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Dossier #11: "ERINNERUNGSKULTUR UND GEDÄCHTNISPOLITIK"

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der Psyche der Nation. Die Deutschen - mit dieser Vergangenheit - sind keine normalen Menschen. Mit einer<br />

solchen Vergangenheit kann man nicht normal sein. Mit meiner Vergangenheit und meinen Erinnerungen bin ich<br />

auch nicht normal - aber meine Vergangenheit ist anti-deutsch. Ich brauche diese Vergangenheit. Ich möchte keine<br />

Rache und ich habe auch nichts gegen die Deutschen. Ich mag es nur nicht, wenn sie sich als Opfer darstellen, sonst<br />

müsste ich mich als Henker verstehen. Dabei ist es umgekehrt: Sie sind mein Henker. Aus demselben Grund wäre<br />

die Errichtung des Vertriebenenzentrums anti-polnisch. Sie würde bedeuten, dass die Polen den Deutschen mit der<br />

Vertreibung ein Unrecht zufügten. Das Zentrum ist auch gegen alle anderen Nationen gerichtet, die Opfer des<br />

Krieges waren.<br />

Denn es waren die Polen und die anderen unterjochten Nationen, die Opfer des Krieges waren. Ich habe fünf Jahre<br />

unter der deutschen Besatzung gelebt. Man sagt immer, es gab gute und schlechte Deutsche. Aber warum hatte ich<br />

nie das Glück, auch nur einen einzigen von den Guten zu treffen?<br />

Keinen einzigen?<br />

M. E.: Keinen einzigen. Ich hatte nicht das Glück, auch nur einen guten Deutschen zu treffen. Nur solche, die mir<br />

eins auf die Schnauze gaben. Es tut mir leid, um die junge Frau und ihr Kind, die während der Vertreibung<br />

umkamen. Aber ich habe kein Mitleid für die deutsche Nation, denn sie brachte Hitler an die Macht. Die deutsche<br />

Gesellschaft lebte vom besetzten Europa, von mir und meinen Freunden. Ich bekam nur zweihundert Gramm Brot<br />

am Tag und die Deutschen konnten sich satt essen. Darum ist es so wichtig, dass sie Buße tun. Sollen sie lange, lange<br />

weinen. Vielleicht werden sie dann begreifen, dass sie der Henker Europas waren. Wenn dieses Zentrum zu der<br />

Auffassung führt, den Deutschen wäre durch den Krieg ein Unrecht geschehen, wäre es eine Katastrophe. Das<br />

würde auch bedeuten, sie könnten Rache nehmen. Wir wissen, was das heißt.<br />

Vielleicht möchten sie ja auch nur Respekt für ihre eigene Erinnerung. Die Vertreibung ist ein Teil ihrer Geschichte.<br />

M. E.: Welche eigene Erinnerung? Ist ihnen soviel schreckliches Unrecht angetan worden? Sie haben ihre Häuser<br />

verloren? Ja doch, aber die Juden haben sowohl ihre Häuser, als auch all ihre Lieben verloren. Die Vertreibungen<br />

brachten Elend, aber es gibt soviel Elend in der Welt. Kranke Menschen leiden auch und ihnen baut auch niemand<br />

ein Denkmal.<br />

Hört auf, Mitleid mit den Deutschen zu haben, denn ihnen geschieht kein Unrecht.<br />

Sie haben eine Petition unterschrieben für ein Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen und Deportationen<br />

anstelle des Vertriebenenzentrums. Wie soll dieses Zentrum in der Praxis aussehen?<br />

M. E.: Das Wichtigste ist, aufzuzeigen, dass alle totalitären Regime zu solchen Tragödien führen.<br />

Und welchen Platz würden Sie den Deutschen in solch einem Zentrum einräumen?<br />

M. E.: Keinen. Sie sollen sich mit ihrem Unglück nicht dazwischendrängeln. Ihnen steht keine Barmherzigkeit zu,<br />

sondern Buße. Und das viele Generationen lang, sonst kommen ihre Hoffahrt und ihr Stolz wieder zum Vorschein.<br />

Versuchen Sie denn nie, in ihre Haut zu schlüpfen...?<br />

M. E.: Ich sehe keinen Grund, in die Haut des Henkers zu schlüpfen. Ich kann nicht in ihre Mentalität eindringen,<br />

weil sie glücklich waren, als sie versuchten mich zu töten. Nur Gott ist so gerecht, dass er sogar den Henker beweint.<br />

Ich bin doch nicht der Herrgott!<br />

Marek Edelman, Jahrgang 1921, ist der letzte noch lebende Anführer des Aufstandes von 1943 im Warschauer Ghetto. Er kämpfte<br />

auch im Warschauer Aufstand von 1944. Er ist Autor des Buches "Das Ghetto kämpft", Held der berühmten Reportage von Hanna<br />

Krall "Dem Herrgott zuvorkommen" und des Buches "Der Hüter" von Rudi Assuntino und Wlodek Goldkorn. Nach dem Krieg blieb<br />

er in Polen, um "Hüter der jüdischen Gräber" zu sein. Seit den siebziger Jahren war in der demokratischen Opposition tätig. 1999<br />

initiierte er einen Aufruf für eine NATO-Intervention im Kosovo. Der pensionierte Kardiologe lebt in Lódz.<br />

Übersetzung: Rebekka Schroeder, Maximilian Eiden. jour fixe zivilisatorische restposten<br />

Quelle: <br />

Weitere Links und Informationen<br />

D-A-S-H <strong>Dossier</strong> <strong>#11</strong> – Erinnerungskultur und Gedächtnispolitik 30

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