seltene Ausnahme. Es muss off en bleiben, ob es Scham- oder Schuldgefühle verh<strong>in</strong>dern, frei<br />
über physische Gewalt zu sprechen oder die bereits ang esprochene allgeme<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>stellung,<br />
welche die Privatsphäre der Familie als tabuisiert und unantastbar betrachtet.<br />
440
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GEWALT UND KRIMINALITÄT<br />
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444
19. RECHTLICHE ASPEKTE<br />
MICHAEL GANNER<br />
19.1. Überblick<br />
19.1.1. Besonderer Schutz des Alters<br />
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
Sonderregelungen <strong>für</strong> alte Menschen kennt die österreichische Rechtsordnung grundsätzlich<br />
nicht. E<strong>in</strong>ige Rechtsbereiche haben <strong>für</strong> diesen Personenkreis aber auf Grund ihrer Bedürfnisse<br />
besondere Bedeutung. Dazu gehören <strong>in</strong>sbesondere das Gesundheitswesen, das Sozialwesen<br />
sowie der Konsumentenschutz. Auf Verfassungsebene enthält der Gleichheitsgrundsatz e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es<br />
– und daher auch <strong>für</strong> das Alter geltendes – Diskrim<strong>in</strong>ierungsverbot und im Privatrecht<br />
stellt § 2 1 ABGB die Gru ndlage e<strong>in</strong>er u mfassenden Fürsorgepfl icht <strong>für</strong> Personen dar, die ihre<br />
Angelegenheiten nicht ohne Gefahr e<strong>in</strong>es Schadens erledigen können. Dabei handelt es sich um<br />
e<strong>in</strong>e grundlegende Fürsorgemaßnahme <strong>für</strong> schutzbedürftige Personen, die diese vor allem vor<br />
Übervorteilungen im Geschäftsverkehr bewahren soll, und positiviert generell den hohen Rang<br />
des Schutz<strong>in</strong>teresses nicht voll handlungsfähiger Personen. E<strong>in</strong>e materielle Fürsorgepfl icht des<br />
Staates ist aber weder aus dem Verfassungs- noch aus dem Privatrecht ableitbar. In der Regel<br />
ergibt sich e<strong>in</strong>e solche aber aus den Sozialhilfegesetzen der Bundesländer.<br />
19.1.2. Kompetenzlage<br />
Die rechtliche Entwicklung im Bereich der Pfl ege und Betreuung alter Menschen ist stark durch<br />
die strikte Trennung von Gesundheits- und Sozialbereich geprägt. Dies ersche<strong>in</strong>t problematisch<br />
und unzeitgemäß, weil e<strong>in</strong>e klare Grenzl<strong>in</strong>ie auf Grund der mediz<strong>in</strong>ischen und sozialen Entwicklung<br />
zunehmend schwerer gezogen werden kann.<br />
Wohn- und Pfl egeheime sowie die Berufe der/des Altenhelfer<strong>in</strong>/s, Heimhelfer<strong>in</strong>/s und<br />
Familienhelfer<strong>in</strong>/s (Sozialberufe) gehören dem Kompetenztatbestand <strong>Soziales</strong> an, was <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
die Zuständigkeit der Bu ndesländer mit sich br<strong>in</strong>gt. Die Gru ndsatzgesetzgebung <strong>für</strong><br />
Krankenanstalten und die abschließende Regelung der mediz<strong>in</strong>ischen Berufe (gehobener Dienst<br />
<strong>für</strong> Gesundheits- und Krankenpfl ege sowie Pfl egehilfe) fallen <strong>in</strong> die Zuständigkeit des Bundes.<br />
Die Grenzen zwischen den Institutionen s<strong>in</strong>d aber vielfach fl ießend.<br />
Ebenso krass tritt dieses Problem im Sozialversicherungsrecht auf. Dort wird strikt zwischen<br />
Behandlungs- und Asylierungsfall getrennt. Nur wenn e<strong>in</strong>e mediz<strong>in</strong>isch-ärztliche Behandlung<br />
der Heilung, Besserung oder zum<strong>in</strong>dest H<strong>in</strong>tanhaltung e<strong>in</strong>er Verschlechterung dient, werden die<br />
Kosten von den Krankenversicherungen getragen. Bei der üblichen Pfl ege – auch von Schwerstpfl<br />
egebedürftigen – liegt e<strong>in</strong> Asylierungsfall vor, der von den Krankenkassen nicht bezahlt wird.<br />
445
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
E<strong>in</strong> großer Teil der <strong>in</strong> Pfl egeheime verlegten Pfl egefälle wird daher wegen fehlender Zuständigkeit<br />
und auch ausbleibender F<strong>in</strong>anzierung durch die Krankenkassen zu Sozialhilfeempfängern,<br />
zumal aus eigenem E<strong>in</strong>kommen die hohen und kont<strong>in</strong>uierlich steigenden Kosten der Pfl ege<br />
nicht getragen werden können.<br />
Diese Aufteilung <strong>in</strong> Gesundheits- und Sozialangelegenheiten besteht auch auf EU-rechtlicher<br />
Ebene, und zwar auch h<strong>in</strong>sichtlich der K ompetenzverteilung. Dies ha t zur Folge, dass auf<br />
Grund der nationalen Gesetzgebungskompetenz im Sozialbereich die Grundfreiheiten der<br />
EU – <strong>in</strong>sbesondere die akt ive und p assive Dienstleistungs freiheit – nur beschränkt Geltung<br />
haben. Demnach sche<strong>in</strong>t es nach wie vor zulässig zu se<strong>in</strong>, bestimmten – vornehmlich privaten<br />
gew<strong>in</strong>norientierten – Leistungsanbietern den Zugang zum Markt zu erschweren, <strong>in</strong>dem an sich<br />
sozialhilfebedürftigen Personen die Sozialhilfe bei In anspruchnahme von Leistungen dieser<br />
Leistungsanbieter verwehrt wird.<br />
19.2. F<strong>in</strong>anzierung<br />
19.2.1. Überblick<br />
Während das Risiko der Krankheit grundsätzlich, abgesehen von Selbstbehalten und Rezeptgebühren,<br />
durch die Krankenversicherung abgedeckt ist, trägt das Risiko der Pfl egebedürftigkeit<br />
primär die betroff ene Person selbst. Sie muss diese Kosten aus eigenem E<strong>in</strong>kommen und Vermögen<br />
sowie aus Pfl egegeld selbst bestreiten. Das eigene Vermögen muss dabei nu r soweit<br />
e<strong>in</strong>gesetzt werden als die wirtschaftliche Existenz der betroff enen Person nicht gefährdet wird.<br />
Kann sie die Kosten nicht vollständig selbst tragen, und das triff t bei stationärer Versorgung häufi<br />
g zu, so übernimmt die Sozialhilfe die Restkosten. S<strong>in</strong>d jedoch unterhaltspfl ichtige Personen<br />
(Gatte/<strong>in</strong>, K<strong>in</strong>der) vorhanden, so werden diese <strong>in</strong> der Regel vom Sozialhilfeträger im Regressweg<br />
<strong>in</strong> Anspruch genommen, wobei hier die Regelungen der Bundesländer stark diff erieren. So werden<br />
<strong>in</strong> Wien, Salzburg und Oberösterreich von den Sozialhilfeträgern Regressforderungen nur<br />
an die Ehegatten gestellt, während <strong>in</strong> den anderen Bundesländern auch die K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> Anspruch<br />
genommen werden.<br />
Sozialhilfebedürftige Heimbewohner s<strong>in</strong>d nicht verpfl ichtet, ihre gesamten Bezüge zur Deckung<br />
der F<strong>in</strong>anzierung von Pfl ege und Betreuung aufzuwenden. Jedenfalls verbleibt ihnen e<strong>in</strong> g er<strong>in</strong>gfügiger<br />
Betrag zur Deckung <strong>in</strong>dividueller persönlicher Bedürfnisse abseits standardisierter<br />
Versorgung und Betreuung. Die Höhe des zur freien Verfügung stehenden Geldbetrages richtet<br />
sich nach der Art der Bezüge. Auf der untersten Stufe haben jene Sozialhilfeempfänger <strong>in</strong> stationären<br />
E<strong>in</strong>richtungen, die weder eigenes E<strong>in</strong>kommen noch Pfl egegeld beziehen, zum<strong>in</strong>dest den<br />
Anspruch auf das „Sozialhilfetaschengeld“, das je nach Bundesland zwischen 53,30 (Niederösterreich)<br />
und 132,60 € (Salzburg) pro Monat beträgt. Haben sozialhilfebedürftige Personen <strong>in</strong><br />
stationären Pfl ege- und Betreuungs e<strong>in</strong>richtungen eigene Pensionsansprüche, so kommt es zur<br />
Legalzession dieser Ansprüche, aber höchstens im Ausmaß von 80%, wobei sich dieser Betrag<br />
bei bestehender g esetzlicher Unterhaltspfl icht des Pensionsberechtigten auf 50% reduz iert<br />
446
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
(§ 324 Abs 3 ASVG). Zusätzlich müssen die Pensionssonderzahlungen, <strong>in</strong>sbesondere der 1 3.<br />
und 14. Monatsbezug, <strong>in</strong> vollem Umfang der pensionsberechtigten Person zukommen (§ 105<br />
Abs 2 ASVG). Weiters steht jedem Pfl egegeldbezieher, unabhängig davon, ob er Bundes- oder<br />
Landespfl egegeld bezieht, e<strong>in</strong> Betrag von 10% der Pfl egegeldstufe 3 (derzeit 42,20 €) als so<br />
genanntes „Taschengeld“ zur freien Verfügung zu.<br />
19.2.2. Bundes- und Landespfl egegeldgesetze<br />
Das österreichische Pfl egegeld wurde mit 1.7.1993 e<strong>in</strong>geführt und löste e<strong>in</strong>e Reihe von verschiedenen<br />
Sozialleistungen ab. Zweck des Pfl egegeldes ist es, <strong>für</strong> pfl egebedürftige Personen die Möglichkeit<br />
zu verbessern, e<strong>in</strong> selbstbestimmtes, bedürfnisorientiertes Leben zu führen. Der Anspruch<br />
auf Pfl egegeld besteht unabhängig von der Ursache der Pfl egebedürftigkeit und unabhängig von<br />
E<strong>in</strong>kommen und Vermögen. Voraussetzung <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Anspruch auf Pfl egegeld ist e<strong>in</strong> ständiger Betreuungs-<br />
und Hilfsbedarf (Pfl egebedarf), der voraussichtlich m<strong>in</strong>destens sechs Monate andauern<br />
wird. Der Anspruch auf Pfl egegeld ruht <strong>in</strong>sbesondere während e<strong>in</strong>es stationären Aufenthaltes<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kr ankenanstalt oder e<strong>in</strong>er R ehabilitationse<strong>in</strong>richtung. Wird der du rch das Pfl egegeld<br />
angestrebte Zweck nicht erreicht, s<strong>in</strong>d anstelle des gesamten oder e<strong>in</strong>es Teils des Pfl egegeldes<br />
Sachleistungen – im Gegenwert der e<strong>in</strong>behaltenen Geldleistung – zu gewähren. Das Pfl ege geld<br />
kann nicht nur im Inland, sondern auch im EU-Ausl and konsumiert werden. Voraussetzung ist<br />
e<strong>in</strong> Grundleistungs anspruch (Pensions- oder Rentenanspruch <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>), Pfl egebedürftigkeit<br />
im S<strong>in</strong>ne des Bundespfl egegeldgesetzes und e<strong>in</strong> Wohnsitz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em EU-Mitgliedst aat. Sowohl<br />
nach dem Bundespfl egegeldgesetz als auch nach den neun, im Wesentlichen gleichlautenden,<br />
Landespfl egegeldgesetzen gibt es sieben Stufen der Pfl egebedürftigkeit. An spruch auf Landespfl<br />
egegeld haben Bezieher e<strong>in</strong>er Beamtenpension des Landes oder e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de sowie<br />
Personen ohne Anspruch auf e<strong>in</strong>e Pension oder (Unfall)Rente (z. B. mitversicherte Angehörige).<br />
Alle anderen Personen haben Anspruch auf Bundespfl egegeld.<br />
Das Pfl egegeld gebührt zwölfmal jährlich und beträgt sowohl nach dem Bundes- als auch nach<br />
den Landes-Pfl egegeldgesetzen monatlich <strong>in</strong> der Stufe e<strong>in</strong>s 148,30 €, <strong>in</strong> der Stufe zwei 273,40 €,<br />
<strong>in</strong> der Stufe drei 421,80 €, <strong>in</strong> der Stufe vier 632,70 Euro, <strong>in</strong> der Stufe fünf 859,30 €, <strong>in</strong> der Stufe<br />
sechs 1.171,70 € und <strong>in</strong> der Stufe sieben 1.562,10 €.<br />
Mit Stand vom 31.12.2005 gab es 323.288 Bezieher von Bundespfl egegeld und 57.748 Bezieher<br />
von Landespfl egegeld.<br />
19.3. Konsumentenschutz<br />
19.3.1. Allgeme<strong>in</strong>es<br />
Zum Schutz von schwächeren Vertragspartnern im rechtsgeschäftlichen Verkehr wurden vor<br />
allem mit dem K onsumentenschutzgesetz Regelungen getroff en, die e<strong>in</strong>e Über vorteilung<br />
von Verbrauchern durch Unternehmen verh<strong>in</strong>dern sollen. Daher s <strong>in</strong>d die Bestimmu ngen des<br />
447
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
Konsumenten schutzgesetzes (KSchG) halbzw<strong>in</strong>gend, das heißt, s ie können im E<strong>in</strong>z elvertrag<br />
nicht zum Nachteil, aber sehr wohl zum Vorteil des Verbrauchers abgeändert werden.<br />
Zusätzlich werden im Verbraucherrecht Vere<strong>in</strong>igungen gebildet, denen primär auf <strong>in</strong>formeller<br />
Ebene und sekundär im Rahmen der unmittelbaren Rechtsdurchsetzung beträchtliche Bedeutung<br />
bei der Interessenwahrung, Missstandsbekämpfung und gesetzlichen Ausgestaltung zukommt.<br />
Für bestimmte anerk annte Institutionen besteht nämlich, im Untersc hied zum sonstigen Privatrecht,<br />
die Möglichkeit, im Interesse aller Konsumenten gegen Unternehmen, deren Verträge<br />
gesetzwidrige Klauseln enthalten, gerichtlich vorzugehen (Verbandsklage samt Abmahnungsmöglichkeit).<br />
Besonders hervorzuheben ist hier die dem <strong>Österreich</strong>ischen Seniorenrat 1999 e<strong>in</strong>geräumte Befugnis<br />
zur Verbandsklage gemäß § 28 KSchG. Um die Durchsetzbarkeit der Verbraucher<strong>in</strong>teressen<br />
<strong>in</strong>sgesamt zu verbessern, müssen weiters seit 1. Juli 2004 Allgeme<strong>in</strong>e Geschäftsbed<strong>in</strong>gungen<br />
an verbandsklagsbefugte E<strong>in</strong>richtungen <strong>in</strong>nerhalb von vier Wochen ausgefolgt werden. Darüber<br />
h<strong>in</strong>aus wurde zu diesem Zeitpunkt die Verbandsklage wegen gesetzwidriger Verhaltensweisen,<br />
also nicht nur wegen Verwendung gesetzwidriger oder grob ben achteiligender Allgeme<strong>in</strong>er<br />
Geschäftsbed<strong>in</strong>gungen, auch auf Heimverträge erstreckt.<br />
E<strong>in</strong>zelne, besonders brisante Aspekte des Vertragsverhältnisses zwischen Heimbewohnern<br />
und Heimträgern wurden im Heimvertragsgesetz (HVerG) eigens geregelt. Dieses wurde <strong>in</strong> das<br />
Konsumentenschutzgesetz (§§ 27b bis i) aufgenommen und ist am 1. Juli 2004 <strong>in</strong> Kraft getreten.<br />
Vieles ist aber nach wie vor nach den allgeme<strong>in</strong>en Bestimmungen des KSchG oder des ABGB<br />
zu beurteilen.<br />
Für andere wichtige privatrechtliche Materien, wie etwa <strong>in</strong>sbesondere <strong>für</strong> den Vertrag zwischen<br />
Arzt/Krankenanstalt und Patient/<strong>in</strong> (Behandlungsvertrag) gibt es ke<strong>in</strong>e eigenen gesetzlichen<br />
Regelungen.<br />
19.3.2. Heimvertragsgesetz (HVerG)<br />
19.3.2.1. ALLGEMEINES<br />
In den Anwendu ngsbereich des HVerG fallen Verträge zwischen Bewohnern u nd Trägern von<br />
Alten-, Pfl ege- und Beh<strong>in</strong>dertene<strong>in</strong>richtungen. Nicht <strong>in</strong> den Anwendungsbereich fallen Krankenanstalten,<br />
Rehabilitationse<strong>in</strong>richtungen und Heime <strong>für</strong> M<strong>in</strong>derjährige. Auch Tagesbetreuungse<strong>in</strong>richtungen<br />
s<strong>in</strong>d vom Anwendungsbereich ausgenommen. Ebenfalls nicht unter das HVerG<br />
fällt die Versorgung pfl egebedürftiger Personen, wenn diese durch die Sozial- oder Beh<strong>in</strong>dertenhilfeträger<br />
<strong>in</strong> eigenen E<strong>in</strong>richtungen als Sachleistung erfolgt. Als M<strong>in</strong>destgröße der E<strong>in</strong>richtung<br />
s<strong>in</strong>d drei Betreuungsplätze vorgegeben. Kle<strong>in</strong>ere E<strong>in</strong>richtungen, <strong>in</strong> denen nicht e<strong>in</strong>mal drei<br />
Personen betreut werden k önnen, unterliegen demnach nicht dem HV erG. Ebenso s <strong>in</strong>d vom<br />
448
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
Anwendungsbereich des HVerG familiäre Betreuungsverhältnisse und Betreuungs verhältnisse<br />
im Rahmen e<strong>in</strong>es Ausged<strong>in</strong>ges ausgenommen.<br />
Heimträger s<strong>in</strong>d verpfl ichtet, bereits vor Vertragsschluss Interessenten auf ihr Verlangen h<strong>in</strong><br />
schriftlich über die wesentlichen Belange der Unterkunft, Betreuung und Pfl ege zu <strong>in</strong>formieren.<br />
Die Informations pfl icht besteht nur gegenüber Personen, die als künftige Klienten überhaupt <strong>in</strong><br />
Frage kommen. Für die schriftliche Information kann auch Entgelt e<strong>in</strong>gehoben werden, wenn dies<br />
im Vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> vere<strong>in</strong>bart wurde. Zusätzlich wird dem Heimträger e<strong>in</strong>e Prospektpfl icht auferlegt.<br />
Demnach muss er <strong>in</strong> jeder Werbung angeben, wo die Informationen angefordert werden können.<br />
Der Heimvertrag ist schriftlich ab zuschließen. Die Vertrags<strong>in</strong>halte müssen e<strong>in</strong>fach und verständlich,<br />
aber doch umfassend und genau umschrieben werden. Während bei unbefristeten<br />
Verträgen der schriftliche Vertragsschluss bis spätestens 3 Monate nach E<strong>in</strong>zug <strong>in</strong> das Heim zu<br />
erfolgen hat, müssen befristete Heimverträge bereits vor Antritt des Heimaufenthaltes schriftlich<br />
geschlossen werden. Auf den Formmangel kann sich jedoch nur der Heimbewohner berufen,<br />
was zur Nichtigkeit des zumeist schon mündlich oder konkludent geschlossenen Vertrages führt.<br />
19.3.2.2. VERTRAGSINHALT<br />
E<strong>in</strong>zelne wichtige Aspekte müssen im Vertrag geregelt werden. Dazu gehören etwa die Dauer des<br />
Vertragsverhältnisses sowie die zentralen Leistungen des Heimträgers. Diesbezüglich s<strong>in</strong>d im<br />
Vertrag zu beschreiben: die Räumlichkeiten (Wohn- und Geme<strong>in</strong>schaftsräume), deren Ausstattung<br />
und Re<strong>in</strong>igung sowie die Wäscheversorgung; die allgeme<strong>in</strong>e Verpfl egung der Bewohner;<br />
die Grundbetreuung <strong>in</strong>klusive Pfl ege bei kurzen Erkrankungen, der Bereitschaftsdienst und die<br />
Unterstützung der Bewohner <strong>in</strong> persönlichen Angelegenheiten.<br />
Weiters ist im Vertrag die Vorgangsweise des Heimträgers bei Beendigung des Vertragsverhältnisses<br />
zu regeln. Das betriff t <strong>in</strong>sbesondere die Räumung der Wohnräume von Bewohnern nach<br />
ihrem Ableben oder ihrer Übersiedlung an e<strong>in</strong>en anderen Wohnsitz. Klargestellt wird, dass<br />
Vertrags bestimmungen unzulässig s<strong>in</strong>d, wonach Sachen des Bewohners nach Beendigung des<br />
Vertragsverhältnisses <strong>in</strong> unangemessen kurzer Frist verfallen.<br />
Im Vertrag s<strong>in</strong>d auch F älligkeit und Höhe des Entgelts festzulegen. Verpfl ichtend ist die Auf -<br />
schlüsselung des Entgelts <strong>in</strong> fü nf Kategorien: Unterkunft, Verpfl egung, Grundbetreuung,<br />
Pfl egeleistungen und zusätzliche Leistungen. Diese Aufgliederu ng ist <strong>in</strong>sbesondere fü r Gewährleistungsansprüche<br />
wichtig. Denn nur wenn der Wert der E<strong>in</strong>zelleistung bekannt ist, kann<br />
die Höhe e<strong>in</strong>es Gewährleistungsanspruchs bestimmt werden. Da s HVerG enthält auch e<strong>in</strong>e<br />
eigene Gewährleistungsregel. Bei Qualitäts- oder Quantitätsmängeln besteht sofort e<strong>in</strong> Preism<strong>in</strong>derungsanspruch.<br />
Den Heimbewohner/<strong>in</strong>nen muss aber auch auf Wunsch die Möglichkeit<br />
auf Verbesserung der Leistung oder auf Nachtrag des Fehlenden verbleiben.<br />
449
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
Weiters bestimmt das HVerG, dass sich das Heimentgelt bei e<strong>in</strong>er Abwesenheit des Bewohners<br />
von mehr als drei Tagen um jenen Betrag m<strong>in</strong>dert, den s ich der Heimt räger dadurch erspart.<br />
Häufi gstes Beispiel ist hier e<strong>in</strong> längerer Krankenhausaufenthalt e<strong>in</strong>es Heimbewohners. In der<br />
Praxis führt das nicht selten zu fi nanziellen Härtefällen. Während e<strong>in</strong>es Krankenhausaufenthaltes<br />
ruht das Pfl egegeld, die Heimkosten werden aber mit e<strong>in</strong>em sehr ger<strong>in</strong>gfügigen Abschlag<br />
weiterh<strong>in</strong> verrechnet.<br />
Zusätzlich werden Leistungen genannt, die im Vertrag beschrieben werden müssen, wenn sie<br />
vom Heim angeboten werden. Dazu gehören: besondere Verpfl egung (z. B. Diätkost), besondere<br />
Pfl egeleistungen, mediz<strong>in</strong>ische und therapeutische Leistun gen sowie die Ausstattung <strong>für</strong> die<br />
Erbr<strong>in</strong>gung dieser L eistungen, andere von dritter Seite angebotene Leistungen sowie soziale<br />
und kulturelle Angebote. Wenn diese Leistungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>richtung nicht angeboten werden,<br />
muss auch darauf im Heimvertrag h<strong>in</strong>gewiesen werden.<br />
Die Kaution darf e<strong>in</strong> Monatsentgelt nicht übersteigen. Bei Heimbewohner/<strong>in</strong>nen, die Sozialhilfe<br />
empfangen, darf sie maximal 300 € betragen. Wird e<strong>in</strong>e Kaution verlangt, muss dies im Heimvertrag<br />
angeführt werden. Der Erhalt der Kaution ist dem Bewohner, se<strong>in</strong>em Vertreter und der<br />
Vertrauensperson unverzüglich schriftlich zu bestätigen. Für die Kaution muss e<strong>in</strong> Treuhandkonto<br />
e<strong>in</strong>gerichtet werden und die Kaution darf nur zur Abdeckung von Entgelt-, Schadenersatz- und<br />
Bereicherungsansprüchen verwendet werden. Wird die Kaution vom Heimträger <strong>in</strong> Anspruch<br />
genommen, so müssen Bewohner, allfällige Vertreter und Vertrauensperson darüber schriftlich<br />
unter Angabe der Gründe <strong>in</strong>formiert werden. Darüber h<strong>in</strong>aus s<strong>in</strong>d Vertragsbestimmungen unzulässig,<br />
wonach der Bewohner dem Heimträger oder e<strong>in</strong>em Dritten etwas ohne gleichwertige<br />
Gegenleistung zu leisten hat (<strong>in</strong>sbesondere „E<strong>in</strong>trittsgelder“).<br />
Folgende Persönlichkeitsrechte müssen verpfl ichtend <strong>in</strong> den Heimvertrag aufgenommen werden:<br />
Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf anständige Begegnung, auf Selbstbestimmung<br />
sowie auf Achtung der Privat- und Intimsphäre.<br />
Das Recht auf Wahrung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses.<br />
Das Recht auf politische und religiöse Selbstbestimmung, auf freie Me<strong>in</strong>ungsäußerung, auf<br />
Versammlung und auf die Bildung von Vere<strong>in</strong>igungen, <strong>in</strong>sbesondere zur Durchsetzung der Interessen<br />
der Heimbewohner.<br />
Das Recht auf Verkehr mit der Außenwelt, auf Besuch durch Angehörige und Bekannte und auf<br />
Benützung von Fernsprechern.<br />
Das Recht auf Gleichbehandlung ungeachtet des Geschlechts, der Abstammung und Herkunft,<br />
der Rasse, der Sprache, der politischen Überzeugung und des religiösen Bekenntnisses.<br />
450
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
Das Recht auf zeitgemäße mediz<strong>in</strong>ische Versorgung, auf freie Arzt- und Therapiewahl und auf<br />
e<strong>in</strong>e adäquate Schmerzbehandlung sowie<br />
das Recht auf persönliche Kleidung und auf eigene E<strong>in</strong>richtungsgegenstände.<br />
Dabei handelt es sich teilweise um bereits verfassungs- und privatrechtlich garantierte Grund- und<br />
Persönlichkeitsrechte. Der Vorteil der verpfl ichtenden Aufnahme dieser Rechte <strong>in</strong> den Heimvertrag<br />
besteht daher nicht primär <strong>in</strong> der Schaff ung neuer An sprüche, sondern <strong>in</strong> der Information<br />
<strong>für</strong> die bet roff enen Personen und <strong>in</strong> der leichteren Du rchsetzbarkeit. Durch die Aufnahme <strong>in</strong><br />
den Heimvertrag entstehen <strong>in</strong>dividuelle, subjektive Rechte <strong>für</strong> die Bewohne/<strong>in</strong>nenr, die mittels<br />
Verbandsklage sowie Individualklage bei den Zivilgerichten durchsetzbar s<strong>in</strong>d. Die <strong>in</strong> der Patientencharta<br />
angeführten Rechte s<strong>in</strong>d im Unterschied dazu weder <strong>in</strong>dividuell e<strong>in</strong>klagbar noch<br />
gerichtlich durchsetzbar.<br />
Die gesetzliche Festlegung vertraglicher Persönlichkeitsrechte stellt jedenfalls e<strong>in</strong>e Novität dar.<br />
Bei anderen Verträgen können vergleichbare Rechte höchstens als vertragliche Nebenpfl icht<br />
konstruiert werden.<br />
19.3.2.3. KÜNDIGUNG<br />
Das HVerG triff t auch e<strong>in</strong>e eigene Regelung <strong>für</strong> die Kündigung des Heimvertrages. Demnach steht<br />
dem Heimbewohner sowohl e<strong>in</strong>e ordentliche Kündigung mit e<strong>in</strong>er Kündigungsfrist von e<strong>in</strong>em<br />
Monat als auch die außerordentliche Kündigung off en. Bei K ündigung durch den Bewohner<br />
muss der Heimträger diesem sowie se<strong>in</strong>er Vertrauensperson und se<strong>in</strong>em Vertreter den Erhalt<br />
der Kündigung schriftlich bestätigen. Der Heimträger kann nur aus wichtigem Grund kündigen.<br />
Auch <strong>in</strong> diesem Fall hat er <strong>in</strong> der Regel e<strong>in</strong>e Kündigungsfrist von e<strong>in</strong>em Monat e<strong>in</strong>zuhalten. Bei<br />
sehr schwerwiegenden Gründen muss auch hier e<strong>in</strong>e sofortige Kündigung möglich se<strong>in</strong>, auch<br />
wenn das vom Gesetzestext nicht gedeckt ist. Im Gesetz werden beispielhaft e<strong>in</strong>ige wichtige<br />
Gründe aufgezählt. Es s<strong>in</strong>d aber weitere denkbar. Es ist dabei wiederum das besondere Verhältnis<br />
zwischen Heimträger und Heimbewohnern zu berücksichtigen. So werden bestimmte Verhaltensweisen<br />
e<strong>in</strong>es – verwirrten, schwer krank en, depressiven, starke Schmerzen erleidenden<br />
etc. – Heim bewohners, die üb licherweise e<strong>in</strong>e außerordentliche Kündigung rechtfertigen, <strong>in</strong><br />
der Regel noch ke<strong>in</strong>en Kündigungsgrund darstellen. Die vertragliche Vere<strong>in</strong>barungsmöglichkeit<br />
von Kündigungsklauseln – <strong>in</strong>sbesondere auch, w ann e<strong>in</strong> w ichtiger Grund vorliegt – i st zum<br />
Schutz der Heimbewohner/<strong>in</strong>nen als Verbraucher stark beschränkt. Es ist dabei immer auf den<br />
E<strong>in</strong>zelfall abzustellen und <strong>in</strong>sbesondere die Zumutbarkeit <strong>für</strong> den Heimbewohner/<strong>in</strong> und dessen<br />
Mitbewohner abzuwägen.<br />
Der Heimvertrag endet auf jeden Fall mit dem Tod des Bewohners. Entgelt darf daher über diesen<br />
Zeitpunkt h<strong>in</strong>aus nicht verlangt werden. Auch vertragliche Bestimmungen, die e<strong>in</strong>e Entgeltfortzahlung<br />
über den Tod des Bewohners h<strong>in</strong>aus vorsehen, s<strong>in</strong>d demnach unzulässig.<br />
451
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
Zum Schutz des gekündigten Bewohners ist der Heimträger verpfl ichtet, den örtlich zuständigen<br />
Träger der Sozial- oder Beh<strong>in</strong>dertenhilfe über die Kündigung zu <strong>in</strong>formieren, es sei denn, dass<br />
sich der Heimbe wohner dagegen ausspricht. Damit soll die weitere Versorgung bedürftiger Personen<br />
durch die Sozial- oder Beh<strong>in</strong>dertenhilfeträger sichergestellt werden. Sofern jedoch der<br />
Bewohner Beh<strong>in</strong>derten- oder Sozialhilfeempfänger ist, hat jedenfalls e<strong>in</strong>e Benachrichtigung an<br />
den jeweiligen Träger über die E<strong>in</strong>stellung der Leistungen zu erfolgen.<br />
19.3.2.4. VERTRAUENSPERSON<br />
E<strong>in</strong>e rechtliche Besonderheit stellt die Möglichkeit der Nom<strong>in</strong>ierung e<strong>in</strong>er Vertrauensperson dar.<br />
Demnach kann e<strong>in</strong> Heimbewohner e<strong>in</strong>e frei gewählte Vertrauensperson nennen, an die sich der<br />
Heimträger <strong>in</strong> „wichtigen zivilrechtlichen Angelegenheiten“ zu wenden hat. Zu diesen Angelegenheiten<br />
gehören jedenfalls die Kündigung, die Kaution, Vertragsänderungen und Ähnliches.<br />
Weiters ist die Vertrauensperson verpfl ichtend <strong>in</strong> das e<strong>in</strong>er Kündigung vorausgehende Ermahnungsverfahren<br />
e<strong>in</strong>zub<strong>in</strong>den. Bei schweren Pfl ichtverletzungen des Heimbewohners ist dieser<br />
zu ermahnen und auf die F olgen (<strong>in</strong>sbesondere K ündigung) h<strong>in</strong>zuweisen. Zu diesem Term<strong>in</strong><br />
s<strong>in</strong>d die Vertrauensperson und e<strong>in</strong> allfälliger Vertreter e<strong>in</strong>es Bewohners mit e<strong>in</strong>geschriebenem<br />
Brief zu laden.<br />
Die Vertrauensperson ist aber ke<strong>in</strong> gesetzlicher oder gewillkürter Stellvertreter und kann daher<br />
auch <strong>für</strong> den jeweiligen Heimbewohner ke<strong>in</strong>e Vertretungshandlungen vornehmen. Es sei denn,<br />
dass die Vertrauensperson zusätzlich vom Heimbewohner bevollmächtigt wird. Aufgabe der Vertrauensperson<br />
ist es primär, die betroff ene Person bei der Willensfi ndung und Willensäußerung<br />
zu unterstützen. Die Rechts geschäfte soll die betroff ene Person weiterh<strong>in</strong> selbst abschließen.<br />
E<strong>in</strong>e wichtige Rolle spielt die Vertrauensperson weiters nach dem Heimaufenthaltsgesetz, das<br />
die Zulässigkeit von Freiheitsbeschränkungen <strong>in</strong> stationären Pfl ege- und Beh<strong>in</strong>dertene<strong>in</strong>richtungen<br />
regelt. Sie ist demnach über die Vornahme freiheitsbeschränkender Maßnahmen zu<br />
<strong>in</strong>formieren und hat e<strong>in</strong> Antragsrecht auf gerichtliche Überprüfung.<br />
19.4. Besondere Rechte<br />
19.4.1. Überblick<br />
Alten Menschen kommen jedenfalls jene Rechte zu, die <strong>für</strong> alle Menschen gelten. Dazu gehören<br />
primär die verfassungsrechtlich gewährleisteten Grund- und Menschenrechte. Diese g elten<br />
aber <strong>in</strong> der Regel nicht zwischen Privaten, sondern schützen nur vor staatlichen E<strong>in</strong>griff en. Sie<br />
kommen aber dort zur Anwendung, wo e<strong>in</strong>e Körperschaft öff entlichen Rechts, und sei es auch<br />
nur im Rahmen der Pri vatwirtschaftsverwaltung, tätig wird. Sie fi nden sich im Bundes-Verfassungsgesetz<br />
(B-VG), im Staatsgrund gesetz (StGG), <strong>in</strong> der Menschenrechtskonvention (MRK), im<br />
Bundesverfassungsgesetz über den Schutz der persönlichen Freiheit sowie im Datenschutzgesetz,<br />
das ausnahmsweise die unmittelbare Anwendbarkeit zwischen privaten Personen anordnet.<br />
452
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus wird die Verletzung bestimmter R echtsgüter im Strafgesetzbuch unter Strafe<br />
gestellt: z. B. Nötigung, fahrlässige Körperverletzung, Freiheitsentziehung, Verletzung des Briefgeheimnisses.<br />
Als besonderes Delikt ist hier die eigenmächtige Heilbehandlung hervorzuheben.<br />
§ 110 Strafgesetzbuch schützt Personen vor e<strong>in</strong>er mediz <strong>in</strong>ischen Behandlung, der s ie nicht<br />
zugestimmt haben. Es handelt sich dabei um e<strong>in</strong> Delikt gegen die Willensfreiheit der Person<br />
und stellt auf e<strong>in</strong>fachgesetzlicher Ebene den st ärksten Schutz des Selbstbestimmungsrechts<br />
dar. Demnach ist jede mediz<strong>in</strong>ische Behandlung ohne E<strong>in</strong>willigung, mag sie auch s<strong>in</strong>nvoll, erforderlich<br />
und lege artis durchgeführt se<strong>in</strong>, strafbar. Die E<strong>in</strong>willigung ist aber nicht erforderlich,<br />
wenn durch den da<strong>für</strong> erforderlichen Aufschub der Behandlung das Leben oder die Gesundheit<br />
des Betroff enen ernstlich gefährdet würde. Damit e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>willigung gültig erteilt werden kann,<br />
bedarf es e<strong>in</strong>er ausreichenden vorhergehenden ärztlichen Aufklärung über die Behandlung.<br />
Die dritte Kategorie von <strong>für</strong> alle Menschen geltenden Rechten stellen die zivilrechtlichen Persönlichkeitsrechte<br />
dar. Sie decken sich zum Teil mit den verfassungs- und strafrechtlich geschützten<br />
Rechten, s<strong>in</strong>d aber nur teilweise explizit gesetzlich festgelegt. Die Grundlage der zivilrechtlichen<br />
Per sönlichkeitsrechte stellt die Generalk lausel des § 16 ABGB dar , der besagt, dass „jeder<br />
Mensch ... angeborene, schon durch die Vernunft e<strong>in</strong>leuchtende Rechte [hat], und ... daher als<br />
e<strong>in</strong>e Person zu betrachten [ist]“. Gesetzlich festgelegte Persönlichkeitsrechte s<strong>in</strong>d beispielsweise<br />
die Achtung religiösen Empfi ndens oder der Schutz des Briefgeheimnisses. E<strong>in</strong> wesentlicher<br />
Unterschied zu den strafrechtlich gewährleisteten Rechten stellt die Art der Durchsetzung dar.<br />
Während die Verletzung e<strong>in</strong>er Strafrechtsbestimmung <strong>in</strong> der Regel die amtswegige Verfolgung<br />
mit dem Ziel der Bestrafung nach sich zieht, kann die betroff ene Person bei Verletzung e<strong>in</strong>es<br />
privatrechtlichen Persönlichkeitsrechts selber im Zivilverfahren die Unterlassung weiterer E<strong>in</strong>griff<br />
e fordern. Darüber h<strong>in</strong>aus kann – bei Verschulden – auch Schadenersatz gefordert werden.<br />
Neben den <strong>für</strong> alle Menschen geltenden Rechten wurden aber auch eigene Rechte <strong>für</strong> den Bereich<br />
der mediz<strong>in</strong>ischen und pfl egerischen Versorgung geschaff en, wobei es sich <strong>in</strong> der Regel<br />
um verwaltungsrechtliche Vorgaben handelt. Zu den diesbezüglichen privatrechtlichen Persönlichkeitsrechten<br />
siehe unter 3.2.2. Heimvertragsgesetz; Vertrags<strong>in</strong>halt; Persönlichkeitsrechte.<br />
19.4.2. Patientenrechte<br />
19.4.2.1. ALLGEMEINES<br />
In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich gesellschaftlich die Ansicht durchgesetzt, dass<br />
Patient/<strong>in</strong>nen im Rahmen der mediz<strong>in</strong>ischen Behandlung nicht nur Anspruch auf e<strong>in</strong>e adäquate<br />
mediz<strong>in</strong>ische Versorgung haben, sondern dass ihnen dabei auch Rechte zukommen sollen,<br />
die <strong>in</strong>sbesondere den Schutz ihrer Persönlichkeit gewährleisten. Viele Patientenrechte lassen<br />
sich dabei ohneh<strong>in</strong> schon aus dem bestehenden Verfassungs-, Zivil-, Straf- und Sozialversicherungsrecht<br />
ableiten. Zunehmend ist man <strong>in</strong> Europa aber auch dazu übergegangen, eigene<br />
Kodifi kationen <strong>für</strong> Patientenrechte zu schaff en, zumal die Aufsplitterung von (Patienten)Rechten<br />
auf viele Rechtsgebiete und die dadurch begründeten <strong>in</strong>formellen Defi zite der Patient/<strong>in</strong>nen<br />
453
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache und eff ektive Rechtsanwendung hemmen. In e<strong>in</strong>igen europäischen Ländern, wie<br />
etwa <strong>in</strong> den Niederlanden, F<strong>in</strong>nland und Großbritannien, gibt es schon zum Teil seit den 1980er<br />
Jahren kodifi zierte Patientenrechte.<br />
In <strong>Österreich</strong> wurden Patientenrechte im Kranken- und Kuranstaltengesetz (KAKuG) des Bundes<br />
sowie <strong>in</strong> den Krankenanstalten(ausführungs)gesetzen der Länder und <strong>in</strong> der so genannten „Patientencharta“<br />
festgelegt. Dabei handelt es sich aber vorwiegend um programmatische Bestimmungen,<br />
die den betroff enen Personen ke<strong>in</strong>e subjektiven Rechte e<strong>in</strong>räumen. Daneben haben<br />
Lehre und Rechtsprechung, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Bezug auf die ärztliche Aufklärungs pfl icht und die<br />
E<strong>in</strong>willigung <strong>in</strong> den Behandlungsvertrag sowie das E<strong>in</strong>sichtsrecht <strong>in</strong> die Kr ankengeschichte,<br />
e<strong>in</strong>e Reihe von Patientenrechten anerkannt.<br />
Das Recht auf Selbstbestimmung und die personale Würde des Patienten (Art 1 Abs 1 iVm Art 2<br />
Abs 1 GG) gebieten es, jedem Patienten gegenüber se<strong>in</strong>em Arzt und Krankenhaus grundsätzlich<br />
e<strong>in</strong>en Anspruch auf E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die ihn betreff enden Krankenunterlagen e<strong>in</strong>zuräumen. Ärztliche<br />
Krankenunterlagen betreff en nämlich mit ihren Angaben über Anamnese, Diagnose und therapeutische<br />
Maßnahmen den Patienten unmittelbar <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Pri vatsphäre. Das E<strong>in</strong>sichtsrecht<br />
besteht allerd<strong>in</strong>gs nicht unbeschränkt. Ihm können – ebenfalls grundrechtlich fundierte – Interessen<br />
des Arztes oder Dritter sowie therapeutische Vorbehalte entgegenstehen (therapeutisches<br />
Privileg). Der Anspruch umf asst grundsätzlich nur Aufzeichnungen über objekt ive physische<br />
Befunde und Berichte über Behandlungsmaßnahmen. Besonderheiten existieren <strong>in</strong> Bezug auf<br />
psychiatrische Behandlungen. Dort kommt der Entscheidung des Arztes, ob e<strong>in</strong>e Aushändigung<br />
der Krankenunterlagen an den P atienten mediz<strong>in</strong>isch verantwortbar ist, besonderes Gewicht<br />
zu. Allerd<strong>in</strong>gs darf der Arzt auch nach e<strong>in</strong>er psychiatrischen Behandlung die Herausgabe der<br />
Krankenunterlagen nicht pauschal unter H<strong>in</strong>weis auf ärztliche Bedenken verweigern. Er hat die<br />
entgegenstehenden therapeutischen Gründe vielmehr nach Art und Richtung näher zu kennzeichnen,<br />
allerd<strong>in</strong>gs ohne Verpfl ichtung, dabei <strong>in</strong>s Detail zu gehen.<br />
Allgeme<strong>in</strong> anerkannte Patientenrechte s<strong>in</strong>d das Selbstbestimmungsrecht, das Grundrecht auf<br />
mediz<strong>in</strong>ische Behandlung und den gleichen Zugang zu Behandlung und Pfl ege sowie das Recht<br />
auf Achtung der Würde der Person. Daneben stellen die ärztliche Schweigepfl icht und das daraus<br />
abzuleitende Recht des Patienten auf Verschwiegenheit e<strong>in</strong>e wesentliche Grundlage des<br />
<strong>für</strong> den Erfolg mediz<strong>in</strong>ischer Behandlungen oft essenziellen Vertrauensverhältnisses zwischen<br />
Arzt und Patient dar.<br />
19.4.2.2. PATIENTENCHARTA<br />
Da die Patientenrechte aus unterschiedlichen Rechtsgrundlagen abgeleitet werden und dies <strong>für</strong><br />
die Patienten mangels umfassender Informationen Rechtsunsicherheit mit sich br<strong>in</strong>gt, wurde<br />
<strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> e<strong>in</strong>e übersichtliche bundesweite Regelung ge schaff en, die alle Patientenrechte<br />
anführen soll. Diese Vere<strong>in</strong>barung zur Sicherstellung der Patientenrechte (Patientencharta) ist<br />
e<strong>in</strong>e Artikel 15a B-VG-Vere<strong>in</strong>barung (Gliedstaatsvertrag) zwischen dem Bund und den Bundes-<br />
454
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
ländern. Dar<strong>in</strong> werden gru ndlegende Rechte <strong>für</strong> den g esamten ambulanten und stationären<br />
Bereich des Gesundheits- und Pfl egewesens festgelegt. Der Patientencharta kommt aber ke<strong>in</strong>e<br />
unmittelbare Anwendbarkeit <strong>für</strong> Patienten, Heimbewohner, Ärzte oder Pfl egepersonal zu. Verpfl<br />
ichtungen ergeben sich daraus ausschließlich <strong>für</strong> die oben genannten Gebietskörperschaften,<br />
die die Vere<strong>in</strong>barung getroff en haben oder ihr später beigetreten s<strong>in</strong>d. Daher kommt dieser Patientencharta<br />
auch nur ger<strong>in</strong>gfügige Bedeutung als Instrument zur Wahrung der Patientenrechte<br />
im Allgeme<strong>in</strong>en und der Patientenautonomie im Besonderen zu.<br />
Inhaltlich garantiert sie den Schutz der Persönlichkeitsrechte und der Menschenwürde, das<br />
Recht auf Behandlung und Pfl ege sowie auf Privatsphäre und religiöse Bet reuung, falls dies<br />
gewünscht wird. Stark betont werden die Selbstbestimmung der betroff enen Personen sowie<br />
das Recht auf Information im Allgeme<strong>in</strong>en und auf E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die Krankendokumentation im<br />
Besonderen. Festgelegt wird <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>erseits die Aufklärung über Behandlungs- und<br />
Pfl egemaßnahmen und andererseits das grundsätzliche Erfordernis der Zustimmung durch den<br />
Patienten. Neben e<strong>in</strong>em umfassenden Besuchsrecht sowie der Möglichkeit der Verweigerung von<br />
Besuchen und dem Recht der Nennung e<strong>in</strong>er Vertrauensperson werden das Recht auf Sterben <strong>in</strong><br />
Würde – vergleichbar den Bestimmungen <strong>in</strong> den Landes-Krankenanstaltengesetzen – und das<br />
Recht auf Schmerztherapie angeführt. Patient/<strong>in</strong>nen wird das Recht e<strong>in</strong>geräumt, Patientenverfügungen<br />
zu erstellen (Artikel 18 Patientencharta).<br />
19.4.3. Bewohnerrechte im Landes-Heimrecht<br />
Die Heimgesetze und -verordnungen der Bundesländer enthalten, mit Ausnahme von Oberösterreich,<br />
jeweils e<strong>in</strong>en umfassenden Katalog von Bewohnerrechten. Bei diesen Rechten handelt<br />
es sich jedoch nicht um subjektive Rechte der Bewohner, die <strong>in</strong>dividuell e<strong>in</strong>klagbar und<br />
durchsetzbar wären. Vielmehr werden die Heimt räger nur verwaltungsrechtlich zur Wahrung<br />
dieser Rechte verpfl ichtet. E<strong>in</strong>e Ausnahme davon bildet die Kärntner Regelung, die ebenso wie<br />
das bundesweite Heimvertragsgesetz die verpfl ichtende Aufnahme der Persönlichkeitsrechte<br />
<strong>in</strong> den Heimvertrag vorsieht, wodurch sie zu subjektiven und im zivilgerichtlichen Verfahren<br />
<strong>in</strong>dividuell und kollektiv (Verbandsklage gemäß § 28 KSchG) e<strong>in</strong>klagbaren Ansprüchen werden.<br />
Die <strong>in</strong> den verschiedenen Landes-Heimgesetzen angeführten Rechte s<strong>in</strong>d weitgehend mite<strong>in</strong>ander<br />
vergleichbar, sodass <strong>in</strong> der Folge nur die wichtigsten genannt werden. Ihnen kommt auf<br />
Grund der mangelnden <strong>in</strong>dividuellen Durchsetzbarkeit <strong>in</strong> der Regel bloß <strong>in</strong>formeller Charakter<br />
zu. Hier w ie <strong>in</strong>sgesamt beim Landes-Heimrecht stellt sich die Fr age nach der Notwendigkeit<br />
und S<strong>in</strong>nhaftigkeit e<strong>in</strong>er stark föderalen Gesetzgebung, zumal es sich um die Grundversorgung<br />
alter und pfl egebedürftiger Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em „Sozialstaat“ handelt. Bundesweite e<strong>in</strong>heitliche<br />
M<strong>in</strong>deststandards ersche<strong>in</strong>en demnach als Selbstverständlichkeit. Auch die Ähn lichkeit der<br />
meisten Landes-Heimgesetze zeigt, dass beträchtliche regionale Unterschiede und Bedürfnisse,<br />
die die föderale Gesetzgebung rechtfertigen würden, an sich nicht bestehen. Allerd<strong>in</strong>gs hat<br />
die jahrzehntelange auf das jeweilige Bundesland beschränkte Entwicklung <strong>in</strong> diesem Bereich<br />
zu teilweise sehr unterschiedlichen Strukturen geführt. So gibt es derzeit <strong>in</strong> Wien nach wie vor<br />
455
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
hauptsächlich mediz<strong>in</strong>isch dom<strong>in</strong>ierte und von Ärzt/<strong>in</strong>nen geleitete Große<strong>in</strong>richtungen (200<br />
bis 300 Betten) mit Mehrbettzimmern, während vorwiegend <strong>in</strong> den westlichen Bundesländern<br />
kle<strong>in</strong>ere E<strong>in</strong>richtungen (50 bis 70 Betten) mit E<strong>in</strong>zelzimmern als adäquate Betreuungs<strong>in</strong>stitutionen<br />
betrachtet werden. Die Bedürfnisse von Menschen, die aus Hochaltrigkeit und Pfl ege bedürftigkeit<br />
resultieren, s<strong>in</strong>d aber wohl im Westen <strong>Österreich</strong>s die gleichen wie im Osten.<br />
Aufgabe der Bewohnerrechte <strong>in</strong> den Landes-Heimgesetzen ist der Schutz der betreuten Personen<br />
im Pfl ege- und Betreuungsalltag. Sie konkretisieren diesbezüglich oft bereits auf verfassungs-,<br />
zivil- oder strafrechtliche Ebene bestehende Grund- und Persönlichkeitsrechte.<br />
Die wichtigsten Rechte der Bewohner oder Pfl ichten der Heimträger nach den Landes-Heimgesetzen<br />
s<strong>in</strong>d:<br />
456<br />
» das Recht auf höfl ichen Umgang, Anerkennung der Würde und Persönlichkeit und<br />
Achtung der Privat- und Intimsphäre;<br />
» das Recht des Bewohners auf zeitlich unbeschränkte Besuche <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>richtung,<br />
jedoch unter Bedachtnahme auf therapeutische oder pfl egerische Abläufe bei der<br />
Betreuung der Bewohner;<br />
» das Recht auf unbeschränkte Kontakte mit der Außenwelt. Dazu gehören <strong>in</strong>sbesondere<br />
der Zugang zu e<strong>in</strong>em Telefon, die Wahrung des Briefgeheimnisses, der unbeschränkte<br />
Zutritt und Ausgang sowie die unbeschränkte Wahrnehmung staatsbürgerlicher<br />
Rechte, sozialer, kultureller und religiöser Interessen und der persönlichen<br />
F<strong>in</strong>anzgebarung;<br />
» das Recht des Bewohners auf E<strong>in</strong> sicht <strong>in</strong> die Betreuungsdokumentation und andere<br />
bewohnerrelevante Unterlagen;<br />
» das Recht auf Information über Pfl ege- und Betreuungsmaßnahmen;<br />
» das Recht auf freie Arztwahl und freie Wahl therapeutischer Dienste;<br />
» das Recht auf respektvolle, fachgerechte und an aktuellen Standards ausgerichtete<br />
Betreuung und Pfl ege;<br />
» das Recht des Bewohners, geme<strong>in</strong>sam mit den Mitbewohnern e<strong>in</strong>en Interessenvertreter<br />
oder e<strong>in</strong>e Bewohnerdelegation zur Vertretung der Interessen der Bewohner zu<br />
wählen;<br />
» das Recht des Bewohners auf Mahlzeiten und Ruhezeiten, die den üblichen Lebensgewohnheiten<br />
entsprechen;<br />
» das Recht auf eigene Möblierung der Wohne<strong>in</strong>heit;<br />
» das Recht auf persönliche Kleidung;<br />
» das Recht der Namhaftmachung e<strong>in</strong>er Vertrauensperson, an die Auskünfte erteilt werden<br />
müssen und die <strong>in</strong> wichtigen Belangen zu verständigen ist;<br />
» das Recht auf Dokumentation e<strong>in</strong>es Widerspruchs gegen e<strong>in</strong>e Organentnahme sowie<br />
auf Dokumentation e<strong>in</strong>er Patientenverfügung;
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
» das Recht auf Sterbebegleitung durch Angehörige oder andere heimfremde Personen;<br />
» das Verbot der Kündigung des Heimvertrages durch den Heimträger zum Zweck der<br />
Erhöhung des Entgeltes;<br />
» das Geschenkannahmeverbot <strong>für</strong> Heimträger und Personal: Der jeweilige Heimträger<br />
ist verpfl ichtet, dies <strong>in</strong> den Dienstverträgen mit dem Personal sicherzustellen. Aunahmen<br />
bestehen <strong>für</strong> ger<strong>in</strong>gwertige Zuwendungen und <strong>für</strong> solche, die unter Aufnahme<br />
e<strong>in</strong>es Notariatsaktes versprochen oder übergeben wurden;<br />
» die Pfl icht des Heimträgers, die Wün sche der Heimbewohner nach religiöser Betreuung<br />
oder persönlicher Begleitung organisatorisch zu unterstützen.<br />
19.5. Vertretungsformen<br />
Die Interessen älterer Menschen werden durch vielfältige Institutionen wahrgenommen. Hier<br />
kann nur e<strong>in</strong> knapper Überblick geboten werden.<br />
Die politische Vertretung der älteren Men schen erfolgt durch den Bundesseniorenbeirat. Dieser<br />
wurde durch das Bundes-Seniorengesetz 1998 e<strong>in</strong>gerichtet. Dessen Ziel ist die Vertretung der<br />
Anliegen der älteren Generation gegenüber den politischen Entscheidungsträgern auf Bundesebene<br />
und die Beratung, Information und Betreuung von Senioren durch Seniorenorganisationen.<br />
Daneben vertreten, <strong>in</strong>sbesondere auf <strong>in</strong>formeller Ebene, Beh<strong>in</strong>derten- und Seniorenorganisationen<br />
die Interessen alter und pfl egebedürftiger Menschen. Diese haben sich auch auf europäischer<br />
Ebene organisiert. Als zentrale Anlaufstelle <strong>für</strong> Seniorenorganisationen aus ganz Europa versteht<br />
sich die Plattform <strong>für</strong> ältere Menschen (AGE) mit Sitz <strong>in</strong> Brüssel, die von den drei europäischen<br />
Seniorenorganisationen EPSO (European Platform of Seniors Organisations), FIAPA (Fédération<br />
Internationale des Associations des Personnes Agées) und Eurol<strong>in</strong>k Age gegründet wurde.<br />
Für volljährige Personen, die ihre Angelegenheiten auf Grund e<strong>in</strong>er psychischen Krankheit oder<br />
geistigen Beh<strong>in</strong>derung nicht selbst zu regeln imstande s<strong>in</strong>d, ist vom Pfl egschaftsgericht – auf<br />
Antrag oder auch von Amts wegen – e<strong>in</strong> Sachwalter zu bestellen (§ 268 ABGB). Er k ann als<br />
gesetzlicher Vertreter mit der Besorgung e<strong>in</strong>zelner Angelegenheiten, mit der Besorgung e<strong>in</strong>es<br />
bestimmten Kreises von Angelegenheiten oder mit der Besorgung aller Angelegenheiten beauftragt<br />
werden. Se<strong>in</strong>e wesentlichen Aufgabenbereiche s<strong>in</strong>d die Vertretung bei Rechtsgeschäften,<br />
die Vermögensverwaltung, die Zustimmung oder Ablehnung bei mediz<strong>in</strong>ischen Behandlungen<br />
sowie die Personensorge. Bei se<strong>in</strong>en Entscheidungen ist er immer dem Wohl der vertretenen<br />
Person verpfl ichtet. Sofern es sich um Entscheidungen mit gravierenden Folgen handelt, bedarf<br />
der Sachwalter zusätzlich der pfl egschaftsgerichtlichen Genehmigung.<br />
Mit dem Sachwalterrechts-Änderungsgesetz 2006 (Inkrafttreten am 1.7.2007) wurde daneben<br />
e<strong>in</strong>e automatische gesetzliche Vertretung durch nächste Angehörige e<strong>in</strong>geführt. Voraussetzung<br />
ist, dass die betroff ene Person ihre eigenen Angelegenheiten nicht ohne Gefahr <strong>für</strong> sich selbst<br />
457
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
besorgen kann, und dass weder e<strong>in</strong> Sachwalter bestellt noch e<strong>in</strong> Vertreter (z. B. Vorsorgebevollmächtigter)<br />
selbst gewählt wurde. Nächste Angehörige <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne s<strong>in</strong>d Eltern, volljährige<br />
K<strong>in</strong>der, der im geme<strong>in</strong>samen Haushalt mit dem Vertretenen lebende Ehegatte und der Lebensgefährte,<br />
wenn dieser mit dem Vertretenen seit m<strong>in</strong>destens drei Jahren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Haushaltsgeme<strong>in</strong>schaft<br />
gelebt hat. S<strong>in</strong>d demnach mehrere Angehörige vertretungsbefugt, genügt die Erklärung<br />
e<strong>in</strong>er Person. S<strong>in</strong>d sich die Angehörigen nicht e<strong>in</strong>ig, muss <strong>in</strong> der Regel e<strong>in</strong> Sachwalter bestellt<br />
werden. Die Vertretungsbefugnis e<strong>in</strong>es nächsten Angehörigen tritt ebenfalls nicht e<strong>in</strong>, wenn sich<br />
der Vertretene vor Verlust se<strong>in</strong>er Geschäftsfähigkeit und E<strong>in</strong>sichts- und Urteilsfähigkeit dagegen<br />
ausgesprochen hat. Die Vertretungsbefugnis umfasst Rechtsgeschäfte des täglichen Lebens,<br />
wobei sich das Ausmaß dabei an den L ebensverhältnissen der betroff enen Person orientiert,<br />
und die Zustimmung oder Ablehnung von mediz<strong>in</strong>ischen Behandlungen. Dies gilt jedoch nicht<br />
<strong>für</strong> mediz<strong>in</strong>ische Behandlungen, die gewöhnlich mit e<strong>in</strong>er schweren oder nachhaltigen Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />
der k örperlichen Unversehrtheit oder der Persönlichkeit verbunden s<strong>in</strong>d. In die<br />
Vertretungsbefugnis fallen <strong>in</strong>sbesondere Rechtsgeschäfte zur Deckung des Pfl egebedarfs sowie<br />
die Geltendmachung all jener Ansprüche, die aus Anlass von Alter, Krankheit, Beh<strong>in</strong>derung oder<br />
Armut zustehen können, <strong>in</strong>sbesondere sozialversicherungsrechtliche Ansprüchen, Ansprüche<br />
auf Pfl egegeld und Sozialhilfe sowie Gebührenbefreiungen und andere Begünstigungen. Der<br />
nächste Angehörige ist auch befugt, über laufende E<strong>in</strong>künfte des Vertretenen und pfl egebezogene<br />
Leistungen an diesen <strong>in</strong>soweit zu verfügen, als dies zur Besorgung der Rechts geschäfte<br />
des täglichen Lebens und der Deckung des Pfl egebedarfs erforderlich ist. Das Wirksamwerden<br />
der Vertretungs befugnis muss an das <strong>Österreich</strong>ische Zentrale Vertretungsverzeichnis (ÖZVV)<br />
gemeldet werden. D abei muss e<strong>in</strong> ärztliches Zeugnis bestätigen, dass dem Vertretenen aufgrund<br />
e<strong>in</strong>er psychischen Krankheit oder geistigen Beh<strong>in</strong>derung die erforderliche E<strong>in</strong>sichts- und<br />
Urteilsfähigkeit fehlt. Die Bestätigung des zentralen Vertretungsregisters über die Meldung des<br />
Wirksamwerdens der Vertretungsbefugnis be grün det die Vermutung, dass die jeweilige Person<br />
zur Vertretung berechtigt ist.<br />
Spezielle Vertretungs<strong>in</strong>stitutionen gibt es im Mediz <strong>in</strong>- und Pfl egebereich. Die P atienten -<br />
anwaltschaften nach den Landes-Kr ankenanstaltengesetzen dienen prim är der Vertretung<br />
von Patienten<strong>in</strong>teressen bei ärztlichen Behandlungsfehlern und daraus folgenden Entschädigungsansprüchen.<br />
Sekundär s<strong>in</strong>d sie aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Bundesländern auch <strong>für</strong> den stationären<br />
Pfl egebereich zuständig. So etwa <strong>in</strong> Niederösterreich, der Steiermark, Wien, Vorarlberg und im<br />
Burgenland. In Wien gibt es zusätzlich e<strong>in</strong>en Pfl egeombudsmann. Die anderen Bundesländer<br />
sehen <strong>für</strong> den Pfl egebereich e<strong>in</strong>e Eigen- oder Fremdvertretung auf der Basis des jeweiligen<br />
Landesheimrechts vor: Salzburg, Kärnten, Oberösterreich, und Tirol (z. B. Heimanwält/<strong>in</strong>).<br />
Zur Vertretung von Personen, die weg en Selbst- oder Fremdg efährdung <strong>in</strong> ihrer k örperlichen<br />
Bewegungsfreiheit e<strong>in</strong>geschränkt werden, bestehen zwei Vertretungs<strong>in</strong>stitutionen. Wird jemand<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Pfl ege- oder Beh<strong>in</strong>dertene<strong>in</strong>richtung oder allenfalls auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krankenanstalt nach<br />
dem Heimaufenthaltsgesetz <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Freiheit beschränkt, so i st der n ach der ör tlichen Lage<br />
zuständige Sachwaltervere<strong>in</strong> zuständig (Bewohnervertretung). Wird jemand <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Psychiatrie<br />
oder psychiatrischen Abteilung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Freiheit beschränkt, so ist die Patientenanwaltschaft<br />
458
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
nach dem Unterbr<strong>in</strong>gungsgesetz zuständig, die jedoch völlig verschieden von den Patientenanwaltschaften<br />
nach den Landes-Krankenanstaltengesetzen ist. Aufgabe von Bewohnervertretung<br />
und Patientenanwaltschaft nach dem Unterbr<strong>in</strong>gungsgesetz ist es, die betroff enen Personen im<br />
gerichtlichen Verfahren zur Überprüfung der Freiheitsbeschränkungen zu vertreten beziehungsweise<br />
e<strong>in</strong> solches Verfahren zu beantragen, wenn Beschränkungen zu Unrecht vorgenommen<br />
werden.<br />
Zur Vertretung von Heimbewohnern im Pfl ege- und Beh<strong>in</strong>dertenbereich ist auch die Vertrauensperson<br />
zuständig. Vertrauensperson ist, wer vom Bewohner als solche genannt wird. Ihr kommen<br />
nach dem Heimvertragsgesetz Auskunfts- und Informationsrechte zu (siehe oben). Im Rahmen<br />
des Heimaufenthaltsgesetzes ist sie e<strong>in</strong>erseits über die Vornahme von Freiheitsbeschränkungen<br />
zu <strong>in</strong>formieren und andererseits hat sie e<strong>in</strong> Antragsrecht auf gerichtliche Überprüfung (siehe<br />
unten).<br />
19.6. Antizipierte Verfügungen<br />
19.6.1. Patientenverfügung<br />
Bei e<strong>in</strong>er Patientenverfügung handelt es sich um e<strong>in</strong>e Willenserklärung, mit der e<strong>in</strong>e Person <strong>für</strong><br />
den Fall e<strong>in</strong>er schweren und unheilbaren Krankheit eigene Wünsche <strong>für</strong> die künftige Behandlung<br />
bekannt gibt. Regelmäßig wird damit <strong>für</strong> den Fall schwerer Dauerschäden oder e<strong>in</strong>er unmittelbar<br />
zum Tode führenden Krankheit der Wunsch nach <strong>in</strong>tensiver palliativmediz<strong>in</strong>ischer Be handlung<br />
oder E<strong>in</strong>schränkung und Abbruch der Beh andlung, <strong>in</strong>sbesondere lebensv erlängernder Maßnahmen,<br />
zum Ausdruck gebracht.<br />
Mit 1.6.2006 ist das Patientenverfügungs gesetz <strong>in</strong> Kraft getreten, welches Voraus setzungen und<br />
Wirksamkeit von Patientenverfügungen regelt. Es wird dabei unterschieden zwischen verb<strong>in</strong>dlichen<br />
und beachtlichen Patientenverfügungen. Damit e<strong>in</strong>e Patientenverfügung verb<strong>in</strong>dlich ist,<br />
also Ärzte und Gerichte an die dar<strong>in</strong> enthaltenen Anweisungen gebunden s<strong>in</strong>d, bedarf es e<strong>in</strong>er<br />
vorherigen umfassenden ärztlichen Aufklärung des Patienten. Der Arzt muss auch das Vorliegen<br />
der E<strong>in</strong>sichts- und Urteilsfähigkeit des Patienten bestätigen sowie, dass dieser die Folgen der<br />
Patientenverfügung zutreff end e<strong>in</strong>schätzt. In e<strong>in</strong>er verb<strong>in</strong>dlichen Patientenverfügung müssen<br />
die mediz<strong>in</strong>ischen Behandlungen, die Gegenstand der Ablehnung s<strong>in</strong>d, konkret beschrieben<br />
werden oder e<strong>in</strong>deutig aus dem Gesamtzusammenhang der Verfügung hervorgehen. Weitere<br />
Voraussetzung <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e verb<strong>in</strong>dliche Patientenverfügung is t, dass s ie schrif tlich vor e<strong>in</strong>em<br />
Rechtsanwalt, Notar oder rechtskundigen Mitarbeiter der Patientenvertretung erstellt wird. In<br />
diesem Zusammenhang muss e<strong>in</strong>e Belehrung über die Rechtsfolgen und die Möglichkeit des<br />
jederzeitigen Widerrufs er folgen. E<strong>in</strong>e P atientenverfügung muss nach fünf Jahren erneuer t<br />
werden, sonst verliert sie ihre Verb<strong>in</strong>dlichkeit. Das gilt aber nicht, wenn die betroff ene Person<br />
dann <strong>in</strong>folge fehlender E<strong>in</strong>sichts-, Urteils- oder Äußerungsfähigkeit nicht mehr <strong>in</strong> der Lage ist,<br />
e<strong>in</strong>e Erneuerung vorzunehmen.<br />
459
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
S<strong>in</strong>d nicht alle Voraussetzungen <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e verb<strong>in</strong>dliche Patientenverfügung erfüllt, so liegt e<strong>in</strong>e<br />
beachtliche Patientenverfügung vor. Sie dient zur Ermittlung des Patientenwillens. Dabei s<strong>in</strong>d<br />
alle den P atienten betreff enden Umstände, wie z. B. auch fr ühere Äußerungen zu beachten.<br />
Kann der P atientenwille dabei e<strong>in</strong>w andfrei festgestellt werden, so i st er sowo hl <strong>für</strong> Ärzte als<br />
auch <strong>für</strong> das Gericht verb<strong>in</strong>dlich.<br />
Patientenverfügungen können jederzeit widerrufen werden, und zwar auch wenn E<strong>in</strong>sicht- und<br />
Urteilsfähigkeit nicht mehr gegeben ist. Weiters ist e<strong>in</strong>e Patientenverfügung unwirksam, wenn<br />
sie durch e<strong>in</strong>en Irr tum oder physischen oder psychischen Zwang ve ranlasst wurde, wenn ihr<br />
Inhalt strafrechtlich nicht zulässig ist oder der Stand der mediz<strong>in</strong>ischen Wissenschaft sich im<br />
H<strong>in</strong>blick auf den Inhalt der Patientenverfügung seit ihrer Errichtung wesentlich geändert hat.<br />
Es besteht ke<strong>in</strong>e gesonderte Registrierungsmöglichkeit <strong>für</strong> Patientenverfügungen. Der aufklärende<br />
und der behandelnde Arzt haben aber Patientenverfügungen <strong>in</strong> die Krankengeschichte<br />
oder, wenn sie außerhalb e<strong>in</strong>er Krankenanstalt errichtet wurden, <strong>in</strong> die ärztliche Dokumentation<br />
aufzunehmen. Für Krankenanstalten besteht ohneh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Dok umentationspfl icht nach dem<br />
Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetz.<br />
19.6.2. Vorsorgevollmacht<br />
E<strong>in</strong>e Vorsorgevollmacht dient <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie dazu, selbst e<strong>in</strong>en Stellvertreter zu bestimmen, der<br />
bei Wegfall der Geschäfts- und/oder E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit <strong>für</strong> die betroff ene Person entscheidet.<br />
Dabei kann der Vollmachtgeber den Umfang der Vollmacht grundsätzlich nach Belieben<br />
bestimmen. In der Praxis dient die Vorsorgevollmacht sowohl der Bestellung e<strong>in</strong>es Vertreters<br />
<strong>in</strong> Gesundheitsangelegenheiten als auch <strong>in</strong> rechtsgeschäftlichen Belangen. Sie dient darüber<br />
h<strong>in</strong>aus auch daz u, die g erichtliche Bestellung e<strong>in</strong>es Sachwalters oder e<strong>in</strong>e s Betreuers durch<br />
Wahl e<strong>in</strong>es eigenen Vertreters zu verh<strong>in</strong>dern.<br />
Die Vorsorgevollmacht wurde mit dem Sachwalterrechts-Änderungsgesetz 2006 g esetzlich<br />
geregelt (§§ 284b–d ABGB; <strong>in</strong> Kraft getreten am 1.7.2007). Dabei wird unterschieden zwischen<br />
der eigenhändigen und der fremdhändigen Vorsorgevollmacht. Im ersten F all muss sie vom<br />
Vollmachtgeber eigenhändig geschrieben und unterschrieben werden. Im zweiten Fall bedarf es<br />
dreier Zeugen. Weiters kann die Vorsorgevollmacht auch als Notariatsakt aufgenommen werden.<br />
Werden mit der Vorsorgevollmacht wichtige Angelegenheiten auf den Vorsorgebevollmächtigten<br />
übertragen – solche s<strong>in</strong>d die dauerhafte Wohnortänderung, die E<strong>in</strong>willigung <strong>in</strong> schwerwiegende<br />
mediz<strong>in</strong>ische Maßnahmen und außergewöhnliche Rechtsgeschäfte –, so muss die Vorsorgevollmacht<br />
vor e<strong>in</strong>em Rechtsanwalt, e<strong>in</strong>em Notar oder vor Gericht errichtet werden. Der Bevollmächtigte<br />
hat bei der Ausübung se<strong>in</strong>er Vollmacht das Wohl des Vollmachtgebers zu fördern.<br />
Als Bevollmächtigter darf jedoch nicht bestellt werden, wer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Ab hängigkeitsverhältnis<br />
oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen engen Beziehung zu e<strong>in</strong>er Krankenanstalt, e<strong>in</strong>em Heim oder e<strong>in</strong>er sonstigen<br />
E<strong>in</strong>richtung steht, <strong>in</strong> welcher sich der Vollmachtgeber aufhält oder von der er betreut wird.<br />
460
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
Der Bevollmächtigte bedarf im Unterschied zum Sachwalter auch <strong>in</strong> wichtigen die Person des<br />
Vollmachtgebers betreff enden Angelegenheiten, <strong>in</strong>sbesondere bei E<strong>in</strong>willigungen <strong>in</strong> mediz<strong>in</strong>ische<br />
Behandlungen und Entscheidungen über die dauerhafte Änderung des Wohnortes, sowie<br />
<strong>in</strong> nicht zum ordentlichen Wirtschaftsbetrieb gehörenden Vermögensangelegenheiten nicht<br />
der gerichtlichen Genehmigung, wenn der Vollmachtgeber ihn zur Besorgung der k onkreten<br />
Angelegenheit ausdrücklich bevollmächtigt hat.<br />
19.7. Freiheitsbeschränkungen<br />
19.7.1. Rechtlicher Überblick<br />
Die körperliche Bewegungsfreiheit ist e<strong>in</strong>es der am besten geschützten Rechtsgüter. Für <strong>Österreich</strong><br />
garantieren auf Verfassungs ebene Art 5 EMRK und das B-VG über den Schutz der persönlichen<br />
Freiheit (PersFrG) den Schutz vor E<strong>in</strong>schränkungen. Im Strafrecht wird die Verletzung dieses<br />
Rechts gutes <strong>in</strong> mehre ren Straftatbeständen behandelt (<strong>in</strong>sbesondere Freiheitsent ziehung<br />
gemäß § 99 StGB) und auf zivilrechtlicher Ebene genießt die persönliche Freiheit den Persönlichkeitsrechtsschutz<br />
des § 16 <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit § 1329 ABGB.<br />
Die Beschränkung der persön lichen Freiheit bedarf jedenfalls e<strong>in</strong>es besonders wichtigen<br />
Grundes und muss stets auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft werden (Art 1 Abs 3 PersFrG).<br />
Voraussetzung e<strong>in</strong>er zwangsweisen Unterbr<strong>in</strong>gung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er geschlossenen Anstalt ist jedenfalls<br />
e<strong>in</strong>e drohende g ewichtige gesundheitliche Schädigung. Dies reicht aber <strong>in</strong> H<strong>in</strong> blick auf die<br />
Verhältnismäßigkeit nicht immer aus, weil auch dem psychisch Kranken <strong>in</strong> gewissen Grenzen<br />
die „Freiheit zur Krankheit“ belassen bleibt.<br />
Hoheitliche E<strong>in</strong>griff e <strong>in</strong> die Bewegu ngsfreiheit gestattet neben dem Straf- und Fremdenrecht<br />
das Gesundheitsrecht. Dazu zählen vor allem das Seuchen-, das Suchtmittel- sowie das Unterbr<strong>in</strong>gungsrecht<br />
und das Heimaufenthaltsgesetz. Das Unterbr<strong>in</strong>gungsrecht regelt die Vornahme<br />
von Zwangsmaßnahmen <strong>in</strong> p sychiatrischen Anstalten und psychiatrischen Abteilungen. Das<br />
Heimaufenthaltsgesetz regelt Freiheitsbeschränkungen im stationären Alten- und Beh<strong>in</strong>dertenbereich.<br />
Die persönlichen Voraussetzungen bei der betroff enen Person s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> beiden F ällen<br />
dieselben. Abseits hoheitlicher E<strong>in</strong>griff e können Beschränkungen der Bewegungsfreiheit durch<br />
die gültige, allenfalls auch mutmaßliche, E<strong>in</strong>willigung der betroff enen Person, durch Notwehr<br />
und Nothilfe sowie durch entschuldigenden und rechtfertigenden Notstand gerechtfertigt se<strong>in</strong>.<br />
19.7.2. Heimaufenthaltsgesetz<br />
Um <strong>für</strong> den Bereich der Freiheitsbe schrän kungen und Freiheitsentziehungen rechtliche Klarheit<br />
zu schaff en, wurde das Heimaufenthaltsgesetz (HeimAufG) geschaff en, das mit 1.7.2005 <strong>in</strong> Kraft<br />
getreten ist.<br />
461
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
Das Heimaufenthaltsgesetz fi ndet auf alle stationären Betreuungse<strong>in</strong>richtungen <strong>für</strong> volljährige<br />
Personen (<strong>in</strong>sbesondere Pfl ege- und Beh<strong>in</strong>dertenheime) Anwendung. Tagesbetreuungse<strong>in</strong>richtungen<br />
<strong>für</strong> alte Menschen, nicht aber <strong>für</strong> beh<strong>in</strong>derte, s<strong>in</strong>d davon ebenfalls erfasst. In Krankenanstalten<br />
und Rehabilitationse<strong>in</strong>richtungen kommt das HeimAufG nur zur Anwendung, wenn<br />
dort Personen wegen ihrer psychischen Krankheit oder geistigen Beh<strong>in</strong>derung der ständigen<br />
Pfl ege und Betreuung bedürfen.<br />
E<strong>in</strong>e Freiheitsbeschränkung ist nach dem HeimAufG nur gerechtfertigt, wenn jemand auf Grund<br />
e<strong>in</strong>er psychischen Krankheit oder geistigen Beh<strong>in</strong>derung das Leben oder Gesundheit von sich<br />
selbst oder von e<strong>in</strong>er anderen Person (Selbst- oder Fremdgefährdung) ernstlich und erheblich<br />
gefährdet. Ernstliche und erhebliche Gefährdung me<strong>in</strong>t, dass aktuell die hohe Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />
bestehen muss, dass e<strong>in</strong> Schaden zum<strong>in</strong>dest im Ausmaß e<strong>in</strong>er schweren Körperverletzung<br />
(= Gesundheitsschädi gung von mehr als 24 Tagen) e<strong>in</strong>tritt. Weiters müssen die Pr<strong>in</strong>zipien der<br />
Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit erfüllt se<strong>in</strong>. Demnach ist e<strong>in</strong>e Freiheitsbeschränkung<br />
unzulässig, wenn es e<strong>in</strong>e andere M aß nahme gibt, die ebenfalls die Gef ährdung verh<strong>in</strong>dert<br />
oder reduziert, sofern diese weniger stark <strong>in</strong> die Grundrechte der betroff enen Person e<strong>in</strong>greift.<br />
Zusätzlich muss die beabsichtigte freiheitsbeschränkende Maßnahme sowohl <strong>in</strong> Intensität als<br />
auch <strong>in</strong> der Dauer <strong>in</strong> angemessenem Verhältnis zur abzuwehrenden Gefahr stehen.<br />
Die Anordnung freiheitsbeschränkender Maßnahmen hat grundsätzlich durch die Abteilungsleitung<br />
zu erfolgen. Als solche kommen die Pfl egedienstleitung, der mit der Leitung betraute<br />
Arzt oder die pädagogische Leitung <strong>in</strong> Betracht. Wenn aber e<strong>in</strong>e Freiheitsbeschränkung voraussichtlich<br />
länger als 24 Stunden oder wiederholt erforderlich se<strong>in</strong> wird, muss sie von e<strong>in</strong>em Arzt,<br />
nicht aber unbed<strong>in</strong>gt von e<strong>in</strong>em Facharzt, angeordnet werden. Das Gleiche gilt bei Freiheitsbeschränkungen<br />
durch medikamentöse Behandlung. Bei Wegfall der Voraussetzungen ist die<br />
Beschränkung immer sofort aufzuheben.<br />
Grund, Art, Beg<strong>in</strong>n und Dauer der Fre iheitsbeschränkung s<strong>in</strong>d zu dokumentieren und sowohl<br />
die betroff ene Person als auch deren Vertreter und deren Vertrauensperson s<strong>in</strong>d unverzüglich<br />
darüber zu <strong>in</strong>formieren (§§ 6 und 7 HeimAufG). Sie s<strong>in</strong>d auch zu verständigen, wenn e<strong>in</strong>e Beschränkung<br />
mit Zustimmung des Bewohners vorgenommen wird.<br />
Auf Antrag durch die betroff ene Person, ihren Vertreter, ihre Vertrauensperson oder die Leitung<br />
der E<strong>in</strong>richtung muss <strong>in</strong>nerhalb von sieben Tagen e<strong>in</strong>e gerichtliche Überprüfung der vorgenommenen<br />
Freiheitsbeschränkung stattfi nden.<br />
Im Unterschied zum Unterbr<strong>in</strong>gungsrecht kommt es also nach dem Heimaufenthaltsgesetz zu<br />
ke<strong>in</strong>er amtswegigen Überprüfung.<br />
Zur Vertretung der Heimbewohner <strong>in</strong> Angelegenheiten von Freiheitsbeschränkungen ist der nach<br />
der örtlichen Lage zuständige Sachwaltervere<strong>in</strong> vorgesehen. Dieser wird immer mit Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er<br />
462
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
Freiheitsbeschränkung kraft Gesetzes Bewohnervertreter <strong>für</strong> den Bereich des Grundrechts auf<br />
persönliche Freiheit, unabhängig davon, ob er über die Beschränkung <strong>in</strong>formiert wird oder nicht.<br />
19.8. Zusammenfassung und Ausblick<br />
Die demografi sche Entwicklung, aber auch Pfl egeskandale haben dazu geführt, dass Ende der<br />
1980er Jahre e<strong>in</strong>e bet rächtliche rechtliche Entwicklung im Bereic h der Versorgung alter u nd<br />
pfl egebedürftiger Personen e<strong>in</strong>gesetzt hat. Die bestehende Kompetenzlage, wonach teilweise<br />
die Bundesländer und teilweise der Bu nd <strong>für</strong> Gesetzgebung und Vollziehung im g enannten<br />
Bereich zuständig s<strong>in</strong>d, hat jedoch zur Folge, dass sowohl Versorgungsstandards als auch<br />
F<strong>in</strong>anzierung von Bundesland zu Bundesland variieren, weil diese ihre rechtliche Gru ndlage<br />
zu e<strong>in</strong>em guten Teil <strong>in</strong> den Landes-Heimgesetzen und den Landes-Sozialhilfegesetzen haben.<br />
Die Pfl egevere<strong>in</strong>barung zwischen dem Bund und den Bundesländern von 1993 konnte e<strong>in</strong>e<br />
gewisse Vere<strong>in</strong>heitlichung, <strong>in</strong>sbesondere im Bereich der F<strong>in</strong>anzierung durch die Schaff ung des<br />
Bundes-Pfl egegeldgesetzes und der neu n gleichartigen Landes-Pfl egegeldgesetze, erzielen,<br />
beträchtliche Unterschiede s<strong>in</strong>d aber dennoch bestehen geblieben.<br />
Das Sachwalterrechts-Änderungsgesetz 2006 dürfte – zum<strong>in</strong>dest auf Bundesebene – vorerst<br />
den Abschluss jener legistischen Tätigkeiten bilden, die die rechtlichen Aspekte der Versorgung<br />
und Betreuung hochaltriger, pfl egebedürftiger und kranker Personen im Besonderen behandeln.<br />
Daraus darf aber nicht gefolgert werden, dass ke<strong>in</strong> rechtlicher Handlungsbedarf mehr bestünde.<br />
Unbefriedigend geregelt ist jedenfalls nach wie vor die ambulante Versorgung pfl egebedürftiger<br />
und hochaltriger Personen.<br />
Der größte Handlungsbedarf liegt aber <strong>in</strong>sgesamt zweifellos bei der F<strong>in</strong>anzierung der Pfl egebedürftigkeit<br />
hochaltriger Menschen. Das gilt <strong>in</strong>sbesondere <strong>für</strong> die „24 Stunden Pfl ege zu Hause“<br />
(Hausbetreuungsgesetz) und <strong>für</strong> die stationäre Versorgung. Die meisten Personen empfi nden<br />
es nach wie vor als sehr erniedrigend, wenn sie <strong>für</strong> ihre Pfl ege und Versorgung, mit Ausnahme<br />
e<strong>in</strong>es ger<strong>in</strong>gen „Schonvermögens“ und „Taschengeldes“, ihr gesamtes Hab und Gut aufwenden<br />
müssen und zusätzlich zu Sozialhilfeempfängern werden. Zur gesundheitlichen und fi nanziellen<br />
Krise kommt <strong>in</strong> diesen Fällen noch der Verlust des gesellschaftlichen Status.<br />
E<strong>in</strong>e mögliche Lösung des Problems bestünde dar<strong>in</strong>, die strikte Trennung zwischen Pfl egebedürftigkeit<br />
und Krankheitsfall aufzuheben und die F<strong>in</strong>anzierung der Pfl egebedürftigkeit <strong>in</strong> das<br />
Krankenversicherungsrecht e<strong>in</strong>zub<strong>in</strong>den. Demnach würden die t atsächlich anfallenden pfl egebed<strong>in</strong>gten<br />
fi nanziellen Aufwendungen ebenso abgedeckt werden wie Kosten im Krankheitsfall.<br />
Die dadurch entstehende bet rächtliche zusätzliche fi nanzielle Belastung der Kr ankenkassen<br />
müsste durch Erhöhung der Beiträge oder steuerfi nanziert abgegolten werden.<br />
463
RECHTLICHE ASPEKTE<br />
LITERATUR / VERWENDETE MATERIALIEN<br />
Allgeme<strong>in</strong>es Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl 189/1955 idF BGBl I 45/2007.<br />
Barth, Peter & Engel, Arno (2005): Heimrecht. Wien: Manz.<br />
Barth, Peter & Ganner, Michael (2007): Handbuch des Sachwalterrechts. Wien: L<strong>in</strong>de.<br />
BMSGK – Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz<br />
(Hg) (2007): Bericht des <strong>Arbeit</strong>skreises <strong>für</strong> Pfl egevorsorge 2005. Wien: Eigenverlag.<br />
Bundespfl egegesetz (BPGG), BGBl 110/1993 idF BGBl I 34/2007.<br />
Bundesverfassungsgesetz über den Schutz der persönlichen Freiheit, BGBl 684/1988.<br />
Ganner, Michael (2005): Selbstbestimmung im Alter – Privatautonomie <strong>für</strong> alte und pfl egebedürftige<br />
Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> und Deutschland. Wien: Spr<strong>in</strong>ger.<br />
Hausbetreuungsgesetz (HBeG), BGBl I 33/2007.<br />
Heimaufenthaltsgesetz (HeimAufG), BGBl I 11/2004.<br />
Heimvertragsgesetz (HVerG), BGBl I 12/2004.<br />
Konsumentenschutzgesetz (KSchG), BGBl 140/1979 idF BGBl I 60/2007.<br />
Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetz (KAKuG), BGBl 1/1957 idF BGBl I 122/2006.<br />
Landes-Heimgesetze und Landes-Heimverordnungen <strong>in</strong> der jeweils geltenden Fassung.<br />
Landes-Pfl egegesetze 1993 <strong>in</strong> der jeweils geltenden Fassung.<br />
Patientenverfügungs-Gesetz (PatVG), BGBl I 55/2006.<br />
Pfeil, Walter (2001): Vergleich der Sozialhilfesysteme der österreichischen Bundesländer. In:<br />
Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>für</strong> soziale Sicherheit und Generationen (Hg). Wien: Eigenverlag.<br />
Sachwalterrechts-Änderungsgesetz 2006 (SWRÄG), BGBl I 92/2006.<br />
464
20. LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE.<br />
PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
SABINE PLESCHBERGER<br />
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
(DIE AUTORIN DANKT BESONDERS ANDREAS HELLER UND KATHARINA HEIMERL (IFF WIEN)<br />
FÜR ANREGUNGEN UND KONSTRUKTIVE KRITIK BEIM VERFASSEN DES KAPITELS SOWIE<br />
ILONA WENGER FÜR HILFE BEIM LEKTORAT. DARÜBER HINAUS SEI ALLEN GEDANKT, DIE MIR<br />
INFORMATIONEN UND DATEN ZUR VERFÜGUNG GESTELLT HABEN)<br />
20.1. Leben und Sterben <strong>in</strong> Würde<br />
Jährlich sterben <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> etwa 75.000 Menschen. Davon waren im Jahr 2004 knapp 74% 70<br />
Jahre und älter, 30% waren sogar 85 Jahre und älter. Die letztere Gruppe umfasste im Jahr 1984<br />
nur 18% (Statistik Austria 2005, eigene Berechnungen). Das Sterben ist zu e<strong>in</strong>em Thema der<br />
alten, vor allem der hochbetagten Menschen geworden. Mit der Verschiebung des Sterbens <strong>in</strong><br />
das hohe Lebensalter verändert sich auch das Sterben selbst. Folgt man den Diskussionen um<br />
aktive Sterbehilfe, wird deutlich, dass das Sterben, wie es sich gegenwärtig <strong>für</strong> Hochbetagte<br />
darstellt, von immer weniger Menschen als würdevoll angesehen wird. Um dieser Entwicklung<br />
entgegen zu steuern und Alternativen anzubieten, bedarf es zunächst e<strong>in</strong>er größeren Aufmerksamkeit<br />
auf die Situation hochbetagter Menschen am Lebensende.<br />
20.1.1. Sterben <strong>in</strong> modernen Gesellschaften<br />
Moderne Gesellschaften s<strong>in</strong>d mit e<strong>in</strong>em generellen Rückgang der Sterblichkeit konfrontiert.<br />
So nimmt auch <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> die absolute Zahl der Gestorbenen pro Jahr seit den 70er Jahren<br />
kont<strong>in</strong>uierlich ab: Im Jahr 1974 starben noch 20.000 Menschen mehr als zwanzig Jahre später<br />
(Statistik Austria 2005). Feldmann (1997) spricht <strong>in</strong> diesem Zusammenhang von e<strong>in</strong>em zunehmenden<br />
Erfahrungsdefi zit, das e<strong>in</strong>e vermehrte Verunsicherung im Umgang mit sterbenden bzw.<br />
trauernden Menschen n ach sich zieht. Der entstandene „Kompetenzverlust“ im Umg ang mit<br />
Sterben und Tod mündet im Alltag nicht selten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em „Vermeidungsverhalten“, <strong>in</strong> Distanzierungsdynamiken<br />
gegenüber sterbenden Menschen (Elias 1982).<br />
Dies soll nicht auf das Phänomen e<strong>in</strong>er „Verdrängung des Todes“ reduziert werden, zumal die<br />
„Verdrängungstheoretiker“ zunehmend von jenen abgelöst werden, die e<strong>in</strong>e „neue Geschwätzigkeit<br />
des Todes“ verorten (Nassehi & Saake 2005, Schneider 2005). Das Sterben, so sche<strong>in</strong>t<br />
es, ist uns allen wieder näher gerückt (Bl<strong>in</strong>kert 2003). Die Hospizbewegung ist als Bürgerbewegung<br />
<strong>für</strong> e<strong>in</strong> humanes und würdevolles Sterben e<strong>in</strong>e Gegenthese zur Behauptung, Sterben und<br />
Tod würden verdrängt. Sie hat mittlerweile <strong>in</strong> professionalisierten Konzepten wie Palliative Care<br />
und Palliativmediz<strong>in</strong> weltweit <strong>in</strong> den Gesundheitssystemen ihren Niederschlag gefunden (WHO<br />
2002, Doyle et al. 2004). Schließlich hat auch die Euthanasiebewegung unter dem Vorzeichen<br />
465
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
e<strong>in</strong>es würdevollen Sterbens zur Thematisierung beigetragen, beispielsweise mit e<strong>in</strong>er medialen<br />
Aufbereitung spektakulärer Fälle.<br />
Die Berufstätigkeit der Frauen, veränderte Wohnverhältnisse und e<strong>in</strong>e generelle Instabilität<br />
familialer B<strong>in</strong>dungen tragen dazu bei, dass die Familie immer weniger als der geeignete Ort <strong>für</strong><br />
das Sterben aufgefasst werden kann (Gronemeyer & Loewy 2002). Insbesondere hochbetagte<br />
sterbende Menschen weisen e<strong>in</strong> wesentlich dünneres soziales N etz auf. H<strong>in</strong>zu k ommt, dass<br />
sich die Betreuung durch Fachkräfte, Schmerzl<strong>in</strong>derung und Lebensverlängerung derart <strong>in</strong> den<br />
Vordergrund geschoben haben, d ass die Familie <strong>in</strong> der Versorgung Sterbender vielen gar als<br />
zu „unprofessionell“ ersche<strong>in</strong>t (ebenda, 140). Dies unterstreicht die These, dass <strong>in</strong> modernen<br />
Gesellschaften grundlegende Funktionen der Dase<strong>in</strong>svor sorge technisch-wissenschaftlichen<br />
Systemen übertragen wird (Bl<strong>in</strong>kert 2003), etwa das Sterben an die Mediz<strong>in</strong> und die dazugehörigen<br />
Institutionen.<br />
Damit wird auch die Hoff nung genährt, dass es g el<strong>in</strong>gen könnte, den Tod mit ärztlicher Hilfe<br />
und e<strong>in</strong>er am Fit ness-Ideal ausgerichteten Lebensweise mehr u nd mehr h<strong>in</strong> auszuschieben<br />
(ebenda). Das große Spektrum an Interventionsmöglichkeiten am Ende des Lebens erhöht auch<br />
tatsächlich die Kontrollierbarkeit des mediz<strong>in</strong>ischen Sterbeprozesses durch die Professionen<br />
(Baust 1992). Fast immer, und ganz besonders <strong>in</strong> E<strong>in</strong>richtungen wie Krankenhäusern, aber auch<br />
Altenpfl egeheimen, ist der E<strong>in</strong>tritt des Todes von e<strong>in</strong>em „Tun“ oder „Unterlassen“ e<strong>in</strong>er anderen<br />
Person, bzw. systembed<strong>in</strong>gten Standards oder „state of the art-Therapien“ abhängig. Auch <strong>in</strong><br />
diesen Bezugssystemen lässt sich Verunsicherung beobachten. Die wachsende Bedeutung von<br />
ethischen Entscheidungen wird immer deutlicher: Wann „darf“ gestorben werden, wann „soll“<br />
gestorben werden? Wer triff t diese Entscheidungen?<br />
In modernen Gesel lschaften wird die Angst vor dem Tod abgelöst durch die Angst vor dem<br />
Sterben (Bl<strong>in</strong>kert 2003). Das wachsende gesellschaftliche Bedürfnis nach Autonomie und<br />
Individualisierung führt dazu, dass angesichts von Fragen wie den oben angeführten auch <strong>für</strong><br />
die Sterbephase e<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividueller „Regelungsbedarf“ erkannt wird. In der Praxis mündet dieser<br />
zunehmend <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Delegation an juridische Verfahren, wie etwa auch <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> an der<br />
jüngsten gesetzlichen Regelung von Patientenverfügungen deutlich wird (vgl. Bernat & Gaberc<br />
2007). Nicht nur <strong>für</strong> hochbetagte Menschen stellt der damit latent verbundene „Zwang zur Vorsorge“<br />
e<strong>in</strong>e gewisse Zumutung dar (Pleschberger 2005, Student 2006).<br />
20.1.2. Leitkategorie Würde<br />
Wiewohl es e<strong>in</strong>e große E<strong>in</strong>igkeit gibt, dass Sterben <strong>in</strong> Würde <strong>für</strong> alle ermöglicht werden soll, bei<br />
näherer Betrachtung wird rasch deutlich, dass damit sehr unterschiedliche Vorstellungen verbunden<br />
s<strong>in</strong>d. Hospizidee und Palliative Care haben sich als Konzepte ebenso diesem Anspruch<br />
verschrieben wie Proponent/<strong>in</strong>nen der E uthanasiebewegung. Letztere allerd<strong>in</strong>gs verknüpfen<br />
ihren Würdebegriff mit Autonomie und sehen als Garant <strong>für</strong> Würde <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong> selbstbestimmtes<br />
Sterben h<strong>in</strong>sichtlich Zeitpunkt und Ort (beispielsweise Jens & Küng 1995).<br />
466
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
E<strong>in</strong> solches auf den Autonomiebegriff fokussiertes Würdeverständnis wird im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Ethik<br />
im Kontext von „Care“ zurückgewiesen (Conradi 2001). Vielmehr gehe es um die E<strong>in</strong>sicht, dass<br />
die „Eigentümlichkeit von Menschen beispielsweise dar<strong>in</strong> liegt, fehlerhaft, hilfsbedürftig, auf<br />
andere angewiesen oder zuwendungsfähig zu se<strong>in</strong>“ (ebenda, 40). Forschungsergebnisse zum<br />
Würdeverständnis von alten Menschen <strong>in</strong> Pfl egeheimen <strong>in</strong> Deutsch land unterstreichen die<br />
Bedeutung des Aspekts von „Relationalität“ <strong>für</strong> e<strong>in</strong> tragfähiges Würdekonzept (Pleschberger<br />
2005): Aus Sicht der Betroff enen ist <strong>für</strong> Würde vor allem die Kehrseite des Autonomieverlustes<br />
von zentraler Bedeutung, nämlich die Sorge, <strong>für</strong> andere e<strong>in</strong>e Belastung darzustellen und damit<br />
e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>buße <strong>in</strong> den sozialen Beziehungen zu erleiden (ebenda).<br />
Angesichts des wachsenden Anteils von Menschen mit demenziellen Veränderungen unter den<br />
pfl egebedürftigen Alten sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong> solches „ausbalanciertes Würdekonzept“ (Klie 2005) zur<br />
Sicherung der Würde von Menschen <strong>in</strong> hohem Maße geboten: „E<strong>in</strong>e besondere Betonung der<br />
normativen Grundlagen e<strong>in</strong>es sich sorgenden Würdeverständnisses, des Herstellungscharakters<br />
von Würde <strong>in</strong> und durch Kontexte“ (ebenda, 271). Durch e<strong>in</strong>e Praxis, <strong>in</strong> der die Herstellung<br />
von Würde von Menschen mit Demenz und Pfl egebedürftigen gelebt wird, werde die E<strong>in</strong>übung<br />
professionellen und organisatorischen Handelns – palliativ ausgerichtet – unterstützt und anschaulich<br />
gemacht (ebenda). Für stationäre Pfl egee<strong>in</strong>richtungen wurden dazu bereits konkrete<br />
Forderungen und Maßnahmen entwickelt (Reit<strong>in</strong>ger et al. 2004).<br />
Wenn relationale Würde im S<strong>in</strong>ne von Anerkennen und Würdigen e<strong>in</strong>e zentrale Rolle spielt, rückt<br />
das Problem der sozialen Isolation im hohen Alter (vgl. Tesch-Römer 2000) <strong>in</strong> den Vordergrund:<br />
Bee<strong>in</strong>trächtigungen <strong>in</strong> Mobilität und Kommunikation schränken die Möglichkeiten e<strong>in</strong>es aktiven<br />
Bemühens um Kontaktaufnahme und soziale E<strong>in</strong>gebundenheit zusätzlich e<strong>in</strong>, die Netzwerk e<br />
dünnen sich aus, <strong>in</strong>sbesondere im städtischen Milieu. So gibt es e<strong>in</strong>e zunehmende Zahl alter<br />
Menschen, deren Sterben und Tod von niemandem mehr mit Betroff enheit und Anteilnahme<br />
begleitet oder zur Kenntnis genommen wird (Kolland 2000).<br />
Die Bemühungen, alten u nd hochbetagten Menschen e<strong>in</strong> Sterben <strong>in</strong> Würde zu ermöglichen,<br />
sollten sich jedoch nicht auf die unmittelbar letzten Lebenstage beschränken. In diesem S<strong>in</strong>ne<br />
wird das Sterben im folgenden Abschnitt nicht im kl<strong>in</strong>ischen Verständnis als e<strong>in</strong>e klar abgrenzbare<br />
Phase verstanden, „die die Tage oder Stunden vor dem E<strong>in</strong>treten des Todes umfasst, <strong>in</strong><br />
der die Lebens funktionen allmählich abnehmen“ (Pschyrembel 1990). Vielmehr geht es darum,<br />
das Sterben <strong>in</strong>s Leben zu holen und die Ansprüche, die an e<strong>in</strong> wü rdevolles Sterben gerichtet<br />
werden, auch an das Leben alter und hochbetagter Menschen zu stellen.<br />
20.1.3. Charakteristika des Sterbens hochbetagter Menschen<br />
Angesichts der w andelnden Verhältnisse des Sterbens <strong>in</strong> modernen Gesel lschaften und des<br />
Anspruchs auf e<strong>in</strong> Leben und Sterben <strong>in</strong> Würde stellt sich nun die Frage, welche Herausforderungen<br />
es im Besonderen bei hochbetagten Menschen gibt.<br />
467
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
20.1.3.1. DEMENZIELLE VERÄNDERUNGEN<br />
Sterbende hochbetagte Menschen weisen sehr häufi g demenzielle Veränderungen auf. Die mit<br />
der Erkrankung verbundenen Veränderungen der Person, die e<strong>in</strong>geschränkten Kommunikationsmöglichkeiten<br />
sowie der wachsende Rückzug von der Teilhabe an existenziellen Alltagstätigkeiten<br />
wie etwa Essen oder Tr<strong>in</strong>ken können vielfach auch als Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Sterbephase gedeutet werden.<br />
Nicht zuletzt deshalb ist die Prognose des Sterbens bei demenziell veränderten Menschen<br />
besonders schwierig. Sie bee<strong>in</strong>fl usst jedoch häufi g den Beg<strong>in</strong>n „palliativer Maßnahmen“. Mitchell<br />
et al. (2004) haben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Studie <strong>in</strong> den USA gezeigt, dass bei nur 1,1% der Bewohner/<br />
<strong>in</strong>nen mit e<strong>in</strong>er fortgeschrittenen Demenz bei ihrer Aufnahme <strong>in</strong> die untersuchten Pfl egeheime<br />
e<strong>in</strong>e Lebenserwartung von weniger als 6 Monaten prognostiziert wurde, obwohl 71% davon <strong>in</strong><br />
diesem Zeitabschnitt verstarben. Auch das Sterben selbst gestaltet sich anders. Dem Sterben<br />
von Menschen mit Demenz gehen häufi g e<strong>in</strong>e Vielzahl an Abschieden und Trauerprozessen <strong>für</strong><br />
Angehörige voraus. Besonders dann, wenn Angehörig e <strong>in</strong>tensiv <strong>in</strong> die Pfl ege und Betreuung<br />
e<strong>in</strong>gebunden waren, kann der eigentliche E<strong>in</strong>tritt des Todes sogar mit e<strong>in</strong>em Gefühl der Erleichterung<br />
verbunden se<strong>in</strong> (Geister 2004).<br />
Das Erkennen und die Beh andlung von Schmerzen ist <strong>in</strong> hohem Maß von kommunikativen<br />
Prozessen zwischen den Akteuren abhängig und daher bei demenziell veränderten Menschen<br />
besonders anspruchsvoll: Zahlreiche schmerztherapeutische Ansätze setzen direkte Kommunikationsfähigkeit<br />
voraus und basieren auf Selbstbeobachtung der betroff enen Menschen. In<br />
den letzten Jahren wurden daher zahlreiche Anstrengungen unternommen, den Wissensstand<br />
<strong>in</strong> der Schmerztherapie auch <strong>für</strong> Menschen mit Demenz weiter zu entwickeln (vgl. Kojer 2002,<br />
Kunz 2006a,b). Von e<strong>in</strong>er umfassenden Anwendung <strong>in</strong> der Pr axis kann allerd<strong>in</strong>gs noch nicht<br />
ausgegangen werden.<br />
20.1.3.2. GENDER-ASPEKTE DES STERBENS IM ALTER<br />
Die Situation am Lebensende unterscheidet sich <strong>für</strong> Frauen. Wie e<strong>in</strong>e Analyse der Familiensituation<br />
Verstorbener nahelegt, können Frauen im hohen Alter und <strong>in</strong> der Situation der Pfl egebedürftigkeit<br />
zumeist nicht (mehr) auf die Unterstützung durch ihren Lebenspartner zurückgreifen (Tabelle<br />
1). Während 45% aller im Alter von 85 und mehr verstorbenen Männer verheiratet waren, traf<br />
dies nur auf 4,2% aller Frauen zu, die <strong>in</strong> diesem Lebensalter starben. H<strong>in</strong>gegen waren von den<br />
<strong>in</strong> dieser Altersgruppe verstorbenen Frauen bereits zu 80,2% verwitwet. Das heißt, hochbetagte<br />
Frauen s<strong>in</strong>d im Falle von Hilfe- und Pfl egebedürftigkeit nahezu ausschließlich auf familiäre<br />
Unterstützung durch die nachfolgende Generation angewiesen, wenn sie nicht professionelle<br />
<strong>in</strong>stitutionelle Hilfe <strong>in</strong> Anspruch nehmen möchten.<br />
468
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
Tabelle 1: 2004 Gestorbene nach Alter, Familienstand und Geschlecht <strong>in</strong> %<br />
Alter<br />
Gestorbene gesamt (absolut)<br />
männlich weiblich<br />
Verheiratet (<strong>in</strong> %)<br />
männlich weiblich<br />
Verwitwet (<strong>in</strong> %)<br />
männlich weiblich<br />
70-75 4440 2827 70,70% 37,20% 12,80% 43,80%<br />
75-80 5528 5268 69,70% 27,00% 19,80% 54,40%<br />
80-85 5776 9185 64,00% 14,60% 28,00% 68,20%<br />
85+ 6022 15772 45,00% 4,20% 47,70% 80,20%<br />
Quelle: Statistik Austria 2005; eigene Berechnungen<br />
Da hochbetagte Frauen <strong>in</strong> der letzten Lebensphase nur sehr selten von ihren Lebenspartnern<br />
begleitet werden können, kommt es <strong>für</strong> sie <strong>in</strong> besonderem Maße darauf an, wie die nachfolgenden<br />
Generationen mit dem Sterben, das <strong>für</strong> sie selbst ja noch wesentlich weiter entfernt ist,<br />
umgehen können. Entscheidungen am Lebensende wie z. B. die Frage nach e<strong>in</strong>er Überweisung<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Kran kenhaus oder e<strong>in</strong> Wechsel <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Pfl egeheim, s<strong>in</strong>d im Falle von Frauen <strong>in</strong> den meisten<br />
Fällen von den n achfolgenden Generationen zu treff en. Sie haben jedoch häufi g andere E<strong>in</strong>stellungen<br />
und Werte als die hochbetagten Menschen (Parker et al. 2005). E<strong>in</strong> professioneller<br />
Umgang damit, der vor allem die Wahrung der Interessen der betroff enen Frauen im Blick hat, und<br />
möglicherweise auch die nachkommenden Generationen <strong>in</strong> ihrer Entscheidungsverantwortung<br />
zu entlasten hilft (vgl. (D<strong>in</strong>ges 2004), ist daher auch im Lichte der Gesc hlechtergerechtigkeit<br />
dr<strong>in</strong>gend geboten (Reit<strong>in</strong>ger et al. 2007).<br />
20.1.3.3. BEDÜRFNISSE ALTER MENSCHEN IN HINBLICK AUF DAS STERBEN<br />
Die Bedürfnisse sterbender Menschen w aren bis dato lediglich <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>eren Studien Gegenstand<br />
wissenschaftlicher Ause<strong>in</strong>andersetzung. Somit ist wenig bekannt über das Aus maß der<br />
sozialen, geschlechtsspezifi sche sowie kulturelle Unterschiede <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>. Im Rahmen e<strong>in</strong>er<br />
qualitativen Patientenbefragung <strong>in</strong> der Hauskrankenpfl ege <strong>in</strong> Wien wurden von den befragten<br />
Senior/<strong>in</strong>nen (n=15), wiewohl dies nicht das Thema der Untersuchung war, Bedürfnisse rund<br />
um „Sterben u nd Tod“ angesprochen (Heimerl & Seidl 2000). Dar<strong>in</strong> ließen s ich folgende Dimensionen<br />
e<strong>in</strong>es „guten Sterbens“ im Sett<strong>in</strong>g „Hauskrankenpfl ege“ erkennen (ebenda, 121ff .): 1<br />
1 E<strong>in</strong> Fazit aus diesen Ergebnissen ist darüber h<strong>in</strong>aus, dass sich die Bedürfnisse alter und auch sterbender Menschen<br />
erfassen lassen, über Gespräche und <strong>in</strong> Form qualitativer Interviews (Heimerl 2006). Die Erfahrung zeigt, dass diese<br />
Form der Bedürfniserfassung bei allen Beteiligten auf ausgesprochen positive Resonanz stößt (ebenda), vorausgesetzt<br />
ihre Durchführung ist von sorgfältigen forschungsethischen Überlegungen geleitet (Pleschberger 2005).<br />
469
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
Befragungen <strong>in</strong> Deutschland, die <strong>in</strong> Pfl egeheimen d urchgeführt w urden, f örderten ä hnliche<br />
Ergebnisse zutage, wiewohl <strong>in</strong>teressanterweise der Or t des Sterbens bei diesen Menschen<br />
kaum (mehr) e<strong>in</strong>e Bedeut ung hatte (vgl. Heimerl et al. 2000 , Pleschberger 2005). Die Sorge<br />
davor, anderen zur Last zu fallen, ist selbst bei Pfl egeheimbewohner/-<strong>in</strong>nen zentral, wenn es<br />
um die Frage nach würdevollem Sterben geht. Es wird jedoch deutlich, dass die wahrgenommene<br />
Versorgungsqualität darauf ebenso sehr e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fl uss hat, wie die verbliebenen sozialen<br />
Beziehungen (Pleschberger 2005). Führt man sich die Anliegen alter Menschen vor Augen, wird<br />
deutlich, dass die konzeptionellen Bestandteile von Hospizarbeit und Palliative Care, z. B. die<br />
Aufmerksamkeit auf die Lebensqualität anstatt der -quantität zu lenken oder die L<strong>in</strong>derung<br />
belastender Symp tome <strong>in</strong> den Vordergrund zu stellen, <strong>für</strong> die Begleitung und Versorgung von<br />
alten und hochbetagten Menschen <strong>in</strong> der letz ten Lebensphase hoch relevant s<strong>in</strong>d (Davies &<br />
Higg<strong>in</strong>son 2004, WHO 2002).<br />
20.2. Das Sterben hochbetagter Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
Diesem Abschnitt sei vorausgeschickt, dass es ausgesprochen schwierig ist, allgeme<strong>in</strong>e Aussagen<br />
darüber zu treff en, wie alte und hochbetagte Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> sterben und wie<br />
sich das letzte Lebensjahr gestaltet. Zu diesem Themenbereich liegen hierzulande ke<strong>in</strong>e systematischen<br />
wissenschaftlichen Untersuchungen vor. International gibt es zwar e<strong>in</strong>zelne Studien<br />
über das letzte Lebensjahr, sie s<strong>in</strong>d jedoch wenig aktuell, beziehen sich auf ausgewählte Personengruppen,<br />
etwa Krebskranke, Menschen <strong>in</strong> Hospizen oder demenziell veränderte Menschen<br />
und s<strong>in</strong>d aufgrund der unterschiedlichen gesundheitssystemischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen nur<br />
bed<strong>in</strong>gt übertragbar (vgl. Bortz 1990, Coll<strong>in</strong>s & Ogle 1994, Seale & Cartwright 1994, Add<strong>in</strong>gton-<br />
Hall & McCarthy 1995, Ochsmann et al. 1997, Bickel 1998).<br />
20.2.1. Sterbeorte<br />
Die große Diskrepanz zwischen dem gewünschten und dem tatsächlichen Sterbeort ist mehrfach<br />
belegt (vgl. Feldmann 1997). Auf die Frage, wo er oder sie gepfl egt werden und sterben möchte,<br />
falls jemanden das Schicksal e<strong>in</strong>er unheilbaren Krankheit ereilt, wählen lediglich 5% der Befragten<br />
das Pfl egeheim, 6% das Krankenhaus, 7% ist das egal (Zulehner 2001). Alle anderen<br />
470<br />
» „Der Wunsch, schnell und schmerzlos zu sterben<br />
» Der Wunsch, das Ausmaß der mediz<strong>in</strong>ischen Intervention mitzubestimmen (sowohl <strong>in</strong><br />
H<strong>in</strong>blick auf wenige als auch auf viele Interventionen)<br />
» Wünsche, die sich auf den Zeitpunkt des Sterbens beziehen (bald, bzw. e<strong>in</strong> bestimmtes<br />
Ereignis noch zu erleben)<br />
» Der Wunsch an e<strong>in</strong>em bestimmten Ort, nämlich zuhause, zu sterben<br />
» Der Wunsch über den Tod zu sprechen<br />
» Wünsche, die sich auf die Frage der Begleitung im Sterben beziehen
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
beziehen sich mehr oder wenig er konkret auf das eigene Zuhause, e<strong>in</strong>e vertraute Umgebung<br />
oder Familienangehörige (ebenda). Geht es um das Sterben im Alter, ohne dass e<strong>in</strong>e unheilbare<br />
Krankheit vorliegt, so kann getrost von e<strong>in</strong>em noch ger<strong>in</strong>geren Anteil an Institutionalisierungswunsch<br />
ausgegangen werden. Dies steht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em eklatanten Widers pruch zu dem Befu nd,<br />
dass im Jahr 1996 knapp 85% der über 85-Jährigen <strong>in</strong> Wien <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krankenanstalt oder e<strong>in</strong>em<br />
Pfl egeheim starben (Stadt Wien 1998).<br />
<strong>Österreich</strong>weit stellt sich die Situation (noch) nicht so drastisch dar wie <strong>in</strong> der Großstadt Wien:<br />
Im Jahr 2005 ereigneten sich im gesamten Land <strong>in</strong>sgesamt 54,6% aller Todesfälle <strong>in</strong> Krankenhäusern,<br />
27% an der Wohnadresse, 13% <strong>in</strong> Pfl egeheimen und 5,4% an e<strong>in</strong>em sonstigen Ort, (z.<br />
B. auf dem Transport (Quelle: Statistik Austria).<br />
27%<br />
13%<br />
Quelle: Statistik Austria, eigene Berechnungen<br />
Abbildung 1: Sterbeorte <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
5%<br />
55%<br />
Krankenhaus<br />
Wohnadresse<br />
Pflegeheim<br />
sonstiger Ort<br />
<strong>Österreich</strong>weit liegt der höchste Anteil jener, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krankenanstalt sterben, bei der Altersgruppe<br />
der 65-75-Jährigen, nämlich bei 62,1%. Er nimmt mit zunehmendem Alter wieder deutlich<br />
ab, wohl zugunsten der Pfl egeheime. Dennoch starben im Jahr 2004 etwa 45,6% aller, die im<br />
Alter von 85 und mehr Jahren gestorben s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krankenanstalt (Statistik Austria 2005).<br />
471
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
20.2.1.1. EINFLUSSFAKTOREN AUF DEN STERBEORT<br />
Als E<strong>in</strong>fl ussfaktoren auf den Sterbeort können nach derzeitigem Erkenntnisstand die Aspekte<br />
„Familienstand“, „Todesursache“, „Alter“, „soziostrukturelle Variablen (z. B. Anz ahl an Krankenhausbetten,<br />
Anzahl niedergelassener Ärzt/<strong>in</strong>nen 2 , ländliche oder städtische Struktur) angeführt<br />
werden, wobei die e<strong>in</strong>zelnen Autor/<strong>in</strong>nen unterschied liche Schwerpunkte setzen (Kytir<br />
1993, Ochsmann et al. 1997). In der e<strong>in</strong>zigen Untersuchung aus <strong>Österreich</strong> wird neben Alter und<br />
Familienstand vor allem die Größe des Wohnortes als E<strong>in</strong>fl ussfaktor <strong>für</strong> die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krankenanstalt oder zuhause zu sterben aufgezeigt (Kytir 1993). 3 Beispielsweise lag<br />
der Anteil an Todesfällen im Krankenhaus zum Zeitpunkt dieser Erhebungen <strong>in</strong> Wien mit 72,2%<br />
deutlich über dem damaligen österreichischen Durchschnitt (59,2%). In kle<strong>in</strong>eren ländlichen<br />
Geme<strong>in</strong>den hielten sich h<strong>in</strong>gegen die Krankenanstalts-Sterbefälle mit 46% und Sterbefälle zu<br />
Hause mit 47% die Waage (ebenda). Die Kategorie Alter bee<strong>in</strong>fl usst den Sterbeort dah<strong>in</strong>gehend,<br />
dass mit zunehmendem Alter auch die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit ansteigt, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Institution zu sterben.<br />
Angesichts der höheren Lebenserwartung von Frauen s<strong>in</strong>d diese von der Problematik die<br />
mit e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>stitutionalisierten Sterben verbunden ist am stärksten betroff en (s.u.).<br />
Veränderungen <strong>in</strong> der Bedeutung der Sterbeorte s<strong>in</strong>d auch <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> entlang sich verändernder<br />
demografi scher und sozialpolitischer Rahmenbed<strong>in</strong>gungen erkenn bar. Zwischen 1951 und<br />
1974 hat <strong>in</strong> Österreic h e<strong>in</strong>e massive Verlagerung des Sterbens von der häuslichen Umgebung<br />
<strong>in</strong> das Krankenhaus stattgefunden, der Anteil verdoppelte sich <strong>in</strong> diesem Zeitraum auf rund<br />
60% (Reichhardt 1976, zit. na ch Kolland 2000). Zur E<strong>in</strong>sch ätzung der weiter en Entwicklung<br />
wird aus Gründen der Datenverfügbarkeit 4 der Zeitraum von 1988 bis 2005 herangezogen (siehe<br />
Tabelle 2): Demnach nehmen <strong>in</strong> diesem Zeitraum die Anstaltssterbefälle kont<strong>in</strong>uierlich um 5,7<br />
Prozentpunkte ab. Ebenfalls leicht abnehmend ist der Anteil an Sterbefällen die sich zuhause<br />
ereignen sowie jener an e<strong>in</strong>em „sonstigen Ort“. Der Anteil an Sterbefällen <strong>in</strong> Pfl egeheimen<br />
steigt h<strong>in</strong>gegen um das 2,5fache an. Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter, als es sich<br />
hierbei um e<strong>in</strong>en relativ kurzen Zeitraum von 18 Jahren handelt.<br />
2 E<strong>in</strong>e Studie aus Deutschland zeigte, je höher die Zahl der niedergelassenen Ärzt/<strong>in</strong>nen ist, desto ger<strong>in</strong>ger die Wahr-<br />
472<br />
sche<strong>in</strong>lichkeit, zuhause zu sterben und desto höher <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Altenheim (Ochsmann et al. 1997, 27).<br />
3 Die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Pfl egeheim zu sterben lässt sich h<strong>in</strong>gegen nicht so e<strong>in</strong>fach durch die Größe des Wohn-<br />
ortes erklären, hier dürfte das Angebot an Altenheimplätzen e<strong>in</strong>e Rolle spielen (Kytir 1993). Berücksichtigt man den<br />
Ausbau an stationären Angeboten zur Altenpfl ege <strong>in</strong> den letzten 15 Jahren, so ist zu erwarten, dass sich die Ergebnisse<br />
aus Anfang der 90er Jahre nicht e<strong>in</strong>fach auf die gegenwärtige Situation übertragen lassen, weshalb es dr<strong>in</strong>gend weiterer<br />
Untersuchungen bedarf.<br />
4 Bis zum Jahr 1988 wurde <strong>in</strong> der Todesstatistik lediglich zwischen „Anstaltssterbefällen“ und Sterbefällen außerhalb ei-<br />
ner Anstalt unterschieden. Das letztere Kriterium wird seit diesem Jahr weiter ausdiff erenziert, sodass nähere Aussagen<br />
über den Ort des Sterbens möglich s<strong>in</strong>d.
Quelle: Statistik Austria, eig. Berechnungen<br />
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
Tabelle 2: Sterbeorte <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> 1988-2005<br />
Sterbeort 1988 1990 1995 2000 2005<br />
Krankenhaus 60,30% 59,10% 56,80% 55,60% 54,60%<br />
Wohnadresse 27,90% 28,40% 28,10% 26,70% 27,00%<br />
Heime 5,20% 5,80% 8,40% 11,40% 13,00%<br />
Sonstiger 6,50% 6,70% 6,70% 6,30% 5,40%<br />
Regionale Unterschiede h<strong>in</strong>sichtlich der Sterborte <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> lassen sich allerd<strong>in</strong>gs nicht<br />
nur auf sozialstrukturelle Verschiedenheiten (z. B. Urbanität) zurückführen. Zumal die Sicherstellung<br />
e<strong>in</strong>es qualitativ und quantitativ h<strong>in</strong>reichenden Angebotes an Pfl egeleistungen <strong>in</strong> der<br />
Verantwortung der Länder liegt, lassen sich <strong>in</strong> den Daten auch regional unterschiedliche gesundheits-<br />
und sozialpolitische Strategien erkennen. Dazu zwei Beispiele: Vorarlberg weist im Jahr<br />
2005 österreichweit die niedrigste Krankenhausquote bei den Todesfällen auf (45,8%) und den<br />
höchsten Anteil an Todesfällen an der Wohnadresse (32,5%). Schon sehr früh gab es <strong>in</strong> diesem<br />
Land fl ächendeckend Hauskrankenpfl egevere<strong>in</strong>e (vgl. Fischer & Lackner 2002). Dennoch ist im<br />
Zeitraum von 1988 bis 2005 <strong>in</strong> Vorarlberg der höchste Zuwachs an Todesfällen <strong>in</strong> Pfl egeheimen<br />
zu verzeichnen, von 1,6% um das fast 10fache auf 15,5% (Statistik Austria, eigene Berechnungen).<br />
Salzburg verzeichnet mit knapp 22%, wie schon im Jahr 1988 (ca. 10%), österreichweit den<br />
höchsten Anteil an Sterbefällen <strong>in</strong> Pfl egeheimen. Er hat sich im Beobachtungszeitraum sogar<br />
verdoppelt. Im K ontext von Forschungsarbeiten wäre zu klären, welche K onsequenzen diese<br />
Entwicklung nach sich zieht, <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf würdevolles Sterben ebenso wie etwa h<strong>in</strong>sichtlich<br />
ökonomischer Aspekte. Jedenf alls ist angesichts dieser region al heterogenen Ausgangslage<br />
Vorsicht geboten, bundesweit e<strong>in</strong>heitliche Vorgaben zu treff en, wie dies etwa h<strong>in</strong>sichtlich des<br />
Ausbaus von Hospizarbeit und Palliative Care geschehen ist (s.u.).<br />
20.2.1.2. QUALITATIVE ASPEKTE DER STERBEORTE<br />
Das Sterben zuhause hängt <strong>in</strong> besonderem Maße vom Vorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es tragfähigen sozialen<br />
Netzes ab sowie der Erreichbarkeit und Qualität sozialer Dienste u nd professioneller<br />
Hilfen. Seit den 80er Jahren ist e<strong>in</strong> kont<strong>in</strong>uierlicher Auf- und Ausbau der ambulanten Pfl ege <strong>in</strong><br />
<strong>Österreich</strong> zu verzeichnen, und auch die Inanspruchnahme steigt – bei den ambulanten Pfl egediensten<br />
im Zeitraum von 1999 bis 200 3 um etwa 15% (BMSG 200 4). Und dennoch, es ist<br />
kaum möglich, die <strong>in</strong>tensive Pfl ege und Begleitung, wie sie etwa <strong>in</strong> der Sterbephase erforderlich<br />
ist, sicherzustellen. Dies zeigt auch die jüngste Diskussion um die Legalisierung der gängigen<br />
24-Stunden-Versorgung zuhause. Mit ihren Bedürfnissen stoßen sterbende Menschen und ihre<br />
Angehörigen häufi g an die Grenzen de ssen, was Hausärzt/<strong>in</strong>nen zu leisten vermögen. Neben<br />
dem Aspekt der mangelnden Qualifi kation etwa <strong>in</strong> Schmerztherapie, l<strong>in</strong>dernden Maßnahmen <strong>in</strong><br />
der Sterbephase sowie Trauerbegleitung (Gigl & Baumgartner 2001) spielen dabei vor allem die<br />
Rahmenbed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>e wesentliche Rolle: Sterbende Menschen brauchen <strong>in</strong> besonderem<br />
Maße das Angebot von Hausbesuchen, auch nachts oder an Wochenenden. Diese zu erbr<strong>in</strong>gen<br />
473
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
übersteigt <strong>für</strong> viele niedergelassenen Ärzt/<strong>in</strong>nen den Rahmen ihrer Möglichkeiten. Gründe da<strong>für</strong><br />
können neben der mit dem Sterben e<strong>in</strong>hergehenden psychischen Belastung auch <strong>in</strong> fehlenden<br />
Anreizen <strong>für</strong> e<strong>in</strong> solches „zusätzliches“ Engagement gesucht werden.<br />
Das Krankenhaus muss das Sterben als Rout<strong>in</strong>efall bearbeiten und gleichzeitig verleugnen, um<br />
se<strong>in</strong> Selbstverständnis als erfolgreiche Organisation des Heilens aufrechterhalten zu können<br />
(Grossmann 2000). Diese paradoxe Situation ist nur e<strong>in</strong>e der Barrieren, die e<strong>in</strong>er off ensiven und<br />
würdevollen Gestaltung des Sterbens entgegen stehen. Zumeist obliegt es dem Eng agement<br />
und der Eigen<strong>in</strong>itiative von E<strong>in</strong>zelpersonen, e<strong>in</strong> würdevolles Sterben zu ermöglichen, aus organisationaler<br />
Sicht fällt e<strong>in</strong> gewisses „Regelungsvakuum“ auf (ebenda). Sämtliche Professionen<br />
stehen angesichts des Sterbens im Krankenhaus vor teilweise unaufl ösbaren Widersprüchen:<br />
Dazu zählt beispielsweise <strong>für</strong> das mediz<strong>in</strong>isch-ärztliche Handeln der „W iderspruch zwischen<br />
fachlicher Rationalität und gefühlsmäßiger Anteilnahme“, der „Widerpruch zwischen Spezialisierung<br />
und e<strong>in</strong>em Blick auf den ‚ganzen Menschen’ oder im F all der Pfl egeberufe etwa der<br />
„Widerspruch zwischen pfl egerischem Ideal und realem Berufsalltag“ (Heller 2000b).<br />
Auch das Sterben im Pfl egeheim ist von professionellen und organisationalen Spannungen geprägt<br />
(Pleschberger 2005): E<strong>in</strong>e Befragung zu den Belastungen durch den regelmäßigen Umgang<br />
mit Sterbenden <strong>in</strong> Kärntner Pfl egeheimen bei 894 Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen zeigt, dass es von nahezu<br />
80% als nicht sehr schwierig empfunden wird, mit Menschen, welche dem Lebensende nahe<br />
s<strong>in</strong>d, über den Tod zu sprechen (Jenull-Schiefer et al. 2006). Dass sie dies aber regelmäßig tun,<br />
darauf gibt es kaum H<strong>in</strong>weise, eher im Gegenteil: Die Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen geben an, sich e<strong>in</strong>er<br />
vertiefenden Ause<strong>in</strong>andersetzung zu entziehen und sich somit durch ihre persönliche Abgrenzung<br />
zu schützen. Von mehr als der Hälfte des befragten Pfl egepersonals wurde der Wunsch<br />
nach Unterstützung von außen formulier t, um die Pfl ege Sterbender zu verbessern (ebenda:<br />
312). Angesichts der Tatsache, dass <strong>in</strong> Pfl egeheimen die Betreuung der alten Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
beträchtlichem Maß auch vom Hilfspersonal durchgeführt wird, is t es bedeuts am, dass sich<br />
dieses im Vergleich zum qualifi zierten Pfl egepersonal stärker belastet fühlt, vor allem aber zu<br />
über 50% Schwierigkeiten damit angibt, sich selbst abzugrenzen 5 (e-benda). Den Ergebnissen<br />
dieser Studie zufolge ist es <strong>für</strong> die Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen schwieriger, mit den Angehörigen über Tod<br />
und Sterben zu sprechen, als mit den Bewohner/<strong>in</strong>nen selbst (ebenda: 313). Da <strong>in</strong>sbesondere<br />
bei nicht mehr entscheidungsfähigen Bewohner/<strong>in</strong>nen die Angehörigen wichtige Ansprechpartner<br />
<strong>für</strong> die Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d, s<strong>in</strong>d Probleme oder gar Konfl ikte bei der Bearbeitung von<br />
ethischen Fragen und Entscheidungen am Lebensende vorprogrammiert.<br />
5 In der Studie wird damit implizit Abgrenzung als Lösungsfi gur im Umgang mit belastenden Ereignissen wie Sterben<br />
474<br />
und Tod angedeutet. Dies entspricht weitgehend dem professionellen Selbstverständnis <strong>in</strong>nerhalb der Pfl ege. Es lässt<br />
sich jedoch gerade mit Blick auf die Hospizarbeit auch <strong>in</strong> Frage stellen, wo erst e<strong>in</strong> Sich E<strong>in</strong>lassen auf die existenziellen<br />
Erfahrungen des Lebens und die betroff enen Menschen e<strong>in</strong>e gute Begleitung und Betreuung ermöglichen.
20.2.1.3. FAZIT ZU DEN STERBEORTEN<br />
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
Die Bedeutung des Sterbeortes sagt per se noch nichts darüber aus, ob „gut“ oder „schlecht“, <strong>in</strong><br />
Würde oder nicht <strong>in</strong> Würde gestorben wird. Wiewohl der Krankenhaustod <strong>in</strong> der Literatur scharf<br />
kritisiert wird, gibt es aus der Praxis ebenso die Erfahrung, dass engagierte Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen<br />
mit Unterstützung von Rahmenbed<strong>in</strong>gungen auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Krankenhaus den Bedürfnissen der<br />
betroff enen Menschen am Lebensende Rechnung tragen können. H<strong>in</strong>gegen kann das Sterben<br />
e<strong>in</strong>es alten Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er verwahrlosten häuslichen Umgebung <strong>in</strong> E<strong>in</strong>samkeit all das vermissen<br />
lassen, was geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> unter würdevoll assoziiert wird. Die Erwartungen und Wünsche<br />
der Betroff enen und ihrer Angehörigen sollten im besten Fall handlungsleitend se<strong>in</strong>. Dass sich<br />
diese im Laufe e<strong>in</strong>es Alterns-, Krankheits- oder Sterbeprozesses auch verändern können, darf<br />
dabei nicht außer Acht gelassen werden (Brazil et al. 2005, Daley & S<strong>in</strong>clair 2006).<br />
20.2.2. Todesursachen<br />
Schon seit Ende des 18. Jahrhunderts gibt es <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> Bestimmungen <strong>für</strong> die sog. Leichenschau<br />
und e<strong>in</strong>e Aufzeichnung der Todesursachen (Friedl 1979). Dama ls standen die Infektionskrankheiten<br />
im Mittelpunkt des Interesses, um sie zu beherrschen und die Sterblichkeit zu<br />
senken. Die nicht -<strong>in</strong>fektiösen Erkrankungen wurden h<strong>in</strong>gegen als „genu<strong>in</strong> idiopathisch, und<br />
somit schicksalhaft (mit Ausnahme der u nnatürlichen Todesursachen)“ betrachtet (ebenda,<br />
477). 6 Heute s <strong>in</strong>d vor allem letztere von Bedeutung, sie führen n ahezu <strong>in</strong> j eder Altersgruppe<br />
die Todesursachenstatistiken an (s.u.). Auch werden sie längst nicht mehr als schicksalhaft<br />
angesehen, sondern es gibt vielfältige Möglichkeiten der Inter vention und Behandlung (Stefenelli<br />
1998). Welche Bedeutung hat die Besch äftigung mit Todesursachen <strong>für</strong> das Sterben<br />
hochbetagter Menschen?<br />
Aus statistischer Perspektive gibt es ke<strong>in</strong>en Todesfall, dem nicht e<strong>in</strong>e direkte Ursache zugeschrieben<br />
wird, dabei spielen Urs achen wie „Altersschwäche“ o.Ä. <strong>in</strong> den Sterbestatistiken<br />
mittlerweile e<strong>in</strong>e untergeordnete Rolle. Dies anzugeben gilt bei Ärzt/<strong>in</strong>nen als „unprofessionell“<br />
und so verwundert es nicht, dass sich selbst bei hochaltrigen Verstorbenen „Altersschwäche“ nur<br />
bei etwa 2,6% Fällen als Todesursache wieder fi ndet (Statistik Austria 2005). Die Fokussierung<br />
auf organische Leiden als Urs ache <strong>für</strong> das Sterben lässt dieses gleichsam als e<strong>in</strong>en pathologischen<br />
Prozess ersche<strong>in</strong>en, der bei bes serer Behandlung möglicherweise vermeidbar wäre,<br />
ganz unabhängig davon, wie alt und gebrechlich e<strong>in</strong> Mensch eigentlich ist bzw. war. Hier bildet<br />
die Statistik den ärztlich-professionellen (Wettreck 1998), letztlich aber auch gesellschaftlich<br />
problematischen Umgang mit der Endlichkeit des Lebens ab.<br />
6 Idiopathisch heißt <strong>in</strong> diesem Zusammenhang, dass sie unh<strong>in</strong>terfragbar notwendig s<strong>in</strong>d, zumal e<strong>in</strong>e konkrete Ursache<br />
da<strong>für</strong> nicht nachweisbar ist.<br />
475
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
Schließlich ist noch erwähnenswert, dass Todesursachenstatistiken kaum e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die<br />
Verfasstheit der Menschen vor ihrem Tod erlauben: Weder dementielle Veränderungen – die<br />
ja kaum direkt den Tod herbeiführen – noch die bei Hochbetagten typischen multifaktoriellen<br />
Problemlagen die Pfl egebedürftigkeit und unterschiedlichen Leidenszustände verursachen,<br />
werden dar<strong>in</strong> sichtbar und abgebildet.<br />
20.2.2.1. TODESURSACHEN HOCHBETAGTER MENSCHEN<br />
Die häufi gste Todesursache bei hochbetagten Menschen s<strong>in</strong>d Krankheiten des Herz-Kreislaufsystems<br />
(60% bis knapp 70% aller Todesfälle). Vergleicht man die Todesursachen betagter und<br />
hochbetagter Menschen mit der Gesamtbevölkerung lässt sich erkennen, dass etwa bösartige<br />
Neubildungen als Todesursache mit zunehmendem Alter deutlich abnehmen: S<strong>in</strong>d es <strong>in</strong> der<br />
weiblichen Altersgruppe der 60-65- Jährigen noch 53% beträgt dieser Anteil bei Frauen mit 90<br />
Jahren und mehr lediglich 8,51% (siehe Tabelle 3a). Wiewohl die Inzidenzzahlen <strong>für</strong> bösartige<br />
Neubildungen auch im hohen Alter noch beträchtlich s<strong>in</strong>d, kann dies als Beleg <strong>für</strong> die folgende<br />
Aussage herangezogen werden: „Alte Menschen sterben mit ihrem Krebs nicht an ihrem Krebs“<br />
(Ste<strong>in</strong> Husebø, pers. Mitteilung).<br />
Im Unterschied zu Frauen s<strong>in</strong>d die Todesursachen bei Männern zu e<strong>in</strong>em ger<strong>in</strong>geren Anteil<br />
auf Krankheiten des Herz-Kreislaufsystems zurückzuführen, zugunsten von Krankheiten der<br />
Atmungsorgane sowie bösartiger Neubildungen (siehe Tabelle 3b). Letztere liegen jedoch auch<br />
bei hochbetagten Männern deutlich unter dem altersunabhängigen Gesamtwert.<br />
476<br />
Tabelle 3a: Häufi gkeit der Todesursachen nach Altersgruppen (standardisierte Raten),<br />
weiblich<br />
Todesursache<br />
Gesamt<br />
<strong>in</strong> %<br />
60-65<br />
Gestorbene im Alter von … bis<br />
unter … Jahren (weibl.)<br />
70-75 80-85 90 und mehr<br />
Bösartige Neubildungen 23,18 53 36,47 19,97 8,51<br />
Krankheiten des Herz-Kreislaufsystems 49,24 18,06 33,53 52,47 67,76<br />
Krankheiten der Atmungsorgane 5,44 3,72 4,77 6,03 6,49<br />
Krankheiten der Verdauungsorgane 3,85 6,73 5,02 3,62 2,6<br />
Sonstige Krankheiten 14,8 13,67 16,51 15,36 12,62<br />
Verletzungen und Vergiftungen 3,45 4,8 3,68 2,53 1,99<br />
99,96 99,98 99,98 99,98 99,97<br />
Quelle: Statistik Austria 2005, eig. Berechnungen
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
Tabelle 3b: Häufi gkeit der Todesursachen nach Altersgruppen (standardisierte Raten)<br />
männlich<br />
Todesursache<br />
Gesamt<br />
<strong>in</strong> %<br />
60-65<br />
Gestorbene im Alter von … bis<br />
unter … Jahren (männl.)<br />
70-75 80-85 90 und mehr<br />
Bösartige Neubildungen 29,02 42,44 34,55 24,77 14,35<br />
Krankheiten des Herz-Kreislaufsystems 37,4 24,5 37,2 47,24 59,9<br />
Krankheiten der Atmungsorgane 6,72 4,7 7,23 9,33 9,89<br />
Krankheiten der Verdauungsorgane 5,21 8,05 4,77 2,84 1,8<br />
Sonstige Krankheiten 13,56 13,59 11,89 12,29 10,87<br />
Verletzungen und Vergiftungen 8,07 6,69 4,34 3,51 3,11<br />
99,98 99,97 99,98 99,98 99,92<br />
Quelle: Statistik Austria 2005, eig. Berechnungen<br />
Die Suizidrate betrug <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> im Jahr 2004 <strong>in</strong>sgesamt 1,9%, das s<strong>in</strong>d 1418 Fälle von Selbsttötung<br />
(Statistik Austria 2005). Die Häufi gkeit suizidalen Verhaltens ist dabei <strong>in</strong> allen Altersklassen<br />
bei Männern etwa 3-4x höher als bei Frauen. Bezieht man Suizidäquivalente mit e<strong>in</strong>, z. B.<br />
<strong>in</strong>direkt selbst-destruktive Verhaltenstendenzen wie die Missachtung ärztlicher Verordnungen<br />
oder Verweigerung lebensnotwendiger Verrichtungen wie die Nahrungsaufnahme, dann kann<br />
von e<strong>in</strong>er wesentlich höheren Du nkelziff er ausgegangen werden. Erlemeier verweist darauf,<br />
dass letztere besonders bei alten und hochbetagten Menschen von Bedeutung s<strong>in</strong>d, wenn aktive<br />
Formen der Selbsttötung möglicherweise verwehrt s<strong>in</strong>d oder nicht mehr selbst ausgeführt<br />
werden können (Erlemeier 2002). Wann jedoch genau <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>zelfall von Suizid gesprochen<br />
werden kann bleibt unklar. Studien zur Suizidalität im Alter liegen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> nicht vor.<br />
20.3. Hospizarbeit und Palliative Care <strong>für</strong> hochbetagte Menschen<br />
Ausgehend von der Hospizidee Cicely Saunders <strong>in</strong> den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts<br />
und den <strong>Arbeit</strong>en der US-amerik anischen Sterbeforscher<strong>in</strong> Elisabeth Kübler-Ross<br />
gibt es mittlerweile weltweit Bemühungen, die Versorgung unheilbar kranker und sterbender<br />
Menschen zu verbessern (Heller & Pleschberger 2005). Hospizarbeit und Palliative Care treten<br />
als Versorgungskonzepte <strong>für</strong> L<strong>in</strong>derung von Leiden und e<strong>in</strong> würdiges Sterben e<strong>in</strong>, gemäß dem<br />
Motto: „Wenn nichts mehr zu machen ist, ist noch viel zu tun“ (Heller et al. 2007). Im folgenden<br />
Abschnitt geht es um die Relevanz von Hospizarbeit und Palliative Care <strong>für</strong> die Versorgung von<br />
sterbenden hochaltrigen Menschen.<br />
477
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
20.3.1. Konzeptionelle Aspekte<br />
Durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wu rde im Jahr 1 990 Palliative Care als eigenständiges<br />
Versorgungskonzept defi niert, <strong>in</strong> dem die Ideen der Hospiz bewegung aufgegriff en<br />
wurden. Nach e<strong>in</strong>er Aktualisierung im Jahr 2002 lautet demgemäß die Defi nition: 7<br />
„Palliative Care ist e<strong>in</strong> Ansatz mit dem die Lebensqualität von Patient/<strong>in</strong>nen und ihren Familien<br />
verbessert werden soll, wenn sie mit e<strong>in</strong>er lebensbedrohlichen Erkrankung und den damit verbundenen<br />
Problemen konfrontiert s<strong>in</strong>d. Dies soll durch Vorsorge und L<strong>in</strong>derung von Leiden, durch<br />
frühzeitiges Erkennen, fehlerloser E<strong>in</strong>schätzung und Behandlung von Schmerzen und anderen<br />
physischen, psychosozialen und spirituellen Problemen erfolgen.“ (WHO 2002, Übersetzung SP)<br />
Der Defi nition werden erläuternd noch weitere Kriterien nachgestellt, <strong>in</strong> denen die Ausrichtung<br />
auf Angehörige, die Begleit ung über den Tod h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>schließlich Trauerarbeit, der E<strong>in</strong>s atz<br />
e<strong>in</strong>es multiprofessionellen Teams oder e<strong>in</strong>e klare Abgrenzung zu aktiver Sterbehilfe formuliert<br />
s<strong>in</strong>d (WHO 2002). Auch wi rd klargestellt, dass Palliative Care als Ansatz bereits sehr früh im<br />
Krankheitsverlauf, und zwar parallel zu kurativen Maßnahmen angewendet werden soll (ebenda).<br />
In den letzten fünf Jahren hat im Kontext von Palliative Care e<strong>in</strong>e konzeptionelle Erweiterung<br />
stattgefunden. Dazu zählt etwa die Ausdiff erenzierung auf Personen- und Zielgruppen, die über<br />
den Kreis der onkologisch erkrankten Menschen h<strong>in</strong>ausgehen, darunter beispielsweise alte<br />
Menschen. Spätestens seit Ersche<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>er Publikation der WHO mit dem Titel „Better Palliative<br />
Care for Older People“ (Davies & Higg<strong>in</strong>son 2004) hat sich der Fokus auf alte Menschen<br />
auch <strong>in</strong>ternational zunehmend durchgesetzt. Ausgehend von den USA und Großbritannien gibt<br />
es auch im deutschspr achigen Raum <strong>in</strong> den letzten Jahren zunehmend Modellprojekte und<br />
Organisationen, die der Frage nach der Umsetzung von Palliative Care <strong>für</strong> alte Menschen, <strong>in</strong>sbesondere<br />
<strong>in</strong> Pfl egeheimen, nachgehen (vgl. Wilken<strong>in</strong>g & Kunz 2003, Heller et al. 2003, Heimerl<br />
et al. 2005, Pleschberger 2006).<br />
20.3.2. Entwicklungsstand <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
Die ersten Entwicklungen gehen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> auf Aktivitäten von engagierten E<strong>in</strong>zelpersonen<br />
<strong>in</strong> den siebziger Jahren zurück (Höfl er 2001). In den achtziger Jahren fand dann e<strong>in</strong>e Vernetzung<br />
zur “Hospizbewegung“ statt, mit dem Ziel, nach britischem Vorbild auch <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> stationäre<br />
Hospize zu errichten (ebenda). Es hat allerd<strong>in</strong>gs vergleichsweise lange gedauert, bis es gelungen<br />
7 Der Begriff ”Palliativ” leitet sich vom Late<strong>in</strong>ischen ”pallium” – der Mantel ab. ”Care” kann <strong>in</strong> die deutschen Sprache am<br />
478<br />
ehesten mit dem Term<strong>in</strong>us ”Versorgung” übersetzt werden (Pleschberger & Heimerl 2005). Im folgenden Beitrag werden<br />
die beiden Begriff e Palliativversorgung und Palliative Care synonym verwendet. Palliativpfl ege und Palliativmediz<strong>in</strong><br />
s<strong>in</strong>d Teildiszipl<strong>in</strong>en, deren Vertreter sich unter dem ”umfassenden Dach” Palliative Care versammeln, genauso wie z. B.<br />
freiwillige Helfer/<strong>in</strong>nen im Rahmen der Hospizbewegung (vgl. Heller 2000a).
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
ist, solche zu realisieren: Die Hospizbewegung war <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> lange Zeit <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>e<br />
„Bildungsbewegung“ (Andreas Heller, pers. Mitteilu ng). Nachdem im Herbst 19 89 das erste<br />
mobile Hospizteam unter Trägerschaft der Erzdiözese Wien se<strong>in</strong>e <strong>Arbeit</strong> aufnahm, wurde 1992<br />
das erste stationäre Angebot, das Hospiz St. Raphael im Krankenhaus zum Göttlichen Heiland,<br />
Wien, eröff net (ebenda). Neben dem breiten ehrenamtlichen Engagement <strong>in</strong> Hospizgruppen ist<br />
seit den neunziger Jahren schließlich e<strong>in</strong> sprunghafter Anstieg von verschiedenen stationären<br />
und ambulanten Angeboten zur Palliativversorgung zu verzeichnen. Seitens der Politik gibt es<br />
zudem im Zusammenhang mit dem Aufkeimen der so genannten „Sterbehilfedebatte“ e<strong>in</strong> klares<br />
Bekenntnis zum Ausbau der Hospizarbeit und Palliative Care (vgl. dazu die Beschluss des<br />
National rates vom 13.12.2001).<br />
20.3.2.1. SPEZIALISIERTE PALLIATIVVERSORGUNG<br />
In Ergänzung zu den länderweise entwickelten Plänen zur Umsetzung von Palliative Care und<br />
Hospizarbeit 8 wurde auf Bundesebene das Konzept der „Abgestuften Versorgung“ entwickelt<br />
(ÖBIG 2004). Es sieht vor, dass ausgehend von e<strong>in</strong>er palliativen Grundversorgung <strong>in</strong> den bestehenden<br />
E<strong>in</strong>richtungen des Gesundheits- und Sozialwesens, die palliative Betreuung abgestuft<br />
durch spezielle Versorgungsangebote erfolgen soll, die auf unterschiedliche Bedürfnislagen<br />
abgestimmt s<strong>in</strong>d (ebenda: 12, Abbildung 2).<br />
Abbildung 2: Bauste<strong>in</strong>e der abgestuften Hospiz- und Palliativversorgung<br />
Grundversorgung<br />
Hospiz- und Palliativbetreuung<br />
unterstützende Angebote<br />
betreuende<br />
Angebote<br />
Akutbereich Krankenhäuser Hospizteams Palliativkonsiliardienste<br />
Palliativstationen<br />
Langzeitbereich Alten- und<br />
Mobile Stationäre Hospize<br />
Pflegeheime<br />
Palliativteams<br />
Familienbereich, Niedergelassene<br />
Tageshospize<br />
Zuhause (Fach-ÄrztInnenschaft,<br />
mobile<br />
Dienste,<br />
Therapeut<strong>in</strong>nen,<br />
Therapeuten<br />
Quellen: Hospiz <strong>Österreich</strong>, ÖBIG<br />
8 Dies erfolgte <strong>in</strong> den Ländern Steiermark (Baumgartner & Narath 2002), Vorarlberg (Heimerl 2002), Niederösterreich<br />
(Amann et al. 2002), Oberösterreich (Metz et al. 2003), Burgenland (Wegleitner 2004).<br />
479
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
Die spezialisierte Palliativversorgung umfasst folgende Bauste<strong>in</strong>e (ÖBIG 2004: 12):<br />
Palliativstationen übernehmen die Versorgung <strong>in</strong> besonders komplexen Situationen, die durch<br />
andere E<strong>in</strong>richtungen und Dienste nicht bewältigt werden, u nd die du rch die Notwendigk eit<br />
von besonderer ärz tlicher Expertise gekennzeichnet s<strong>in</strong>d (ÖBIG). P alliativstationen s<strong>in</strong>d seit<br />
1999 Teil der Gesundheitssystemplanung, sie s<strong>in</strong>d an Ak utkrankenhäuser angegliedert, die<br />
F<strong>in</strong>anzierung erfolgt nach LKF-Punkten (Leis tungsorientierte Krankenanstaltenfi nanzierung) <strong>in</strong><br />
Pauschalen. Entlassungen s<strong>in</strong>d – anders als bei Hospizen – e<strong>in</strong> erk lärtes Ziel der Versorgung<br />
gemäß den Strukturqualitätskriterien (ÖBIG 2004).<br />
Stationäre Hospize übernehmen die st ationäre Versorgung, wenn die pfl egerische und psychosoziale<br />
Betreuung stärker <strong>in</strong> den Vordergrund tritt. Hospize s<strong>in</strong>d nom<strong>in</strong>ell dem Langz eitpfl<br />
egebereich zugeordnet. Die Krankenkassen leisten somit nur e<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>gfügigen Tagessatz<br />
<strong>für</strong> Medikamente, Verbände, etc., dies muss von den Trägern jeweils verhandelt werden. Die<br />
Kosten <strong>für</strong> den Aufenthalt und die Pfl ege müssten von den Betroff enen (Pfl egegeld, E<strong>in</strong>künfte,<br />
Vermögenswerte) selbst getragen werden. Ursprünglich wurden <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> alle stationären<br />
spezialisierten Angebote als Hospize bezeichnet. Die schwierige fi nanzielle Situation hat <strong>in</strong> der<br />
Vergangenheit dazu geführ t, dass sich e<strong>in</strong>zelne Hospize <strong>in</strong> die Trägerschaft von Krankenhäusern<br />
begeben haben (vgl. Heimerl & Pleschberger 2005), bzw. „Hospize“ formal zu „Palliativstationen“<br />
umgewandelt wurden. So erklärt sich, dass die Anzahl an Hos pizen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
derzeit massiv abnimmt (s.u.). Die Ausw irkungen dieser Prozesse auf die Versorgung <strong>in</strong> den<br />
E<strong>in</strong>richtungen selbst s<strong>in</strong>d noch off en.<br />
Tageshospize bieten j enen Entlastung während des Tages an, die n achts <strong>in</strong> ihrer g ewohnten<br />
Umgebung zuhause versorgt werden.<br />
Palliativkonsiliardienste bieten den anderen Dienstleistern spezielle fachliche Beratung. Bei<br />
letzteren wird ausgehend von e<strong>in</strong>er Palliativstation durch je e<strong>in</strong>e/n qualifi zierte/n Arzt/Ärzt<strong>in</strong><br />
und e<strong>in</strong>e diplomierte Pfl egefachkraft e<strong>in</strong> Team gebildet, das anderen Abteilungen konsiliarisch<br />
zur Verfügung steht.<br />
Mobile Palliativteams s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> ihrer Ausgestaltung wie bereits erwähnt, sehr heterogen, bieten <strong>in</strong><br />
der Regel Beratung <strong>für</strong> andere Dienstleister, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen auch Case Management sowie spezielle<br />
Leistungen bei Betroff enen und ihren Familien. E<strong>in</strong>ige davon arbeiten <strong>in</strong> enger Anb<strong>in</strong>dung<br />
an e<strong>in</strong> stationäres Hospiz oder e<strong>in</strong>e Palliativstation, andere wiederum wurden völlig unabhängig<br />
von e<strong>in</strong>er st ationären Struktur entwickelt (Heimerl & Pleschberger 2004). Konkrete Pläne zur<br />
fl ächendeckenden E<strong>in</strong>richtung von mobilen Palliativteams gibt es lediglich <strong>in</strong> Oberösterreich,<br />
Vorarlberg, dem Burgenland und der Steiermark. In letzterem Bundesland ist der Ausbau mit<br />
knapp sieben Teams am weitesten fortgeschritten.<br />
Hospizteams begleiten Palliativpatienten und ihre Angehörigen <strong>in</strong> allen Versorgungskontexten.<br />
Sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie von ehrenamtlich engagierten getragen und koord<strong>in</strong>iert, <strong>in</strong> wenigen Fäl-<br />
480
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
len gibt es auch hauptamtliche Koord<strong>in</strong>ator/<strong>in</strong>nen (vgl. Bitschnau 2001). Gemäß den Strukturqualitätskriterien<br />
umfasst das Aufgabenspektrum die psychosoziale Begleitung von Sterbenden<br />
und ihrer Angehörigen e<strong>in</strong>schließlich der Trauerbegleitung (ÖBIG 2004). Das große Ausmaß an<br />
Öff entlichkeitsarbeit und das enorme gesellschaftliche Engagement <strong>für</strong> das Thema Sterben und<br />
Tod wird dar<strong>in</strong> allerd<strong>in</strong>gs nicht erwähnt (s.o.). 9<br />
Da von den Patient/<strong>in</strong>nen ke<strong>in</strong>e Entgelte <strong>für</strong> die Leistungen der ambulanten Hospiz- oder Palliativdienste<br />
e<strong>in</strong>gehoben werden, s<strong>in</strong>d die Träger dieser Angebote <strong>in</strong> hohem Maße von Spenden<br />
und öff entlichen Zuwendungen abhängig. In E<strong>in</strong>zelfällen wurden von Palliativteams Verträge mit<br />
Kassen abgeschlossen, um beispielsweise ärztliche Mitarbeit oder Notdienste abrechenbar zu<br />
machen (ebenda). Generell gestaltet sich die Frage der F<strong>in</strong>anzierung häuslicher Palliativpfl ege<br />
schwierig, da dieser Bereich fragmentiert und <strong>in</strong> dieses Feld im Vergleich zur stationären Versorgung<br />
<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> traditionsgemäß relativ wenig Mittel fl ießen.<br />
Alle diese B auste<strong>in</strong>e werden du rch die Defi nition des Angebotes, die j eweilige Zielgruppe,<br />
Auftrag und Zielrichtung des Angebotes sowie Zugangskriterien be schrieben. In der Regel wird<br />
von „Palliativpatient/<strong>in</strong>nen“ gesprochen, wobei u nklar bleibt, wonach dies <strong>in</strong> der j eweiligen<br />
Situation tatsächlich e<strong>in</strong>geschätzt wird. Zwar ist die Bedeutung und Relevanz dieser Angebote<br />
<strong>für</strong> alte und hochbetagte Menschen daraus nicht direkt ableitbar, sie werden konzeptionell<br />
jedoch <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise ausgeschlossen. Daher ersche<strong>in</strong>t es s<strong>in</strong>nvoll, den Stand des Ausbaus<br />
dieser spezialisierten Strukturen mit Blick auf ihre potenzielle Relevanz <strong>für</strong> hochbetagte Menschen<br />
näher darzustellen.<br />
20.3.2.2. SPEZIALISIERTE PALLIATIVVERSORGUNG IN ZAHLEN<br />
E<strong>in</strong>e Übersicht über den aktuellen Stand an Angeboten zur Hospiz- und Palliativversorgung <strong>in</strong><br />
<strong>Österreich</strong> bietet die Tabelle 4.<br />
9 beispielhaft sei etwa die Situation <strong>in</strong> der Steiermark genannt, wo im Jahr 2005 <strong>in</strong>sgesamt 24 Hospizteams mit über 530<br />
ehrenamtlichen Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen tätig waren. Sie erbrachten knapp 50.000 Begleitstunden, organisierten unter Anderem<br />
über 90 Vorträge <strong>in</strong> steirischen Bezirken zur Hospizidee u.v.m.. (Hospiz Vere<strong>in</strong> Steiermark 2006).<br />
481
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
482<br />
Tabelle 4: Angebote der Hospiz- und Palliative<strong>in</strong>richtungen nach Bundesländern<br />
(Stand 31.12.2005)<br />
Ö B K NÖ OÖ S St T V W<br />
Hospizteams 110 8 9 25 17 8 24 12 6 1<br />
Palliativkonsiliardienste 21 0 2 4 6 1 7 0 0 1<br />
Mobile Palliativteams 21 0 1 6 2 3 5 1 0 3<br />
Palliativstationen 20 1 2 2 4 2 3 1 1 4<br />
Stationäre Hospize* 6 0 0 3 1 1 1 0 0 0<br />
Tageshospize 2 0 0 0 0 1 0 0 0 1<br />
* e<strong>in</strong>schließlich Hospizstationen <strong>in</strong> Pflegeheimen<br />
Quelle: Hospiz <strong>Österreich</strong> 2006<br />
Mit e<strong>in</strong>er Angabe über die Anz ahl der Angebote ist freilich noch wenig d arüber ausgesagt, <strong>in</strong><br />
welchem Ausmaß der Versorgungsbedarf damit abgedeckt wird. Abgesehen von Palliativstationen<br />
oder Konsiliarteams, die im Rahmen der st ationären Akutversorgung angesiedelt und<br />
h<strong>in</strong>sichtlich ihrer Größe defi niert s<strong>in</strong>d, s<strong>in</strong>d die verschiedenen Angebote äußerst heterogen<br />
(Heimerl & Pleschberger 2004).<br />
H<strong>in</strong>sichtlich der In anspruchnahme der Leistungen ist relativ wenig bek annt. 10 Seitens des<br />
Dachverbandes Hospiz wird seit geraumer Zeit e<strong>in</strong>e systematische Datensammlung unter den<br />
Mitgliedern, das s<strong>in</strong>d nahezu alle Hospiz- und Palliative<strong>in</strong>richtungen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>, betrieben<br />
und erste Auswertungen liegen vor (Hospiz <strong>Österreich</strong> 2006a).<br />
Gemäß dem vorliegenden Auswer tungsstand der Datens ammlung durch den Dachv erband<br />
Hospiz <strong>Österreich</strong> (2006a) stellen onkologische Erkrankungen die dom<strong>in</strong>ierende Diagnose bei<br />
den Nutzer/<strong>in</strong>nen von Angeboten spezialisierter Palliativversorgung dar. Dies entspricht den<br />
<strong>in</strong>ternationalen Gegebenheiten und ist auf die historische Entwicklung der Hospizidee zurückzuführen<br />
(vgl. Pleschberger 2002b). Es fällt jedoch auf, dass der Bereich „sonstige Erkrankungen“<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Angebotsformen durchaus e<strong>in</strong>e Rolle spielt: Bei den mobilen Palliativteams s<strong>in</strong>d<br />
es 16% der Nutzer/<strong>in</strong>nen, die ke<strong>in</strong>e onkologische Erkrankung aufweisen, unter den erfassten<br />
Hospizt eams 44% (Hospiz <strong>Österreich</strong> 2006a; Erfassungsgrad: 34% bei Hospizteams, 76% bei<br />
Mobilen Palliativteams) 11 . Es dürfte sich dabei um Menschen mit neurologischen Erkrankungen,<br />
AIDS sowie auch hochbetagte demenziell veränderte Menschen handeln sowie um Menschen,<br />
wo die „soziale Indikation“ als Ursache <strong>für</strong> die Betreuung im Vordergrund steht. Führt man sich<br />
10 Zwar geben Jahresberichte der e<strong>in</strong>zelnen Dienste über die Leistungen partiell Auskunft, allerd<strong>in</strong>gs werden dabei unter-<br />
schiedliche Kriterien angeführt, e<strong>in</strong>e kumulative Auswertung dieser „grauen Literatur“ gibt es nicht.<br />
11 Anmerkung: Es handelt sich hierbei nicht um anonyme Erhebungen und e<strong>in</strong>ige Anbieter ziehen es vor, ihre Leistungsda-<br />
ten diesem Datenpool nicht zur Verfügung stellen.
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
die ger<strong>in</strong>gen Fallzahlen ersterer beider Gruppen vor Augen kann daraus geschlossen werden,<br />
dass die Hospizteams mit ihren freiwilligen Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>en durchaus nennenswerten<br />
Beitrag zur Begleitung alter und hochbetagter Menschen am Lebensende leisten. Es wäre wünschenswert,<br />
dem auf Basis e<strong>in</strong>er besseren Date nlage etwa durch systematische Erhebungen<br />
nachzugehen.<br />
In Bezug auf die betreuten Altersgruppen liegen nur Durchschnittswerte vor, die wenig aussagekräftig<br />
s<strong>in</strong>d, weil manche der Dienste auch K<strong>in</strong>der betreuen, andere wiederum ihren Schwerpunkt<br />
<strong>in</strong> Pfl egeheimen haben. Beispielsweise war im Jahr 2004 die älteste Patient<strong>in</strong>, die vom<br />
Mobilen Palliativteam <strong>in</strong> L<strong>in</strong>z betreut wurde, 101 Jahre alt, der jü ngste h<strong>in</strong>gegen erst 10 Tage<br />
(Pribil 2005). E<strong>in</strong>en überraschenden Befund liefert h<strong>in</strong>gegen e<strong>in</strong>e Befragung unter Trägern von<br />
Hospiz-/Palliativangeboten Niederösterreichs (n=15), wonach 80% der Betreuten älter als 59<br />
Jahre s<strong>in</strong>d (Amann et al. 2002). Unter den <strong>in</strong>sgesamt 170 Betreuten waren sogar 69 Personen<br />
älter als 80 Jahre (ebenda). Das Ergebnis lässt sich jedoch nicht nur über die Beteiligung von<br />
Angeboten <strong>in</strong> Pfl egeheimen erklären, hier bedarf es weiterer Forschung.<br />
20.3.2.3. PALLIATIVE CARE IN DER GRUNDVERSORGUNG<br />
Obwohl bereits sehr früh der Anspruch formuliert wurde, Palliative Care und Hospizarbeit „<strong>für</strong><br />
alle die es brauchen“ bereitzustellen (Bischof et al. 2002), ist die politische Aufmerksamkeit<br />
<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> vorrangig auf die genannten spezialisierten Versorgungsangebote gerichtet. Sie<br />
s<strong>in</strong>d jedoch zentral, wenn es um das Sterben alter u nd hochbetagter Menschen g eht (siehe<br />
Sterbeorte).<br />
Gegenwärtig wird die Umsetzung von Palliative Care <strong>in</strong> Krankenhäusern und Kl<strong>in</strong>iken <strong>in</strong> erster<br />
L<strong>in</strong>ie durch die Errichtung von Palliative<strong>in</strong>heiten und -stationen bzw. mit der E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>es<br />
palliativmediz<strong>in</strong>ischen Konsiliardienstes angeregt. Deshalb kommt der Verknüpfung der Stationen<br />
mit dem sonstigen Krankenhausbetrieb e<strong>in</strong>e herausragende Bedeutung zu (Heimerl et al.<br />
2001). Aus Modellprojekten, wo die E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>er Palliativstation aus der Perspektive der<br />
Organisationsentwicklung begleitet wurde, kann gelernt werden, dass durch die E<strong>in</strong>richtung der<br />
Palliativstation Sterben ganz anders und neu thematisierbar ist, weil auch andere Kommunikationsformen<br />
und -muster möglich werden (Retschitzegger 2001). Dennoch muss gegenwärtig davon<br />
ausgegangen werden, dass die Situation sterbender hochaltriger Menschen <strong>in</strong> Krankenhäusern<br />
und Kl<strong>in</strong>iken zugunsten von Menschen mit onkologischen und neurologischen Erkrankungen<br />
noch deutlich im H<strong>in</strong>tergrund steht.<br />
Die Vertreter/<strong>in</strong>nen der häuslichen Grundversorgung nehmen Palliative Care erst zögerlich auf.<br />
E<strong>in</strong> laufendes Modellprojekt des <strong>Österreich</strong>ischen Roten Kreuzes „Gut versorgt bis zuletzt“ lotet<br />
gegenwärtig das Potenzial und die Erfordernisse <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Implementierung von Palliative Care<br />
im Rahmen der Hauskrankenpfl ege aus. Befunde aus e<strong>in</strong>er Befragung bei Angehörigen weisen<br />
auf das erhöhte Risiko von wiederholten Krankenhause<strong>in</strong>weisungen, sog. Drehtüreff ekten h<strong>in</strong>,<br />
welche <strong>für</strong> alle Beteiligten mit erheblichen Belastungen e<strong>in</strong>hergehen (Wegleitner et al. 2006).<br />
483
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
Das Sterben zuhause ist besonders gefährdet, wenn hochbetagte Menschen alle<strong>in</strong>e leben, und<br />
es ke<strong>in</strong>e Ansprechpersonen gibt, die rund um die Uhr erreichbar s<strong>in</strong>d (ebenda).<br />
Die Aufnahme hospizlicher Leistungen <strong>in</strong> da s Angebot e<strong>in</strong>es Pfl egeheimes bietet e<strong>in</strong>e gute<br />
Möglichkeit, dass Bewohner<strong>in</strong>nen und Bewohner <strong>in</strong> der letzten Phase des Lebens die erforderliche<br />
psychosoziale Begleitung erfahren können und e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong>s Krankenhaus <strong>für</strong> die<br />
letzten Tage des Lebens vermieden werden kann (Heller et al. 2007). Dazu bedarf es vielfältiger<br />
Maßnahmen, es ist evident, dass weder s<strong>in</strong>guläre Qualifi zierungsmaßnahmen bei Mitarbeiter/<br />
<strong>in</strong>nen noch das H<strong>in</strong>zuziehen e<strong>in</strong>es ambulanten Hospizvere<strong>in</strong>s, diesen Anforderungen zufrieden<br />
stellend Rechnung trägt (Heimerl et al. 2005). Vielmehr ist es wichtig, dass die E<strong>in</strong>richtungen<br />
selbst ihren Umgang mit Sterben und Tod, die dazugehörenden Regeln und Rout<strong>in</strong>en h<strong>in</strong>terfragen<br />
und sie <strong>in</strong> Modellprojekten weiterentwickeln.<br />
Man kann davon ausgehen, dass sich <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> nahezu alle größeren Träger von stationären<br />
Altenpfl egee<strong>in</strong>richtung <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Weise mit Palliative Care ause<strong>in</strong>ander setzen (Heller<br />
et al. 2007), <strong>in</strong> nur wenigen Fällen erfolgt dies systematisch. Pionierleistungen gibt es dazu <strong>in</strong><br />
<strong>Österreich</strong> im Geriatriezentrum am Wienerwald. Bereits Mitte der neunziger Jahre wurde dort e<strong>in</strong><br />
stationäres Hospiz 12 eröff net (Werni 2001), aufgenommen werden Patient/<strong>in</strong>nen, die an e<strong>in</strong>er<br />
nicht heilbaren progredienten Tumorerkrankung oder an e<strong>in</strong>er anderen weit fortgeschrittenen<br />
term<strong>in</strong>alen Erkrankung leiden (ausgenommen Demenz). Ergänzend dazu wurde im Jahr 2000<br />
e<strong>in</strong>e mediz<strong>in</strong>ischen Station am GZW als „Palliative Geriatrie“ eröff net, hier erfolgt e<strong>in</strong>e konsequente<br />
Anwendung der Pr<strong>in</strong>zipien von Palliative Care auf die Versorgung von Menschen mit<br />
demenziellen Veränderungen (Kojer 2002). In diesen beiden Initiativen wird ersichtlich, dass<br />
es auch <strong>in</strong> der Ausrichtung von Palliative Care <strong>für</strong> hochbetagte Menschen e<strong>in</strong>e konzeptionelle<br />
Ausdiff erenzierung resultierend aus unterschiedlichen Bedarfslagen braucht. Erwähnenswert<br />
s<strong>in</strong>d weiters das Projekt „Palliative Care im Pfl egeheim“, das von 2004 bis 2005 <strong>in</strong> Vorarlberg<br />
unter E<strong>in</strong>beziehung von 6 Model lpfl egeheimen und breiter Trägerschaft durchgeführt wurde<br />
(Bitschnau 2006), e<strong>in</strong>e Fortsetzung ist geplant. Projekte und Aktivitäten gab es auch <strong>in</strong> anderen<br />
E<strong>in</strong>richtungen, z. B. <strong>in</strong> Heimen der Caritas der Erzdiözese Wien, des Kuratoriums Wiener Pensionistenhäuser<br />
sowie Haus der Barmherzigkeit (Reit<strong>in</strong>ger et al. 2007).<br />
Zusammenfassend wird deutlich, dass die entstehenden spezialisierten Versorgungsstrukturen<br />
im Bereich P alliative Care sowie die ehrenamtliche Hospizarbeit e<strong>in</strong>en wichtigen Beitrag<br />
h<strong>in</strong>sichtlich e<strong>in</strong>er verbesserten Versorgung aller Menschen am Lebensende leisten. Mit Blick<br />
auf die Zielgruppe hochbetagter sterbender Menschen, die häufi g auch demenziell verändert<br />
s<strong>in</strong>d, sche<strong>in</strong>en die <strong>in</strong> den Konzepten <strong>in</strong>newohnenden Ressourcen allerd<strong>in</strong>gs noch lange nicht<br />
ausgeschöpft.<br />
12 mittlerweile als Palliativstation geführt<br />
484
20.3.3. Qualifi zierung im Bereich Palliative Care<br />
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
Wenn die Umsetzung von Palliative Care <strong>in</strong> der Versorgung gel<strong>in</strong>gen soll, ist e<strong>in</strong>e entsprechende<br />
Qualifi zierung der Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong> zentraler Bauste<strong>in</strong>. Um diese zu verbessern, wurden <strong>in</strong><br />
den letzten Jahren im Kontext der Hospizarbeit enorme Anstrengungen unternommen, wie e<strong>in</strong><br />
Blick <strong>in</strong> das aktuelle Verzeichnis der verfügbaren Fort- und Weiterbildungsangebote zeigt (Hospiz<br />
<strong>Österreich</strong> 2006b). Auch <strong>in</strong> die grundlegenden Ausbildungen der Gesundheitsberufe haben<br />
Palliative-Care-relevante Inhalte E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> die Curricula gefunden. Sie sollen im Folgenden auf<br />
ihre Relevanz <strong>für</strong> die Versorgung hochbetagter Menschen betrachtet werden.<br />
20.3.3.1. BEDARF UND QUALIFIZIERUNGSGRAD<br />
Über den Qualifi zierungsbedarf h<strong>in</strong>sichtlich der adäquaten Versorgung sterbender hochbetagter<br />
Menschen liegen aus <strong>Österreich</strong> ke<strong>in</strong>e empirischen Daten vor. An dieser Stelle sollen daher<br />
kursorisch e<strong>in</strong>schlägige Erhebungen herangezogen werden.<br />
E<strong>in</strong>e steiermarkweite Fragebogenerhebung zu Kompetenz und Bildungsbedarf bei Allgeme<strong>in</strong>mediz<strong>in</strong>er/<strong>in</strong>nen<br />
und Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen der Hauskrankenpfl ege fokussierte <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie auf<br />
den Bereich Palliative Care, ohne dabei konkret auf alte Menschen e<strong>in</strong>zugehen (Baumgartner &<br />
Gigl 2001). Dennoch sche<strong>in</strong>t es gerade <strong>für</strong> die Versorgung sterbender hochbetagter Menschen<br />
von Interesse, dass sich Pfl egehelfer/<strong>in</strong>nen durch ihre Berufs ausbildung im Vergleich zu Ärzt/<br />
<strong>in</strong>nen und DGKP bes ser auf die Bet reuung von Schwerkranken und Sterbenden vorbereitet<br />
fühlten (ebenda). ÄrztInnen, vor allem dann, wenn sie schon lange im Beruf stehen, schreiben<br />
ihrer eigenen Berufsgruppe e<strong>in</strong>e besonders hohe Kompetenz und niedrigen Bildungsbedarf zu,<br />
obwohl sie sich generell durch ihre Berufsausbildung <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gerem Maße auf den Umgang mit<br />
Schwerkranken und Sterbenden vorbereitet fühlen. Sie absolvieren auch <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gerem Umfang<br />
Fort- und Weiterbildungen zu relevanten Themen als die Gruppe der Pfl egenden. Palliative Care<br />
sche<strong>in</strong>t hier von Ärzt/<strong>in</strong>nen stärker im Bereich des Erfahrungswissens angesiedelt zu se<strong>in</strong> (ebenda).<br />
Über alle Berufsgruppen h<strong>in</strong>weg wurde die schmerztherapeutische Kompetenz der jeweils<br />
eigenen Berufsgruppe beispielsweise bei 52,3% aller Antworten mit „eher unzureichend“ oder<br />
„unzureichend“ angegeben, noch niedriger wurde die Kompetenz <strong>in</strong> psychosozialer Begleitung<br />
angegeben sowie die Kompetenz <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf die Verarbeitung von Belastungen (ebenda).<br />
E<strong>in</strong>e Befragung unter Lehrkräften <strong>für</strong> Gesundheits- und Krankenpfl ege 2005 (n=2 12) zur E<strong>in</strong>schätzung<br />
der persön lichen Fachqualifi kation gibt H<strong>in</strong>weise auf Ressourcen im Bereich der<br />
Pfl egeaus bildung. Sie zeigte, dass sich <strong>für</strong> das Fach „Palliativpfl ege“ knapp 30% nicht adäquat<br />
ausgebildet fühlten (ÖBIG 2006: 91). Dennoch führten von den befragten Lehrkräften 81,1% den<br />
Unterricht <strong>in</strong> P alliativpfl ege ohne externe Unterst ützung/ Expertise durch. Interessanterweise<br />
schätzen 62,3% der Befragten die Ausbildungs<strong>in</strong>halte Palliativpfl ege im Vergleich zu anderen<br />
Fächern <strong>in</strong> der Gru ndausbildung als „derzeit ausreichend“ e<strong>in</strong>, 14,7% s <strong>in</strong>d der Me<strong>in</strong>u ng, es<br />
müsste vermehrt <strong>in</strong> der Gru ndausbildung angeboten werden, die restlichen 2 3,1% verteilen<br />
sich auf andere Durchführungsrahmen (z. B. Weiterbildung, Sonderausbildung oder Hochschu-<br />
485
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
len). Damit stellen die Lehrkräfte der gegenwärtigen Positionierung des Faches Palliativpfl ege<br />
durch das aktuelle Curriculum e<strong>in</strong> vergleichsweise gutes Zeug nis aus. Angesichts der jungen<br />
Entwicklung von Palliative Care ersche<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e verstärkte Qualifi zierung der Lehrkräfte selbst,<br />
vor allem aber k onkrete Anreize <strong>für</strong> Kooperationen mit spezialisierten Pfl ege kräften aus der<br />
Praxis, jedenfalls angezeigt.<br />
20.3.3.2. SPEZIALISIERTE FORT- UND WEITERBILDUNGSANGEBOTE<br />
Die Entwicklung der Hospizbewegung und das Entstehen von Palliative Care vollzog sich <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
maßgeblich über Initiativen zur Fort- und Weiterbildung (Höfl er 2001). So s<strong>in</strong>d zahlreiche<br />
spezialisierte Fort- und Weiterbildungsangebote Palliative Care entstanden, neben e<strong>in</strong>igen Entwicklungen<br />
im Bereich der Grundausbildungen der Gesundheitsberufe. In letzterem Fall ist der<br />
Status Quo deutlich unzureichend. Mit Blick auf das Sterben hochbetagter Men schen kommen<br />
hier die rückständige Akademisierung der Pfl egeberufe sowie die zögerliche Etablierung von<br />
entsprechenden Lehrstühlen im Bereich Palliative Care bis h<strong>in</strong> zum gänzlichen Fehlen solcher<br />
<strong>in</strong> Gerontologie oder Geriatrie zum Tragen.<br />
Mit dem „<strong>Österreich</strong>ischen Palliativlehrgang“, entwickelt vom Institut <strong>für</strong> Forschung und Fortbildung<br />
(IFF) 13 <strong>in</strong> Kooperation mit der Kard<strong>in</strong>al-König-Akademie, wurde 1998 e<strong>in</strong>e Tradition <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärer<br />
Basislehrgänge gegründet. Sie wird bis heute <strong>in</strong> Anlehnung an dieses Curriculum<br />
fortgeführt. Interdiszipl<strong>in</strong>äre Basislehrgänge werden <strong>in</strong> Wien (IFF und Kard<strong>in</strong>al König Haus),<br />
Batschuns, Innsbruck, St. Pölten, Salzburg und L<strong>in</strong>z angeboten. Sie umfassen zumeist 4x4 Tage<br />
Weiterbildung sowie e<strong>in</strong> Praktikum <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er spezialisierten Palliative-Care-E<strong>in</strong>richtung.<br />
Darauf aufbauend werden <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äre Studienprogramme an der Un iversität Klagenfurt,<br />
IFF Wien, mit dem Ziel der Erreichung des akademischen Grades MAS Palliative Care angeboten<br />
(Heller & Metz 2000). In diesem L ehrgang s<strong>in</strong>d dezidiert auch Module fü r Palliative Geriatrie<br />
vorgesehen. E<strong>in</strong>en <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Lehrgang universitären Charakters gibt es des Weiteren <strong>in</strong><br />
St. Pölten. In Salzburg kann an der Paracelsus Universität seit kurzem ebenfalls e<strong>in</strong> Masterstudium<br />
absolviert werden, allerd<strong>in</strong>gs ist hier<strong>für</strong> e<strong>in</strong> längerer fachspezifi scher monodiszipl<strong>in</strong>ärer<br />
Studienabschnitt vorgesehen.<br />
Monoprofessionelle (Aufbau-)Lehrgänge werden <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> derz eit <strong>für</strong> die Pfl ege <strong>in</strong> Wien<br />
und Niederösterreich, <strong>für</strong> Ärzt/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> Wien, Salzburg und Oberösterreich von verschiedenen<br />
Trägern angeboten. Noch jung s<strong>in</strong>d die Angebote speziell <strong>für</strong> psychosoziale Berufsgruppen <strong>in</strong><br />
Salzburg und Wien (hier als Spiritual Care ebenfalls <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>är angelegt).<br />
13 Heute: Fakultät <strong>für</strong> Interdiszipl<strong>in</strong>äre Forschung und Fortbildung der Universität Klagenfurt<br />
486
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
Gute Tradition s<strong>in</strong>d seit den Anfängen der Hospizbewegung schließlich die Kurse <strong>für</strong> Lebens-,<br />
Sterbe- und Trauerbegleitung, die <strong>in</strong> fast allen Bundesländern <strong>Österreich</strong>s angeboten werden.<br />
Sie s<strong>in</strong>d nicht professionell ausgerichtet sondern verstehen sich als E<strong>in</strong>führung <strong>für</strong> ehrenamtliche<br />
Hospizhelfer/<strong>in</strong>nen im Ausmaß von etwa 70 Stunden und e<strong>in</strong>em Praktikum.<br />
Alle diese spezialisierten Fort- und Weiterbildungsangebote wären sorgfältig auf ihren Gehalt<br />
h<strong>in</strong>sichtlich des Themas alte und hochbetagte Menschen zu überprüfen.<br />
Erwähnenswert ersche<strong>in</strong>t vor diesem H<strong>in</strong>tergrund noch das Fortbildungsangebot „Spezialdiplom<br />
Geriatrie“ der <strong>Österreich</strong>ischen Ärztekammer. Hier wurden 60 Stunden Palliative Care so<br />
<strong>in</strong> den Lehrgang <strong>in</strong>tegriert, dass geme<strong>in</strong>sam damit auch das Spezialdiplom „Palliativmediz<strong>in</strong>“<br />
erworben werden kann. Dies ist e<strong>in</strong> wegweisender Ansatzpunkt, die Inhalte von Palliative Care<br />
und Geriatrie aufe<strong>in</strong>ander zu beziehen (www.arztakademie.at).<br />
Die Veranstaltungsreihe „Forum Palliative Praxis Geriatrie“ ist seit 2006 als Kooperationsprojekt<br />
verschiedener Träger an der K ard<strong>in</strong>al-König-Akademie Wien angesiedelt und wird aus Mitteln<br />
der Alfred Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung (D) gefördert. Sie ist beispielhaft <strong>für</strong> die erst<br />
jüngst entstandene Aufmerksamkeit auf e<strong>in</strong>en Know-How-Transfer zwischen Palliative Care und<br />
Geriatrie.<br />
20.3.4. Ausgewählte legislative Aspekte des Sterbens<br />
Die Voraussetzungen <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e würdevolle Begleitung und Versorgung am Lebensende werden<br />
maßgeblich auch von den sozial- und leistungsrechtlichen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen mitbestimmt.<br />
Mit E<strong>in</strong>führung des Pfl egegeldes <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> wurde e<strong>in</strong> Meilenste<strong>in</strong> <strong>für</strong> die F<strong>in</strong>anzierung von<br />
Pfl egeleistungen gelegt. Allerd<strong>in</strong>gs bedarf es <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e angemessen Unterstützung <strong>in</strong> der letzten<br />
Lebensphase ergänzender Maßnah men. In diesem Abschnitt werden auch noch weitere legislative<br />
Aspekte welche die Situation hochbetagter Menschen am Lebensende betreff en angeführt<br />
wie etwa die Familienhospizkarenz sowie Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht. 14<br />
20.3.4.1. PFLEGEGELD AM LEBENSENDE<br />
Die Problematik, dass gerade am Lebens ende die Aufwendungen <strong>für</strong> Pfl ege häufi g massiv ansteigen,<br />
die Verfahren zur Erhöhung des Pfl egegeldes zumeist aber e<strong>in</strong>ige Wochen bis Monate<br />
<strong>in</strong> Anspruch nehmen, wurde im Rahmen e<strong>in</strong>es Pfl egegeldvorschusses im Zusammenhang mit<br />
der Familienhospizkarenz aufgegriff en. Wenn e<strong>in</strong>e Familienhospizkarenz <strong>in</strong> Anspruch genommen<br />
wird und e<strong>in</strong> Verfahren auf Gewährung oder Erhöhung des Pfl egegeldes anhängig ist, s<strong>in</strong>d<br />
auf formlosen Antrag Vorschüsse auf das Pfl egegeld zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> Höhe der Pfl egestufe drei zu<br />
14 Für grundlegende Ausführungen zu diesen Themen sei auf Kap. 19 ( Ganner) verwiesen.<br />
487
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
gewähren. Dies muss <strong>in</strong>nerhalb von vier Wochen ausdrücklich beantragt werden. Erwähnenswert<br />
ist weiters, dass Personen, die e<strong>in</strong>e Familienhospizkarenz <strong>in</strong> Anspruch genommen haben,<br />
h<strong>in</strong>sichtlich des Bezuges bereits fälligen aber noch nicht ausbezahlten Pfl egegeldes und der<br />
Berechtigung zur Fortsetzung des Pfl egegeldverfahrens im Falle des Todes des pfl egebedürftigen<br />
Menschen im S<strong>in</strong>ne des § 19 BPGG bevorrangt s<strong>in</strong>d. Die betroff enen Menschen s<strong>in</strong>d über diese<br />
Maßnahmen <strong>in</strong> der Regel jedoch zu wenig <strong>in</strong>formiert, wie auch die Evaluierung zur Familienhospizkarenz<br />
gezeigt hat (Wagner 2005: 10). Andere Forschungsergebnisse zeigen, dass die Turbulenzen,<br />
die mit der Sterbephase e<strong>in</strong>es Angehörigen e<strong>in</strong>hergehen, die ökonomischen Aspekte<br />
der Pfl ege und Versorgung aus Sicht der Angehörigen <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund drängen (Wegleitner<br />
et al. 2006). Die Fo lge ist, dass Fr isten versäumt oder Maßnahmen unt erlassen werden. Hier<br />
bedarf es professioneller Unterstützung.<br />
Seit dem Jahr 2005 gibt es weiters die Möglichkeit e<strong>in</strong>es beschleunigten Verfahrens zur Gewährung<br />
bzw. Erhöhung des Pfl egegeldes <strong>für</strong> Personen, die von e<strong>in</strong>er Hospiz - oder P alliativorganisation<br />
betreut werden. Statt der bisher üblichen Begutachtung durch e<strong>in</strong>en Vertrauensarzt/<br />
ärzt<strong>in</strong> der PV A wird e<strong>in</strong> Beib latt, das von e<strong>in</strong>er sog. „Hospiz-/Palliativ-ÄrztIn“ unterzeichnet<br />
wird, als ausreichend anerkannt. Ausschlag gebend da<strong>für</strong> ist, dass e<strong>in</strong>e gelistete Hospiz- oder<br />
Palliativorganisation <strong>in</strong> die Betreuung <strong>in</strong>volviert ist. Das Ausmaß, <strong>in</strong>dem diese Maßnahme auch<br />
hochbetagten sterbenden Menschen bzw. ihren Angehörigen zugute kommt, hängt davon ab,<br />
wie sehr diese Menschen auch von Hospiz- oder Palliativorganisation betreut werden. Dies ist<br />
bei hochbetagten Menschen ohne e<strong>in</strong>e onkologische Diagnose gegenwärtig kaum der Fall.<br />
20.3.4.2. FAMILIENHOSPIZKARENZ<br />
Seit 1. Juli 2002 haben <strong>Arbeit</strong>nehmer/<strong>in</strong>nen nach §§ 14a, 14b und 15 <strong>Arbeit</strong>svertragsrechts-Anpassungsgesetz<br />
(AVRAG) die Möglichkeit, zur Begleitung sterbender Angehöriger oder schwersterkrankter<br />
K<strong>in</strong>der ihre <strong>Arbeit</strong>szeit zu ändern oder ihr <strong>Arbeit</strong>sverhältnis <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e gewisse Dauer<br />
karenzieren zu lassen. Diese sog. „F amilienhospizkarenz“ umfasst die Sterbebegleitung von<br />
nahen Angehörigen sowie die Begleitung von schwerstkranken K<strong>in</strong>dern. E<strong>in</strong>e Sterbebegleitung<br />
kann vorerst <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Zeitraum von maximal drei Monaten verlangt werden, e<strong>in</strong>e Verlängerung<br />
auf <strong>in</strong>sgesamt sechs Monate kann vorgenommen werden (BMWA 2006).<br />
Die Inanspruchnahme dieser Maßnahme lag <strong>in</strong> den ersten Jahren deutlich unter den Erwartungen:<br />
Im Jahr 2005 waren es 460 Personen (BMWA), nach wie vor generieren die drei Bundesländer OÖ,<br />
NÖ und Steiermark etwa 60% der Inanspruchnahme (Wagner 2005). Als Hemmfaktoren <strong>für</strong> die<br />
ger<strong>in</strong>ge Inanspruchnahme werden <strong>in</strong> den Ergebnissen der Evaluierung der Familienhospizkarenz<br />
(2002-2004) unter Anderem Informationsdefi zite angeführt, Vorbehalte aufgrund persönlicher<br />
Überforderung sowie die fehlende fi nanzielle Absicherung (Wagner 2005). „Kle<strong>in</strong>e Lösungen“,<br />
also Vere<strong>in</strong>barungen mit <strong>Arbeit</strong>geber/<strong>in</strong>nen, die ke<strong>in</strong>e direkten sozialversicherungsrechtlichen<br />
Auswirkungen haben, dür ften <strong>in</strong> der Pr axis ebenfalls e<strong>in</strong>e entscheidende Rolle spielen und<br />
bee<strong>in</strong>fl ussen so die Anzahl der „offi ziellen Familienhospizkarenznehmer/<strong>in</strong>nen“.<br />
488
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
Wiewohl sich e<strong>in</strong> erheblicher Anteil der Anträge auf die Pfl ege und Versorgung von schwerkranken<br />
K<strong>in</strong>dern bezieht, kommt die Familienhospizkarenz auch hochbetagten Menschen zugute.<br />
42% der Anträge <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Härteausgleich wurde <strong>für</strong> die Betreuung von Eltern bzw. Großeltern<br />
e<strong>in</strong>gereicht (BMSG). Die E valuierung führ t e<strong>in</strong>en Anteil von 56% an Betreuungen von Eltern<br />
bzw. Schwiegereltern an, so waren über e<strong>in</strong> Viertel derer, die betreut wurden, 81 Jahre und älter<br />
(Wagner 2005: 3). Die Zeit der Begleitung und Betreuung am Lebensende wird lt. Evaluierung als<br />
sehr belastend erlebt. Beispielsweise war die zeitlich ausgeprägte Betreuung und Begleitung<br />
<strong>für</strong> 60% der befragten Karenznehmer/<strong>in</strong>nen „ziemlich“ oder „sehr belastend“ (Wagner 2005: 7).<br />
Möglicherweise könnte e<strong>in</strong> Begleitungsangebot <strong>für</strong> die Angehörigen e<strong>in</strong>e Unterstützung bieten,<br />
dies könnte im Bereich Palliative Care und Hospizarbeit angesiedelt se<strong>in</strong>, oder Teil e<strong>in</strong>es erweiterten<br />
Profi ls der häuslichen Pfl egeangebote se<strong>in</strong>, wie sie etwa <strong>in</strong> Konzepten der Familienpfl ege<br />
enthalten s<strong>in</strong>d (WHO 2000, Wild 2006). Das Spannungsfeld zwischen s<strong>in</strong>nvoller Unterstützung,<br />
auch als Beitrag der Prävention <strong>für</strong> Angehörige, und e<strong>in</strong>er neuerlichen Medikalisierung und<br />
Therapeutisierung des Sterbens wäre hier im Rahmen zukünftiger Forschungsarbeiten dr<strong>in</strong>gend<br />
<strong>in</strong> den Blick zu nehmen (Pleschberger 2002).<br />
20.3.4.3 PATIENTENVERFÜGUNGSGESETZ UND VORSORGEVOLLMACHT<br />
Zu e<strong>in</strong>em Sterben <strong>in</strong> Würde gehört auch, Sterben zu dürfen (Pleschberger 2005), das heißt am<br />
Sterben nicht durch als unnötig erachtete Interventionen geh<strong>in</strong>dert zu werden. Dem Wunsch<br />
vieler Menschen, <strong>in</strong>sbesondere der jüngeren Generationen, auch möglichst selbst bestimmt zu<br />
sterben, wurde <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> erst jüngst im Rahmen e<strong>in</strong>es Gesetzes zu Patientenverfügungen<br />
aufgenommen (PatVG 2006). Das Gesetz unterscheidet zwischen beachtlichen und verb<strong>in</strong>dlichen<br />
Patientenverfügungen und bietet damit zwei Formen an, die von Ärzt/<strong>in</strong>nen als „ausdrücklich<br />
dokumentierter Wille e<strong>in</strong>es nicht mehr k ommunikationsfähigen Menschen be achtet werden<br />
müssen“ (ebenda).<br />
Für e<strong>in</strong>e verb<strong>in</strong>dliche Patientenverfügung müssen laut Gesetz die Kriterien h<strong>in</strong>sichtlich Inhalt (§<br />
4), Aufklärung (§ 5), Errichtung (§ 6) sowie Erneuerung (§ 7) erfüllt se<strong>in</strong> (BGBl Nr. 55/2006). So<br />
bedarf es zur Wirksamkeit u.A. e<strong>in</strong>er bestätigten ärztlichen Aufklärung und e<strong>in</strong>er Bestätigung<br />
durch e<strong>in</strong>e/n R echtsanwalt/anwält<strong>in</strong>, Notar/<strong>in</strong> oder e<strong>in</strong>em/r rechtsk undigen Mitarbeiter/<strong>in</strong><br />
der Patientenvertretungen. Die Errichtung e<strong>in</strong>er verb<strong>in</strong>dlichen Patientenverfügung geht <strong>für</strong> die<br />
Betroff enen mit e<strong>in</strong>em ge wissen Grad an Bürokr atisierung sowie fi nanziellen Kosten e<strong>in</strong>her,<br />
womit die Schwelle relativ hoch liegt.<br />
E<strong>in</strong>e beachtliche Patientenverfügung erfüllt zwar nicht alle Voraussetzung der §§ 4 bis 7 PatVG<br />
(„verb<strong>in</strong>dliche Patientenverfügung“), ist dennoch f ür die Ermittlung des Willens von Patient/<br />
<strong>in</strong>nen beachtlich. Letzteres umso mehr, je eher sie die Voraussetzung e<strong>in</strong>er verb<strong>in</strong>dlichen Patientenverfügung<br />
erfüllt, so der Gesetzestext (BGBl Nr. 55/2006).<br />
Wiewohl ebenfalls im Jahr 2006 du rch das Sachwalter-Änderungsgesetz eröff net, gerät die<br />
Option e<strong>in</strong>er Vorsorgevollmacht angesichts der öff entlichkeitswirksameren Patientenverfügung<br />
489
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
<strong>in</strong> der akt uellen Diskussion <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergru nd. Durch e<strong>in</strong>e Vorsorgevollmacht kann e<strong>in</strong>e/e<br />
Stellver treter/<strong>in</strong> bestimmt werden, die bei Wegfall der Geschäfts- bzw. E<strong>in</strong>willigungsfähigkeit <strong>für</strong><br />
die betroff ene Person entscheidet. Modell wie dieses, <strong>in</strong> denen auf wechselseitige Verantwortungsübernahme<br />
und soziale Beziehungen gesetzt wird, ersche<strong>in</strong>en auch gesellschaftspolitisch<br />
vielversprechend zu se<strong>in</strong> (Student 2006).<br />
Die Patientenverfügung mag als Instrument <strong>in</strong>dividualistischer Vorausbestimmung überzeugen,<br />
die Komplexität vieler Entscheidungs situationen am Lebensende vermag sie nur unzureichend<br />
abzubilden. Expert/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> kritisieren zudem, dass der den Patientenverfügungen<br />
zugrunde liegende gesellschaftspolitische Diskurs, wie es um das Vertrauen <strong>in</strong> die Mediz<strong>in</strong> und<br />
die Gesundheitse<strong>in</strong>richtungen bestellt ist sowie wer sich <strong>für</strong> Menschen e<strong>in</strong>setzt, wenn diese es<br />
selbst nicht mehr <strong>für</strong> sich tun können, nicht geführt wird (Bernat & Gaberc 2007). Dieses Diskussionsdefi<br />
zit geht eng e<strong>in</strong>her mit dem bestehenden Forschungsdefi zit – es ist viel zu wenig<br />
über den Umgang mit diesen Themen am Lebensende <strong>in</strong> der Versorgungspraxis bekannt.<br />
20.4. Ausblick<br />
Das Sterben ist dank der enormen F ortschritte <strong>in</strong> der Mediz<strong>in</strong> sowie den im historischen Vergleich<br />
hoch entwickelten hygienischen und sozialen gesellschaftlichen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />
weitgehend zu e<strong>in</strong>em Thema des hohen Alters geworden. Wie dieses läuft es damit auch Gefahr,<br />
von der öff entlichen Aufmerksamkeit ausgeblendet zu werden, schließlich vollzieht sich beides<br />
mit zunehmendem Lebensalter außerhalb des sozialen Nahraums <strong>in</strong> Institutionen.<br />
Nicht nur das hohe Alter, <strong>in</strong>sbesondere Pfl egebedürftigkeit etwa <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit e<strong>in</strong>er Demenz<br />
stellen e<strong>in</strong>e Bedrohung <strong>für</strong> die meisten Menschen der modernen Gesellschaft dar. E<strong>in</strong>drucksvoll<br />
zeigen die Diskussionen um Selbstbestimmung, Patientenverfügungen oder Sterbehilfe, dass<br />
Menschen heutzutage lieber sterben möchten als dauerhaft hilfe- und pfl egebedürftig zu se<strong>in</strong>.<br />
Letzteres jedenfalls sche<strong>in</strong>t dem Ideal e<strong>in</strong>es würdevollen Sterbens zu widersprechen (Pleschberger<br />
2005). Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, wie sehr gerade <strong>in</strong> solchen Situationen<br />
e<strong>in</strong>e Gesellschaft auf ihren humanen Charakter geprüft werden kann. Engagierte Pfl egepersonen<br />
und Ärzt/<strong>in</strong>nen, <strong>in</strong>sbesondere aber <strong>in</strong>nov ative Versorgungsansätze, beispielhaft seien hier<br />
etwa ambulante Wohngeme<strong>in</strong>schaften <strong>für</strong> Menschen mit Demenz genannt, vermögen auch bis<br />
<strong>in</strong>s Sterben h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Leben <strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>schaft sicherzustellen, und durch professionelles wie<br />
bürgerschaftliches Engagement das Pr<strong>in</strong>zip der geteilten Verantwortung (Klie 2006) zu leben. In<br />
<strong>Österreich</strong> werden solche Entwicklungen nur vere<strong>in</strong>zelt von Trägern aufgenommen, der Großteil<br />
der hochbetagten Menschen stirbt im Krankenhaus bzw. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Pfl egeheim.<br />
Da es an konkreten systematischen Maß nahmen und Initiativen zur Förderung der häuslichen<br />
Versorgung fehlt, der Sektor ambulanter sozialmediz<strong>in</strong>ischer Dienste steht <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> nach<br />
wie vor im Schatten des allgeme<strong>in</strong>en Gesundheitswesens und dessen stationären E<strong>in</strong>richtungen<br />
(Badelt & Leichsenr<strong>in</strong>g 2000), fi ndet als Folge der Umstrukturierungen <strong>in</strong> den Krankenhäusern<br />
490
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
e<strong>in</strong>e Auslagerung schwer pfl egebedürftiger und häufi g auch sterbender Menschen <strong>in</strong> die Pfl egeheime<br />
statt. Sie werden sukzessive zu Orten des Sterbens.<br />
Was aber heißt das <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf Sterben <strong>in</strong> Würde? An dieser Stelle sei nochmals auf das<br />
eklatante Wissens- und Forschungsdefi zit zur Situation von hochbetagten Menschen am Lebensende<br />
<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> h<strong>in</strong>gewiesen. Bislang liegen ke<strong>in</strong>e substanziellen Forschungsarbeiten über<br />
die letzte Lebensphase von alten und von hochbetagten Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> vor. Neben<br />
epidemiologisch aussagekräftigen Daten über die letzte Lebensphase und das Sterben bedarf<br />
es auch e<strong>in</strong>es vertiefenden E<strong>in</strong>blicks <strong>in</strong> den gesellschaftlichen, professionellen und organisationalen<br />
Umgang mit dem Sterben: Welche Bilder von würdevollem Sterben prägen die Versorgung<br />
und Begleitung? Welche Maßnahmen werden kurz vor dem Tod (noch) gesetzt, welche werden<br />
unterlassen? Wie wirkt sich das Fehlen bzw. das Vorhandense<strong>in</strong> von Angehörigen auf den Umgang<br />
mit Sterben aus? Wird das Sterben überhaupt als solches erkannt und anerkannt? Nur wenn es<br />
Antworten auf Fragen wie diese gibt, kann die beobachtete quantitative Entwicklung h<strong>in</strong>sichtlich<br />
der Orte des Sterbens auch <strong>in</strong> ihren unmittelbaren Auswirkungen <strong>für</strong> die betroff enen Menschen<br />
gedeutet werden, und e<strong>in</strong>e entsprechende Maßnahmen planung erfolgen.<br />
Fest steht schon e<strong>in</strong>es, d ass nämlich Institutionen per se Gef ahr laufen, die Int eressen und<br />
Bedürfnisse der ihnen anvertrauten Menschen zugunsten von Abläufen und Zielen der Organisation<br />
selbst h<strong>in</strong>tanzustellen (Dörner 2007). Aus der Sicht e<strong>in</strong>er bürger/<strong>in</strong>nen- und patient/<br />
<strong>in</strong>nenorientierten Gestaltung des Gesundheitswesens ist es daher höchst problematisch, dass<br />
der Anteil an Sterbefällen zuhause im Beobachtungszeitraum <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> sogar leicht zurückgegangen<br />
ist. Sowohl politischer Wille als auch e<strong>in</strong> breites Engagement der Bevölkerung s<strong>in</strong>d<br />
vonnöten, wenn das Sterben auch bei hochaltrigen Menschen zuhause ermöglicht werden soll.<br />
Die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen und Männern bis <strong>in</strong>s Alter h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> machen <strong>in</strong>novative<br />
Angebote wie die Familienhospizkarenz erforderlich. Als E<strong>in</strong>zelmaßnahmen greifen sie allerd<strong>in</strong>gs<br />
zu kurz. Gepaart mit e<strong>in</strong>em weiteren Ausbau formeller und <strong>in</strong>formeller Strukturen könnte sie<br />
dazu beitragen, die Pfl ege bis ans Lebensende zuhause auch bei bestehender Erwerbstätigkeit<br />
von Angehörigen zu er möglichen. Parallel dazu bedarf es wohl e<strong>in</strong>er umfassenden Investition <strong>in</strong><br />
den Bereich der stationären Altenhilfe, um diese <strong>in</strong> ihrer Rolle als Orte würdevollen Sterbens zu<br />
stärken. Auch hier<strong>für</strong> s<strong>in</strong>d die Hospizbewegung und Palliative Care da<strong>für</strong> als Ressourcen weiter<br />
zu entwickeln und auszubauen.<br />
491
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
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Pleschberger, Sab<strong>in</strong>e & Heimerl, Kathar<strong>in</strong>a (2005): Palliativpfl ege lehren und lernen. Die Pfl ege<br />
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Pleschberger, Kathar<strong>in</strong>a Heimerl & Monika Wild (Hg), Palliativpfl ege. Grundlagen <strong>für</strong> Praxis und<br />
Unterricht. 2. erw. Aufl ., Wien: Facultas: 15-29.<br />
Pribil, Ulrike (2005): Evaluierungsbericht. Mobiles Palliativteam mit Support- und Brückenfunktion.<br />
Unveröff entlichtes Manuskript. L<strong>in</strong>z.<br />
Pschyrembel, Kl<strong>in</strong>isches Wörterbuch. 56. Aufl ., Berl<strong>in</strong>: De Gruyter.<br />
Reit<strong>in</strong>ger, Elisabeth, Heimerl Kathar<strong>in</strong>a & Heller, Andreas (2004): Curriculum Spezialisierte Palliativpfl<br />
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Retschitzegger, Harald (2001): Von der Pionierphase <strong>in</strong> die tägliche <strong>Arbeit</strong>: Hospiz St. V<strong>in</strong>zenz -<br />
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Seale, Clive & Cartwright, Ann (1994): The Year before Death. London: Avebury.<br />
Stadt Wien (Hg) (1998): Wiener Seniorengesundheitsbericht 1997 (erstellt durch das Wiener<br />
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Sozialwissenschaftliche Dokumentation und Methodik.<br />
Statistik Austria (2005): Jahrbuch der Gesundheitsstatistik 2004. Wien: Verlag <strong>Österreich</strong> GmbH.<br />
Stefenelli, Norbert (Hg) (1988): Körper ohne Leben: Begegnung und Umgang mit Toten. Wien:<br />
Böhlau.<br />
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Tesch-Römer, Clemens (2000): Stichwort E<strong>in</strong>samkeit: In: Hans W. Wahl & Clemens Tesch-Römer<br />
(Hg), Angewandte Gerontologie <strong>in</strong> Schlüsselbegriff en. Stuttgart: Kohlhammer.<br />
498
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
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Wegleitner, Klaus, Heimerl, Kathar<strong>in</strong>a & Pleschberger, Sab<strong>in</strong>e (2006): Gut versorgt bis zuletzt.<br />
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IFF – Eigenverlag. Wien.<br />
Wegleitner, Klaus (2004): Integrierte Palliativversorgung im Burgenland „Hospizplan Burgenland“.<br />
Bedarfsanalyse und Qualitätsentwicklung <strong>in</strong> der Betreuung schwerkranker und sterbender<br />
Menschen. Projektbericht. IFF Wien.<br />
Werni, Michaela (2001): Hospiz im Geriatriezentrum am Wienerwald - vom Modellversuch zur<br />
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Aus Modellen der Hospiz- und Palliativbetreuung lernen. 79-92. Freiburg: Lambertus.<br />
Wettreck, Ra<strong>in</strong>er (1998): „Arzt se<strong>in</strong> – Mensch bleiben": E<strong>in</strong>e Qualitative Psychologie des Handelns<br />
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Wild, Monika (2006) Pfl ege (<strong>in</strong>) der Familie. Master Thesis e<strong>in</strong>gereicht an der Donau-Universität<br />
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Wilken<strong>in</strong>g, Kar<strong>in</strong> & Kunz, Roland (2003): Sterben im Pfl egeheim. Perspektiven und Praxis e<strong>in</strong>er<br />
neuen Abschiedskultur. Gött<strong>in</strong>gen: Vandenhoeck & Ruprecht.<br />
Zulehner, Paul (2001): Jedem se<strong>in</strong>en eig enen Tod. Für die Freiheit des Sterbens. Ostfi ldern:<br />
Schwabenverlag.<br />
499
LEBEN UND STERBEN IN WÜRDE. PALLIATIVE CARE UND HOSPIZARBEIT<br />
500
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
JOSEF HÖRL, FRANZ KOLLAND, GERHARD MAJCE<br />
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
Die nachfolgend dargestellten Empfehlungen und Forschungslücken zur Situation hochaltriger<br />
Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> sollen e<strong>in</strong>e Orientierung dah<strong>in</strong>gehend bieten, welche Veränderungen<br />
und Verbesserungen die Autor<strong>in</strong>nen und Autoren dieses Berichts im versorgungs- und sozialpolitischen<br />
und im gesetzlichen Handlungsfeld <strong>für</strong> besonders vordr<strong>in</strong>glich halten. E<strong>in</strong>e Grundvoraussetzung<br />
<strong>für</strong> e<strong>in</strong>e zielgerichtete Planung und Politik sehen alle Beiträge <strong>in</strong> der Schaff ung und<br />
Verbreiterung von Daten zur Lebenssituation von <strong>Hochaltrige</strong>n. Durchgehend wird festgestellt,<br />
dass es bisl ang an ausreichenden und validen Kenntnissen zu Lebenslagen, zu Gesundheit,<br />
Interessen und Wünschen <strong>Hochaltrige</strong>r fehlt. Zu entwickeln wäre dabei jedenfalls e<strong>in</strong>e multidiszipl<strong>in</strong>är<br />
ausgerichtete Hochaltrigkeitsforschung.<br />
Empfehlungen zu Kapitel 1:<br />
Demografi sche Entwicklung<br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
» Alter und Gesundheit: Prävention als Schlüsselfaktor zur Vermeidung/Verr<strong>in</strong>gerung<br />
der durch die demografi sche Entwicklung absehbaren Kostensteigerungen im Gesundheitswesen.<br />
» Alter und <strong>Arbeit</strong>swelt: Ältere <strong>Arbeit</strong>nehmer/<strong>in</strong>nen und das H<strong>in</strong>ausschieben des<br />
Pensionsantritts weit <strong>in</strong>s siebente Lebensjahrzehnt h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> werden <strong>in</strong> den nächsten<br />
Jahrzehnten e<strong>in</strong> zen trales Thema der <strong>Arbeit</strong>smarktpolitik werden. Ältere s<strong>in</strong>d nach<br />
herrschender betriebswirtschaftlicher Praxis teuer und wenig produktiv bzw. <strong>in</strong>novativ.<br />
Diese Position wird nicht haltbar se<strong>in</strong>. Es stellen sich vielfältige Fragen, von der<br />
<strong>in</strong>nerbetrieblichen Stellung, den automatischen Biennalsprüngen, der berufl ichen<br />
Weiterbildung bis h<strong>in</strong> zu den gesundheitsbed<strong>in</strong>gten Problemen der 60- und Mehrjährigen<br />
im Bereich der manuellen <strong>Arbeit</strong>.<br />
» Alter und Pfl ege: E<strong>in</strong>e deutliche Ver schärfung der Pfl egeproblematik ist <strong>für</strong> die Jahre<br />
nach 2030 absehbar, wenn die sog. „baby-boomer“ mit ihren „dünnen“ familialen<br />
Netzen (ger<strong>in</strong>ge K<strong>in</strong> derzahlen, häufi gere Lebensabschnittspartnerschaften) <strong>in</strong>s höhere<br />
Alter kommen. Die Politik kann hier die Rahmenbed<strong>in</strong>gungen <strong>für</strong> formelle Pfl ege<br />
entsprechend gestalten und klare Regeln da<strong>für</strong> kommunizieren. E<strong>in</strong>em „Tabuthema“<br />
wird man sich jedenfalls vor diesem H<strong>in</strong>tergrund stellen müssen, nämlich, ob fi nanzielle<br />
Transferzahlungen (Pfl egegeld) <strong>in</strong> allen Situationen die beste Lösung s<strong>in</strong>d. Damit<br />
wird fälschlich suggeriert, dass die Kosten von Pfl ege gedeckt wären. Ausreichende<br />
Sachleistungen wären <strong>für</strong> hochbetage, multimorbide Menschen <strong>in</strong> vielen Fällen wohl<br />
die bessere Lösung.<br />
501
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
Informations- und Forschungsdefi zit besteht <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
Empfehlungen zu Kapitel 2:<br />
Lebensformen und Wohnsituation der Hochbetagten <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
Informations- und Forschungsdefi zite bestehen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
502<br />
» Größte Defi zite im Bereich Alter und <strong>Arbeit</strong>swelt: Es wären Lösungsansätze zu suchen,<br />
wie die kommenden Generationen älterer <strong>Arbeit</strong>nehmer/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> die Praxis von (im<br />
globalen Wettbewerb stehenden) Betrieben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise <strong>in</strong>tegriert werden können,<br />
die auch Betroff enen akzeptiert werden können.<br />
» Förderungsmaßnahmen: Hier s<strong>in</strong>d Verbesserung vor allem bei Adaptierungs- bzw.<br />
präventiven Maßnahmen zu wünschen, wie auch e<strong>in</strong>e Intensivierung der Beratungstätigkeit<br />
über diese Förderungen. Die Anreize <strong>für</strong> präventive Maßnahmen (z. B. im<br />
steuerlichen Bereich) müssten gestärkt werden.<br />
» Sanierungsmaßnahmen: Betonung und Verbesserung der Beratung über Sanierungsmaßnahmen,<br />
wobei die Aktion des IFS <strong>in</strong> Vorarlberg – „Für menschengerechtes Bauen“<br />
– e<strong>in</strong> geeignetes Vorbild se<strong>in</strong> könnte.<br />
» Bauordnungen und ÖNORM: Es müsste die Vorschrift bezüglich e<strong>in</strong>er Barrierefreiheit<br />
auch <strong>in</strong>nerhalb der Wohnungen sowohl <strong>in</strong> die Bauordnungen wie auch <strong>in</strong> die Förderungsbestimmungen<br />
E<strong>in</strong>gang fi nden. Es gibt e<strong>in</strong>e Reihe von Widersprüchen zwischen<br />
der ÖNORM und den Anforderungen an seniorengerechtes Bauen, welche beseitigt<br />
werden sollten.<br />
» Verbesserung der Datenlage: Trotz erheblicher Forschungs anstrengungen ist die Datenlage<br />
zur Wohnsituation unbefriedigend; das gilt im Allgeme<strong>in</strong>en, und im Besonderen<br />
<strong>in</strong> Bezug auf Fragen der Wohnungsausstattung.<br />
» Betreutes Wohnen: Hier gibt es sowohl e<strong>in</strong>e lückenhafte Informationslage über Wohnungen,<br />
wie es auch an e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>heitlichen und <strong>für</strong> ganz <strong>Österreich</strong> gültigen Defi nition<br />
dieses Begriff es fehlt.
Empfehlungen zu Kapitel 3:<br />
Ökologie und Alter<br />
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
» Berücksichtigung der Bedürfnisse/Anforderungen der älteren Menschen <strong>in</strong> allen<br />
Fach- und Sektorpolitiken: Dies betriff t die Infrastruktur- und Verkehrspolitik, Wohnbau,<br />
Kultur, Bildung, Familien- und Generationenpolitik, Konsumenten, Sozial- und<br />
Gesundheits politik. Zu erhöhen ist die technische und soziale Barrierefreiheit sowie<br />
die Sicherheit <strong>in</strong> der Wohnumgebung und im öff entlichen Raum. Damit ältere Menschen<br />
ihre Bedürfnisse artikulieren können, braucht es e<strong>in</strong>e Verstärkung der politischen<br />
Interes sensvertretungen <strong>in</strong> den Geme<strong>in</strong>den (z.B. Seniorenbeiräte).<br />
» Entwicklung neuer Formen fl exibler Verkehrssystemen: Neben der Entwicklung neuer<br />
Formen <strong>für</strong> die kle<strong>in</strong>räumige Erschließung geht es auch um die Sicherung bestehender<br />
Systeme, wie z.B. Geme<strong>in</strong>debusse, Ruftaxis... zur Sicherstellung der Zugänglichkeit<br />
zu den Bereichen der Dase<strong>in</strong>svorsorge (Nahversorgung, Ärzte, Apotheken..).<br />
» Entwicklung und Intensivierung <strong>in</strong>terkommunaler Zusammenarbeit: Unter Bed<strong>in</strong>gungen<br />
ger<strong>in</strong>ger Budgetmittel auf kommunaler Ebene und ger<strong>in</strong>ger Bevölkerungsdichte<br />
wird im Bereich sozialer, mediz<strong>in</strong>ischer und kommunikativer Angebote e<strong>in</strong>e stärkere<br />
Zusammenarbeit empfohlen. Dies betriff t etwa betreute Tageszentren, Geme<strong>in</strong>wesenarbeit,<br />
Betreuungsdienste. Durch verstärkte Zusammenarbeit können <strong>in</strong>novative<br />
Lösungen zur Angebotsentwicklung im Bereich der sozialen Infrastruktur sowie der<br />
Mobilität gefunden und umgesetzt werden.<br />
Informations- und Forschungsdefi zit besteht <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
» Verstärkte Ause<strong>in</strong>andersetzung mit den Lebensumwelten hochaltrigen Menschen:<br />
Dazu braucht es entsprechende Forschungsgelder und die Entwicklung spezifi scher<br />
Forschungsprogramme. Diese Forschungsprogramme sollten sich mit den demografi<br />
schen Veränderungen ause<strong>in</strong>andersetzen und ihre Auswirkungen auf Wohnen,<br />
Mobilität und gesellschaftliche Beteiligung der älteren Menschen untersuchen. Zu<br />
<strong>in</strong>tensivieren wäre auch die Interdiszipl<strong>in</strong>arität im Bereich der Altersforschung. Die<br />
Bezugnahme auf die Lebensumwelten hochaltriger Menschen verlangt weiters die<br />
Entwicklung von partizipativen Modellen und verstärkte Berücksichtigung der älteren<br />
Menschen <strong>in</strong> Planungsprozessen.<br />
503
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
Empfehlungen zu Kapitel 4:<br />
Die ökonomische Situation der Hoch betagten <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong><br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
Informations- und Forschungsdefi zite bestehen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
504<br />
» Anhebung der Ausgleichszulage/M<strong>in</strong>destsicherung: Es wird vorgeschlagen, die Ausgleichzulage<br />
bzw. M<strong>in</strong>destsicherung deutlich über das armutsvermeidende Niveau<br />
anzuheben.<br />
» Aufgrund s<strong>in</strong>kender Antrittspensionen längerfristig auf Lohn<strong>in</strong>dexierung umsteigen:<br />
Mit steigender Lebenserwartung wird längerfristig die re<strong>in</strong>e Infl ationsabgeltung <strong>in</strong><br />
der Pensionsanpassung e<strong>in</strong> Problem darstellen vor allem <strong>für</strong> Niedrigpensionen, denn<br />
<strong>in</strong> Zukunft werden Antrittspensionen bei lückenhaften und steilen Karrieren deutlich<br />
niedriger ausfallen und die Güter des täglichen Bedarfs wie Essen, Wohnen und Energie,<br />
sowie Gesundheits- und Pfl egedienstleistungen werden sich stärker verteuern.<br />
Die Folge dieser Entwicklung ist e<strong>in</strong>e rasch s<strong>in</strong>kende reale Kaufkraft.<br />
» F<strong>in</strong>anzierung des Ausbaus der Altenbetreuung über Vermögensbesteuerung: Ausbau<br />
der stationären und mobilen Altenbetreuung und F<strong>in</strong>anzierung durch e<strong>in</strong>e Vermögens-<br />
oder Vermögensertragsbesteuerung.<br />
» Erhebungen zu den Kosten der Pfl ege: Spezielle Erhebung zur Pfl egesituation Älterer<br />
und der anfallenden Kosten – sowohl häusliche als auch Anstaltspfl ege; Versorgung<br />
mit Pfl egediensten und Bedarf erheben; welche Kosten fallen an, von wem werden sie<br />
getragen<br />
» Stärkere Berücksichtung des Anteils der <strong>Hochaltrige</strong>n <strong>in</strong> sozialstatistischen Erhebungen:<br />
Im Rahmen der Konsumerhebung wäre <strong>in</strong> der Stichprobengröße und <strong>in</strong> der<br />
Hochrechnung auf den Repräsentationsgrad Hochbetagter zu achten bzw. eigene<br />
Hochrechnungsfaktoren <strong>für</strong> Hochbetagte heranzuziehen. Dasselbe gilt <strong>für</strong> die <strong>für</strong> die<br />
Erhebungen der EU, <strong>in</strong>sbesondere SILC (Community Statistics on Income an Liv<strong>in</strong>g<br />
Conditions). Dabei handelt es sich um Erhebungen, durch die jährlich Informationen<br />
über die Lebensbed<strong>in</strong>gungen der Privathaushalte <strong>in</strong> der Europäischen Union gesammelt<br />
werden.<br />
» Erhebung der Armutsgefährdung und akuten Armut Hochbetagter <strong>in</strong> separaten Studien:<br />
So werden z.B. Hochbetagte <strong>in</strong> Heimen <strong>in</strong> den üblichen Haushaltsstichproben<br />
nicht erfasst.
Empfehlungen zu Kapitel 5:<br />
Alltag im Alter<br />
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
» Verbesserung der Rahmenbed<strong>in</strong>gungen <strong>für</strong> lebenslanges Lernen: Schaff ung von<br />
Strukturen <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e aufsuchende Bildungsarbeit, wozu etwa e<strong>in</strong>e stärkere Vernetzung<br />
von Altersbildung und Altenhilfe gehört. Damit hochaltrige Menschen im ländlichen<br />
Raum erreicht werden können, braucht es Formen mobiler Bildungsarbeit. Um e<strong>in</strong>e<br />
neue Bildung und Kultur im Alter zu forcieren, wird die gezielte Förderung der Geragogik<br />
vorgeschlagen. Die Geragogik verfolgt das Ziel, durch professionell angeregte und<br />
begleitete Lernprozesse Ältere dabei zu unterstützen, ihre <strong>in</strong>dividuellen Ressourcen<br />
und Potenziale zu nutzen.<br />
» Entwicklung von Qualitätsstandards als Grundlage gezielter Förderung von Bildungsbeteiligung:<br />
Es geht um die Sichtbarmachung von Qualitätskriterien <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bildungspraxis<br />
der „Unübersichtlichkeit“, die als e<strong>in</strong>e Antwort gesehen werden kann auf<br />
die veränderten Bedürfnisse alter Menschen und die Heterogenität der „Zielgruppe“.<br />
E<strong>in</strong> Ansatzpunkt <strong>für</strong> die Weiterentwicklung besteht <strong>in</strong> der Beobachtung der Teilnehmerbedürfnisse.<br />
Wünschenswert ersche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch, dass<br />
hochaltrige Menschen aus e<strong>in</strong>er Palette von Bildungsmöglichkeiten wählen können,<br />
die auch gleichzeitig auf die spezifi schen Ausgangsbed<strong>in</strong> gungen (z.B. niedrigere<br />
Schulbildungsabschlüsse) und Alltagswelt (z.B. stärkere Orientierung auf die eigene<br />
Wohnung) Rücksicht nehmen.<br />
» E<strong>in</strong>e Kultur des bürgerschaftlichen Engagements fördern: Bürgerschaftliches Engagement<br />
braucht e<strong>in</strong>e entsprechende Kultur der Unterstützung und nicht der Instrumentalisierung<br />
zur Schließung von Lücken <strong>in</strong> der Betreuung von hilfe- und pfl egebedürftigen<br />
Älteren. Das Ehrenamt kann ke<strong>in</strong> billiger Ersatz <strong>für</strong> Defi zite <strong>in</strong> der Versorgung se<strong>in</strong>.<br />
Informations-/Forschungsdefi zite bestehen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
» Detailanalysen zum Aktivitäts- und Freizeitverhalten älterer Menschen: Notwendig<br />
s<strong>in</strong>d Studien, die genauer herausarbeiten, welche Bedeutung bestimmte alltägliche<br />
und Freizeitaktivitäten von hochaltrigen Menschen <strong>für</strong> das Bewegungsverhalten haben,<br />
<strong>für</strong> psycho-soziale Stimulation oder <strong>für</strong> soziale Teilhabe/soziale Integration.<br />
» Bedeutung und Eff ekte von <strong>in</strong>ter- und <strong>in</strong>tragenerationellen Freizeit-/ Kultur-/ Bildungsangeboten:<br />
Zu untersuchen wären alters<strong>in</strong>tegrierte und altersseparierte E<strong>in</strong>richtungen<br />
<strong>für</strong> hochaltrige Menschen h<strong>in</strong>sichtlich ihrer Wirkung auf die Lebensqualität der<br />
Teilnehmenden. Vor dem H<strong>in</strong>tergrund der Vervielfältigung der Angebote und Ange-<br />
505
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
Empfehlungen zu Kapitel 6:<br />
Sicherheit im hohen Alter<br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
506<br />
botsformen geht es um die Frage der Nutzung dieser E<strong>in</strong>richtungen durch hochaltrige<br />
Menschen. Entsprechen die Angebote dem Wandel <strong>in</strong> den Lebensmustern, dem veränderten<br />
Selbstverständnis von älteren Frauen? Welche Angebotsformen und Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />
erhöhen die soziale Inklusion und erlauben e<strong>in</strong> „active age<strong>in</strong>g“?<br />
» Ausarbeitung e<strong>in</strong>es realistischen Aktionsplanes zur Erhöhung der Sicherheit alter<br />
und hochaltriger Menschen: Entsprechend der von WHO und EU empfohlenen umfassenden<br />
Aktionspläne zur Verletzungsverhütung sollte unter Führung des Bundesm<strong>in</strong>isteriums<br />
<strong>für</strong> <strong>Soziales</strong> und Konsumentenschutz oder des Bundesm<strong>in</strong>isteriums <strong>für</strong><br />
Gesund heit, Familie und Jugend e<strong>in</strong> funktionierender Mechanismus zur Zusammenarbeit<br />
der verschiedenen zuständigen Verwaltungsstellen und Stakeholder auf Bundes-<br />
und Länderebene ge schaff en werden.<br />
» Nom<strong>in</strong>ierung und Beauftragung e<strong>in</strong>er leistungsfähigen Agentur <strong>für</strong> Unfallprävention:<br />
Geschaff en werden sollte e<strong>in</strong> Zentrum e<strong>in</strong>es österreichischen Netzwerkes und Knotenpunkt<br />
zum europäischen Netzwerk <strong>für</strong> Sicherheit im Alter. Diese Stelle soll alle<br />
Akteure mit notwendiger Information (Daten, Information über bewährte Praktiken,<br />
Handlungsmodellen, Leistungen verschiedener Anbieter) versorgen und e<strong>in</strong>e Struktur<br />
zum Informations aus tausch und zur Zusammenarbeit (Gesprächs- und Entscheidungsforen)<br />
bereitstellen.<br />
» Nutzung vorhandener Ressourcen, <strong>in</strong>dem bestehende E<strong>in</strong>richtungen das Thema<br />
Sicherheit im Alter auf die Tagesordnung ihres eigenen Tätigkeits- und Verantwortungsbereichs<br />
setzen: Es g<strong>in</strong>ge dabei um Verwaltungsstellen <strong>in</strong> Bund, Ländern<br />
und Geme<strong>in</strong>den, Fonds Gesundes <strong>Österreich</strong>, Sozialversicherungsträger, Krankenhausbetreiber,<br />
Seniorenorganisationen, Wohlfahrtsorganisationen, Sportverbände,<br />
Universitäten usw. Als übergreifende Maßnahmen ist <strong>in</strong>sbesondere an die E<strong>in</strong>richtung<br />
von Reparaturdiensten <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit Wohlfahrtsorganisationen, an<br />
Sturzpräventionsprogramme <strong>in</strong> Anstaltshaushalten, an Ausbildungs- und Schulungsprogramme<br />
<strong>für</strong> e<strong>in</strong>schlägige Berufsgruppen, an Programme zur Bewegungsförderung<br />
im hohen Alter, an <strong>in</strong>dividuelle Diagnose und Therapie des Sturzrisikos als ärztliche<br />
Leistung zu denken.
Informationsdefi zite bestehen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
» Quantifi zierung der Folgekosten von Unfällen im Alter: Es g<strong>in</strong>ge um e<strong>in</strong>e Erhebung<br />
unter Berücksichtigung von Rehabilitationsleistungen und dauerhaften Pfl egeleistungen,<br />
gegliedert nach den Trägern der Folgekosten. Dies soll zu e<strong>in</strong>em rout<strong>in</strong>emäßig<br />
anwendbaren Rechenwerk führen, welches <strong>in</strong> den jährlichen Berichten über das Verletzungsgeschehen<br />
<strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> verwendet werden kann. Auf der Basis e<strong>in</strong>er solchen<br />
Rechnung s<strong>in</strong>d Prognosen der künftigen Kostenentwicklung oder Kosten-Nutzenrechnungen<br />
zu Präventionsmaßnahmen möglich.<br />
» Entwicklung von <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Erklärungsmodellen des Sturzrisikos alter Menschen:<br />
Herausgearbeitet werden sollten die wesentlichen Risikofaktoren. Bestandsaufnahme<br />
der konkret wirksamen und durch Prävention grundsätzlich bee<strong>in</strong>fl ussbaren<br />
Risikofaktoren (Sturzgefahren und fehlende Sicherheitse<strong>in</strong>richtungen <strong>in</strong> Privat- und<br />
Anstaltshaushalten, <strong>in</strong> der Wohnumgebung, Osteoporose, Muskelkraft und Beweglichkeit<br />
usw.). Gesucht s<strong>in</strong>d praktisch quantifi zierbare und aussagekräftige Indikatoren <strong>für</strong><br />
das Sturzrisiko, an Hand derer Fortschritte oder Rückschritte ablesbar s<strong>in</strong>d.<br />
» Erprobung und Evaluierung komplexer, <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärer und Ressort übergreifender<br />
Maßnahmen der Sturzprävention: Vor dem H<strong>in</strong>tergrund der Komb<strong>in</strong>ation von technischen,<br />
mediz<strong>in</strong>ischen und sozialen Ansätzen und Interventionen wären die Erfolgsbed<strong>in</strong>gungen<br />
und die zu erwartenden Ergebnisse zu untersuchen.<br />
Empfehlungen zu Kapitel 7:<br />
Mobilität im Alter<br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
» Erarbeitung von realistischen Alternativen zum Individualverkehr: Zu entwickeln und<br />
zu implementieren s<strong>in</strong>d Alternativen zum motorisiertem Individualverkehr. Dazu gehören<br />
etwa Fahrtendienste.<br />
» Barrierefreie Infrastruktur: Weiterzuführen und stärker auszubauen ist e<strong>in</strong>e barrierefreie<br />
Infrastruktur.<br />
» Bewusstse<strong>in</strong>sbildung <strong>in</strong> Fragen der Mobilität im Alter: Toleranz und Hilfsbereitschaft<br />
im alltäglichen Umgang mit hochaltrigen Personen wirken mildernd auf sehr viele<br />
Probleme, mit denen hochaltrige Menschen konfrontiert s<strong>in</strong>d.<br />
507
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
Informations- und Forschungsdefi zite bestehen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
Empfehlungen zu Kapitel 8:<br />
Lebensqualität und Lebenszufriedenheit<br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
508<br />
» Empirische Untersuchung zur Mobilität im Alter: E<strong>in</strong>e umfassende Studie über die<br />
Mobilitätssituation hochbetagter Menschen <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> ist ausständig.<br />
» Mobilität hochaltriger Frauen: Die Gruppe der hochaltrigen Frauen, die besonders<br />
benachteiligt zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>en, sollte genauer analysiert werden.<br />
» Informationsdefi zit <strong>für</strong> Praktiker: Der technische Aspekt von Maßnahmen ist wichtig,<br />
aber er ist nicht der e<strong>in</strong>zige; soziale und psychologische Komponenten müssen mitbedacht<br />
werden.<br />
» Politische Ausrichtung an den fundamentalen strukturellen und wohlfahrtlichen<br />
Veränderungen: Die <strong>in</strong>haltlichen Festlegungen und die Themenauswahl künftiger<br />
politischer Gestaltungsaufgaben müssen sich an den gegenwärtig besonders entwicklungsweisenden<br />
Veränderungen orientieren, und zwar so weit wie möglich unabhängig<br />
von parteipolitischen Interes sen und Tagesaktualitäten.<br />
» Operative Ebene: Herbeiführung e<strong>in</strong>es politischen Beschlusses zur Verpfl ichtung <strong>für</strong><br />
regelmäßige Berichterstattung und <strong>für</strong> die systematische Fundierung von Entscheidungen.<br />
Die Grundlage der Berichterstattung müs ste e<strong>in</strong> Beschluss des Parlaments<br />
se<strong>in</strong>, die Berichtspfl icht müsste bei der Regierung liegen. Diese hätte dann die Aufgabe,<br />
über die Themenaus wahl dieses Monitor<strong>in</strong>g zu entscheiden. In der Regierung<br />
wiederum müsste die Verantwortung bei dem federführenden Bundesm<strong>in</strong>isterium<br />
angesiedelt werden. Die Themenvorgaben der Regierung s<strong>in</strong>d eher allgeme<strong>in</strong> zu halten,<br />
deren Spezifi kation läge <strong>in</strong> der Verantwortung zu bestellender wissenschaftlicher<br />
Sachverständigenkommission, die e<strong>in</strong>en relativ breiten Auslegungsspielraum haben<br />
müssen.<br />
» Loslösung von der herrschenden Kostendom<strong>in</strong>anz: Die gesamte Sachdiskussion im<br />
Vorfeld politischer Entscheidungen muss durch geeignete operative Strategien aus<br />
der den gegenwärtigen politischen Altersdiskurs dom<strong>in</strong>ierenden Kostenfrage herausgelöst<br />
werden. Diese e<strong>in</strong>seitige Problemwahrnehmung verh<strong>in</strong>dert systematisch die<br />
Entfaltung konstruktiver Phantasie.
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
Informations- und Forschungsdefi zite bestehen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
» Empirische Lücken: Unter empirischer Sicht mangelt es an e<strong>in</strong>em regelmäßigen,<br />
politisch gewollten und wissenschaftlich vollzogenen Monitor<strong>in</strong>g der Lebenslage<br />
und Lebensqualität der Gruppe der <strong>Hochaltrige</strong>n mit ihren spezifi schen Bedürfnisse<br />
und Res sourcen. Die Sozialstatistik ist lückenhaft und unsensibel gegenüber hohen<br />
Altersgruppen, stichprobenbasierte Primärerhebungen blenden das hohe und sehr<br />
hohe Alter be<strong>in</strong>ahe systematisch aus, <strong>in</strong> der Forschungsförderung fehlt e<strong>in</strong>e klare<br />
Priorität <strong>für</strong> Paneluntersuchungen. In <strong>Österreich</strong> müsste deshalb e<strong>in</strong> sozioökonomisches<br />
Alters-Panel mit methodischem Zu schnitt <strong>für</strong> die Bestimmung von Lebenslagen<br />
e<strong>in</strong>gerichtet werden, <strong>in</strong> dem die <strong>Hochaltrige</strong>n spezifi sch berücksichtigt werden.<br />
» Konzeptive Lücken: Unter konzeptiver Sicht dom<strong>in</strong>iert e<strong>in</strong> tiefer Graben zwischen<br />
wissenschaftlich-theoretischen Bestimmungen der Besonderheit der Lebenssituation<br />
<strong>Hochaltrige</strong>r auf der e<strong>in</strong>en Seite und den Planungsvorstellungen und Gestaltungsstrategien<br />
<strong>in</strong> der politischen Me<strong>in</strong>ungsbildung auf der anderen Seite. Es wäre wünschenswert,<br />
e<strong>in</strong> parteipolitisch unabhängiges „steer<strong>in</strong>g committee“ e<strong>in</strong>zurichten, das e<strong>in</strong>e<br />
beratende Funktion <strong>für</strong> die bundesweite Koord<strong>in</strong>ation der Altersforschung übernimmt,<br />
um die mit öff entlichen Mitteln fi nanzierte Forschung aus e<strong>in</strong>er relativ zufälligen und<br />
häufi g willkürlichen Weise der Schwerpunktsetzungen heraus zu führen.<br />
Empfehlungen zu Kapitel 9:<br />
Generationensolidarität und Gene rationenkonfl ikt im höheren Alter<br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
» Entwicklung von Konzepten e<strong>in</strong>er Generationenpolitik: Derzeit treten im politischen<br />
Diskurs die Generationen als – oft antagonistische – Konkurrenten auf und nicht als<br />
Kooperationspartner. Es wird zwar K<strong>in</strong>der-, Jugend, Familien- und Altenpolitik betrieben,<br />
meist im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Advokatur der jeweiligen Gruppe, deren Interessen gegen<br />
diejenigen der Anderen verteidigt und durchgesetzt werden müssen, nicht aber e<strong>in</strong>e<br />
übergreifende Generationenpolitik. E<strong>in</strong> erster Schritt könnte die (Wieder)Schaff ung<br />
e<strong>in</strong>es politischen Fachbereichs „Generationen“ (statt Jugend, Familie, etc.) se<strong>in</strong>, wodurch<br />
schon <strong>in</strong>stitutionell dem kooperativen Ansatz Vorzug vor dem konkurrierenden<br />
gegeben würde.<br />
» „Generational ma<strong>in</strong>stream<strong>in</strong>g“: Es wird vorgeschlagen, <strong>in</strong> Anlehnung an das „gender<br />
ma<strong>in</strong>stream<strong>in</strong>g“ e<strong>in</strong> übergreifendes Konzept des Intergenerationellen Ma<strong>in</strong>stream<strong>in</strong>g<br />
zu formulieren, welches die Akteure, <strong>in</strong>sbesondere Entscheidungsträger, darauf<br />
verpfl ichtet, alle Geschlechter gleichermaßen <strong>in</strong> die Konzeptgestaltung mit dem Ziel<br />
509
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
Informations-/Forschungsdefi zite bestehen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
510<br />
„gerechter“ Belastungen und Zuerkennungen e<strong>in</strong>zubeziehen. Dazu gehörte auch die<br />
„generationensensible Folgenabschätzung“ aller (<strong>in</strong>sbesondere sozial-)politischen<br />
Maßnahme.<br />
» Förderung <strong>in</strong>tergenerationeller Projekte: Bürgerengagements und zivilgesellschaftliche<br />
Initiativen, die sich dem Mit- und Füre<strong>in</strong>ander, dem solidarischen Austausch der<br />
verschiedenen Altersgruppen verschreiben (Beispiel: „Wissensbörse“), sollten besonders<br />
gefördert werden.<br />
» Intergenerationeller Klima-Index (IKIX): Wünschenswert ersche<strong>in</strong>t die Entwicklung<br />
e<strong>in</strong>es standardisierten Erhebungs<strong>in</strong>struments, mit dem periodisch, etwa jährlich, das<br />
soziale Klima im Verhältnis zwischen den gesellschaftlichen und familialen Generationen<br />
gemessen wird – aus Veränderungen könnten sich anbahnende Entwicklungen<br />
gefolgert werden, die wiederum zu regulierenden Maß nahmen Anlass geben könnten.<br />
Dieser Index sollte e<strong>in</strong>e diff erenzierende Sicht erlauben, die auch die <strong>Hochaltrige</strong>n als<br />
eigene Gruppe berücksichtigt.<br />
» Auswirkungen des Wandels der Zusammenlebensformen auf die Beziehun gen zwischen<br />
den Generationen: Es ist zur Zeit durchaus unklar, zu welchem Wandel es im<br />
<strong>in</strong>tergenerationellen Gefüge der Generationen kommen wird. Insbesondere das starke<br />
Aufkommen von Patchwork-Familien und Alle<strong>in</strong>erzieher/<strong>in</strong>nen mit K<strong>in</strong>dern wirft Fragen<br />
über die künftigen Loylitätsnormen und -empfi ndungen sowie Solidaritätspotenziale<br />
auf. In Survey- und Intensivstudien qualitativer Natur wäre diesen neuen Mustern und<br />
ihren Zukunftsperspektiven nachzugehen. Auch <strong>in</strong> diesem Punkt sollte erhöhtes Augenmerk<br />
auf die Auswirkungen auf die Hochbetagten als jener Gruppe gerichtet werden,<br />
die <strong>in</strong> besonders hohem Maße auf die Zuwendung seitens der Anderen angewiesen ist.<br />
» Materielle Transfers, Erbschaften, Schenkungen: Dem <strong>in</strong>stitutionellen Strom von formellen<br />
Transferleistungen (<strong>in</strong>sbesondere den Pensionen) steht e<strong>in</strong> <strong>in</strong>formeller, viel weniger<br />
beachteter, Strom von Gaben, Schenkungen und Erbschaften gegenüber, der <strong>in</strong><br />
die entgegen gesetzte Richtung verläuft. Die Information über das Ausmaß, die Formen<br />
und Motive dieser Transfers ist nur lückenhaft und verbesserungsbedürftig, auch <strong>in</strong><br />
der H<strong>in</strong>sicht, dass e<strong>in</strong> Zurückfahren der Alt-zu-Jung-Leistungen <strong>in</strong>folge reduzierter E<strong>in</strong>kommen<br />
(und <strong>in</strong> weiterer Folge, etwa wegen e<strong>in</strong>es notwendig werdenden Entsparens,<br />
ger<strong>in</strong>gerer Vermögensweitergaben) Auswirkungen auf die familialen Generationenbeziehungen<br />
haben könnte, wovon die Hochbetagten besonders stark betroff en wären.
Empfehlungen zu Kapitel 10:<br />
<strong>Hochaltrige</strong> Migrant/<strong>in</strong>nen<br />
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
» Neue Herausforderungen <strong>für</strong> die etablierten Systeme der Altenarbeit: Die migrantische<br />
Hochaltrigkeit erfordert unumgänglich Maßnahmen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Bezug auf<br />
e<strong>in</strong>e verstärkte Kultursensibilität <strong>in</strong> den Bereichen Versorgung und Betreuung – die<br />
entsprechenden Stichworte lauten „kultursensible Pfl ege“ und „<strong>in</strong>terkulturelle Öff -<br />
nung von sozialen Diensten“.<br />
» Abbau von Barrieren und Förderung der Akzeptanz von Alternativen <strong>in</strong> der Lebensführungen:<br />
Ziel aller Maßnahmen ist der Barrierenabbau <strong>in</strong> Information und Beratung,<br />
die E<strong>in</strong>bettung von Angeboten <strong>in</strong> vertraute Umwelten, Mitarbeiterqualifi zierung sowie<br />
die E<strong>in</strong>beziehung von muttersprachlichen und mit lebensweltlichem H<strong>in</strong>tergrundwissen<br />
ausgestatteten Fachkräften. Mit der sozio-kulturellen Diversifi zierung des Alterns<br />
fächert sich auch das gesellschaftlich erzeugte Bild der Hochaltrigkeit aus: Alternative<br />
Vorstellungen und Konzepte der Lebensführung werden stärker sichtbar und<br />
beanspruchen ebenfalls Legitimität.<br />
Informations- und Forschungsdefi zite bestehen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
» Ungenügende Datenlage <strong>in</strong> der Wissenschaft und <strong>in</strong> der amtlichen Statistik: Die Sichtung<br />
der <strong>Arbeit</strong>en zur Situation hochaltriger Migrant/<strong>in</strong>nen ergibt <strong>für</strong> <strong>Österreich</strong> e<strong>in</strong><br />
weitgehendes Fehlen e<strong>in</strong>schlägiger wissenschaftlicher Studien, und dies betriff t die<br />
Erforschung der Lebensbed<strong>in</strong>gungen ebenso wie die Analyse von Bedarfslagen. Dieses<br />
Manko fällt im Kontext der <strong>in</strong>sgesamt ungenügenden und auch fehlerbehafteten<br />
amtlichen Stati stik besonders <strong>in</strong>s Gewicht. Für <strong>Österreich</strong> liegt somit ke<strong>in</strong> gesichertes<br />
Wissen <strong>für</strong> Maßnahmenentwicklung und sozialpolitische Intervention vor.<br />
» Berücksichtigung von Diversität: E<strong>in</strong> Anspruch künftiger Forschungen besteht dar<strong>in</strong>,<br />
über die Beschreibung von objektiven Lebensverhältnissen h<strong>in</strong>aus die <strong>für</strong> die hochaltrige<br />
Lebensführung relevanten Ressourcen und Handlungspotentiale, wie soziale<br />
Netzwerke oder die Bedeutung familienbezogener und/oder ethnischer Handlungsorientierungen,<br />
freizulegen; dabei gilt es, die Herkunfts- und Milieudiversität hochaltriger<br />
Migrant/<strong>in</strong>nen zu berücksichtigen.<br />
511
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
Empfehlungen zu Kapitel 11:<br />
Hochbetagte Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen<br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
Informations- und Forschungsdefi zite bestehen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
512<br />
» Ausbau entsprechender E<strong>in</strong>richtungen im stationären, semistationären und mobilen<br />
Bereich <strong>für</strong> hochaltrige Menschen mit physischen bzw. psychischen Beh<strong>in</strong>derungen:<br />
Da <strong>in</strong> den kommenden Jahren und Jahrzehnten e<strong>in</strong> deutlicher Anstieg hochbetagter<br />
Menschen mit physischen und psychischen Beh<strong>in</strong>derungen zu erwarten ist, braucht<br />
es entsprechende E<strong>in</strong>richtungen. Dass bezieht sich sowohl auf<br />
» die bauliche und technische Aus stattung von Heimen, teilstationären E<strong>in</strong>richtungen<br />
und Spitäler, aber auch auf mobilitätsunterstützende mobile Dienste (persönliche<br />
Assistenz) und entsprechende altersgerechte bauliche und technische Ausstattungen<br />
(Beh<strong>in</strong>dertenlifte, Seh- und Hörhilfen,..) von Privathaushalten sowie auf e<strong>in</strong>en zu<br />
erwartenden Anstieg der Anforderungen an die Träger der Angebote von Sachwalterschaft.<br />
» Berücksichtigung von hochaltrigen Menschen mit physischen bzw. psychischen<br />
Beh<strong>in</strong>derungen <strong>in</strong> Bedarfs- und Entwicklungsplänen: Damit der Ausbau spezieller E<strong>in</strong>richtungen<br />
und Dienste <strong>für</strong> hochaltrige beh<strong>in</strong>derte Menschen gewährleistet ist, muss<br />
diesen <strong>in</strong> den Planungsabschnitten der zukünftigen Bedarfs- und Entwicklungspläne<br />
der Länder e<strong>in</strong> entsprechendes Augenmerk gewidmet se<strong>in</strong>. Das ist notwendig, um<br />
e<strong>in</strong>e vorausschauende Sozialplanung durchführen zu können.<br />
» Umschichtung fi nanzieller Mittel: Da sich die <strong>in</strong>nere Struktur der Gruppe hochaltriger<br />
beh<strong>in</strong>derter Menschen deutlich verschieben wird (Auslaufen der Kriegsopferversorgung,<br />
Anstieg der mentalen Beh<strong>in</strong>derungen) ist auch über e<strong>in</strong>e entsprechende Umschichtung<br />
der Mittel (etwa von der Kriegsopferversorgung beispielsweise zur F<strong>in</strong>anzierung<br />
persönlicher Assistenzen) anzudenken.<br />
» Geeignete Instrumente und Methoden der Datenerhebung: Problematisch <strong>für</strong> die<br />
quantitative Erfassung der gegenwärtigen und zukünftig zu erwartenden Probleme<br />
bzw. sozialpolitischen Handlungsbedarfe im Zusammenhang mit dem Thema der<br />
hochbetagten Menschen mit Beh<strong>in</strong>derungen ist die weitgehend fehlende Datenbasis.<br />
Dieses Problem ist nur teilweise zu lösen, da e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Registrierungspfl<br />
icht sowohl dem Gedanken der Menschenwürde als auch des Datenschutzes<br />
widerspricht. Folge solcher Datenerhebungen könnten aber auch unerwünschte<br />
soziale Stigmatisierungen se<strong>in</strong>. Es ist daher unabd<strong>in</strong>gbar notwendig, diese Informa-
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
tionslücke durch geeignete quantitative und qualitative Forschung zu schließen.<br />
» Mikrozensus-Erhebung über körperliche und psychische Bee<strong>in</strong>trächtigungen: Die letzte<br />
Erhebung wurde im Jahr 1999. E<strong>in</strong>e neuerliche Erhebung sollte unbed<strong>in</strong>gt mit e<strong>in</strong>er<br />
Erhebung <strong>in</strong> Heimen verknüpft werden. Weitere (qualitative, aber auch quantitative)<br />
Forschungen wären <strong>in</strong> engem Zusammenwirken mit den Ämtern der Landesregierungen<br />
und de<strong>in</strong> Organisationen der beh<strong>in</strong>derten Menschen, aber auch der betreuenden<br />
Wohlfahrtsträger durchzuführen.<br />
Empfehlungen zu Kapitel 12:<br />
E<strong>in</strong>samkeit und Isolation<br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
» Individuelle Ebene – Programmangebote: Die Angebote sollten Beratung und Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gskurse<br />
umfassen, <strong>in</strong> denen unter anderem strukturiertes Zeitverhalten gelehrt<br />
und die hohe Bedeutung körperlicher, geistiger und musischer Betätigung klargemacht<br />
werden. In praktischer H<strong>in</strong>sicht sollte der Zugang zur modernen Informationstechnologie<br />
erleichtert und die Handhabung der entsprechenden Geräte erklärt<br />
werden, um die soziale Teilhabe zu ermöglichen. Stützende Kurse und therapeutische<br />
Angebote zur erfolgreichen Bewältigung der Verlusterfahrung nach Verwitwung,<br />
Scheidung oder anderen gravierenden Personenverlusten könnten E<strong>in</strong>samkeitsgefühle<br />
l<strong>in</strong>dern helfen.<br />
» Kle<strong>in</strong>gruppenebene – Hilfe bei der E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung <strong>in</strong> subjektiv bedeutsame soziale Netzwerke:<br />
Da nicht die Anzahl der Kontakte entscheidend ist, sondern <strong>in</strong>wieweit diese<br />
belohnende Erfahrungen vermitteln, ist <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e sorgfältige Abklärung der <strong>in</strong>dividuell<br />
bevorzugten Handlungsfelder zu sorgen. Wünschenswert wäre die Schaff ung von Begegnungsmöglichkeiten<br />
zwischen <strong>Hochaltrige</strong>n und jüngeren Menschen, damit deren<br />
Denkweisen kennen gelernt und so die Gefühle e<strong>in</strong>er zunehmenden Entfremdung von<br />
der modernen Welt gemildert werden.<br />
» Gesamtgesellschaftliche Ebene – Überw<strong>in</strong>dung von Stereotypen: Die Negativität des<br />
Alters und des verme<strong>in</strong>tlich str<strong>in</strong>genten Zusammenhangs des Alterns mit E<strong>in</strong>samkeit<br />
und sozialer Isolation müssen bekämpft werden. Dazu gehören unter anderem auch<br />
die Enttabuisierung von Sexualität und öff entliche Anerkennung ihres Stellenwerts im<br />
höheren Alter.<br />
513
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
Informations- und Forschungsdefi zite bestehen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
Empfehlungen zu Kapitel 13:<br />
Gesundheitliche Aspekte im Alter<br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
Informations- und Forschungsdefi zit besteht <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
514<br />
» Wirkungen professioneller Kommunikationskultur: Inwieweit wird der <strong>in</strong> den Ausbildungsplänen<br />
<strong>für</strong> die Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> stationären, teilstationären und ambulanten<br />
E<strong>in</strong>richtungen enthaltene Erwerb von kommunikativen und geme<strong>in</strong>schaftsbildenden<br />
Kompetenzen <strong>in</strong> der praktischen <strong>Arbeit</strong> realisiert und führt zur Milderung von<br />
E<strong>in</strong>samkeitsgefühlen der Bewohner/<strong>in</strong>nen bzw. Klient/<strong>in</strong>nen/Kund/<strong>in</strong>nen?<br />
» Installierung e<strong>in</strong>er Längsschnittstudie (Panel): Nebst vielen anderen wichtigen sozialgerontologischen<br />
Forschungsfragen kann auch jene nach dem Entwicklungsprozess<br />
der sozialen Isolation und dem <strong>in</strong>dividuellen E<strong>in</strong>samkeitsverlauf ab den mittleren<br />
Jahren bis <strong>in</strong>s höchste Alter nur durch e<strong>in</strong>e längsschnittlich angelegte Forschungsstrategie<br />
schlüssig beantwortet werden. Solche Studien gibt es <strong>in</strong> vielen Ländern, jedoch<br />
nicht <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong>.<br />
» Geriatrisch-gerontologische Lehrstühle: Dr<strong>in</strong>glich ist Etablierung von geriatrisch-gerontologischen<br />
Lehrstühlen, die durchaus multidiszipl<strong>in</strong>är strukturiert se<strong>in</strong> könnten.<br />
» Facharzt <strong>für</strong> Geriatrie: In den meisten europäischen Ländern ist der Facharzt <strong>für</strong> Geriatrie<br />
bereits etabliert, es wäre höchste Zeit, dies <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> nachzuholen.<br />
» Versorgungs- und Pfl egeforschung: Es besteht <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> deutlicher Mangel an<br />
kompetenter Versorgungs- und Pfl egeforschung. Dadurch fehlen auch Qualitätsstandard<br />
sowohl im Bereicht der ambulanten als auch der stationären Betreuung.<br />
» Verbesserung des Image der Geriatrie: Obwohl es im stationären Akutsektor schon<br />
vielversprechende Anfänge gibt, ist die Geriatrie noch unzureichend „implantiert“.<br />
E<strong>in</strong>e Folge davon ist das ungerechtfertigt negative Image der Geriatrie.<br />
» Implementation e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>stitutionell gesicherten Verknüpfung von geriatrischer Forschung<br />
und Praxis: Wegen des Fehlens der universitären Strukturen mangelt es an
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
e<strong>in</strong>em L<strong>in</strong>k zwischen gerontologischer Forschung und geriatrischer Praxis. E<strong>in</strong> vielversprechender<br />
Ansatz ergäbe sich <strong>in</strong>sbesondere im Kontext der Frailty-Forschung, die<br />
somatiche, psychische und soziale Aspekte aufweist.<br />
Empfehlungen zu Kapitel 14:<br />
Gesundheitsförderung, Prävention und Gesundheitsversorgung bei<br />
Hoch betagten<br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
» Gesundheitsziele als Instrument, um Strategien und Prioritäten im Gesundheitswesen<br />
festzulegen: Gesundheitsziele dienen unter anderem dazu, auf Zielgruppen und<br />
deren Bedürfnisse zugeschnittene Maßnahmen zu <strong>in</strong>itiieren. Im H<strong>in</strong>blick auf die Gesundheitsversorgung<br />
und Betreuung Hochbetagter s<strong>in</strong>d Gesundheitsziele zu adaptieren<br />
oder neu zu formulieren, um Prävention, Behandlung und Pfl ege dieser besonders<br />
vulnerablen Gruppe zu strukturieren.<br />
» Wahrnehmung der Bedürfnisse von <strong>Hochaltrige</strong>n: Es ist e<strong>in</strong>e Tatsache, dass der Anteil<br />
der über 75-Jährigen an der Bevölkerung stetig steigt, jedoch fehlt es <strong>in</strong> allen Bereichen<br />
an e<strong>in</strong>er entsprechenden Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse. Mangelernährung,<br />
Stürze, psychosoziale Veränderungen und Isolation können mit e<strong>in</strong>fachen Mitteln<br />
seitens der Health-Profes sionals, der Angehörigen und der Geme<strong>in</strong>de entgegen gewirkt<br />
werden. Wichtig wäre es <strong>in</strong> diesem Zusammenhang, die Wahrnehmung <strong>für</strong> die<br />
Bedürfnisse der Hochbetagten zu schärfen. Dazu gehört auch die E<strong>in</strong>richtung von Gesundheitsförderungse<strong>in</strong>richtungen,<br />
die den Bedürfnissen von Hochbetagten gerecht<br />
werden.<br />
» Erhöhung des Impfschutzes: Die ger<strong>in</strong>ge Durchimpfungsrate bezüglich Infl uenza und<br />
wahrsche<strong>in</strong>lich auch Pneumokokken bei Hochbetagten verweist auf Versorgungsdefi -<br />
zite. Diesbezüglich wären Awareness-Kampagnen besonders bei Health-Professionals<br />
wünschenswert.<br />
Informations- und Forschungsdefi zite bestehen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
» Bedürfniserhebung und Verbesserung der Datenlage: Prävention, Vorsorgeuntersuchungen<br />
und Betreuung können nur erfolgreich se<strong>in</strong>, wenn sie die Bedürfnisse<br />
der Zielgruppe berücksichtigen und ernst nehmen. Dazu ist es notwendig, diese zu<br />
kennen. Es ist evident geworden, dass über die besonderen Bedürfnisse Hochbe-<br />
515
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
Empfehlungen zu Kapitel 15:<br />
Pfl ege und Betreuung (<strong>in</strong>formelle Pfl ege)<br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
516<br />
tagter <strong>in</strong> <strong>Österreich</strong> viel zu wenig bekannt ist, weswegen der notwendige erste Schritt<br />
e<strong>in</strong>e Bedürfniserhebung <strong>für</strong> diese Altersgruppe wäre. E<strong>in</strong>e Voraussetzung <strong>für</strong> die<br />
Formulierung geeigneter Maßnahmen ist e<strong>in</strong>e solide Datenbasis <strong>für</strong> Hochbetagte. Es<br />
wäre wünschenswert, vorhandene Instrumente zur Gesundheitsdatenerhebung an<br />
die geänderten demographischen Gegebenheiten anzupassen und ergänzend e<strong>in</strong>e<br />
umfangreiche validierte Datenerhebung durchzuführen.<br />
» Personenbezogene Datenauswertung von Sozialversicherungsdaten: Die Daten zur<br />
Inanspruchnahme des Gesundheitssystems s<strong>in</strong>d bis auf die Auswertung der Krankenhausentlassungen<br />
<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie selbstberichtet. E<strong>in</strong>e personenbezogene Auswertung<br />
der tatsächlichen Inanspruchnahme mediz<strong>in</strong>ischer Leistungen durch die Sozialversicherungen<br />
wäre wünschenswert.<br />
» Flächendeckende Datenerfassung <strong>in</strong> den Bereichen Screen<strong>in</strong>g, Assessment und<br />
Rehabilitation: Wünschenswert wäre e<strong>in</strong>e fl ächendeckende Erfassung der Screen<strong>in</strong>gmaßnahmen,<br />
<strong>in</strong>klusive des geriatrischen Assessments sowie den rehabilitativen<br />
Möglichkeiten bei Hochbetagten. Zum<strong>in</strong>dest <strong>für</strong> Personen <strong>in</strong> Pensionisten- und<br />
Pfl egeheimen müsste dies möglich se<strong>in</strong>. Durch e<strong>in</strong>e Auswertung des geriatrischen<br />
Assessments wären auch Rückschlüsse auf Ernährungsstatus, sowie psychische und<br />
soziale Defi zite möglich.<br />
» Entwicklung geeigneter Versorgungsmodelle und entsprechender Evaluierungskonzepte:<br />
Hochbetagte s<strong>in</strong>d oftmals multimorbid und chronisch krank. Um e<strong>in</strong>e<br />
“cont<strong>in</strong>uity of care” zu ermöglichen s<strong>in</strong>d geeignete Versorgungsmodelle und entsprechende<br />
Evaluierungskonzepte zu entwickeln, die alle Beteiligten e<strong>in</strong>b<strong>in</strong>den und<br />
koord<strong>in</strong>ieren. E<strong>in</strong>e Möglichkeit liegt <strong>in</strong> der Förderung der <strong>in</strong>tegrierten Versorgung,<br />
welche im Rahmen geme<strong>in</strong>debasierter Modelle zur Betreuung der Hochbetagten von<br />
der Prävetion bis zur Palliativversorgung alle Gesundheits- und Sozialdienstleistungen<br />
sowie die Unterstützung pfl egender Angehöriger anbietet und koord<strong>in</strong>iert.<br />
» Maßnahmen zur Qualitätssicherung: Die betreuenden Angehörigen sollten ermutigt<br />
werden, rechtzeitig – d. h. noch vor dem E<strong>in</strong>tritt e<strong>in</strong>er Überlastungssituation – Beratung<br />
und Schulung <strong>in</strong> Anspruch zu nehmen. E<strong>in</strong>e professionelle Begleitung von<br />
Selbsthilfegruppen, um den Erfahrungsaustausch und die wechselseitige Stützung zu<br />
fördern, könnte deren Effi zienz steigern.
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
» Externe Stützung der <strong>in</strong>formellen Betreuungspersonen: Dies kann geschehen durch<br />
Flexibilisierung des Angebots mit Hilfe von 24-Stunden-Bereitschaftsdiensten bzw.<br />
Wochenenddiensten. Stützend wirkte der Ausbau von Kurzzeitpfl ege, von Nachtbetreuung<br />
und von Tageszentren, besonders auch im ländlichen Raum. Das Pfl egetelefon<br />
könnte zu e<strong>in</strong>er Notfalle<strong>in</strong>richtung ausgebaut werden. Die Hauskrankenpfl eger/<br />
<strong>in</strong>nen könnten als Tra<strong>in</strong>er/<strong>in</strong>nen und Ratgeber/<strong>in</strong>nen fungieren. Die Hausärzte sollten<br />
sich auch der pfl egenden Angehörigen annehmen und mit ihnen, der gesamten Familie<br />
und allenfalls zusätzlichen Personen (z. B. Nachbar/<strong>in</strong>nen) e<strong>in</strong>e „Teambesprechung“<br />
oder „Familienkonferenz“ zur optimalen Betreuung der Pfl egebedürftigen abhalten.<br />
» Berücksichtigung der speziellen Bedarfslage von Angehörigen von Demenzkranken:<br />
E<strong>in</strong>zuführen wäre e<strong>in</strong> unkompliziertes, auch stundenweise abrufbares Entlastungsangebot<br />
<strong>für</strong> die Beaufsichtigung von Personen mit Weglauftendenz zu Hause. Tageszentren<br />
mit geronto-psychiatrischer Ausrichtung s<strong>in</strong>d vermehrt e<strong>in</strong>zurichten.<br />
» Sozialpolitische Weiterentwicklungen: Volle sozialversicherungsrechtliche Absicherung<br />
der <strong>in</strong>formell Betreuenden ab e<strong>in</strong>er bestimmten Pfl egestufe (e<strong>in</strong>schließlich<br />
<strong>Arbeit</strong>s losenversicherung). Erweiterungen der Rechtsansprüche bei Langzeitbetreuung,<br />
um die Vere<strong>in</strong>barkeit von Erwerbstätigkeit und Altenpfl ege zu gewährleisten<br />
(Teilzeitbeschäftigung, Karenzierung). E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>er offi ziell anerkannten Interessensvertretung<br />
der pfl egenden Angehörigen und Vorsehen e<strong>in</strong>er konkreten Mitsprachemöglichkeit.<br />
Informations- und Forschungsdefi zite bestehen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
» Qualitätssicherung: Entwicklung von Methoden und Instrumenten, die nicht bloß auf<br />
die Standards der professionellen Pfl ege abstellen, sondern auf die spezielle Situation<br />
der <strong>in</strong>formellen Betreuung <strong>in</strong> den Familien abgestimmt s<strong>in</strong>d. Kontrollmechanismen<br />
s<strong>in</strong>d zu entwickeln, die auch die Befi ndlichkeit der pfl egenden Angehörigen berücksichtigen.<br />
Entwicklung besonderer Assessment-Instrumente <strong>für</strong> die Familiensituation<br />
von Demenzkranken.<br />
» Doppelbetreuungen durch Familie und Sozialdienste: Erfassung des Ausmaßes und<br />
der Art von <strong>Arbeit</strong>steilungen, Analyse möglicher Überschneidungen sowie Erkenntnisgew<strong>in</strong>nung<br />
über die bisher unbekannten Langzeitwirkungen zum Zwecke der Eff ektivitätssteigerung.<br />
» Dokumentation: Vere<strong>in</strong>heitlichung der statistischen Unterlagen der österreichischen<br />
Bundesländer und Schließung der Lücken <strong>in</strong> der regionalen Datenlage zu Beratungsdiensten<br />
und zu Unterstützungsleistungen <strong>für</strong> pfl egende Angehörige, aber auch <strong>in</strong><br />
Bezug auf ehrenamtlich betreuend tätige Menschen und von Nachbarschaftshilfe <strong>in</strong><br />
diesem Bereich.<br />
517
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
Empfehlungen zu Kapitel 16:<br />
Pfl ege und Betreuung: Die formelle ambulante Pfl ege<br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
Informations-/Forschungsdefi zite bestehen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
518<br />
» Sicherung e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tegrierten und koord<strong>in</strong>ierten ambulanten Versorgung: Das Ziel e<strong>in</strong>er<br />
<strong>in</strong>tegrierten mobilen Betreuung hat das Ziel Versorgungslücken zu schließen. Damit<br />
dies gewährleistet ist, braucht es die Entwicklung von <strong>in</strong>dividuellen und bedarfsgerechten<br />
Pfl egearrangements.<br />
» Schaff ung politischer Rahmenbed<strong>in</strong>gungen: Es braucht e<strong>in</strong>en politischen Rahmen,<br />
der die Ausschöpfung der pfl egerischen Potentiale <strong>in</strong> Bezug auf präventives, kuratives,<br />
rehabilitatives und palliatives Handeln ermöglicht. Dabei geht es auch um die<br />
verstärkte Berücksichtigung von Beratungs- und Anleitungstätigkeiten <strong>für</strong> Patient/<br />
<strong>in</strong>nen und deren Angehörige.<br />
» Quantitativer und qualitativer Ausbau der ambulanten Pfl ege/Betreuung: Der Ausbau<br />
mobiler Dienste hat auf der Basis des Nutzer/<strong>in</strong>nenbezogenen Bedarfs an pfl egerischen<br />
Leistungen zu erfolgen.<br />
» Systematische Erhebung, Dokumentation und Publikation von pfl egeepidemiologischen<br />
Daten: Notwendig ist die Erhebung von Daten <strong>in</strong> den Bereichen Schmerz-,<br />
Dekubitus- und Inkont<strong>in</strong>enzprävalenz. Auf der Basis solcher Daten kann dann der<br />
Pfl egebedarf ermittelt werden.<br />
» Defi nition und Entwicklung von Standards: Zu erarbeiten wären bundesweit e<strong>in</strong>heitlichen<br />
Standards zur Gewährleistung von Qualität des pfl egerischen Handelns und der<br />
Patient/<strong>in</strong>nensicherheit.<br />
» Ausrichtung der Forschung auf neue Nutzer/<strong>in</strong>nengruppen von mobiler Pfl ege: Bei<br />
der Untersuchung neuer Nutzer/<strong>in</strong>nengruppen mobiler Pfl ege g<strong>in</strong>ge es um auf diese<br />
abgestimmte ambulant pfl egerische Versorgung im Kontext des Alterns und der Hochaltrigkeit.<br />
Hervorzuheben s<strong>in</strong>d dabei <strong>Hochaltrige</strong> mit Beh<strong>in</strong>derungen, Personen mit<br />
Demenz und Menschen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund aber auch chronisch Kranke und<br />
alle<strong>in</strong> lebende Hoch altrige.
Empfehlungen zu Kapitel 17:<br />
Pfl ege und Betreuung (formelle <strong>in</strong>stitutionelle Pfl ege)<br />
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
» Solidarische Absicherung des Risikos der Pfl egebedürftigkeit: Empfohlen wird hier<br />
e<strong>in</strong>e steuerfi nanzierte Abdeckung der Kosten der Pfl ege.<br />
» Neuorientierung der Bedarfsplanung: Es sollte nicht der Dienst an sich (Heimplätze,<br />
Stunden <strong>in</strong> der mobilen Betreuung) geplant werden, sondern die erforderliche Leistung,<br />
egal wo sie erbracht wird<br />
» Festlegung von Standards <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e bedarfsgerechte bzw. bedürfnisorientierte Altenhilfe:<br />
Herbeigeführt werden sollte e<strong>in</strong> nationaler Konsens darüber, was unter e<strong>in</strong>er<br />
bedarfs- bzw. bedürfnisorientierte Altenhilfe zu verstehen ist und wie diese Leistung<br />
erzeugt werden kann (QM-System, z.B. E-Qal<strong>in</strong>, und Nationales Qualitätszertifi kat<br />
e<strong>in</strong>führen)<br />
Informations- und Forschungsdefi zite bestehen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
» Stationäre Pfl ege und Lebensqualität: Auswirkungen der Größe e<strong>in</strong>es Heimes auf die<br />
Lebensqualität bzw. Befi ndlichkeit der <strong>in</strong> diesen E<strong>in</strong>richtungen lebenden Menschen<br />
und <strong>Arbeit</strong>enden. „Ehrliche“ Erforschung der Frage des Zusammenhanges zwischen<br />
Wirtschaftlichkeit und Größe e<strong>in</strong>es Heimes<br />
» Orientierung an den Kund/<strong>in</strong>nen: Zu erforschen wären Kund/<strong>in</strong>nenwünsche h<strong>in</strong>sichtlich<br />
bedarfsgerechter Altenhilfe. Dabei g<strong>in</strong>ge es um Fragen von medikalisierter Betreuung<br />
versus Alltagsnormalität.<br />
» Vorzüge/Nachteile von stationärer/mobiler Pfl ege: Geht es den alten Menschen durch<br />
die Strategie "mobil vor stationär" zu Hause wirklich so gut, speziell unter dem Aspekt<br />
der vorhandenen bzw. möglichen Kommunikation?<br />
» Unterschiedliches Nutzer/<strong>in</strong>nenverhalten von alten Menschen <strong>in</strong> Privathaushalten<br />
und Heimen: Zu untersuchen s<strong>in</strong>d Krankenhausaufenthalte, Medikamente, Dauer des<br />
Pfl egegeldbezuges, Pfl egegelde<strong>in</strong>stufungen <strong>in</strong> abhängig von Wohnort, ehemaligem<br />
Berufsstatus, Versicherungsträger etc.<br />
» Entwicklung von Instrumenten zur Messung des Pfl egebedarfs: Die zur Bestimmung<br />
des Pfl egebedarfs vorhandenen Instrumente müssen e<strong>in</strong>er Prüfung unterzogen und<br />
(eventuell) durch geeignetere Indikatoren ersetzt werden.<br />
519
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
Empfehlungen zu Kapitel 18:<br />
Krim<strong>in</strong>alität und Gewalt<br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
Informations- und Forschungsdefi zite bestehen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
520<br />
» Generationenübergreifende Solidarität und neue Ethik: Das zukünftig noch rasant zunehmende<br />
Altern der Gesellschaft muss als unabwendbare und vernünftige Entwicklungsperspektive<br />
gewürdigt und propagiert und darf nicht als Anlass <strong>für</strong> die Diskrim<strong>in</strong>ierung<br />
alter Menschen missbraucht werden. Förderung e<strong>in</strong>er Bewusstse<strong>in</strong>bildung,<br />
dass die Familie als Institution <strong>für</strong> Pfl ege nicht bedenkenlos ausgebeutet werden darf,<br />
weil sonst unweigerlich unerwünschte Nebenfolgen im S<strong>in</strong>ne von Gewaltphänomenen<br />
e<strong>in</strong>treten werden.<br />
» Prävention: Aufklärungsprogramme <strong>für</strong> pfl egende Angehörige, dass e<strong>in</strong>e mögliche<br />
Folge von hirnorganischen Veränderungen bei alten Menschen heftige Aggressionen<br />
und andere problematische Verhaltensweisen seitens der Betreuten se<strong>in</strong> können<br />
und daher das Erlernen von Methoden des Aggressionsabbaus und des Vermeidens<br />
von Gegenaggressionen nützlich ist. Verstärkung und Propagierung des Angebots an<br />
Selbstverteidigungskursen <strong>für</strong> alte Menschen. Schaff ung von niederschwellig gestalteten<br />
Anlaufstellen, um die psychischen und körperlichen Langzeitfolgen von krim<strong>in</strong>ellen<br />
Handlungen besser verarbeiten zu können.<br />
» Meldepfl icht: E<strong>in</strong>leitung e<strong>in</strong>er Diskussion über die Frage, ob und <strong>in</strong>wieweit e<strong>in</strong>e Anzeige-<br />
und Meldepfl icht bei der bloßen Vermutung von Übergriff en im Privatbereich<br />
der Familie <strong>für</strong> die Mitarbeiter von Gesundheits- und Sozialdiensten gelten soll. In<br />
jedem Fall aber sollte e<strong>in</strong>e Schulung der Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen von Sozial- und Gesundheitsdiensten<br />
zur Gewalterkennung und klare Anweisungen zur weiteren Vorgangsweise<br />
stattfi nden.<br />
» Ausleuchtung des Dunkelfelds: Es fehlen verlässliche repräsentative Daten <strong>für</strong> alle<br />
Gewaltbereiche, d. h. es existiert e<strong>in</strong> großes Dunkelfeld nicht entdeckter oder nicht<br />
bekannt gewordener oder nicht geahndeter gewalthafter Handlungen gegen alte und<br />
<strong>in</strong>sbesondere hochaltrige Menschen.<br />
» Stationärer Bereich: Überw<strong>in</strong>dung des herrschenden Informationsmangels, welche<br />
strukturellen oder sonstigen Umstände <strong>in</strong> den Heimen und Krankenhäusern gewaltfördernd<br />
wirken, und zwar sämtliche Formen betreff end, nicht nur freiheitsbeschränkende<br />
Maßnahmen.
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
» Krisen<strong>in</strong>terventions- und Notruftelefone: Erhebung, <strong>in</strong>wiefern bei den bestehenden<br />
Diensten auch von alten Opfern Beratung und Hilfe gesucht wird, ob diese Stellen <strong>für</strong><br />
diese Aufgaben geeignet s<strong>in</strong>d und ob die Installierung e<strong>in</strong>es speziellen Notrufs <strong>für</strong><br />
alte Gewaltopfer s<strong>in</strong>nvoll ist.<br />
» Diagnostik: Weiterentwicklung von speziell <strong>für</strong> die Untersuchung („screen<strong>in</strong>g“) von<br />
alten Menschen geeigneten Instrumenten (e<strong>in</strong>schließlich psychologischer Verfahren),<br />
samt entsprechender Ausbildung, um auch <strong>in</strong> Zweifelsfällen bzw. wenn die vermuteten<br />
Gewalte<strong>in</strong>wirkung bestritten wird, zu e<strong>in</strong>er trennscharfen Abgrenzung zwischen<br />
Unfällen, Selbstverletzung und Gewaltausübung durch Dritte bzw. Folgen von pfl egerischer<br />
Vernachlässigung zu kommen.<br />
Empfehlungen zu Kapitel 19:<br />
Rechtliche Aspekte<br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
» Änderung der Kompetenzen: Die bestehende Kompetenzlage – strikte Trennung von<br />
Gesundheits- und Sozialagenden – und die im Bereich der Versorgung pfl egebedürftiger<br />
Personen bestehenden Unterschiede zwischen den Bundesländern s<strong>in</strong>d nicht<br />
mehr zeitgemäß. Forderung: Rechtliche Gleichbehandlung von Krankheitsfall und<br />
Pfl egefall sowie Schaff ung e<strong>in</strong>heitlicher M<strong>in</strong>deststandards bei der ambulanten und<br />
stationären Versorgung pfl egebedürftiger und alter Menschen.<br />
» Beseitigung der Armutsfalle Pfl egebedürftigkeit: E<strong>in</strong> Großteil der <strong>in</strong> Alten- und Pfl egeheimen<br />
versorgten Personen wird zum Sozialhilfeempfänger, weil das Pfl egegeld<br />
bestimmungsgemäß nur e<strong>in</strong>en Teil der pfl egebed<strong>in</strong>g ten Mehraufwendungen abdeckt.<br />
Forderung: Vollständige fi nanzielle Abdeckung des Risikos der Pfl egebedürftigkeit<br />
durch e<strong>in</strong> steuer- oder (versicherungs)beitragsfi nanziertes System.<br />
» Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht: Die hohen formalen Hürden bei der<br />
Erstellung e<strong>in</strong>er solchen verh<strong>in</strong>dern ihre weite Verbreitung <strong>in</strong> der Praxis und damit<br />
die angestrebte Ausübung des Selbstbestimmungs rechts alter Menschen. Forderung:<br />
E<strong>in</strong>erseits sollten die formalen Hürden <strong>in</strong>sgesamt verr<strong>in</strong>gert werden und andererseits<br />
bedarf es dr<strong>in</strong>gend e<strong>in</strong>er Änderung des § 31 des Grundbuchsgesetzes und des § 24<br />
des Wohnungseigentumsgesetzes, weil diese die Gültigkeit e<strong>in</strong>er Vollmacht <strong>in</strong> Liegenschaftsangelegenheiten<br />
auf drei Jahre beschränken, wodurch auch die Möglichkeiten<br />
e<strong>in</strong>er Vorsorgevollmacht stark e<strong>in</strong>geschränkt werden.<br />
521
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
Informations- und Forschungsdefi zite bestehen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
Empfehlungen zu Kapitel 20:<br />
Leben und Sterben <strong>in</strong> Würde<br />
Zur Lösung der politischen Herausforderungen werden folgende Ansätze empfohlen:<br />
522<br />
» Evaluierung der Auswirkungen der rechtlichen Normen: Im gesamten Bereich des<br />
Altenrechts fehlt es an e<strong>in</strong>er umfassenden rechtstatsächlichen und rechtssoziologischen<br />
Erforschung der bestehenden Verhältnisse sowie <strong>in</strong>sbesondere der Auswirkungen<br />
der rechtlichen Normen auf die betroff enen Personen und deren soziales und<br />
wirtschaftliches Umfeld. Das wäre aber Voraussetzung <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e effi ziente vorausschauende<br />
Gesetzgebung. Derzeit gibt es nur punktuelle Untersuchungen. Forderung:<br />
Zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> so dynamischen Rechtsbereichen wie im Altenrecht wäre e<strong>in</strong>e regelmäßige<br />
Evaluierung der bestehenden Rechtsnormen s<strong>in</strong>nvoll, um zu vermeiden, dass die<br />
Rechtsordnung der gesellschaftlichen Entwicklung ständig weit h<strong>in</strong>terherh<strong>in</strong>kt.<br />
» Rechtstheorie und Rechtspraxis: Diese weichen im Gesundheits- und Pfl egebereich<br />
stark vone<strong>in</strong>ander ab. Ursache da<strong>für</strong> ist primär der Informationsmangel der Rechtsanwender<br />
(Ärzte, Pfl egepersonal, Heimleitun gen, Patienten, Pfl egeleistungen beanspruchende<br />
Personen usw.). Dieser besteht auch häufi g bei der Schaff ung neuer<br />
Rechts<strong>in</strong>stitute wie z. B. bei der Patientenverfügung und der Vorsorgevollmacht.<br />
Forderung: Öff entliche Informationskampagnen.<br />
» Dokumentation von Leistungen, Inanspruchnahme, Qualifi zierung von Mitarbeiter/<br />
<strong>in</strong>nen: Angesichts der zunehmenden Zahl an Angeboten im Bereich von Hospizarbeit<br />
und Palliative Care bedarf es e<strong>in</strong>er sorgfältigen Dokumentation der Leistungen,<br />
Inanspruchnahme, Qualifi zierung von Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen. Auf Basis der derzeit vorliegenden<br />
Daten kann ke<strong>in</strong>e ausreichende Abschätzung der Versorgung hochbetagter<br />
Menschen durch solche Dienste vorgenommen werden. Die Dokumentation und Leistungsberichterstattung<br />
dieses – auch <strong>für</strong> hochbetagte Menschen – hoch relevanten<br />
Versorgungssektors erfolgt nahezu ausschließlich durch Dachverbände und Mitgliederorganisationen.<br />
Aus Perspektive des öff entlichen Gesundheitswesens <strong>in</strong>teressierende<br />
Fragestellungen können so nicht h<strong>in</strong>reichend aufgenommen werden. Daher<br />
bedarf es e<strong>in</strong>er öff entlich fi nanzierten und gesteuerten Gesundheitsberichterstattung<br />
welche <strong>in</strong>ternational vergleichbar die Versorgung <strong>in</strong> der letzten Lebensphase und <strong>in</strong>sbesondere<br />
auch die Leistungen von Palliative Care sowie der großteils ehrenamtlich<br />
getragenen Hospizarbeit aufnimmt und abbildet.<br />
» Willenserklärungen und Entscheidungen am Lebensende: Es ist so gut wie nichts
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
über die Praxis zum Umgang mit Entscheidungen am Lebensende, <strong>in</strong>besondere auch<br />
mit Willenserklärungen bekannt. Wie werden die Wünsche und Anliegen der Betroff enen<br />
aufgenommen? Wie wird mit Widersprüchen umgegangen? Welche Rolle spielen<br />
Angehörige und andere nahe stehende Personen bei Entscheidungen zur Versorgung<br />
am Lebensende, welche Aufgabe haben die Professionellen? Gerade angesichts der<br />
jüngsten gesetzlichen Regelung zur Patientenverfügung wäre es von hoher Relevanz,<br />
den Status Quo zum Umgang mit Entscheidungen und Willenserklärungen zu erfassen<br />
und auch die Wirkung und Auswirkungen des Gesetzes überprüfen zu können.<br />
» Stärkere Integration von Palliative Care <strong>in</strong> die entsprechenden Ausbildungsgänge:<br />
Wiewohl e<strong>in</strong>e zunehmende Integration von Palliative Care <strong>in</strong> Studiengänge und Ausbildungen<br />
sämtlicher Gesundheitsberufe beobachtet werden kann, ist der Status Quo<br />
deutlich unzureichend. Mit Blick auf das Sterben hochbetager Menschen kommen<br />
hier die rückständige Akademisierung der Pfl egeberufe sowie die zögerliche Etablierung<br />
von entsprechenden Lehrstühlen im Bereich Palliative Care bis h<strong>in</strong> zum gänzlichen<br />
Fehlen solcher <strong>in</strong> der Gerontologie oder Geriatrie zum Tragen.<br />
Informations- und Forschungsdefi zite bestehen <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> folgender H<strong>in</strong>sicht:<br />
» Unzureichende Datenlage zur Lebenssituation von Menschen am Lebensende: Die<br />
Datenlage h<strong>in</strong>sichtlich der Lebenssituation von alten und hochbetagten Menschen<br />
am Lebensende ist sowohl quantitativ als auch qualitativ unzureichend. Vorhandene<br />
Daten erlauben lediglich E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>e Ausschnitte, deren Summe ergibt jedoch<br />
ke<strong>in</strong> Gesamtbild. Todesursachenstatistiken beispielsweise geben ke<strong>in</strong>e Information<br />
über die Verfasstheit der Menschen vor ihrem Tod. Weder dementielle Veränderungen<br />
– die ja kaum direkt den Tod herbeiführen – noch die bei Hochbetagten typischen<br />
multifaktoriellen Problemlagen die Pfl egebedürftigkeit und unterschiedlichen Leidenszustände<br />
verursachen, werden dar<strong>in</strong> sichtbar und abgebildet. Es braucht mehr<br />
Wissen über die Bedürfnisse sterbender Menschen und ihrer Angehörigen sowie das<br />
Ausmaß der sozialen, geschlechtsspezifi schen sowie kulturellen Unterschiede.<br />
» Weiterführende Forschungen zum Sterbeort: H<strong>in</strong>sichtlich des Sterbeortes wurden<br />
<strong>in</strong>teressante regionale Unterschiede <strong>in</strong>nerhalb <strong>Österreich</strong>s beobachtet, die nicht e<strong>in</strong>fach<br />
mit dem Urbanisationsgrad von Regionen erklärt werden können. Um Entwicklungen<br />
h<strong>in</strong>sichtlich der Sterbeorte bee<strong>in</strong>fl ussen zu können, bedarf es e<strong>in</strong>es besseren<br />
Verständnisses des Status Quo, d.h. der Versorgungsverläufe von Menschen unterschiedlichen<br />
Alters, kulturellen H<strong>in</strong>tergrundes, Geschlechts, Wohnortes und Krankheitsh<strong>in</strong>tergrundes<br />
im letzten Lebensjahr.<br />
523
HANDLUNGS- UND FORSCHUNGSEMPFEHLUNGEN<br />
524
AUTOR/INNEN DER BEITRÄGE<br />
MARTINA AGWI<br />
<strong>Österreich</strong>isches Institut <strong>für</strong> Wirtschaftsforschung (WIFO), Wien<br />
UNIV.PROF. MAG. DR. ANTON AMANN<br />
Zentrum <strong>für</strong> Alternswissenschaften und Sozialpolitikforschung<br />
NÖ Landesakademie, St. Pölten<br />
PRIM. PROF. DR. FRANZ BÖHMER<br />
Sozialmediz<strong>in</strong>isches Zentrum Sophienspital, Wien<br />
MAG. INGRID DOLHANIUK, DGKS<br />
Institut <strong>für</strong> Pfl egewissenschaft<br />
Universität Wien<br />
DR. THOMAS DORNER, MPH<br />
Institut <strong>für</strong> Sozialmediz<strong>in</strong>, Zentrum <strong>für</strong> Public Health<br />
Mediz<strong>in</strong>ische Universität Wien<br />
OA DR. THOMAS FRÜHWALD<br />
Krankenhaus Hietz<strong>in</strong>g mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel, Wien<br />
UNIV.PROF. DR. MICHAEL GANNER<br />
Institut <strong>für</strong> Zivilrecht<br />
Universität Innsbruck<br />
MAG. ALOIS GUGER<br />
<strong>Österreich</strong>isches Institut <strong>für</strong> Wirtschaftsforschung (WIFO), Wien<br />
UNIV.PROF. MAG. DR. JOSEF HÖRL<br />
Institut <strong>für</strong> Soziologie<br />
Universität Wien<br />
DR. RUPERT KISSER<br />
Kuratorium <strong>für</strong> Verkehrssicherheit (KfV), Wien<br />
UNIV.PROF. MAG. DR. FRANZ KOLLAND<br />
Institut <strong>für</strong> Soziologie<br />
Universität Wien<br />
AUTOR/INNEN DER BEITRÄGE<br />
525
AUTOR/INNEN DER BEITRÄGE<br />
MAG. CORNELIA KRAJASITS<br />
<strong>Österreich</strong>isches Institut <strong>für</strong> Raumplanung, ÖIR Informationsdienste GmbH, Wien<br />
DOZ. DR. JOSEF KYTIR<br />
Direktion Bevölkerung<br />
Statistik Austria, Wien<br />
MAG. CHRISTINE MAYRHUBER<br />
<strong>Österreich</strong>isches Institut <strong>für</strong> Wirtschaftsforschung (WIFO), Wien<br />
ASS.PROF. MAG. DR. GERHARD MAJCE<br />
Institut <strong>für</strong> Soziologie<br />
Universität Wien<br />
MAG. MARTIN NAGL-CUPAL<br />
Institut <strong>für</strong> Pfl egewissenschaft<br />
Universität Wien<br />
DR. SABINE PLESCHBERGER, MPH, DGKS<br />
Fakultät <strong>für</strong> Interdiszipl<strong>in</strong>äre Forschung und Fortbildung<br />
(Klagenfurt - Graz - Wien) (IFF) / Palliative Care und OrganisationsEthik<br />
MAG. DR. ELISABETH RAPPOLD, WISS. MA<br />
Institut <strong>für</strong> Pfl egewissenschaft<br />
Universität Wien<br />
UNIV.PROF. MAG. DR. CHRISTOPH REINPRECHT<br />
Institut <strong>für</strong> Soziologie<br />
Universität Wien<br />
MAG. BARBARA REITERER<br />
Program <strong>in</strong> the History of Science, Technology, and Medic<strong>in</strong>e<br />
University of M<strong>in</strong>nesota<br />
UNIV.PROF. DR. ANITA RIEDER<br />
Institut <strong>für</strong> Sozialmediz<strong>in</strong>, Zentrum <strong>für</strong> Public Health<br />
Mediz<strong>in</strong>ische Universität Wien<br />
DR. URSULA RISCHANEK<br />
Forschungsgesellschaft <strong>für</strong> Wohnen, Bauen und Planen, Wien<br />
526
PROF. (FH) DR. TOM SCHMID<br />
Sozialökonomische Forschungsstelle, Wien<br />
DR. MARGIT SCHOLTA<br />
Amt der OÖ Landesregierung – Sozialabteilung, L<strong>in</strong>z<br />
UNIV.PROF. DR. ELISABETH SEIDL<br />
Institut <strong>für</strong> Pfl egewissenschaft<br />
Universität Wien<br />
AUTOR/INNEN DER BEITRÄGE<br />
527
AUTOR/INNEN DER BEITRÄGE<br />
528
SOZIAL TELEFON<br />
Bürgerservice des Sozialm<strong>in</strong>isteriums<br />
Tel.: 0800 - 20 16 11<br />
Mo bis Fr 08:00 - 16:00 Uhr<br />
PFLEGETELEFON<br />
Tel.: 0800 - 20 16 22<br />
Mo bis Fr 08:00 - 16:00 Uhr<br />
Fax: 0800 - 22 04 90<br />
pfl egetelefon@bmask.gv.at<br />
BROSCHÜRENSERVICE<br />
Tel.: 0800 - 20 20 74<br />
broschuerenservice@bmask.gv.at<br />
BRIEFKASTEN<br />
Für Anregungen und allgeme<strong>in</strong>e Fragen:<br />
briefkasten@bmask.gv.at<br />
BUNDESMINISTERIUM FÜR<br />
ARBEIT, SOZIALES UND<br />
KONSUMENTENSCHUTZ<br />
Stubenr<strong>in</strong>g 1, 1010 Wien<br />
Tel.: +43 1 711 00 - 0<br />
www.bmask.gv.at