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Dossier #11: "ERINNERUNGSKULTUR UND GEDÄCHTNISPOLITIK"

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hänge von Ursache und Wirkung stellen. Doch trotz solcher Einwände gegen eine gänzlich objektivierbare Historiografie:<br />

In den meisten Fällen lassen sich, zumal im Bereich der neueren Geschichte, Tatsachenbehauptungen<br />

überprüfen und fragwürdigen Geschichtsbetrachtungen stets plausiblere entgegensetzen.<br />

Diese "objektivierende" Überprüfbarkeit unterscheidet Geschichtsschreibung grundsätzlich von Erinnerung.<br />

Letztere ist vor allem gekennzeichnet durch ihre Bindung an einzelne Menschen, an deren jeweils unterschiedlich<br />

ausgeprägte Fähigkeit, sich an Erlebtes, Erzähltes, Gelesenes, an eigene Träume und Phantasien zu erinnern. Daher<br />

sind Erinnerungen keine "neutral" gespeicherten Informationen, sondern an positive oder negative Gefühle<br />

gebundene Bilder und Gedächtnisinhalte. Diese affektive Einfärbung allein kennzeichnet Erinnerung als subjektives<br />

Phänomen.<br />

Neben dieser subjektiven Qualität kommt Erinnerung noch eine zielgerichtete und zweckbestimmte zu. Erinnerung<br />

dient nicht nur praktischer Notwendigkeit; sie erfüllt gleichzeitig Bedürfnisse nach Legitimation, weil sie im Dienste<br />

des jeweiligen Menschen zur Aufrechterhaltung seines Selbstwertgefühles und der idealisierenden Selbstwahrnehmung<br />

seiner eigenen Biografie steht. Daher wandelt unser ständig kontrollierendes Legitimationsbedürfnis für<br />

uns unpassende Erinnerungen in "passende" um: je unpassender die Erinnerung, desto stärker das Legitimationsbedürfnis.<br />

Besonders stark wird es, wenn das von nationalsozialistischen Deutschen begangene Jahrtausendverbrechen<br />

mit der eigenen nationalen Identität in Einklang gebracht werden soll.<br />

Weil Identifizierung qua Definition nur mit positiven Inhalten möglich ist, musste "negative Identifizierung" und<br />

daraus folgend "negative Identität" ein Widerspruch in sich bleiben. Dennoch ist Auschwitz, gewollt oder ungewollt,<br />

Teil deutscher Geschichte und damit Teil nationaler deutscher Identität. Die Dimension des Verbrechens aber<br />

verhindert eine - vermutlich nicht leistbare - Integration der ungeheuerlichen Tatsachen in das individuelle und<br />

kollektive Bewusstsein der Deutschen. Um das Ausmaß des Verbrechens, sofern man sich ihm überhaupt stellt,<br />

ansatzweise ertragen zu können, muss es gefühlsmäßig auf Distanz gehalten werden. Das hat Folgen für die individuelle<br />

Erinnerung, sei sie authentisch, sei sie angeeignet. Deren Qualität ist nicht in erster Linie abhängig vom<br />

Umfang der im Gedächtnis gespeicherten Informationen, sondern von den mit den erinnerten Vorstellungen und<br />

Bildern verknüpften Gefühlsanteilen, den Affekten. Erst sie geben der Erinnerung Gewicht, Wert und Dauerhaftigkeit.<br />

Positiv assoziierte Affekte helfen Erinnerung stärker zu verankern, weil sie nicht nur als neutrale<br />

Information im Gedächtnis gespeichert, sondern parallel dazu mit dem Gefühlshaushalt gekoppelt ist. Negative<br />

Affekte verstärken die Neigung, die mit ihnen verknüpften Erinnerungen abzuwehren, zu beschönigen, zu<br />

verdrängen und schließlich zu leugnen.<br />

Vermutlich konnte und kann Auschwitz, wenn überhaupt, nur dann Teil einer nationalen Identität der Deutschen<br />

werden, wenn der Affekt, der Gefühlsanteil der Erinnerung, von der Assoziation, dem Informationsanteil dieser<br />

Erinnerung, weitgehend getrennt bleibt. Dies ist ein labiler, partiell auch traumatisierender Erinnerungszustand, der<br />

wegen seiner negativen Affektanteile stets von Abwehr, Leugnung und Verdrängung bedroht bleibt. Das zeigte sich<br />

unmittelbar nach Kriegsende im Wunsch der meisten Deutschen nach Flucht aus der Erinnerung, nach Umdeutung<br />

der nationalsozialistischen Vergangenheit und nach rascher Generalamnestie.<br />

Das Ergebnis der auf dem Gebiet der früheren BRD frühzeitig verabschiedeten Amnestiegesetze von 1949, 1951<br />

und 1953 entlastete die Mehrheit der Deutschen von ihrer Mitverantwortung an den nationalsozialistischen<br />

Verbrechen, denn deren Lebenslüge lautete fortan: der Nationalsozialismus war über Deutschland wie eine Naturkatastrophe<br />

hereingebrochen, so, als seien Nationalsozialisten keine Deutschen, sondern Invasoren gewesen, die<br />

Deutschland gegen den Willen der Deutschen besetzt und unterdrückt hätten: sie selbst sahen sich nun - die<br />

Geschichte auf den Kopf stellend - als unschuldige Opfer von Krieg und Vertreibung und nicht zuletzt - wie schon<br />

einmal nach dem Ersten Weltkrieg - als Opfer einer ungerechten "Siegerjustiz" der alliierten Besatzungsmacht.<br />

Unter dieser Legitimationsstrategie bedeutete für die Mehrzahl der Westdeutschen Vergangenheitspolitik nicht<br />

notwendige Auseinandersetzung mit dem dunkelsten Kapitel der eigenen Geschichte, sondern Strafaufhebung und<br />

Integrationsleistung zugunsten Millionen ehemaliger nationalsozialistischer Parteigenossen. In ihrer Mehrheit<br />

wussten und leugneten die Deutschen zugleich, dass über die längste Zeit seiner Dauer das "Dritte Reich" im<br />

Inneren nicht auf die Ausübung von Terror und Gewalt angewiesen war, sondern sich sowohl bei den "einfachen<br />

Volksgenossen" als auch den Eliten großer Integrationskraft und hohen Zuspruchs erfreute.<br />

Lässt sich - und hier zitiere ich Volkhard Knigge - der westdeutsche Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit<br />

als mühsamer Prozess innergesellschaftlicher Auseinandersetzung beschreiben, der vor allem nach 1968<br />

mehr oder weniger freiwillig vom Beschweigen über die moralische Distanzierung hin zur konkreten, Opfern wie<br />

D-A-S-H <strong>Dossier</strong> <strong>#11</strong> – Erinnerungskultur und Gedächtnispolitik 14

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